13

image

»Im Osten von der Templermauer soll dieser Turm liegen, den Ihr sucht – und von dem Ihr mir nicht sagen könnt, warum er für Euch so wichtig ist?«, fragte Raoul, als sie ihn gleich nach dem Morgengebet um Rat ersuchten.

»Verzeiht, dass wir Euch darin nicht einweihen können«, sagte Gerolt mit ehrlichem Bedauern. »So gern wir es täten, aber wir haben einen heiligen Eid geleistet, unser Wissen mit keinem zu teilen, der nicht auch dazu berufen und diese hohe Verpflichtung eingegangen ist. Bitte nehmt es uns nicht krumm. Uns sind, das schwöre ich Euch auf die Bibel und bei meiner Ehre als Templer, sozusagen die Hände gebunden!«

»Schon gut. Ich habe schon seit Langem gewusst, dass Ihr zu einem höchst geheimen Dienst berufen seid. Reden wir also nicht mehr darüber«, erwiderte Raoul. »Tja, was nun den Turm angeht, so fällt mir da nur einer ein, der im Osten in unmittelbarer Nähe der Mauer liegt, und das ist der Turm des Maison Madame Valois*. Der hieß zu meiner Jugendzeit noch Tour de Chevaliers**, obwohl damals schon längst keine Ritter dort mehr einquartiert waren, und es gab damals auch noch etwas freies Land rund um diesen quadratischen Wohnturm.«

»Und was ist dieses Maison Madame Valois jetzt?«, fragte Maurice.

»Und vor allem: Wisst Ihr auch, wer diese Madame Valois ist, die das Gebäude jetzt bewohnt?«

Ein leicht spöttisches Lächeln zuckte um Raouls Mundwinkel, als er ihm antwortete: »Sicher. Und ich würde mich nicht allzu sehr wundern, wenn Ihr dort die eine oder andere Person antrefft, der Ihr schon mal begegnet seid!«

Maurice furchte die Stirn, ahnte er doch, dass Raoul mit seiner rätselhaften Antwort etwas im Schilde führte, was ihm gar nicht gefallen würde. »Mein Freund, Ihr sprecht in Rätseln.«

»Ja, nun rückt schon mit der Sprache heraus!«, forderte McIvor ihn höchst gespannt auf.

Raoul räusperte sich. »Nun, den Wohnturm hat vor einigen Jahrzehnten ein Kaufmann und Pariser Ratsherr namens Laurent Valois aufgekauft und durch Anbauten zu einem größeren, recht stattlichen Anwesen erweitert. Tja, und als er vor etwa acht, neun Jahren gestorben ist, hat seine fromme Witwe Geneviève daraus ein Magdalenenhaus gemacht!«

Scharf sog Maurice den Atem ein und auf seiner Stirn schwoll die Zornesader an. Jedem Straßenkind war bekannt, was ein Magdalenenhaus war. Dort fanden »gefallene junge Frauen« Asyl, die ein uneheliches Kind erwarteten und von ihren Familien verstoßen worden waren. Aber auch Freudenmädchen, die von Skrupeln befallen wurden und nicht mehr ihrer Arbeit als käufliche Liebesdienerinnen nachgehen wollten. Und nicht wenige dieser Heime standen in einem überaus schlechten Ruf. Denn viele Dirnen, die gerne die fromme Fürsorge annahmen, dachten gar nicht daran, sich auf den Pfad der Tugend leiten zu lassen, sondern gingen weiter ihrer alten Tätigkeit nach. Und dann geschah es, so auch in Paris, dass einige dieser Magdalenenhäuser zu den verruchtesten Bordellen der Stadt wurden.

»Das geht zu weit, Hauptmann Raoul von Liancourt!«, protestierte Maurice wutschnaubend und sprang erregt auf. »Man mag mir ja manches vorwerfen können, aber das  . . .«

Hastig fiel Gerolt ihm ins Wort und griff nach seinem Arm. »Maurice, um Himmels willen, beruhige dich und setz dich wieder! Ich bin sicher, dass Raoul es nicht als Beleidigung gemeint hat. Das war doch nur ein derber Scherz!«, redete er besänftigend auf ihn ein, denn er hielt seinen Freund für fähig, in der Hitze des Moments Raoul mit der Klinge zu fordern. Zum Glück hatten sie ihre Schwerter oben in den Kammern gelassen. Sonst hätte Maurice jetzt vielleicht schon blankgezogen. »Und du bist doch auch nicht gerade zimperlich, wenn es darum geht, mal auf Kosten anderer einen Witz zu machen!«

»So ist es! Es sollte wirklich nur ein Scherz sein!«, beteuerte Raoul eiligst und machte ein zerknirschtes Gesicht, als er sah, wie sehr er Maurice mit seiner spöttischen Bemerkung getroffen hatte. »Leider ein recht verunglückter, wie ich reumütig eingestehen muss. Es tut mir leid, dass Ihr meine dummen Worte so ernst genommen habt. Verzeiht, Ordensbruder!«

Maurice rang einen langen Moment mit seinem Temperament, das nach einer ganz anderen Antwort verlangte. Doch dann nahm er die Entschuldigung an, wenn auch sehr widerwillig. »Nun ja, es soll Euch verziehen sein, Raoul«, knurrte er und ließ sich mit noch immer zorngerötetem Gesicht von Gerolt wieder zurück auf seinen Platz ziehen.

Und auch Tarik wollte die beiden ablenken und rief betont frohgestimmt in die Runde: »Wenn also kein anderer derartiger Wohnturm östlich der Mauer infrage kommt, wie wir gerade gehört haben, dann sollten wir keine Zeit verlieren, sondern uns an die Arbeit machen.«

»Und die wäre?«, konnte sich Raoul nicht verkneifen zu fragen.

»Uns unauffällig in dieser Gegend umhören und alles in Erfahrung bringen, was es über das Magdalenenheim und über diese Witwe Geneviève Valois herauszufinden gibt«, antwortete Gerolt. »Und je schneller wir im Bilde sind, desto schneller können wir Paris hinter uns lassen.«

»Was sitzen wir dann noch hier herum, Kameraden!«, drängte auch McIvor und sprang auf. »Ich werde drei Kreuze schlagen, wenn wir endlich aus dieser Stadt des Verrats heraus sind! Und freiwillig wird mich dann nichts mehr hierhin zurückbringen, das könnt ihr mir glauben!«

»Freunde, wir ziehen am besten einzeln los«, schlug Gerolt vor. »Das wirkt unverdächtiger und wir können in derselben Zeit bestimmt auch mehr erfahren, als wenn wir als Gruppe unterwegs sind. Lasst uns hier wieder am Mittag zusammentreffen und hören, was jeder herausbekommen hat.« Und an McIvor gewandt fuhr er fort: »Du wirst deinen Tatendrang jedoch leider zügeln und hier auf unsere Rückkehr warten müssen, mein Freund.«

»Nicht schon wieder!«, begehrte der Schotte auf.

»Es muss leider sein, Schotte!«, bekräftigte Maurice. »Von unauffälligem Auskundschaften kann nun mal keine Rede sein, wenn du irgendwo auftauchst und dich nach dem Maison Madame Valois und seiner Besitzerin erkundigst. Du würdest mehr Schaden anrichten als uns von Nutzen sein. Also mach es dir hier gemütlich und schone deine Kräfte. Wir werden bestimmt bald dringend auf sie angewiesen sein!«

Mit missmutiger Miene sank McIvor auf die Bank zurück. »Tod und Teufel, ich habe wahrlich schon bessere Tage als diesen gesehen!«, knurrte er vor sich hin, während seine Freunde ihn allein zurückließen. »Und zu allem Übel wollen sie mich auch noch unter die Haube bringen! Ausgerechnet uns, Eisenauge!« Und dabei klopfte er mit seinem Zeigefinger auf die verschrammte Kappe, als säße darunter ein eigenes Wesen, mit dem er Zwiesprache halten konnte. »Ich sage dir, die Welt ist wirklich aus den Fugen geraten!«

* »Haus der Madame Valois«

** Haus der Ritter