15Georg W. Bertram, Stefan Deines, Daniel Martin Feige
Will man das Verhältnis von Kunst und Künsten vermessen, so ist es hilfreich, sich erst einmal eine Landkarte zu verschaffen, die unterschiedliche Ansätze mit Blick auf das in Frage stehende Verhältnis verortet. Eine solche Landkarte will die folgende Einleitung bereitstellen. Dabei ist es nicht unser Anspruch, eine abschließende Deutung des Diskussionszusammenhangs zu geben oder für eine bestimmte Position zu argumentieren. Auch wenn die Herausgeber für Sichtweisen stehen, die im folgenden Band zu Wort kommen, soll die Einleitung einen Überblick aus einer eher darstellenden Perspektive bieten, um die zentralen Fragestellungen und Optionen in Bezug auf den Zusammenhang von Kunst und Künsten nachvollziehbar werden zu lassen.
Um die grundsätzlichen Optionen zu erfassen, wie das Verhältnis von Kunst und Künsten bestimmt worden ist und bestimmt werden kann, muss man zugleich die Entwicklung der Diskussion im Blick haben, die bereits über die Jahrhunderte hinweg im Abendland läuft. In diesem Sinn wollen wir zwischen drei unterschiedlichen Perspektiven auf das in Frage stehende Verhältnis unterscheiden, und zwar erstens derjenigen, die auf die Begründung der Einheit der Künste ausgerichtet ist, zweitens derjenigen, in der die Unterschiedlichkeit der Künste im Fokus steht, und drittens derjenigen, die Einheit und Unterschiedenheit nicht als Alternative begreift, sondern in ihrem Zusammenhang zu fassen sucht.
Theorien, die die Einheit der Künste betonen, sind mit dem Kollektivsingular Kunst verbunden. Sie beruhen damit auf einem Begriff, der Mitte des 18.Jahrhunderts, mit dem bürgerlichen Zeitalter der 16Künste, besonders profiliert worden ist. Zwar ist der Begriff der Kunst als techné oder ars in der abendländischen Tradition durchweg gebraucht worden. Dennoch hat er erst im 18.Jahrhundert dezidiert die engere Bedeutung als Oberbegriff für die schönen Künste gewonnen. Im Sinne der Überlegungen von Reinhart Koselleck lässt der Begriff der Kunst sich so mit den Kollektivsingularen der Geschichte, der Freiheit oder des Fortschritts in einen Zusammenhang bringen, die im Rahmen der sogenannten Sattelzeit profiliert wurden.[1] Die Bedeutung des Kunstbegriffs liegt darin, dass er eine Einheit von spezifischen Gegenständen und Praktiken herstellt, die man mit dem Begriff der schönen Künste umreißen kann. Der Kunstbegriff löst, so gesehen, den Begriff der Schönheit ab und stellt damit eine neue Einheit her.
Heuristisch lassen sich fünf Typen von Theorien der Einheit der Künste unterscheiden: (a) Positionen, die eine Hierarchie der Künste und damit unterschiedliche Wertigkeiten geltend machen; (b) Positionen, die einen systematischen Zusammenhang der Künste in Form komplementärer expressiver Möglichkeiten behaupten; (c) Positionen, die ein Zusammengehen und Zusammenspiel der Künste denken; (d) Positionen, die Austauschprozesse zwischen den Künsten betonen; und schließlich (e) Positionen, die die Künste in den Kollektivsingular Kunst aufgehen lassen.
(a) In der Geschichte der Kunsttheorie gibt es vielfältige Versuche, die Künste systematisch zu ordnen, wobei entweder eine einzelne Kunst als paradigmatische Realisierung des Potenzials von Kunst insgesamt verstanden wird oder die Künste in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden. Das von Horaz überlieferte Prinzip des Ut pictura poiesis (wie die Malerei, so die Poesie) gibt den Grundgedanken einer Hierarchie der Künste vor.[2] Die Malerei wird so zum Beispiel in ihrer Genauigkeit und ihrem Farbreichtum als Ideal künstlerischen Ausdrucks verstanden, an dem alle anderen Künste gemessen werden. Im 19.Jahrhundert ist besonders Arthur Schopenhauer mit einem Vorschlag hervorgetreten, die Künste hierarchisch zu ordnen, wobei er mit der Tradition der Orientierung aller Künste am Leistungsvermögen der Male17rei radikal bricht, indem er die Künste auf Musik hin ausrichtet.[3] Musik sei als derjenige künstlerische Ausdruck zu begreifen, der am grundlegendsten die Ordnung der Repräsentation durchbricht. Genau in einem solchen Durchbrechen liege die zentrale Leistung der Kunst, weshalb Musik als die höchste der Künste zu begreifen sei. Vor Schopenhauer lässt sich Immanuel Kant als ein Theoretiker begreifen, der in der Dichtung die Krone der Künste erkennt.[4]
Hierarchisierungen der Künste stützen sich zumeist auf eine zentrale Leistung, die den Künsten zugeschrieben wird. So lassen sich unter anderem das Nachahmungsparadigma und das Ausdrucksparadigma unterscheiden, die zu unterschiedlichen Ordnungen der Künste führen. Wenn Künste daran gemessen werden, Nachahmung zu leisten, sind die darstellenden Künste offensichtlich im Vorteil. Die Malerei, aber auch die Skulptur und das Theater stehen damit hoch im Kurs. Anders sieht es hingegen aus, wenn der Ausdruck in der Einschätzung der Künste im Vordergrund steht. In einem solchen Fall schneiden die Musik, aber zum Beispiel auch die Lyrik besser ab. Das Kriterium für die Leistung der Künste sichert in dieser Weise ihre Ausrichtung auf einen Gipfel künstlerischen Leistungsvermögens hin.
(b) Neben einer Hierarchisierung der Künste liegt eine weitere, in der Geschichte immer wieder verfolgte einheitliche Fassung der Künste darin, sie in ein System zu bringen, in dem ihre Ausdrucksmöglichkeiten als ergänzend begriffen werden. Hegels System der Künste hat in paradigmatischer Weise eine entsprechende Systematisierung entworfen.[5] Diesem Verständnis nach stehen Malerei und Musik nicht in Konkurrenz zueinander, sondern verwirklichen jeweils, was die andere Kunst nicht kann. Die Künste werden so in ihren Ausdrucksmöglichkeiten dadurch angemessen gefasst, dass man ihre jeweilige Spezifik in einem Gesamt von Künsten verortet, das ein Ganzes komplementärer Ausdrucksmöglichkeiten realisiert. Eine solche Erläuterung ist dabei zumeist damit verbunden, dass die einzelnen Künste jeweils auf ein normatives Ideal hin festge18schrieben werden. So ließe sich etwa sagen, dass die Musik ihr vollwertiges Potenzial darin realisiert, im Medium des Klangs unsere inneren emotionalen Bewegtheiten zu thematisieren, und die Malerei darin, dass sie im Medium der Farbe die Sichtbarkeit der Welt reflektiert. In dieser Weise werden unterschiedliche Erscheinungsweisen von Musik und Malerei auf ein Ideal hin orientiert, von dem her sie bewertet werden. Innerhalb des Systems werden die einzelnen Künste so normativ gleichermaßen eingeschränkt, wie diese Einschränkung als produktiv gedeutet wird.
Dennoch zeigt sich gerade an Hegels Fassung des Systems der Künste, dass sie innerhalb des Systems nicht in einen bloß statischen Zusammenhang gebracht werden. Vielmehr lässt sich das System der Künste mit dem in der Renaissance hervortretenden Motiv des Paragone, des Wettstreits der Künste, verbinden, indem die Künste historisch derart in eine Konkurrenz gebracht werden, dass ihnen eine mit den Zeiten unterschiedliche Relevanz zugesprochen wird.[6] Die Architektur blickt so für Hegel zwar auf eine lange Geschichte zurück, ist aber in der Moderne aufgrund ihrer Ausdrucksmöglichkeiten nur noch von eingeschränkter Relevanz, wohingegen Musik, Malerei und vor allem Literatur hier zu Leitkünsten avancieren. In entsprechenden Spielarten des klassischen Systems der Künste ist die These von ihrer Komplementarität also nicht allein derart mit normativen Festlegungen verbunden, dass die einzelnen Werke der Künste in unterschiedlicher Weise an einem vollen Begriff ihrer Kunst gemessen werden, sondern auch derart, dass verschiedenen Künsten historisch unterschiedlich fortgeschrittene Ausdrucksmöglichkeiten zugeschrieben werden (Hegel glaubt dabei zugleich, dass in der Literatur in spezifischer Weise die Ausdrucksmöglichkeiten der anderen Künste wiederkehren). Dieser Gedanke scheint das System der Künste über sich selbst hinauszutreiben, da die Unterschiedenheit der Künste trotz des plausiblen Gedankens, dass sie in einem Verhältnis zueinander stehen, nicht konsequent genug gedacht wird; der Gedanke, dass zum Beispiel die Musik expressiv der Architektur prinzipiell überlegen sei, ist ein Gedanke, der den Eigensinn und das Potenzial 19der einzelnen Künste herunterzuspielen droht; die Architektur verkommt so zu einer möglicherweise historisch notwendigen, aber letztlich doch unvollkommenen Realisation dessen, was die Musik vermag. Es scheint aber prima facie so zu sein, dass beide trotz ihrer Verbundenheit als Kunstformen doch so unterschiedlich sind, dass ihnen damit kaum Gerechtigkeit widerfährt.
(c) Entsprechend den Problemen, die sich dabei zeigen, eine Einheit der Künste durch Hierarchisierung oder Systematisierung plausibel zu machen, drängt sich eine zweite Perspektive auf, die ein Zusammengehen und Zusammenspiel der Künste in einer durch sie realisierten Einheit geltend macht. Das paradigmatische Beispiel hierfür ist das von Wagner ausbuchstabierte Modell des Gesamtkunstwerks.[7] Die Künste sind dieser Auffassung zufolge nicht dahingehend in ihrer Einheit zu denken, dass sie unterschiedliche und mehr oder minder komplementäre Ausdrucksmöglichkeiten haben, sondern vielmehr ganz handgreiflich derart, dass sich ihre volle Bestimmung erst in ihrem tatsächlichen Zusammenspiel realisiert. Musik ohne Gesang ist noch keine Musik, die ihr volles Potenzial zeigt, und Musik und Gesang ohne Theater und architektonische Räume, in denen das Ganze geschieht, sind ebenfalls nur unvollständige und nicht vollwertige Realisierungen der Künste. Wesentlich ist für den Gedanken des Gesamtkunstwerks – aber auch schon für Vorstufen wie etwa Herders System der Künste, das in seiner Entfaltung des Systems der Künste bereits ihr Zusammenspiel betont[8] –, dass die Künste hier nicht additiv, sondern transformativ zusammenkommen. Musik im Musikdrama ist nicht dasselbe wie bloße Instrumentalmusik oder geistliche Musik; was Musik ist, wird durch das Zusammenspiel mit anderen Künsten wie dem Theater und der Architektur transformiert. Was eine Kunst ist, wird im Gesamtkunstwerk so bestimmt, dass sie erst hier ihr volles Potenzial entfaltet.
Ausgehend von diesem Gedanken lässt sich geltend machen, dass der Tonfilm nicht einfach eine Kombination aus Film und Tonspur ist, sondern durch seine Integration von Musik, Geräusch und Sprache darin transformiert wird, was ihn ausmacht. In ebendieser Weise lässt sich deutlich machen, inwiefern die Oper mar20kant aus der Musikgeschichte heraussticht: In ihr gewinnt das, was Musik ist, dadurch eine andere Kontur, dass es mit Schauspiel, Inszenierung und so fort verbunden ist. Wie bereits das unter (b) diskutierte System der Künste die Unterschiedenheit der Künste nivelliert, so handelt sich das Konzept des Gesamtkunstwerks aber einen analogen Einwand ein: Es ist schlichtweg in problematischer Weise wertend zu sagen, dass die einzelnen Künste allein in ihrem umfassenden Zusammenspiel miteinander ihre höchste Vollendung erreichen. Plausibler ist es zu behaupten, dass das Zusammenspiel – verstanden nicht als Addition, sondern als Transformation der beteiligten Künste – eine eigene Form ästhetischen Gelingens hervorbringt, die aber eben nicht das Paradigma der Kunst schlechthin sein kann. Ein Roman ist nicht deshalb weniger gelungen, weil er nicht mit Musik und Tanz verbunden wird, wie ein Streichquartett nicht deshalb einen geringeren ästhetischen Wert hat, weil es ohne Gesang auskommt.
(d) Die Probleme des Vorschlags, die Einheit der Künste durch ihr Zusammenspiel zu sichern, legen nahe, eine weitere Familie von Positionen in den Blick zu nehmen, die Austauschprozesse zwischen den Künsten betonen. Auch wenn bereits im klassischen System der Künste (etwa in Hegels Redeweise davon, dass Architektur kristalline Musik sei) wie im Konzept des Gesamtkunstwerks (wenn musikalische Formen die Bewegungen der Schauspieler*innen informieren) Aspekte eines Austauschs der Künste auftauchen, werden sie doch nicht als Prinzip der Künste selbst verstanden. Um dies zu korrigieren, muss man geltend machen, dass es für Künste konstitutiv ist, mit anderen Künsten Prinzipien auszutauschen. In der Geschichte ist dafür unter anderem der Begriff der Synästhesie herangezogen worden, der in der Debatte um die Künste vor allem von Kandinsky profiliert wurde.[9] Er besagt, dass ein Werk einer Kunst Eigenschaften anderer Künste aufweist, wobei die Künste hier zumeist gemäß den jeweils unterschiedlichen Sinnen, die sie ansprechen, differenziert werden. Nach dem Konzept der Synästhesie realisieren zum Beispiel musikalische Strukturen Farbmomente und architektonische Werke klangliche Momente. So bestehen die Künste nicht getrennt voneinander, sondern gehen konstitutiv ineinander über.
21Ein entsprechendes konstitutives Ineinanderübergehen kann man auch dadurch fassen, dass man die Übertragung von Begriffen, die erst einmal Eigenschaften einer bestimmten Kunst zu charakterisieren scheinen, auf eine andere Kunst betrachtet. Die Austauschprozesse werden dabei nicht in den in Kunstwerken buchstäblich realisierten Eigenschaften fundiert, sondern in ihren Beschreibungen verortet. So ist es möglich, Musik als flächig oder einen literarischen Text als kontrastreich zu charakterisieren. Zur Erklärung solcher sprachlichen Übertragungen lässt sich unter anderem die Position von Nelson Goodman heranziehen. Goodman zufolge ist die Bedeutung von Kunstwerken auch dadurch zu erklären, dass diese ihre Eigenschaften herausstellen (was er terminologisch anhand des Begriffs der Exemplifikation fasst).[10] Ein monochromes Gemälde kann demnach so zu verstehen sein, dass es seine Farbe beispielhaft hervortreten lässt (wie das Blau eines Gemäldes von Yves Klein). Es können aber auch Eigenschaften wie Traurigkeit, Tiefe oder Wohlklang eines Gemäldes herausgestellt werden. Das Gemälde verweist in diesem Fall auf Eigenschaften, die es nicht buchstäblich besitzt und die unter anderem in anderen Künsten realisiert sind (es handelt sich hier, wie Nelson Goodman sagt, um Fälle metaphorischer Exemplifikation). In dieser Weise lassen sich die Künste als in ihren Eigenschaften wechselseitig aufeinander bezogen begreifen.
Eine letzte Weise, die Künste so aufzufassen, dass sie in grenzüberschreitendem Austausch stehen, folgt dem eingangs bereits angesprochenen Theorem, dass die Nachmoderne durch eine zunehmende Verfransung der Künste charakterisiert ist. Demnach werden mit der Entwicklung der Künste im 20.Jahrhundert deren Grenzen durch einen Austausch von Verfahrensweisen und Materialien zwischen ihnen immer unklarer. Zu denken ist hier unter anderem an die grafische Notation in Lyrik und Musik oder an die kinetische Dimension zeitgenössischer Skulpturen. Aus Adornos Perspektive ist die Entgrenzung der einzelnen Künste als eine Auflösungserscheinung des in eigenen Formgebungen und Sprachmomenten der Künste begründeten kritischen Potenzials zu begreifen. Die Auflösung betrifft sowohl die Produktion als auch die Wahrnehmung und Rezeption von Kunst.
22Die Austauschprozesse zwischen den Künsten lassen sich, wenn man weiterhin von der Unterschiedenheit der Künste ausgeht, in diesem Sinne auch als Grenzüberschreitungen perspektivieren. Dabei besteht ein wichtiger Unterschied darin, ob man von einer grundlegend für die Künste geltenden Prägung durch wechselseitige Austauschprozesse ausgeht (wie dies sowohl für Kandinskys Verständnis der Synästhesie als auch für einen Transfer von Beschreibungen zwischen den Künsten gilt) oder ob man Grenzüberschreitungen als Ergebnisse historischer Entwicklungen begreift (wie Adorno es mit der These von der »Verfransung der Künste« tut). Alle drei genannten Positionen loten einen Zwischenraum zwischen den Künsten insofern aus, als sie in ihm entweder eine konstitutive Verbundenheit der Künste oder ihren zunehmenden Konturverlust festmachen. Insgesamt lassen entsprechende Positionen einen Raum zwischen den Künsten entstehen, der ihre Trennung zumindest in gewisser Hinsicht als Schein offenbart beziehungsweise als einen historisch vorläufigen, defizitären Zustand, der in einer zukünftig zu erzielenden Einheit überwunden wird. Genau dieser Gedanke aber wird dann, wenn man Austauschprozesse beziehungsweise Grenzüberschreitungen der Künste geltend macht – so kann man zumindest argwöhnen –, nur inkonsequent gefasst. Die Austauschprozesse lassen sich demnach nur dann angemessen verstehen, wenn man eine herkömmliche Spielart des Gedankens unterschiedlicher Künste verabschiedet.
(e) Diese Überlegung führt zu einer weiteren Position, die vorschlägt, den Begriff der Künste zugunsten des Kollektivsingulars Kunst aufzugeben. Naheliegend ist, dass es im Sinne der bislang unterschiedenen Art und Weise, Austauschprozesse zwischen den Künsten zu konzeptualisieren, zwei unterschiedliche Varianten dieser Position gibt, und zwar eine, die die Kunst grundsätzlich als Einheit begreift, und eine andere, die die Zentrierung um den Kollektivsingular Kunst als Ergebnis einer Entwicklung auffasst, die auf dem Weg zur Gegenwartskunst stattgefunden hat. Thierry de Duve vertritt die These,[11] dass alle unterschiedlichen künstlerischen Produktionen aus der Einheit der Kunst heraus zu begreifen sind, so dass die Unterscheidung einzelner Künste in der Erklärung künstlerischer Produktionen ausgedient hat. In zugespitzter Weise 23kann man auch Juliane Rebentischs Überlegungen so verstehen, dass sie unter Rückgriff auf Adornos Diagnose einer »Verfransung der Künste« eine verwandte These vertritt, nämlich dass in der Gegenwartskunst einzelne Kunstwerke nicht mehr in Künsten, sondern nur noch in Kunst verortet sind.[12]
Unabhängig davon, ob der Rekurs auf den Kollektivsingular Kunst grundsätzlicher Natur oder historisch bedingt ist, löst eine solche Position in problematischer Weise die für Kunst charakteristischen Unterschiede auf. Auch wenn zum Beispiel in der Kunst der Gegenwart die traditionellen Ordnungen der Künste nicht einfach fortbestehen, gibt es doch zum Beispiel zwischen den Performances von Marina Abramović und den konstruierten Situationen Tino Sehgals wichtige Unterschiede, die auch den Status der jeweiligen Ereignisse als Kunst betreffen. Man muss die Kunsttheorie so anlegen, dass sie entsprechenden Unterschieden in ihrer Relevanz für die Realisierung von Kunst Rechnung zu tragen vermag. Dies legt einen grundlegend anderen Ansatz in der Kunsttheorie nahe, der die Unterschiede der Künste ins Zentrum stellt. Ein solcher Ansatz lässt sich den an der Einheit der Künste orientierten Positionen als Kontrast gegenüberstellen.
Theorien, die die Unterschiedlichkeit der Künste betonen, lassen sich heuristisch wiederum in vier Positionen unterteilen. Es lohnt sich, hier noch einmal (a) beim System der Künste anzusetzen, und zwar genauer bei der Dimension, die hier neben dem Zusammenspiel zumeist auch die irreduzible Verschiedenheit der Künste betont; diese kann (b) als eine Unterschiedlichkeit begriffen werden, die strikt getrennte Grundprinzipien der Künste impliziert; jedoch sorgt (c) die Unmöglichkeit, geteilten Grundprinzipien aus der Pluralität der Künste im vollen Sinn gerecht zu werden, dafür, diese Pluralität auf die materiale und mediale Spezifik der einzelnen Künste zurückzuführen; die damit behauptete interne Stabilität der Künste wird schließlich (d) dahingehend überwunden, dass 24innerhalb der Künste selbst eine irreduzible Vielfalt zur Geltung gebracht wird.
(a) Das System der Künste lässt sich nicht allein als Position verstehen, die den Zusammenhang der Künste in Form etwa der Arbeitsteilung expressiver Differenzen betont, sondern umgekehrt als Position, die trotz dieser Arbeitsteilung auch die kategoriale Unterschiedenheit der Künste einklagt. Die wesentliche Pluralität der Künste, die unter anderem Hegel behauptet, speist sich ebenso daraus, dass sie jeweils etwas Bestimmtes können und Anderes nicht. Die Skulptur ist wie die Architektur aus Hegels Perspektive eine Sache der Vergangenheit; beide Künste haben so gesehen nicht das Potenzial, in modernen Gesellschaften eine besondere Bedeutung zu erlangen.[13] Das System der Künste ist also nicht einfach Ausdruck einer friedlichen Koexistenz der Künste, sondern stellt sie zugleich in ein konfliktives Verhältnis, dem gemäß einzelne Künste überfordert und verfälscht werden, wenn man sie mit Aufgaben anderer Künste betraut. Die Skulptur kann demnach keine tänzerisch-theatrale Bewegung realisieren, und die Malerei wird verfehlt, wenn mittels ihrer klangliche Eigenschaften zustande gebracht werden sollen. Die Künste sind entsprechend innerhalb des Systems der Künste so verortet, dass sie in einer je spezifischen Leistungsfähigkeit erfasst werden. Genau dieser Gedanke aber wird, so kann man argumentieren, innerhalb des Systems der Künste nicht angemessen gefasst. Ihre Unterschiedlichkeit wird verzeichnet, wenn man sie im Rahmen eines Ganzen versteht, in dem ihre Leistungsfähigkeiten als solche verstanden werden, die sich wechselseitig ergänzen. Ihrer Differenz kann man nur dadurch Rechnung tragen, dass man sie als in ihren Grundprinzipien unabhängig voneinander fasst.
(b) Diesen Schluss hat mit aller Konsequenz vor allem Lessing im Rahmen seiner Einteilung der Künste in Raum- und Zeitkünste gezogen.[14] Die Malerei kann etwas Anderes ausdrücken als die Poesie, weil ihre Medien des Ausdrucks andere sind: im ersten Fall Prinzipien der räumlichen Organisation, und das heißt, eine Konstellation synchroner Elemente; im zweiten Fall Abfolgen von 25Worten, und das heißt eine diachrone Kette von Elementen. Zielen die Malerei wie die Literatur beide auf das Festhalten eines verdichteten, fruchtbaren Augenblicks, tun sie dies doch mit gänzlich anderen Mitteln: einerseits, wie Lessing behauptet, in Form der Darstellung von Körpern, andererseits im Rahmen einer Beschreibung von Handlungen. Die Prinzipien der jeweiligen Kunst sind nach diesem Verständnis kongruent zu dem, was sie darzustellen in der Lage sind.
Von Lessings eher strikter Abgrenzung divergenter Prinzipien der Künste lässt sich Nietzsches Verständnis einer entsprechenden Trennung unterscheiden.[15] Nietzsche fragt nicht nach den Materialien einzelner Künste und den mit ihnen verbundenen Ausdrucksmöglichkeiten, sondern vielmehr nach höherstufigen Prinzipien, die die Künste konstituieren. In seiner Unterscheidung eines Prinzips des Rausches und der Ekstase und eines Prinzips der ordnenden Form – bei Nietzsche als Dionysisches und Apollinisches bezeichnet – verleiht er dem Gedanken Ausdruck, dass in den Künsten Formgebungen und Formüberschreitungen untrennbar zusammenspielen, wobei sie als wechselseitig voneinander abhängig begriffen werden (eine Form lässt sich nur überschreiten, wenn sie etabliert ist). Auch wenn in allen Künsten beide Prinzipien im Spiel sind, lassen sie sich nach Nietzsches Verständnis primär einem von beiden zuordnen, was wiederum sinnvoll unter Rekurs auf die Materialien und Medien, im Rahmen derer sie jeweils operieren, erläutert werden kann.
Auch wenn Lessing und Nietzsche mit ihren Unterscheidungen von Kunstprinzipien einen wichtigen Schritt gehen, um die Künste in ihrer Unterschiedlichkeit zu fassen, kann man diesen Schritt als halbherzig begreifen, da er nicht dazu führt, die Divergenz der Künste als Pluralität zu fassen. Zwei Prinzipien sind dieser Kritik zufolge zu wenig, um der Vielfältigkeit und den Eigenarten von Künsten Rechnung zu tragen, und suggerieren eine Gleichheit (der Zeitkünste Literatur und Musik zum Beispiel), die ihre Ungleichheit übergeht.
(c) Diese kritische Überlegung kann dazu führen, dass man die schon in den bisherigen Erläuterungen wichtigen Begriffe des Ma26terials und des Mediums ins Zentrum einer Rekonstruktion der Eigenständigkeit einzelner Künste rückt. Besonders deutlich hat das in der Nachfolge Lessings Clement Greenberg getan;[16] in jüngerer Zeit sind ihm Peter Kivy und Dominic McIver Lopes in unterschiedlicher Weise gefolgt.[17] Die Unterschiedlichkeit der Künste liegt demnach darin begründet, dass sie mit je eigenen Materialien und in verschiedenen Medien operieren und dabei je eigenständige mediale Praktiken entwickeln. Materialität und Medialität der Musik unterscheiden sich demnach grundlegend von derjenigen der Literatur. Mit der These, dass beide – im Sinne Lessings – als Zeitkünste zu verstehen sind, lassen sie sich also in ihrer Eigenart nicht fassen. Der Rekurs auf die jeweiligen materialen, medialen und medial-praktischen Besonderheiten erlaubt es, einer Vielfalt von Künsten so Rechnung zu tragen, dass diese als Pluralität gefasst und nicht auf wenige von unterschiedlichen Künsten geteilte Prinzipien reduziert werden.[18]
Dominic McIver Lopes argumentiert, dass selbst solche Werke, die scheinbar keiner Kunst zugehörig sind, aufgrund der von ihnen involvierten Praxiszusammenhänge und der in ihnen dominierenden Materialien als je spezifische Künste begriffen werden können.[19] So gesehen ist die Concept Art weder eine Strömung der bildenden Kunst noch – wie einige ihrer Theoretiker*innen sie ver27standen haben – die Offenlegung einer Grammatik aller Kunst,[20] sondern selbst eine neue Kunstform, zu deren Materialien nicht primär Formen, Flächen und Klänge, sondern vielmehr Begriffe gehören, die in spezifischer Weise im Kunstwerk verkörpert und thematisiert werden. Wie Lessing und Greenberg geht auch McIver Lopes davon aus, dass es in einer (manchmal nur retrospektiv verständlich zu machenden) Etablierung einer neuen Kunst zu einer Bestimmung ihrer konstitutiven Materialien und Medien kommt, wobei Veränderungen hier entweder als Transformationen des Sinns dieser Medien und Materialien innerhalb einer bestehenden Kunst verstanden werden können oder aber wieder als Genese einer neuen Kunstform.
Nun zehrt allerdings die Erläuterung der unterschiedlichen Künste unter Rekurs auf Materialien und Medien von der Vorstellung, dass in den Künsten intern spezifische Ausdrucksmöglichkeiten beschlossen liegen. In dieser Weise sind auch jüngere Positionen explizit oder implizit noch dem Erbe Lessings verpflichtet. Wenn es so ist, dass die Künste aufgrund ihrer Materialien und Medien bestimmte Möglichkeiten des Ausdrucks haben und andere nicht, so lassen sie sich auch niemals in diesen Ausdrucksmöglichkeiten verändern – wie groß deren interner Spielraum auch immer sein mag. Die Genese neuer Künste wäre dann als Genese neuer Ausdrucksmöglichkeiten zu erläutern. Dass ein solcher Gedanke unbefriedigend bleibt, lässt sich nicht zuletzt ausgehend von der Position Theodor W. Adornos her explizieren, der im 20.Jahrhundert maßgeblich die Debatten um den Begriff des künstlerischen Materials geprägt hat.[21] Denn der von den Positionen, die auf die Unterschiedenheit der Künste pochen, zur Geltung gebrachte Material- und Medienbegriff ist ungeeignet, um die Struktur einzelner Kunstwerke aufzuklären. Von Lessing bis McIver Lopes wird aus der zutreffenden These, dass wir die Unterschiede der Künste ernst nehmen müssen, fälschlicherweise gefolgert, dass die einzelnen Künste aufgrund ihrer medialen und materialen Bedingungen stabile Ausdrucksmöglichkeiten haben. Dagegen spricht nicht allein, 28dass ein Kunstwerk zu verstehen immer heißt, es in seiner jeweils spezifischen Erarbeitung von Materialien und Medien nachzuvollziehen; Kunstwerke bestehen nicht aus gegebenen Materialien und Medien, sondern sind als Produkt künstlerischer Tätigkeit Erarbeitungen dessen, was der Klang, die Bewegung, die Farbe, die Körperhaltung und so fort aus der Perspektive des jeweiligen Kunstwerks heraus in eigener Weise ist.
(d) Damit kommt man zu einer Position, die den Gedanken von der Unterschiedenheit der Künste über die Künste im engeren Sinn hinaustreibt. Fasst man die Eigenständigkeit und Einzigartigkeit von Kunstwerken im Rahmen einer spezifischen Kunst konsequent, muss man die Unterschiedlichkeit in die Künste selbst einzeichnen. Adorno spricht in diesem Sinn von einem »Nominalismus« der Kunstwerke.[22] Der Begriff des Nominalismus hat seinen Platz originär in dem sogenannten Universalienstreit, in dem es um die Frage ging, ob es Allgemeinheiten wie ›die Röte‹ oder ›das Menschenhafte‹ gibt oder nicht. Universalist*innen behaupten das Bestehen von Allgemeinheiten, wohingegen Nominalist*innen die These vertreten, dass es nur Individuen gibt. Es ist leicht zu sehen, dass dieser alte Streit indirekt erhellend für die Überlegungen ist, mit denen wir hier befasst sind. Wenn Kunstwerke und die in ihnen hergestellten Zusammenhänge unter Rekurs auf in Künsten etablierte Materialien und Medien nicht zufriedenstellend erklärt werden können, rekurriert man in besonderer Weise auf Kunstwerke als Individuen. In diesem Sinn spricht Adorno von einem Nominalismus.
Begreift man allerdings solchermaßen die Unterschiedlichkeit von Kunstwerken als Grundlage der Realisierung ästhetischen Werts, verlieren die Künste und ihre möglicherweise spezifische Materialität und Medialität an Erklärungskraft. Die Explikation der Unterschiedlichkeit der Künste unter Rekurs auf eine Unterschiedlichkeit von Kunstwerken führt dazu, dass die Künste aus sich heraus keine Substanz mehr entfalten. Damit aber unterminiert sich potenziell ein Ansatz, der sich eine Erklärung der Unterschiedlichkeit der Künste vorgenommen hat, aus sich heraus. Die Unterschiedlichkeit der Künste lässt sich nicht stabilisieren, wenn man die Rolle der Kunstwerke innerhalb der Künste bedenkt. So steht man theoretisch vor der Frage, wie man die Unterschiedlich29keit der Künste so begreifen kann, dass sie mit der Unterschiedlichkeit von Kunstwerken vereinbar ist. Mit dieser Frage kommt man zu Positionen, die in der Explikation des Verhältnisses von Kunstwerken, Künsten und Kunst Einheit und Unterschiedenheit verbinden.
Die bisherige Skizze von Positionen, die bei der Einheit der Künste oder bei ihrer Unterschiedenheit ansetzen, sollte deutlich gemacht haben, dass sowohl eine Aufhebung der Künste in der Kunst als auch ein Beharren auf ihrer festgelegten und festlegbaren Unterschiedenheit einseitig zu bleiben droht. Besagt der Gedanke der Einheit der Künste, dass sie in vielfältigen konstitutiven Relationen zueinander stehen, so droht damit, wie gezeigt, die Kontur einzelner Künste in ihrer Differenz von anderen Künsten verloren zu gehen. Umgekehrt drückt der Gedanke der Unterschiedenheit der Künste die treffende Einsicht aus, dass ein Roman eben kein Film ist und ein musikalisches Werk eben kein Gemälde (ohne zu bestreiten, dass es Künste wie die Installation, die Concept Art und die Performance gibt, die in vielfältiger Weise Materialien unterschiedlicher Künste integrieren; eine solche Integration ist aber eben nicht additiv, sondern transformativ zu denken) – und dass es zu einem orientierten Nachvollzug und einer angemessenen Deutung eines Werks nur kommen kann, wenn man es im Kontext seiner jeweiligen Kunst versteht.[23] Dieser Gedanke ist aber wiederum verzeichnet, wenn er dazu führt, dass man diese Unterschiedenheit ohne die vielfältigen Austauschprozesse zu denken versucht, in denen die Künste zueinander stehen. Und er gerät auch unter Druck, wenn er eine Einheitlichkeit einzelner Künste suggerieren soll, die auf der Ebene der Kunst gerade bestritten wird.
Ein Ausweg für einen anderen Begriff des Verhältnisses von Kunst und Künsten kann von einer (a) weiteren Lesart des Systems der Künste – verstanden als dynamisches Feld, das nicht allein durch 30Interaktionen zwischen den Künsten geprägt ist, sondern selbst als Feld in Bewegung ist – seinen Ausgang nehmen. Die Dynamik der Künste aber lässt sich (b) nicht ohne diejenige von Kunstwerken innerhalb einzelner Künste begreifen, was einen Rekurs auf den Begriff des künstlerischen Materials erforderlich macht, mit dem allerdings die Unterschiedlichkeit von Kunstwerken und Künsten aus dem Blick gerät, die sich ihrerseits (c) von einem Begriff der Form des Kunstwerks aus konturieren lässt. Sind diese Überlegungen gewissermaßen den in den Spannungsverhältnissen von Kunstwerken, Künsten und Kunst realisierten Zusammenhängen von Einheit und Unterschiedenheit verschrieben, so dass Form als zentraler Motor von Unterschiedlichkeit in den Künsten akzentuiert wird, gilt es komplementär, auch eine mit künstlerischer Formgebung verbundene Einheit verständlich zu machen. Dazu ist (d) der Rekurs auf gesellschaftliche Aushandlungsprozesse erforderlich, in denen Kunstwerke Beiträge erbringen. Will man aber Kunst nicht einfach in einer Einheit gesellschaftlicher Kräfte aufgehen lassen, muss man zugleich die Spezifik ihrer Beiträge begreiflich machen, was (e) unter Rekurs auf das negative Potenzial künstlerischer Form möglich wird.
(a) In den bisherigen Lesarten haben wir das System der Künste so verstanden, dass es entweder eine komplementäre Ordnung der Künste oder eine Verortung ihrer Unterschiedenheit artikuliert. Eine dritte Art und Weise, den Grundgedanken eines solchen Systems zu fassen, besagt, dass Künste sich in einem dynamischen Feld entfalten, in dem sie genauso wie auch das Feld insgesamt kontinuierlich in Bewegung sind. Der Zusammenhang der Künste in einem System ist demnach nicht statischer Natur, sondern so beschaffen, dass sich Künste in ihrem Zusammenspiel transformieren. Sie sind also nicht in der Weise verortet, dass sie auf eine spezifische Ausdrucksmöglichkeit festgelegt wären, und befinden sich auch nicht derart miteinander in Austauschprozessen, dass sie sich in einem Ganzen der Kunst auflösten. Vielmehr sind die Künste in Wechselverhältnissen konstituiert, aus denen heraus sie sich bewegen. Die Einheit der Künste im Rahmen der Kunst ist demnach der Rahmen, in dem eine Bewegung der Künste begreiflich wird. Die Einheit ist Grundlage der Unterschiedlichkeit und Uneinheitlichkeit. Dieser Gedanke trifft auch in umgekehrter Formulierung zu. Die Unterschiedlichkeit und Uneinheitlichkeit innerhalb der 31Künste und der Künste untereinander ist als Grundlage der Einheit der Kunst zu begreifen. Insofern gilt es, das System der Künste als eine Dynamik zu begreifen, bei der die Einheit auf die Unterschiedenheit verweist und die Unterschiedenheit auf die Einheit. Eine Revolution im Bereich der Musik wie etwa die Entstehung elektronischer Musik entwickelt so nicht allein die Kunstform der Musik weiter und ist auch nicht allein als Migration von Verfahrensweisen aus anderen Künsten zu erläutern; vielmehr verändert sie das Verhältnis und die Kontur aller Künste.
Eine entsprechende Dynamik aber kann nicht allein auf Grundlage der unterschiedlichen Künste verstanden werden, sondern setzt eine analoge Dynamik innerhalb der einzelnen Künste voraus, die von individuellen Kunstwerken angetrieben wird. Künste sind ihrerseits nicht als homogene Zusammenhänge zu begreifen, sondern bewegen sich durch die Unterschiedlichkeit und Uneinheitlichkeit von Kunstwerken innerhalb ihrer. Die Künste selbst macht bereits eine Dynamik aus, mit der sie die Dynamik im System der Künste in Gang setzen und am Laufen halten. Allein von den Unterschieden der Künste aus lässt sich also keine Dynamik begreiflich machen; sie setzt die von einzelnen Kunstwerken ausgehenden Bewegungen innerhalb der Künste selbst voraus. So überschreitet sich das System der Künste in Richtung auf ein Zusammenspiel von Kunstwerken, Künsten und Kunst.
(b) Dieses Zusammenspiel ist von den Impulsen her zu rekonstruieren, die von einzelnen Kunstwerken ausgehen. Dazu muss der Begriff des Materials in einer Weise gefasst werden, in der ein spezifisches Material nicht nur die Unterschiedenheit einer spezifischen Kunst ausmacht, sondern auch ein zentrales Moment der Austauschprozesse ist, in denen diese Kunst auf Grundlage der sie bewegenden Kunstwerke steht und sich entwickelt. Dabei ist das Material von Künsten – das haben in der Tradition nicht nur Hegel, sondern bereits Lessing, anders als etwa Burke und Diderot, gesehen – nur unzureichend aus einer im weitesten Sinne sensualistischen Perspektive zu explizieren: Die Künste lassen sich in ihren Materialien nicht ausschließlich oder primär ausgehend von den Sinnen, die sie ansprechen, bestimmen.[24] Denn nicht allein 32gibt es Künste wie die meisten Formen der Literatur oder auch die Concept Art, die keinen ausgezeichneten Bezug zur Sinnlichkeit haben (würde man die Concept Art als Phänomen des Sehens begreifen, so würde man gerade die spezifische dialektische Volte dieser Kunstform verpassen; ist in der Literatur ein Großteil der Lyrik unzweifelhaft auf phonetische und oft auch grafische Aspekte bezogen, so gilt das für Romane in weiten Teilen nur sehr eingeschränkt). Auch zeichnet der Begriff der Sinnlichkeit einen konstitutiven Aspekt des menschlichen Selbst- und Weltbezugs insgesamt aus, so dass der Begriff des Materials leer zu werden droht, wenn man ihn über eine gewissermaßen rohe Sinnlichkeit zu erläutern versucht. Die Sinnlichkeit der Künste ist nicht allein eine Sinnlichkeit, die in verschieden gedämpften Modalitäten hervortritt, also niemals einfach eine gewissermaßen rohe Sinnlichkeit; zudem lassen sich sinnliche Modalitäten nicht sauber nach Künsten sortieren – Musik kann auch konstitutiv mit einer bestimmten visuellen Logik verbunden sein, Gemälde haptische Qualitäten artikulieren und ein Roman eine Thematisierung unseres Hörens sein.[25] Kurz gesagt: Die Sinnlichkeit erhält ihre spezifische Struktur erst ausgehend vom jeweiligen Kunstwerk[26] – wie die menschliche Sinnlichkeit insgesamt nicht bloß natürlich und fixiert ist, sondern im Kontext von Praktiken geformt wird und hier insbesondere durch die Praktiken der Künste.[27]
Der Rekurs auf einzelne Kunstwerke in der Bestimmung des Materialbegriffs darf aber nicht so verstanden werden, dass mit ihm der Begriff der Künste aus dem Spiel genommen wird. Das jeweils spezifische Kunstwerk ist vielmehr der Knotenpunkt, an dem sich das Verhältnis der Künste in ihrer Einheit und Unterschiedenheit immer wieder neu konkretisiert. Das Material ist daher immer bereits durch andere Kunstwerke innerhalb der betreffenden Kunst bestimmt, ohne dass dies die jeweils nachfolgenden Kunstwerke 33festlegt. Das Material einer jeden Kunst ist, noch einmal anders gesagt, immer auch konstitutiv unbestimmt. Nicht allein ist es so, dass Klang als naheliegende Bestimmung des Materials der Musik nicht exklusiv für die Musik ist und auch andere Materialien (wie jüngste Entwicklungen in der Neuen Musik zeigen) in sie eingespeist werden können, sondern es bleibt immer auch offen, was genau den Sinn des Materials des Klangs ausmacht und wie dieser im einzelnen Werk konkret bestimmt wird. Diese Offenheit wird dadurch produktiv, dass ein Kunstwerk an bisherige Entwicklungen des Materials anschließt und sie aus sich heraus weiterentwickelt. Unter einer genealogischen Perspektive ließe sich so der Übergang einer Bestimmung des Klangs als Geräusch bis hin zur Entgrenzung und Aufhebung des Klangs in performativen und multimedialen Situationen rekonstruieren. Auf diese Weise wird das Material in der jeweiligen Kunst und im einzelnen Kunstwerk zugleich verortet. Jedes Kunstwerk bestimmt sich durch seinen spezifischen Anschluss an eine Geschichte der Materialentwicklung und prägt damit das betreffende Material aus sich heraus neu, wobei diese Prägung auch dadurch geschehen kann, dass Materialien, die erst einmal mit anderen Künsten paradigmatisch verbunden zu sein scheinen, in einen neuen Zusammenhang aufgenommen werden.
Der mit dem Begriff der Materialentwicklung innerhalb einer Kunst und zwischen den Künsten hergestellte Zusammenhang zwischen Einheit und Unterschiedenheit allerdings droht zu spannungslos auszufallen. Es entsteht der Eindruck, dass Künste sich in einem Kontinuum unterschiedlicher Materialien entwickeln, die genauso in einem kontinuierlichen Austausch miteinander stehen, wie sie immer wieder Abgrenzungsbewegungen durchlaufen. Die Unbestimmtheit des Materials mit Blick auf jedes einzelne Werk erweist sich damit als Potenzial für eine Weiterentwicklung, in der den Kunstwerken nur eine gewissermaßen katalytische Funktion zukommt. Einheit und Unterschiedenheit sind damit zu eng aneinandergerückt. Der Unterschiedlichkeit von sowohl Kunstwerken untereinander als auch Künsten untereinander muss ein stärkeres Gewicht zukommen.
(c) Die Ästhetik Theodor W. Adornos gibt erneut eine Blaupause dafür ab, wie die Unterschiedlichkeit innerhalb eines dynamischen historischen Materialbegriffs klarer profiliert werden kann, indem sie neben dem Begriff des Materials denjenigen der Form 34ins Zentrum rückt.[28] Die Kategorie der Form des Kunstwerks kann dabei als Name für diejenigen Prozesse verstanden werden, mittels deren sich ein Kunstwerk aus der allgemeinen Dynamik der Materialien, die es sich aneignet, abhebt und die Materialien zugleich in ihrer Spezifik konkretisiert. Einzelne Kunstwerke prägen demnach Formen aus, die sich von Formen abgrenzen, die in anderen Kunstwerken derselben Kunst und in solchen anderer Künste bereits realisiert sind. Die einzelnen Formen unterschiedlicher Werke und Performances stehen damit in Spannung zu den Kontinuitäten, die sich aus den Dynamiken künstlerischer Materialien entwickeln. Dabei schließen Werke auch mit ihren Formen aneinander an und konstituieren damit Zusammenhänge einzelner Künste (wie des Theaters) oder innerhalb einzelner Künste (wie der konkreten Poesie), die sich gegen andere formbasierte Zusammenhänge in den Künsten abheben.
In den Debatten der analytischen Ästhetik im 20.Jahrhundert hat man den Begriff der Form tendenziell im Sinne einer Analyse der spezifischen Eigenschaften eines Kunstwerks deflationistisch zu lesen versucht; was in den kontinentalen Diskussionen im Kontext einer spezifischen Form des Kunstwerks erläutert worden ist, ist dabei in eine Analyse ästhetischer Prädikate, einflussreich geprägt von Frank Sibley, überführt worden.[29] Aus kunsttheoretischer Perspektive hat diese aber nicht allein mit dem Problem zu kämpfen, dass sie für ästhetische Phänomene schlechthin gilt und nicht auf Kunstwerke in spezifischer Weise bezogen ist. Sie hat zudem und infolgedessen mit dem Problem zu kämpfen, dass sie von einer allgemeinen ästhetischen Perspektive nicht in plausibler Weise zu einer kunsttheoretischen Perspektive gelangt, weil viel dafür spricht, dass sich der Sinn der ästhetischen Grundbegriffe in der Kunst im Kontrast zu sonstigen ästhetischen Phänomenen verschiebt. Auch Arthur C. Dantos einflussreiche Appropriation von Sibleys Gedanken löst dieses Problem aus der Perspektive des Verhältnisses der Künste nicht, weil er ästhetische Prädikate zwar als konstitutiv für Kunstwerke begreift, sie aber nicht vom Verhältnis der Künste untereinander her begreift, sondern vielmehr als Aspekt der beson35deren Weise des Bedeutens von Kunstwerken erläutert.[30] Die Diskussion ästhetischer Prädikate ist somit aus der Perspektive einzelner Künste und Kunstwerke neu zu denken.
Adorno hingegen bietet mit seinen Überlegungen zur immanenten Verschränkung von Form und Material im Kunstwerk einen aussichtsreicheren Begriff der Form, der durchaus mit einer bestimmten Spielart einer spezifisch künstetheoretisch gewendeten Analyse ästhetischer Prädikate verbunden werden könnte. Form bildet begrifflich das Gegenteil von Inhalt, aber dieses Verhältnis darf im Kunstwerk eben Adorno zufolge nicht additiv verstanden, sondern muss so rekonstruiert werden, dass – mit Hegel gesprochen[31] – Inhalt zugleich Form ist und Form zugleich Inhalt. Gegen das bei Hegel – zumindest klassizistischen Lektüren zufolge – behauptete Deckungsverhältnis klagt Adorno gleichwohl ein, dass der Inhalt eines Kunstwerks seine Form ist – und zwar genauer die Form im Kontrast zur außerkünstlerischen Organisation von Elementen in weitergehenden gesellschaftlichen Praktiken; im Kunstwerk hängen Elemente in anderer Weise zusammen als im philosophischen Denken, als in religiöser Praxis, als in ökonomischer Beurteilung und auch als in politischer Intervention. Man kann Adorno hier so verstehen, dass Elemente im Kunstwerk in einem Verhältnis wechselseitiger Konstitution stehen: Ein Element ist als das, was es ist, nur aus dem Kontext seines Zusammenhangs mit anderen Elementen zu verstehen; nimmt man ein Element aus einem Kunstwerk heraus und pfropft es einem anderen Kunstwerk auf, so wird es dadurch, dass es seinen Kontext ändert, ein anderes Element. Dabei ist eine solche Bestimmung erst einmal neutral gegenüber dem, was sie als Element auszeichnet. So kann es sein, dass zwanzig verschiedene Bewegungen in einer Tanzchoreografie nicht zwanzig verschiedene Elemente sind, sondern ein einziges Element konstituieren.
Mit einer entsprechenden Bestimmung der jeweiligen Form des Kunstwerks wird der unter (b) explizierte Begriff künstlerischen Materials so ergänzt, dass die Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität im Sinne von Einheit und Unterschiedenheit in den Künsten eine Klärung erfährt: Das Material wird derart in je36dem Kunstwerk neu bestimmt, dass es durch die Form des jeweiligen Kunstwerks erst seinen Zuschnitt und seine Kontur erhält.[32] Es steht nicht nur in dem übergreifenden Zusammenhang einer oder mehrerer Künste, sondern durchbricht diesen zugleich. Auch wenn in dieser Weise der Zusammenhang von Einheit und Unterschiedenheit im Zusammenspiel von Kunstwerken, Künsten und Kunst fassbar wird, ist dieser doch mit den Begriffen Material und Form tendenziell noch immer in einer zu statischen Weise rekonstruiert. Denn Kunstwerke begründen mit ihren Formgebungen nicht nur Unterschiede innerhalb einzelner Künste und der Kunst, sondern stiften zugleich einen Zusammenhang, der sich von demjenigen, den künstlerische Materialien herstellen, unterscheidet. Dieser Zusammenhang allerdings lässt sich nicht mit Blick auf die Rolle erklären, die Formgebungen in ihrer Interaktion mit Bewegungen des Materials spielen, da Form hier immer auf das Moment der Unterscheidung und Vereinzelung von Kunstwerken hin reduziert zu werden droht.
(d) Die durch Formgebungen über unterschiedliche Kunstwerke hinweg hergestellte Einheit lässt sich demgegenüber dann begreiflich machen, wenn man die Dynamiken und Zusammenhänge der Künste auch von den gesellschaftlichen Strukturen her begreift, in denen sie zustande kommen. Dabei ist wiederum ein Rekurs auf Adorno hilfreich, der der Kunst in prägnanter Weise einen »Doppelcharakter als autonom und fait social«[33] zuschreibt. Die in Kunstwerken realisierte Form ist dann nicht nur ein Aspekt künstlerischer Eigengesetzlichkeit, sondern zugleich auch immer ein Sediment gesellschaftlicher Strukturen und Antagonismen, die in ein Kunstwerk Eingang finden. In diesem Sediment liegt ein eigenes Moment der Einheit, das aus den gesellschaftlichen Kräften und Problemen resultiert, die sich in Kunstwerken artikulieren. Qua ihrer Form reflektieren Kunstwerke soziale und politische Fragen gesellschaftlicher Situationen, so dass sich zwischen unterschiedlichen Werken sowohl einer spezifischen Kunst als auch unterschiedlicher Künste ein Zusammenhang in Bezug auf die gesellschaftlichen Situationen herstellt, in denen sie stehen.[34]
37Ein solcher Gedanke lässt sich gut in eine Tradition von Einsichten des marxistischen Diskurses stellen, was Adorno auch explizit tut. Problematisch an einem solchen Verständnis einer entsprechend gesellschaftlich zu begreifenden Einheit der Künste ist aber, dass der Kunst tendenziell kein eigener Beitrag in Bezug auf diese Einheit zugetraut wird. Als »fait social« schreiben sich diesem problematischen Verständnis zufolge gesellschaftliche Problemlagen und Konflikte in Kunstwerke ein. Damit aber wird nur eine der Kunst selbst äußerliche Einheit begreiflich, also keine Einheit, die auch von der Kunst her ihren Ausgang nimmt. Um Formgebungsprozesse in ihrer gesellschaftlichen Dimension zu begreifen, ohne die resultierende Einheit allein auf gesellschaftliche Situationen zurückzuführen, kann es entscheidend sein, den Zusammenhang von Kunst und Gesellschaft weniger im Sinne einer letztlich gegebenen pathologischen gesellschaftlichen Struktur zu begreifen als vielmehr so, dass beide in Aushandlungsprozessen verbunden sind. Demnach nehmen Kunstwerke in gesellschaftlichen Problemlagen und Konflikten Stellung und entwickeln insofern Formen, die Impulse in gesellschaftliche Diskussionslagen hineinzugeben versuchen.[35] Kunstwerke bilden demnach in ihrer Unterschiedlichkeit einheitliche Zusammenhänge dadurch aus, dass sie Momente eines Aushandlungsgeschehens sind, in dem Kunst ihrerseits gestalterische Beiträge entfaltet, ohne damit einfach auf außerkünstlerische Beiträge verrechenbar zu sein. Zu diesen Aushandlungsprozessen gehören Aktivitäten des Beschreibens, Beurteilens und Bewertens von Kunstwerken, wobei diese Aktivitäten gerade nicht aus einem als selbstgenügsam verstandenen Feld der Künste heraus zu begreifen, sondern auf die jeweilige gesellschaftliche Realität bezogen sind.
Als Momente eines gesellschaftlichen Aushandlungsgeschehens gestalten Kunstwerke diejenigen Zusammenhänge genau in der Weise mit, aus denen heraus sie als »fait social« zu begreifen sind, nämlich dass sie in ihrer jeweiligen Form nicht einfach ein Reflex auf herrschende Zustände sind, sondern sie reflexiv je spezifisch 38thematisieren und herausarbeiten. Damit wird die Verschränkung von Einheit und Unterschiedenheit in den Künsten um eine weitere Dimension ergänzt. Die eigenständigen Formgebungen von Kunstwerken und künstlerischen Ereignissen befinden sich damit nicht nur in übergreifenden Einheiten, die aus Dynamiken künstlerischer Materialien resultieren, sondern stehen auch in sozialen und politischen Zusammenhängen, in denen sie als Beiträge zu umfassenden gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen die Einheiten der unterschiedlichen Praktiken, Institutionen und Lebensformen mitgestalten. Wenn das zutreffend ist, heißt über die Kunst und die Künste nachzudenken nicht allein, das in den Blick zu nehmen, was im Feld der Künste geschieht, sondern auch nachzuvollziehen, wie dieses Feld gesellschaftliche, soziale und politische Realitäten zugleich aufgreift, aufnimmt und formt. Einheitlichkeit entsteht in Bezug auf Kunstwerke und Künste so gesehen immer auch daraus, dass diese sich als Beiträge zu Debatten in gesellschaftliche Zusammenhänge einschreiben. Dabei müssen Kunstwerke keine Thesen über die soziale Realität artikulieren, sondern sie setzen Impulse bereits dadurch, dass sie uns mit unseren alltäglichen Verständnissen, Fähigkeiten, emotionalen Dispositionen und ethischen Orientierungen in den Nachvollzug ihrer singulären Gestaltungen involvieren und diese damit irritieren, thematisieren und transformieren (können).[36] Kurz gesagt: In Bezug auf die in Kunstwerken und Künsten hergestellte Einheit lassen sich künstlerische Autonomie und Heteronomie nicht voneinander trennen.
Nun mag aber an diesem Punkt einzuwenden sein, dass eine einseitige Betonung der gesellschaftlichen Einbettung von Kunst gerade die Eigenständigkeit künstlerisch hergestellter Einheit nicht angemessen zu fassen erlaubt. Daher ist eine letzte Wendung in der Explikation des Zusammenhangs von Einheit und Unterschiedenheit in Kunstwerken, Künsten und Kunst begreiflich zu machen, die den kritischen beziehungsweise negativen Aspekt künstlerischer Formgebung herausstellt.
(e) Jede Akzentuierung der gesellschaftlichen Einbettung der Künste droht ihrer Eigenständigkeit nicht gerecht zu werden. Insofern gilt es, in der Rekonstruktion des gesellschaftlichen Charakters 39von Kunst immer auch den Einspruch im Blick zu behalten, dem zufolge Kunstwerke in ihrer Autonomie verfehlt werden, wenn man sie in einer solchen Weise als Beiträge zu gesellschaftlichen Diskussionen begreift, dass sie politischen oder religiösen Stellungnahmen angeähnelt werden. Offensichtlich ist es zentral für künstlerische Beiträge, dass sie ein eigentümliches Moment des Unerwarteten und des Widerstands entfalten. Dem kann man dadurch Rechnung tragen, dass man den negativen Aspekt künstlerischer Formgebung betont, also gerade den Ausstieg aus einer Struktur umfassender gesellschaftlicher Einheit.[37]
Christoph Menke argumentiert in diesem Sinn, dass für Kunst das Potenzial der Infragestellung einer Struktur subjektiver Vermögen zentral ist, aus denen alle diskursiven und praktischen Beiträge in gesellschaftlichen Aushandlungszusammenhängen hervorgehen. Kunst leiste strukturell eine grundsätzliche Überschreitung all dessen, was auf ein gesellschaftliches Mitspielen hin angelegt ist. Kunst wird insofern von Menke als eine gesellschaftlichen Strukturen entgegenstehende Kraft expliziert.[38] Eine solche Position denkt die Dialektik des künstlerischen Formbegriffs produktiv weiter, droht aber zugleich die Einseitigkeit des Formbegriffs zu reproduzieren, die wir oben bereits rekonstruiert haben, und zwar dadurch, dass das negativistische Moment der Kunst einfach in Opposition zu gesellschaftlichen Strukturen begriffen wird. Demgegenüber gilt es, diese Opposition als Teil gesellschaftlicher Aushandlungszusammenhänge selbst zu fassen. Die durch Kunst strukturell realisierte Infragestellung der Verfasstheit gesellschaftlich verorteter Subjekte in ihren Vermögen ist wesentlich für die von ihr hervorgebrachten Beiträge zu gesellschaftlichen Diskussionslagen und damit zur Weiterentwicklung der in Frage stehenden Vermögen selbst. Dabei ist es – hier trifft die kräftetheoretische Explikation der Kunst einen wichtigen Punkt – charakteristisch für die Beiträge der Kunst, nicht bruchlos übersetzbar, assimilierbar oder instrumentell verwertbar zu sein, sondern immer einen Eigensinn mit sich zu bringen.
Diese nichtreduzierbare Eigensinnigkeit der Werke zeigt sich an den konstitutiv pluralen Rezeptions- und Interpretationsweisen, 40die sie anstoßen. Denn der Beitrag der Werke zu den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen lässt sich nicht im Sinne eines bestimmten Redebeitrags oder einer politischen Position vereindeutigen, sondern die Werke entfalten ihre Wirkung, indem sie im Rahmen einer Vielzahl von Kontextualisierungen, Perspektivierungen und Interpretationen einen Streit der Deutungen anregen. Im Zuge der strittigen Aushandlung über Signifikanz, Gehalt und Wert der Kunstwerke beeinflussen sie auch die Aushandlungen bezüglich der nichtkünstlerischen Verständnisse, Praktiken und gesellschaftlichen Verhältnisse der Rezipierenden.[39]
Die gesellschaftliche Seite der Einheit der Künste basiert nach diesem Verständnis auf einem von Kunst grundsätzlich ausgehenden negativen Impuls, der in den eigenständigen Formgebungen von Kunstwerken seinen Sitz hat. In der Art und Weise, wie Kunst gesellschaftlich eingebettet ist, hängen die auch durch Kunst beförderten gesellschaftlichen Zusammenhänge und die durch Kunst hervorgebrachten Unterbrechungen solcher Zusammenhänge grundlegend zusammen. Die Stellung der Künste in einem transformativen gesellschaftlichen Aushandlungsgeschehen ist durch Einheit und Unterschiedenheit zugleich geprägt: eine Einheit gesellschaftlicher Kräfte, unter die auch die Künste sich stellen, und eine Unterschiedlichkeit genau der Kraft, durch die Künste gesellschaftliche Impulse freisetzen. In der Explikation des Zusammenhangs von Einheit und Unterschiedenheit der Künste kommt man so an einen Punkt, an dem sowohl Einheit als auch Unterschiedlichkeit als beides zu begreifen sind: als gesellschaftlich und spezifisch künstlerisch zugleich.
Auf diese Weise führt eine Analyse des Verhältnisses, in dem Kunst im Allgemeinen, die besonderen Künste und die singulären Kunstwerke zueinander stehen, nicht nur ins Herz der Frage nach der spannungsvollen Situation der Gegenwartskunst und der dynamischen Ontologie von Kunst insgesamt. Vielmehr wird mit der Untrennbarkeit von Einheit und Unterschiedenheit in der Kunst auch eine Dimension beleuchtet, von der her und auf die hin sich die gesellschaftlichen und sozialen, diskursiven und praktischen 41Aushandlungsprozesse und damit die transformative Dynamik menschlicher Lebensformen verstehen lassen.
Der vorliegende Band umfasst vier Teile, die den Zusammenhang von Kunst und Künsten in unterschiedlichen Hinsichten auffächern. Im ersten Teil werden zentrale Stimmen versammelt, die die Debatte über die Kunst und die Künste in Bezug auf die Kunst der Gegenwart angestoßen und darin Impulse gegeben haben. Dazu gehört Theodor W. Adornos Essay »Die Kunst und die Künste«, von dem wir im Vorwort den Ausgang unserer Überlegungen genommen haben und auf den wir auch im Rahmen der Einleitung zu sprechen gekommen sind. Dagegen steht Clement Greenbergs zentraler Beitrag zu einem Verständnis einzelner Künste, das diese von der Spezifik der in ihnen entwickelten Medien her begreift und damit gerade einen grundlegenden Zusammenhang der Künste bestreitet. Jerrold Levinsons Überlegungen zu hybriden Kunstformen analysieren verschiedene Formen des Austauschs zwischen den Künsten, die geschichtliche Entstehung neuer Kunstformen sowie deren Relevanz für Interpretation und Kunstkritik. Wie nur wenige andere hat Jean-Luc Nancy die irreduzible Pluralität der Kunst ernst genommen. Er artikuliert die Kunst als ›pluralen Singular‹, in dem die Künste verschiedene differente Welten erscheinen lassen, die sich zwar ›berühren‹, aber nicht zu einer synästhetischen Ganzheit zusammenführen lassen.
Der zweite Teil des Bandes bietet Perspektiven auf das Verhältnis von Kunst und Künsten, die dieses Verhältnis aus Perspektive grundsätzlicher und auf die Gegenwart bezogener Überlegungen systematisch zu fassen suchen. Juliane Rebentisch verfolgt in ihrem Beitrag die Bewegung der Entgrenzung der Kunstgattungen über die Phänomene der Verfransung und der Intermedialität hinaus bis zu dem Punkt, an dem die Logik der Gattungen gänzlich obsolet wird. Das Verhältnis des Allgemeinen der Kunst und der Pluralität ihrer Besonderungen wird in der Gegenwart nicht mehr mit Bezug auf die Grenzen und Spezifitäten der verschiedenen Künste ausgespielt und ausgehandelt, sondern findet zwischen dem Kunstbegriff und den singulären Werken statt. Georg W. Bertram schlägt 42eine Deutung der Einheit von Kunstwerken und Künsten im Rahmen der Kunst vor, die diese auf die von Kunstwerken und Künsten ausgetragenen Konflikte gründet. Die durch unterschiedliche Kunstwerke und Künste konstituierte Einheit beruht demnach gerade nicht auf etwas in Kunstwerken und Künsten Geteiltem, sondern auf dem Wettstreit, in Form von Gegenständen und Ereignissen wertvolle Impulse für die Entwicklung menschlicher Praktiken zu geben. Was auch immer als Kunstwerk (im Rahmen einer spezifischen Kunst) realisiert wird, nimmt zwangsläufig an diesem Wettstreit teil. Am Verhältnis vom ›Selbstsein im Anderssein‹ führt Martin Seel (exemplarisch mit Blick auf die Architektur) aus, inwiefern Einheitlichkeit und Pluralität im Bereich der Kunst zusammengehören; die einzelnen Werke und Künste sind das, was sie sind, nur in ihren Differenzen, Verwandtschaften und Bezügen zu anderen. Wie eine der Künste oder die Kunst als Einheit zu verstehen sind, lässt sich nur mit Rücksicht auf dieses vielfältige Spiel der Relationen und Interaktionen begreifen. Jens Schröter diskutiert, inwieweit die Differenzen in den Praktiken der Künste mit dem Modell der Arbeitsteilung erhellt werden können und wie sich künstlerische und andere gesellschaftliche Arbeitsteilung zueinander in Beziehung setzen lassen. Daniel Martin Feiges Beitrag schlägt eine Aktualisierung des Leitgedankens des Systems der Künste aus dem Geiste seiner Dialektik zu den einzelnen Werken vor: Ist der Bezugspunkt jeder Kunst letztlich das je singuläre Werk, so kann der Begriff einer Kunst als etwas verstanden werden, was nicht nur im Lichte anderer Künste relational in Bewegung ist, sondern durch die jeweiligen Werke neu- und weiterbestimmt wird. Dies führt zu der Konsequenz, dass sich die Künste, anders als weite Teile der Tradition dachten, nicht positiv bestimmen lassen. Lydia Goehr zeichnet am Beispiel des historischen, kunsttheoretischen Diskurses über die Musik eine Spannung nach, in der die Musik einerseits lediglich als eine Kunst unter anderen Künsten betrachtet wird, aber andererseits und gleichzeitig als das Ideal oder Modell fungiert, an dem sich alle Künste orientieren.
Im dritten Teil wird eine gewissermaßen umgekehrte Perspektive verfolgt, indem das Verhältnis von Kunst und Künsten von einzelnen Künsten her rekonstruiert wird. So verbindet der Teil Beiträge zu Musik, Literatur, Theater und performativen Künsten, Skulptur, Malerei, Fotografie, Film und Architektur. In einem Überblick 43über aktuelle musiktheoretische Debatten verortet Christian Grüny die komplexe Lage der Musik in einem Spannungsfeld von Perspektiven, die Musikalität als eine basale und kulturübergreifende Bestimmung der menschlichen Lebensform insgesamt begreifen, von den Tendenzen der zeitgenössischen Musik, die ihren Status als eigenständige Kunstform unter postmedialen Bedingungen behauptet, auch wenn sie viele Eigenschaften und Formen traditioneller Musik hinter sich lässt, und von den multimedialen Konstellationen der Popmusik, die reflexive und kreative Impulse setzt, ohne dass sie dabei beanspruchen würde, Kunst zu sein. Stefan Deines diskutiert, in welchem Sinne Sprache als das Medium der Literatur fungiert und welche Besonderheiten sich für die Literatur daraus ergeben, dass sie die Kunst der Sprache ist und wie sich die Literatur als Praxis von alltäglicher Sprachpraxis unterscheidet. Darüber hinaus zeigt er die Dynamik der Praxis der Literatur auf, die durch die Differenz ihrer Genres und ihre vielfältigen Bezüge zu anderen Künsten entsteht. An einer Reihe von Beispielen vom 17.Jahrhundert bis zu Marina Abramović erkundet Erika Fischer-Lichte die Besonderheiten der theatralen und performativen Künste, wobei sie insbesondere die Bedeutung der leiblichen Ko-Präsenz der Akteur*innen und der Rezipierenden sowie die Rolle der Räume, in denen die performativen Werke zur Aufführung kommen, herausarbeitet und das vielfältige Zusammenspiel mit anderen Künsten in den Blick nimmt, durch das viele Werke der performativen Künste geprägt sind. Martina Dobbe verfolgt die Gattung der Skulptur als historische Struktur, indem sie nachzeichnet, wie der medienspezifische Begriff von Clement Greenberg durch die zunehmende Verfransung der Künste unter Druck gerät und wie die weiterführenden Überlegungen von Rosalind Krauss zu den Bestimmungen von Skulptur im erweiterten Feld sowie des Skulpturalen in der postmedialen Situation führen. Um die Malerei als Kunstgattung zu bestimmen, verfolgt Michael Lüthy verschiedene Perspektiven, die den Diskurs über Malerei prägen. Dabei erweist sich, dass sowohl die Perspektive, die die Praxis des Malens, als auch die, die das Medium des Bildes thematisieren, Erhellendes zu Bild und Bildproduktion beitragen, aber zu unspezifisch sind, um die Malerei als Kunst zu charakterisieren. Diese zeichne sich, so der Vorschlag, vielmehr dadurch aus, dass in ihr Bildmedium, Imagination und indexikalischer Ausdruck auf komplexe Weise ins Verhältnis gesetzt 44sind und inszeniert und reflektiert werden. Herta Wolf zeichnet die kunsttheoretische Auseinandersetzung um das künstlerische Medium der Fotografie nach; sie arbeitet heraus, dass Rosalind Krauss in ihren Überlegungen zum Fotografischen mit der Betonung der Indexikalität der fotografischen Werke eine enge medienspezifische Bestimmung der Fotografie anbietet, die der Bestimmung der Malerei von Greenberg ähnelt, während dieser selbst in seinen Äußerungen zur Fotografie eine offenere und polyvalente Charakterisierung skizziert, in der er auch Aspekten wie der Literarizität, die die Fotografie mit anderen Medien teilt, Rechnung trägt. Gertrud Koch beleuchtet den Film, indem sie komparatistische Differenzierungen einerseits bezüglich nichtkünstlerischer Praktiken, andererseits bezüglich anderer Künste vornimmt. In einer Vorgeschichte des Films, die von der frühen Herausbildung ästhetischer Verfahren aus leiblich-praktischen Zusammenhängen über deren Ausdifferenzierung im Wettstreit der Künste führt, zeigt sie das immer schon dynamische Verhältnis der Künste auf; in Auseinandersetzung mit Adorno und Rancière befragt sie den Film als technisches Medium der Massenkunst in seiner Bedeutung für das Verhältnis von Kunst und Nichtkunst. Die wesentliche Eigenart und Identität der Kunst der Architektur erkennt Jörg Gleiter in ihrer besonderen indexikalischen Verweisungsstruktur. Mithilfe der Unterscheidung der drei Formen der faktischen, der deiktischen und der imaginären Indexikalität zeigt er verschiedene Verfahren und Bedeutungsdimensionen der Werke der Architektur auf, aufgrund derer sie ihre kulturelle und soziale Signifikanz gewinnen: im Schnittpunkt der Handlungen, durch die sie hergestellt wurden, und der Handlungen, die sie selbst ermöglichen und motivieren.
Der den Band abschließende vierte Teil geht in einer zugespitzten Art und Weise von der Gegenwart aus und würdigt Entwicklungen, von denen das Zusammenspiel der Künste in besonderer Weise geprägt ist. Dabei fällt ein Schlaglicht auf immersive und partizipative Künste, auf Improvisationen, auf Computerkunst, kuratorische Praktiken und die vielfältigen ordnungsüberschreitenden Tendenzen der Gegenwartskunst. In seinem Beitrag zur ›digitalen Kunst‹ beschreibt Dominic McIver Lopes verschiedene Verfahren und Formen der Computerkunst und diskutiert, inwieweit diese als Kunstmedium begriffen werden kann und ob wir durch die Werke der Computerkunst etwas über die kognitiven 45und kreativen Bedingungen der Kunstproduktion insgesamt lernen können. Im Ausgang von einer Betrachtung immersiver Performances entwickelt Doris Kolesch eine Ästhetik der Immersion, die durch Situationen gekennzeichnet ist, in der die Rezipierenden zum Element, Gegenstand und Material von Kunstereignissen werden. Im Unterschied zur Illusion sind immersive Situationen durch einen Doppelcharakter von Involvierung und Distanz, Affirmation und Kritik, artistischer Inszenierung und sozialer Interaktion geprägt; damit machen sie die Perspektivenvielfalt, die Relationalität und die Abhängigkeit von anderen in unserem In-der-Welt-Sein erfahrbar. Alessandro Bertinetto diskutiert, inwieweit die Improvisation als die kreative Auseinandersetzung mit Kontingenz für die Produktion und das Gelingen in künstlerischen Praktiken insgesamt kennzeichnend ist. Dabei zeigt er auch auf, dass die Praktiken der Improvisation das Potenzial besitzen, die Begrenzungen und Festschreibungen im Bereich der Kunst und zwischen den Künsten prekär und porös werden zu lassen, und von der Dynamik, die ein Werk aus seiner je spezifischen Situation heraus erzeugt, in Bewegung gebracht werden können. Die wesentliche Bedeutung der Institution des Museums und der kuratorischen Praxis für die Kunst beleuchtet Christiane Voss. Eine Infrastruktur aus Institutionen der Vermittlung und Veröffentlichung, und damit der Möglichkeit des Rezipiert- und Interpretiertwerdens, ist für das Existieren von Kunstwerken notwendig; sie erzeugt aber zugleich eine Spannung in der Existenz des Kunstwerks selbst, da dessen selbstbezügliche Seinsweise von Formen der Vermittlung abhängt, die stets nur bestimmte, selektive und kontextabhängige Perspektiven eröffnen. Peter Osborne nimmt die Diagnose des Niedergangs der Postmoderne im Kontext von Theorien verschiedener Phasen des Kapitalismus auf und fragt mit Blick auf die Künste nach dem spezifisch Zeitgenössischen ihrer Existenzweise und Distributionsformen. Diese geschichtstheoretischen Überlegungen führen ihn zu einer Spezifikation seines Begriffs der Postkonzeptualität: Sie wird als Prinzip der Gegenwartskunst verstanden, das die relationale wie brüchige Ontologie ihrer Werke ebenso verständlich machen kann wie die vielfältigen Überkreuzungen von scheinbar unterschiedlichen Formaten wie dem Fiktionalen und dem Dokumentarischen.