I. Warum gibt es viele Künste und nicht nur eine einzige Kunst? (Eine Rede über die Vielzahl der Welten)

Die Musen tragen in ihrem Namen jene Glut der Begeisterung, auf die das griechische Wort µoṽσα verweist, jene Spannung, die sich in Ungeduld, heißem Begehren oder zorniger Eile äußert und darauf drängt, endlich zu wissen und zu wirken. Etwas weniger euphorisch spricht man auch von den »Regungen des Geistes« (mens kommt vom griechischen µέvoς, der Eifer). Die Muse schenkt Belebung, Erhebung, Begeisterung, höchste Erregung. Sie ist die Hüterin der Kraft, nicht nur der Form; oder genauer gesagt: Sie hütet dank ihrer Kraft die Form.

Doch diese Kraft entspringt als Vielzahl. Sie ist von Anfang an da, als Vielfalt der Formen, so wie es auch viele Musen gibt und nicht nur eine einzige. Anzahl und Attribute haben zwar gewechselt, aber immer gab es mehr als eine Muse. Diesem vielfachen Ursprung gilt unser Interesse. Die Musen selbst sind nicht das Thema: Sie, die immer schon in der Mehrzahl genannt werden, führen uns nur weiter zu der Frage: Warum gibt es viele Künste und nicht nur eine einzige Kunst?

Dies setzt natürlich voraus, und wie könnte es anders sein, dass diese Frage überhaupt als eine einzige, einfache Frage in dieser Weise gestellt werden kann. Es wird also vorausgesetzt, dass man ein 93Prinzip oder einen hinreichenden Grund für diese Pluralität finden kann, ohne dass die Pluralität selbst dabei letztlich an der Stelle des Prinzips erscheint. Was soll das nun heißen: ein Prinzip (oder ein Grund, ein Wesen), das nicht der Ursprung von Pluralität wäre, sondern in sich schon Plural? Und inwiefern würde dies zum Wesen der Kunst gehören?

Doch zurück zum Anfang: Muss die Frage »Warum gibt es viele Künste?« überhaupt gestellt werden? Ist es richtig, sie zu stellen?

Es gibt zwei ganz simple und weit verbreitete Weisen, diese Frage abzulehnen, zu umgehen oder sie ganz einfach zu ignorieren.

(1) Im einen Fall beschränkt man sich auf die Annahme, dass die Pluralität der Künste ein gegebenes Faktum sei. Genauer besehen ist das keine Annahme, sondern eine bloße Feststellung – und wer würde ihr nicht zustimmen? So stellt man die Pluralität auch meist nicht in Frage und beschränkt sich darauf, sie einer »Klassifizierung« zu unterziehen oder (wie in früheren Zeiten) eine »Hierarchie« der Künste zu entwerfen. Doch weiß man nicht so recht, wie man eine solche Klassifizierung anlegen soll, und daher gibt es auch in der Geschichte so viele verschiedene Varianten, die sich nicht nur in ihrer inneren Untergliederung (wie soll man die anerkannten Künste anordnen?), sondern auch in ihrem Geltungsbereich (was soll man alles als Künste anerkennen?) unterscheiden. Das geht so weit, dass man eine Art Klassifizierung der Klassifizierungen vornehmen müsste, um die Verteilung der Künste nach den jeweiligen Kunsttheorien in der ganzen Breite des Spektrums wahrzunehmen. Man kann sich vorstellen, was für eine gigantische Aufgabe das ist, vor allem dann, wenn man die verschiedenen Attribute der jeweiligen Künste hinzunehmen wollte (wie etwa die Musik als Kunst der Töne, der Zeit oder des Raums, die Malerei als Kunst des Sehens oder des Sichtbaren, des Lichts oder der Farbe et cetera). Doch die Frage nach der Einheit dieser Pluralität, die »ontologische« Frage, wird dabei nicht gestellt. Entweder wird die Einheit als vager Oberbegriff, als »Kunst« im Allgemeinen, vorausgesetzt oder die Pluralität wird akzeptiert, ohne nach ihrer internen Logik zu fragen, dem pluralen Singular der Kunst, der singulären Pluralität der Künste. Diese Frage wird von den meisten, wenn nicht sogar von sämtlichen Theorien ganz unverhohlen übersprungen, ob sie nun einfach oder komplex sind, empirisch oder transzendental operieren. 94(Daher gibt es auch im Bereich der Kunsttheorie nichts, was mit dem Prinzip der Mathematisierung vergleichbar wäre, das in den Naturwissenschaften, zumindest als gemeinsame Verfahrensweise, vorherrscht. Was nicht heißt, dass man nicht auch die Pluralität der Naturwissenschaften untersuchen sollte.)

Adorno erklärt zwar, die Kunstwerke demonstrierten, »wie wenig ein allgemeiner Begriff von Kunst an die Kunstwerke heranreicht [… und] daß Kunst nicht der Oberbegriff ihrer Gattung sei«. Er unterstreicht besonders »die Bewegung der diskret voneinander abgesetzten Momente, in der die Kunst besteht« als Zersetzung des Oberbegriffs.[2]  Doch führt er die Analyse dieser Zersetzung als solcher nicht aus. Und überhaupt erwähnt er die Verschiedenheit der »Gattungen« der Kunst nur am Rande, so dass diese Problematik hinter der Vielheit der Problematik hinter der Vielheit der »Werke« zurücktritt und gar nicht als eigenständige Frage in den Blick rückt. Dennoch ist er zweifellos einer der wenigen, die dem Problem nahe kommen, 95weiß er doch, wie wenig »die Künste als solche spurlos in der Kunst verschwinden«.[3] 

Einmal abgesehen von Adorno darf man wohl allgemein unterstellen, dass der ontologischen Frage nach dem pluralen Singular der Musen deshalb ausgewichen wird, weil man eben a priori voraussetzt, dass es nicht um ein ontologisches Problem, sondern um ein technologisches Problem geht. Wenn Technologie als Ontologie fungiert oder sie diese impliziert, wird die ontologische Frage selbst nicht gestellt.

(2) Im zweiten Fall zieht man sich auf die Behauptung zurück, dass es nur eine Kunst, ein Wesen der Kunst gebe. Das ist die übliche »philosophische« Antwort (was nicht heißt, dass man sie nur in sogenannten »philosophischen« Texten findet, viele Künstler behaupten dasselbe). Gibt es wirklich viele Künste? Ist das, was wir als Pluralität wahrnehmen, letztendlich nicht nur die Summe der Manifestationen oder Momente einer einzigen Realität (einer einzigen Idee, einer Substanz oder eines Subjekts)? Ist es nicht die verschwenderische Ausdrucksfülle, die aus einer einzigen Geste, einem einzigen ursprünglichen Trieb erwächst?

Im Extremfall kann »Kunst« sogar jenseits ihrer eigenen Bestimmung (oder ihrer diskreten Momente) angesiedelt werden. So schreibt Heidegger 1961 im »Zusatz« zu Der Ursprung des Kunstwerkes: »Die Kunst gilt weder als Leistungsbezirk der Kultur, noch als eine Erscheinung des Geistes, sie gehört in das Ereignis, an dem sich erst der Sinn vom Sein bestimmt[4]  Nicht genug, dass die Kunst 96ihren wesensmäßigen Ort nicht in der Vielfalt der »Erscheinungsweisen« oder der »Werke« hat, sie hat ihren Ort nicht einmal mehr innerhalb der Kunst. Ihre Singularität liegt noch im Verborgenen, und je weniger sie als »Kunst« oder gar als Vielfalt der künstlerischen Praktiken wahrzunehmen ist, umso würdevoller erscheint sie.

Im einen wie im anderen Fall gibt es im Begriff der Kunst einen Mangel oder aber einen Überschuss an Bestimmtheit. Anders formuliert: »Kunst« erscheint immer nur in einem Spannungsverhältnis zwischen zwei Begriffen von Kunst, einem technischen und einem erhabenen, aber für diese Spannung selbst gibt es in der Regel keinen Begriff. Das bedeutet nun nicht, dass man sie unter einen Begriff subsumieren sollte oder dass es überhaupt möglich wäre, dies zu tun. Aber es bedeutet sehr wohl, dass es unabdingbar ist, diese Spannung als solche zu denken. Die Kunst und die Künste bedingen einander in absoluter Wechselseitigkeit; diese Beziehung erzeugt keine Auflösung zu einer inneren Struktur, sondern Spannung, Ausdehnung, Exteriorität. Wäre Kunst also eine res extensa, partes extra partes?

[…]

Diese Verschiedenheit scheint sich unmittelbar aus der Verschiedenheit der Sinne zu ergeben. Nichts scheint klarer als dies: Die Verschiedenheit der Künste leitet sich ab aus der Verschiedenheit der Sinne. Und genau das sagt auch Hegel,[5]  nämlich »daß die 97Kunst […] auch für die Sinne sei, so daß also die Bestimmtheit dieser Sinne und der ihnen entsprechenden Materialität […] die Einteilungsgründe für die einzelnen Künste abgeben müsse.«[6] 

Demnach müsste die Frage der Verschiedenheit der Künste sich in die Frage nach der Verschiedenheit der Sinne verwandeln. Und vielleicht sind beide ja auch identisch. Aber was würde diese Identität bedeuten?

Die gängigste Vorstellung, die wir alle mehr oder weniger bewusst in uns tragen, geht davon aus, dass die Unterteilung der Sinne, die ihrerseits als selbstverständlich gilt, den jeweiligen künstlerischen Ausdruck bestimmt, abgrenzt und von anderen abhebt. Dabei bleibt die Kunst an sich im Prinzip ungeteilt und jenseits der Sinne, auch wenn dies ein recht vager Status ist.

Wenn man dagegen annimmt, dass die Kunst sehr wohl auch »für die Sinne« sein soll, das heißt, wenn man in den Sinnen das Kriterium oder den Sinn von künstlerischer Wahrheit oder Praxis verortet, dann heißt das noch lange nicht, dass sie nur dazu da wäre, uns zusätzliche sinnliche Erregung zu verschaffen (nebenbei gesagt, man könnte die Frage nach der Kunst auch ganz von da aus aufrollen: Warum gelten diese sinnlichen Erfahrungen als zusätzlich? Zusätzlich zu was? Als Ersatz wofür?).

Die Beziehung zwischen den beiden Verschiedenheiten, der der Künste und der Sinne, kann man also nicht leichtfertig abhandeln. Denn an ihrer Identität und ihrer Verschiedenheit entscheidet sich nichts weniger als die Frage nach Struktur und Tragweite des Sinns und/oder der Sinne dessen, was man oft allzu vorschnell »Kunst« nennt.

Die Beziehung zwischen den beiden Verschiedenheiten, der beiden Spektren der Künste und der Sinne, kann umso weniger leichtfertig abgehandelt werden, als man sich sofort mit einer neuen Überlegung konfrontiert sieht: Die Verschiedenheit der Sinne, das heißt die Verschiedenheit der fünf Sinne mit ihren Abstufungen, die der Wunsch nach Gruppierung und/oder Hierarchisierung stets produziert, diese Verschiedenheit also, die in sich selbst vielfältig ist und schon lange als ein τόπος gilt, resultiert womöglich letztlich nur aus einem »künstlerischen« Verfahren oder ist ein Kunstpro98dukt, das der »technischen« Betrachtungsweise der Wahrnehmung entspringt. Kurz gesagt, nicht die sinnlichen Empfindungen an sich, sondern die Einteilung(en) der Sinne selbst wäre(n) die Erzeugnisse der »Kunst«. Wir wollen hier nicht weiter untersuchen, wie solche Erzeugnisse zustande kommen. Vielleicht kann dies auch gar nicht abschließend untersucht werden, solange es nicht gelingt, ein einheitliches Prinzip der »Kunst« außerhalb der immer schon gegebenen Verschiedenheit zu finden – ein Prinzip, dessen »Sinn« nur wäre, Name oder Indikator zu sein. Anders gesagt, wir drehen uns im Kreis. Aber vielleicht haben wir es ja wirklich mit einem Kreis zu tun, so dass man, analog zum »hermeneutischen Zirkel«, von einem aisthetischen Zirkel sprechen könnte.

[…]

Weder die Sinne als einzelne noch deren Integration können daher zur Bedingung oder zum Modell der Künste werden. Ihre Rolle ist hier eher die, die Freud der Vorlust zuschreibt – wie man weiß, setzt Freud diese in ein umgekehrtes beziehungsweise analoges Verhältnis zu jener anderen Art von Vorlust, die er als ästhetisches »Mehr von Lust«[7]  bezeichnet. Die Vorlust besitzt zwei miteinander zusammenhängende Eigenschaften: Sie beruht zum einen auf einem Spannungscharakter, auf einem unbefriedigten Gefühl, und zum anderen auf der Verschiedenheit der »erogenen Zonen«. Und so wie im sexuellen Bereich die letztendliche »Entleerung« die Sexualerregung aufhebt, so liegt auch im ästhetischen Bereich die Triebbefriedigung selbst nicht mehr im Ästhetischen. Übrigens verwendet Freud ein und dasselbe Wort, nämlich Reiz, um von Erregung und von Schönheit zu sprechen. Erotische und ästhetische Sinnesempfindungen entspringen unmittelbar einer noch nicht integrierten oder vereinheitlichten Verschiedenheit.

[…]

Die erogenen Zonen existieren nicht isoliert und sind nicht von vornherein als solche definiert: Freud schreibt, »vor allem entstehe Befriedigung durch die geeignete sensible Erregung sogenannter erogener Zonen, als welche wahrscheinlich jede Hautstelle und 99jedes Sinnesorgan, wahrscheinlich jedes Organ fungieren könne.«[8]  Die Funktion des Erogenen wird ihrerseits ausschließlich bestimmt als eine Steigerung der Erregung im Hinblick auf die Entladung: »Die Rolle aber, die dabei den erogenen Zonen zufällt, ist klar. Was für eine galt, gilt für alle. Sie werden sämtlich dazu verwendet, durch ihre geeignete Reizung einen gewissen Betrag von Lust zu liefern, von dem die Steigerung der Spannung ausgeht, welche ihrerseits die nötige motorische Energie aufzubringen hat, um den Sexualakt zu Ende zu führen.«[9]  Paradoxerweise bekommen so die erogenen Zonen, die an sich qualitativ nicht differenziert sind, eine quantitative Funktion. Das bedeutet, dass ihre Eigenschaft als Zonen, als (im mathematischen Sinn) diskrete Einheiten, und ihre Heterogenität sich aus dieser Funktion ableiten. Wer Steigerung sagt, sagt auch Addition und Diskontinuität. Und wer Lust sagt, sagt auch »Bedürfnis nach größerer Lust«[10] . Das Lustgefühl (die Spannung der Vorlust) ist die diskrete Einheit der Lust.

Was immer man ansonsten von diesem energetischen Modell halten mag, es erklärt die Möglichkeit einer Diskontinuität und Dislokation der Lust oder der αἴσΘησις im Allgemeinen,[11]  das heißt zugleich: die Dislokation der αἴσΘησις, insofern diese keinerlei Allgemeinheit oder vielmehr nur eine dislozierte Allgemeinheit besitzt, partes extra partes ist, also nicht nur res extensa im cartesianischen Sinn, sondern ein grundsätzliches und allgemeines Außer-sich-Sein, ein zonales Sein im sogenannten »Sinnlichen«.[12] 

100Die qualitative Gleichwertigkeit der erogenen Zonen erklärt sich durch das Primat des Berührens, auf das letztlich jede Erregung abzielt (Freud erklärt, dass auf die visuelle Erregung unmittelbar der Wunsch nach Berührung folge und dass das Sehen »in letzter Linie vom Tasten abgeleitet«[13]  sei, was wohl dann für jede Erregung gilt). Nun ist aber, wie schon angedeutet, der Tastsinn in der Geschichte der Sinne von jeher der Sinn für den ganzen Körper, »Berührung […] ist des Körpers Empfindung« heißt es bei Lukrez.[14]  Das Berühren ist demnach die Berührung des ganzen Sinns, ja aller Sinne. Berühren umfasst die Sinnlichkeit aller Sinne, es ist fühlende wie gefühlte Sinnlichkeit. Da das Berühren selbst ein Sinn ist und folglich fühlt, wie es fühlt, ja sogar fühlt, wie es fühlt, dass es fühlt, denn es berührt nur, wenn es sich auch selbst berührt und berührt wird von dem, was es berührt, und weil es dies berührt, stellt das Berühren den eigentlichen Moment der sinnlichen Äußerlichkeit als solche und als sinnliche dar. Das Wesen des Berührens liegt in »jener Unterbrechung, aus der das Berühren des Sich-Berührens, das Berühren als Sich-Berühren entspringt.«[15]  Berühren ist der Augenblick der Berührung und die Erfahrung der Fremdheit im Moment des Berührens. Das Berühren ist höchst nahe Distanz. Es lässt fühlen, was uns fühlen lässt (was fühlen wirklich ist): die Ferne, das Streben nach inniger Nähe.

Das Berühren – vielleicht sollte man eher sagen: die Berührung – oder doch lieber bei der verbalen Form bleiben, wie man ja auch von »dem Fühlen« spricht –, dem Berühren also kommt nur 101insofern ein »Primat« oder eine besondere Stellung zu, als keine Unterordnung stattfindet. Das Berühren ist die generelle Extension des Bereichs des Fühlens und zugleich sein je besonderes Moment. Berühren und Fühlen bilden eins, einen Körper; das Berühren macht aus den Gefühlsempfindungen ein Ganzes, einen Körper, es ist nichts anderes als der Korpus der Sinne.

Fühlen und Fühlen, wie man fühlt, was ja das Fühlen ausmacht, das heißt stets zugleich fühlen, dass da etwas anderes ist (das, was man fühlt) und dass es andere Zonen oder Bereiche des Fühlens gibt. Die jeweils aktive Gefühlszone nimmt diese anderen Zonen nicht wahr, auch wenn sie sich überall mit ihnen berührt, zumindest in jenem Grenzbereich, wo eine Zone in die andere übergeht. Jedes Fühlen berührt sich mit den übrigen Bereichen des Fühlens, mit dem, was es selbst nicht fühlen kann. Das Sehen sieht den Ton nicht und hört ihn auch nicht, wenngleich es dennoch in sich, ganz an sich selbst, an dieses Nicht-Sehen rührt und von ihm angerührt wird …

Die Ununterscheidbarkeit der Sinne beziehungsweise die synästhetische Synergie beruht auf der in sich heterologen Struktur des Berührens. Die Berührung durch die Sinne kann also nach jedem beliebigen Muster eingeteilt werden – was sie überhaupt zur Berührung macht, ist das Prinzip der Dislokation, der Erzeugung stets neuer Heterogenität.

Was also macht Kunst anderes als letztlich an diese grundsätzliche Heterogenität des »Fühlens« zu rühren und mittels ihrer zu berühren? Aufgrund dieser prinzipiellen Heterogenität, durch die das Prinzip selbst heterogen wird, berührt die Kunst das Berühren selbst: das heißt, sie rührt zugleich an das dem Berühren inhärente »Sich-Berühren« und an die ihm ebenso inhärente »Unterbrechung«. Mit anderen Begriffen könnte man sagen: Sie rührt an die Immanenz und an die Transzendenz des Berührens, oder noch einmal anders gesagt: an die Transimmanenz des In-der-Welt-Seins. Die Kunst hat nichts zu schaffen mit der »Welt« im Sinne von einfacher Äußerlichkeit, Umwelt oder Natur. Sie hat zu tun mit dem In-der-Welt-Sein und dem Moment seines Entstehens.

Folglich rührt die Kunst an die Integration des Sinnlichen im Leben – wobei hier »anrühren« im Sinne von erschüttern, beunruhigen, destabilisieren, dekonstruieren verstanden werden muss. 102Auf diese Weise rührt die Kunst an das, was scheinbar von selbst, φύσει, auf natürliche Weise, die Kontinuität und synthetische Einheit einer Lebens- und Handlungswelt herstellt. Diese Welt ist bei genauerem Hinsehen weniger eine sinnliche Welt als eine intelligible Welt aus Bezugspunkten, Zwecken und zielgerichteten Operationen und letztlich sogar weniger eine Welt als vielmehr ein Milieu, eine Umwelt (eben jenes 1% Information). Die Kunst löst aus dieser Welt das Moment von Welt an sich heraus, zwingt das Welt-Sein der Welt herbei, erzeugt aber keine Umwelt, in der sich ein Subjekt bewegt, sondern Äußerlichkeit und Ausgesetztsein eines In-der-Welt-Seins, wobei sie diese Äußerlichkeit und dieses Ausgesetztsein als Form erfasst, abgrenzt und als solche darstellt.

Auf diese Weise wird die Welt in plurale Welten aufgefächert, oder genauer gesagt, in jene unhintergehbare Pluralität verwandelt, die die Einheit »Welt« ausmacht: Hierin ist die Kunst apriorisch und transzendental. Sie bringt zum Vorschein, dass das Erscheinen einer Welt zunächst immer das Erscheinen von Phänomenen bedeutet, von denen ein jedes »Welt-Phänomen«[16]  ist. Sie bringt zum Vorschein, dass ein »Welt-Sinn« und folglich der Sinn der Welt sich nur dann zeigt, wenn seine eine umfassende Bedeutung als »Sinn« von vornherein aufgefächert ist in Sinnzonen allgemeinen Charakters, die man mit den unterschiedlichen Einteilungen unserer Sinne zu bezeichnen sucht.

Was jedoch die Kunst zeigt – woran sie rührt und was sie im selben Augenblick als τέχνη ins Werk setzt –, ist, dass es eben weder um die Differenzierung einer schon vorhandenen organischen Einheit noch um ein Differential zur Produktion unendlicher Varianten gehen kann. Es geht darum, dass Einheit wie Einssein einer Welt wirklich nichts anderes sind als die singuläre Differenz einer 103Berührung oder einer Berührungszone. Es gäbe keine Welt, wenn es keine Unterscheidung in diskrete Zonen gäbe (ein extensionaler Zustand, der vor jedem Ursprung liegt): Allein diese Unterscheidung in Zonen ist es, die das Ding sein lässt, was es ist, nämlich Ding an sich, was nicht bedeutet, das Ding in seiner gänzlich, sogar hinter die Erscheinung selbst zurückgezogenen Wesenheit zu erfassen, sondern das Ding selbst meint, an sich selbst, sich selbst nah. Damit einem Ding unter Umständen so »etwas« wie »Innerlichkeit« oder »Intimität« zukommen kann, muss es zunächst es selbst sein, das heißt, ganz an sich selbst sein, so nah als möglich (es müsste sozusagen sich selbst überlagern und sich so berühren, sich nah und fern, in sich entfernt[17] ).

Dieses Dispositiv impliziert eine dis-positio, ein räumliches Auseinander, es impliziert eine Unterscheidung diskreter Momente, Pluralität und Heterogenität der »Zonen«. Diese Zonen sind keinesfalls einfach nur verschiedene lokalisierbare Bereiche innerhalb eines homogenen Raums. Sie sind zugleich auch – dank einer räumlichen Verteilung, die eigentlich nicht räumlich, sondern eher ontologisch zu nennen wäre (»Raum« ist hier das Wort für »Sein«) – die absoluten Differenzen des Erscheinens oder des In-der-Welt-Seins an sich. So konnte Heidegger schreiben: »Wir müßten erkennen lernen, daß die Dinge selbst die Orte sind und nicht nur an einen Ort gehören.«[18] 

104Das In-der-Welt-Sein (das das Sein der Welt ist) kann weder einem Allgemeinen (das selbst ein besonderer τόπος ist, wie etwa der Diskurs über die Kunst im Allgemeinen) noch einem Universellen (verstanden als Quelle einer ursprünglichen Einheit oder eines ursprünglichen Einsseins) entspringen. Genauer gesagt, der »Gesichtspunkt« eines intuitus originarius schließt das In-der-Welt-Sein aus und so wird im Übrigen auch nichts »gesehen«. Wenn dies ein »Punkt« ist und folglich keine Ausdehnung hat, dann ist es der Ausgangspunkt der »Schöpfung« einer Welt. Die Schöpfung der Welt ist nicht in der Welt. Andernfalls gäbe es für den Schöpfer selbst keinerlei Spielraum, keinerlei »sinnliche Zonen«: weder Orte noch Farben, noch Töne, noch Gerüche. Man müsste also wohl eher sagen, dass die Schöpfung (und folglich der Schöpfer, der mit dem Akt der Schöpfung identisch ist) an sich schon Aufteilung von Räumen und Differenzierung von Zonen ist. Das würde weiter bedeuten, dass die Schöpfung das Berühren oder die Berührung des In-der-Welt-Seins ist.[19] 

So ist der intuitus derivativus, um einen Moment bei der Terminologie Kants zu bleiben, durch die Berührung des Draußen und die Verschiedenheit der Berührungen gegeben. Doch dieser lässt sich nicht, wie bei Kant, auf die reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit beschränken: Es bedarf dazu der Vielfalt der »sinnlichen Eigenschaften«, die das »Ansich« oder das »Bei-und-105an-sich« des Gegenstandes ausmachen. Das Empirische ist hier das Transzendentale. Aber dieses »Empirische« ist nicht einfach etwas, das man an Kategorien wie »Farbe«, »Klang« et cetera festmachen könnte. »Die« Farbe gibt es nicht, noch nicht einmal das Rot, wie es bei Wittgenstein heißt: »Eine Farbe allgemein benennen können, heißt noch nicht, sie genau kopieren können. Vielleicht kann ich sagen: ›Dort sehe ich eine rötliche Stelle und kann doch nicht eine Farbe mischen, die ich als genau gleich anerkenne‹ […] Denk, jemand zeigte auf eine Stelle einer Iris in einem Rembrandtschen Gesicht und sagte ›Die Wand in meinem Zimmer soll in dieser Farbe gemalt werden‹«.[20]  Das Empirische ist nicht ein vermeintlich »sinnlich Gegebenes«, es ist kein vermeintlich sinnliches Subjekt. Das Empirische ist eine Technik der Lokalisierung, die Darstellung des Ortes.

Das Beispiel Wittgenstein ist nicht zufällig gewählt: Die Kunst, genauer gesagt die Kunst in ihren detaillierten Techniken (wobei »detaillierte Technik« eigentlich ein Pleonasmus ist) beziehungsweise die Kunst als Technik des Details, das heißt als Technik der Differenz und der Unterscheidung, bringt nämlich die lokale Farbe zum Vorschein oder zeigt, dass Farbe immer nur lokal sein kann. Die Farbe ist außerdem in diesem Fall die Farbe eines Ortes in der Mitte eines Auges: Die Kunst-als-Technik ist ein Blick, sie beachtet unseren Blick, sie betrachtet ihn und lässt ihn so zum Blick werden. Hegel konnte schreiben, »daß sie jede Gestalt an allen Punkten der sichtbaren Oberfläche zum Auge verwandle, welches Sitz der Seele ist und den Geist zur Erscheinung bringt […] die Kunst [macht] jedes ihrer Gebilde zu einem tausendäugigen Argus, damit die innere Seele und Geistigkeit an allen Punkten gesehen werde.«[21] 

Dieser Blick blickt stets durch alle Arten und Formen des Erscheinens hindurch. Zudem vervielfacht er sich in jeder einzelnen Form oder Gestalt zu einer unendlichen Anzahl von Punkten, einer unendlich teilbaren Lokalität, wenngleich diese »Punkte« keine geometrischen Punkte mit der Ausdehnung null sind, sondern Mal um Mal eine bestimmte Ausdehnung annehmen. Außerdem verbindet der Blick in jedem einzelnen lokalen Wert verschiedene 106sinnliche Werte miteinander, ohne sie jedoch zu vereinheitlichen. Dieses eine Rot hat auch eine Dichte, eine Durchsichtigkeit, ist eine Figur, eine Bewegung, ein Klang, ein Geschmack, ein Duft. Die eine Zone wird wiederum von anderen Zonen durchzogen.

Versuchen wir also die Pluralität der Künste und ihre Wirkung nach den folgenden Aspekten zu unterscheiden:

(1) Durch die Pluralität der Künste wird die lebendige Einheit der Wahrnehmung oder der Handlung aufgelöst, jedoch in ganz anderer Weise als bei der abstrakten Auflösung in Einzelempfindungen (Letzteres ist nichts anderes als eine bequeme, vom alltäglichen Reden nahegelegte Notlösung, die zurückbleibt hinter der zweifachen technischen Operation der Auflösung, zum einen durch die Wissenschaften, zum anderen durch die Künste, wobei die beiden einander vielleicht stärker berühren, als es den Anschein haben mag). So wird isoliert, was wir einen »Sinn« nennen oder einen Teil oder eine Erscheinungsform dieses Sinns; die Kunst isoliert ihn, um ihn zu zwingen, nur das zu sein, was er ist, jenseits von Bedeutung und Nutzen der mit ihm verbundenen Wahrnehmung. Die Kunst zwingt einen Sinn, sich selbst zu berühren, der Sinn, der er ist, zu sein. Dadurch wird er jedoch nicht einfach zu dem, was wir »einen Sinn« nennen, Gesichtssinn oder Gehör zum Beispiel: Indem er aus der phänomenalen Einheit des »Erlebten« heraustritt, wird er zugleich etwas anderes, eine andere einheitsstiftende Instanz, die eine andere Welt entstehen lässt, nicht einfach eine Welt aus »visuellen« oder »klanglichen« Eindrücken, sondern eine Welt aus »Bildern« oder eine »musikalische Welt«. So entsteht zum Beispiel aus dem Bereich der Klänge oder des Hörens eine komplexe Welt aus Werten, Tonhöhen, Notenskalen, Harmonien, Melodiefolgen, Timbres, Klangfarben, Rhythmen et cetera, eine musikalische Welt, die in einer Hinsicht notiert und kalkuliert und insofern gar nicht mehr klanglich ist und in anderer Hinsicht von der stets unvorhersehbaren Qualität einer einzelnen »Interpretation« oder »Ausführung« abhängt.

Jene Welt, die wir gerne als die Welt eines Sinns bezeichnen würden, ist kein Ausschnitt aus der Welt der Synästhesie. Sie ist eine andere Welt, eine andere Monade. Hier zeigt sich die Kraft der Musen: Es ist eine Kraft der Trennung, der Isolierung und zugleich der Intensivierung und der Metamorphose. Aus etwas, das 107Teil einer Bedeutungs- und Darstellungseinheit war, lässt sie etwas anderes entstehen: keinen losgelösten Teil, sondern die Berührung von etwas ganz anderem, das keine Bedeutungseinheit mehr ist. Die Kraft erzeugt eine momentane Unterbrechung der Bedeutung, in der sie an ihre Grenzen rührt.

[…]

Die Kunst löst die Sinne oder gar die Welt aus der Bedeutung heraus, und das nennen wir dann »die Sinne«, wenn wir »den Sinnen« (den sinnlichen Eindrücken) den Sinn beigeben, außerhalb der Bedeutung zu sein. Genau das könnte man nun aber »den Sinn der Welt« nennen. Der Sinn der Welt als momentane Unterbrechung der Bedeutung – so wird auch begreiflich, dass eine solche »Unterbrechung« nichts anderes als das Berühren ist. Das In-der-Welt-Sein rührt hier an seinen Sinn, wird von ihm berührt, berührt sich selbst als Sinn.

(2) Die Kunst spaltet dergestalt den »Gemeinsinn« beziehungsweise die gewöhnliche synästhetische Wahrnehmung auf oder lässt diese sich selbst in unendlich vielen Punkten oder Zonen berühren. Überall wuchern Differenzen, nicht nur zwischen den Hauptbereichen der sinnlichen Wahrnehmung, sondern auch innerhalb ihrer: Farbe, Nuancierung, Pastosität, Leuchtkraft, Schattierung, Oberflächenstruktur, Gewichtung, Perspektive, Umriss, Geste, Bewegung, Schock, Rauheit, Timbre, Rhythmus, Würze, Duft, Streuung, Klangfülle, Strich, Dehnung, Diktion, Aussprache, Spielraum, Schnitt, Tiefe, Länge, Augenblick, Dauer, Geschwindigkeit, Härte, Dichte, Luftigkeit, Vibration, Wendung, Ausstrahlung, Intensität, Flüchtigkeit, Spannung, Thema und Variation – et cetera, das heißt bis ins Unendliche vervielfachte Berührungen. Alle haben sie ihre Musen beziehungsweise alle sind Musen. Hier wie überall meint Kraft Differenz und Spiel der Kräfte. Die vis poetica, der furor des »Dichters«, jene »magnetische« Kraft der Muse aus dem Ion von Platon ist die Teilhabe an der »göttlichen Kraft«.[22] 

108(3) Auf diese Weise zieht jedoch die aufgespaltene, in ihrem Wesen und Verfahren analysierte Synästhesie keine neue Synthese nach sich, sondern fordert einen Verweis von Berührung zu Berührung oder, wie es bei Baudelaire heißt, eine Antwort,[23]  was weder eine äußerliche homologe Beziehung noch eine innere osmotische Beziehung meint, sondern eher der Etymologie von re-spondere folgend, eine Verpflichtung, ein Versprechen, die auf eine Aufforderung oder einen Appell antworten: Die Berührungen verpflichten sich zur Mitteilung ihrer jeweiligen Unterbrechung, jede macht die Differenz zur anderen spürbar (zu einer anderen Berührung oder zu mehreren anderen und potentiell zu allen, was aber eine Gesamtheit ist, die nicht totalisiert). Auch diese »co-respondance« befreit sich von der Bedeutung. Mit Deleuze könnte man sagen, »zwischen einer Farbe, einem Geschmack, einer Berührung, einem Geruch, einem Geräusch, einem Gewicht [hier muss man wohl »et cetera« hinzudenken, denn diese Liste enthält ja schon sechs »Sinne«] bestünde eine existenzielle Kommunikation, die das ›pathische‹ (nichtrepräsentative) Moment der Sensation ausmachen würde. Bei Bacon etwa hört man in den Stierkämpfen die Hufe des Tiers [es folgen weitere Beispiele …]. Es käme also dem Maler zu, eine Art ursprüngliche Einheit der Sinne sichtbar zu machen und eine multisensible Figur visuell erscheinen zu lassen. Diese Operation aber wird nur möglich, wenn die Sensation dieses oder jenes Gebietes […] in unmittelbarem Kontakt mit einem vitalen Vermögen steht, das alle Gebiete sprengt und sie durchquert. Dieses Ver109mögen ist der Rhythmus, der tiefer reicht als der Blick, das Gehör et cetera […]. Und dieser Rhythmus durchquert ein Gemälde, wie er ein Musikstück durchquert. Diastole und Systole: die Welt, die mich selbst ergreift, indem sie sich um mich schließt, das Ich, das sich zur Welt hin öffnet und sie selbst öffnet.«[24] 

[…]

(4) So sind die Künste zunächst Techniken. »Zunächst« bedeutet jedoch nicht, dass sie eine erste Phase des technischen Prozederes enthielten, auf die eine zweite Phase der »künstlerischen« Vollendung folgen würde. Die Musen kommen nicht erst zu einem handwerklichen Vorgang hinzu, sie bestimmen ihn von Anfang an; wir wissen zum Beispiel, dass die Menschen des Paläolithikum eine spezifische symbolische Verwendung der Farbstoffe kannten, mit der die entsprechenden Techniken für die Farbgewinnung, die Mischung, die Erhitzung, die Beförderung, die Lagerung, die Applikation und die Imprägnierung verbunden waren.[25]  Die Künste sind insofern Techniken, als sie offensichtlich nicht zu trennen sind von dem, was man zumindest vorläufig das »Wesen der Technik« nennen könnte und aufgrund dessen das Begriffspaar »Kunst und Technik« für uns heute sowohl jene innere Kluft als auch die zentrale Problematik darstellt, von denen anfänglich schon die Rede war.

Technik bedeutet zu wissen, wie man es anstellt, etwas herzustellen, was sich nicht von selbst herstellt. Technik bedeutet einen vielleicht unendlichen zeitlichen und räumlichen Abstand zwischen Produzent und Produkt, und dieser Abstand entsteht auch im Verhältnis des Produzenten zu sich selbst. Herstellen geschieht demnach als Außer-sich-Sein und in der genauen Unterscheidung der jeweiligen Operationen und Objekte. Insofern gilt der plurale Singular der Kunst ebenso für die unaufhörlich neu zu treffende technische Entscheidung des Künstlers: »Kunst machen, das heißt über Kunst urteilen, entscheiden, seine Wahl treffen. ›Etwas machen – sagt Duchamp – das bedeutet, eine Tube Blau, eine Tube Rot wählen, ein wenig auf die Palette streichen und dann wieder 110die Art des Blau und die Art des Rot wählen und dann wieder die Stelle, auf der man es auf die Leinwand auftragen will, wählen, immer heißt es wählen …«.[26] 

Erwartet man eine von der »Natur« nahegelegte Darstellung im Sinne einer »Selbst-Entfaltung«, so kann die »Technik« dem sicherlich nicht gerecht werden.[27]  Eine solche aus der »Natur« oder der φύσις entspringende Darstellung ist nichts anderes als eine erfundene, sublimierte oder kompensatorische Selbst-Darstellung einer Technik, die ihrer selbst nicht sicher ist. (Warum ist sie ihrer selbst nicht sicher? Um das zu beantworten, müsste man das ganze abendländische Denken aufrollen.) Sie ist auch, was damit verbunden ist, jene Darstellung, dank derer die Kunst sich selbst gegenüber unsere ganze Geschichte hindurch misstrauisch geblieben ist; von diesem Misstrauen zeugt nichts besser als die auffällige Nachlässigkeit oder das Unbehagen angesichts der Pluralität der Künste.

Erwartet man so etwas wie eine »Natur«, so fehlen der Kunst Ursprung wie Zweck. Daher kommt die jüdisch-christliche Vorstellung von »Schöpfung« wie gerufen, um den Abgrund zu überbrücken, der sich zwischen der »Kunst« (oder der »Technik«) und der »Natur« auftut, wobei sie von beiden etwas aufnimmt und sie doch zugleich beide zurückweist. Nicht zufällig ist das Wort »Schöpfung« in die Begrifflichkeit und die Darstellungsweise der Geniekunst eingegangen. Aber mit dieser Idee von Darstellung schließt man die Kunst auch in die Aporie eines göttlichen Autismus ein. Die Kunst-als-Technik basiert hingegen auf Äußerlichkeit: Das Werk bleibt äußerlich hinsichtlich seiner Herstellung oder seiner Aussage und ebenso die Kunst in Bezug auf ihren Endzweck. Denn das vollendete Werk lässt hier immer etwas unvollendet, was dann die Manifestation seines Zwecks, seines Wesens oder 111seiner Aussage immer weiter verschiebt – die technisch verstandene künstlerische Arbeit verknüpft sich daher endlos mit anderen Techniken und verlangt ohne Ende, als ihren eigentlichen Zweck, nach einer weiteren Technik; sie verlangt folglich nach ihrem Ende, das ihr selbst fortwährend als »Mittel« erscheint, ein Ende ohne Ende.

Insofern fällt der Technik das Erbe von Ursprung und Ende zu: Sie ist die Konfrontation mit der Grundlosigkeit und der Abgründigkeit, anders gesagt, das, was letztlich als ihr einziger »hinreichender Grund« erscheint, wird tatsächlich als radikal unzureichend und als eine Zerstörung von Grund, »Natürlichem« und Ursprung erlebt. Die Technik zeigt uns einen Rückzug des »Grundes«, doch das ist nur der sichtbare Teil unserer Geschichte. Die Technik im landläufigen Sinn zeigt und verdeckt zugleich diese Grundlosigkeit oder Abgründigkeit. Daher gibt es auch nicht »die Technik«, sondern »die Techniken«, wobei hier der Plural eben das »Wesen« der Technik in sich trägt. Vielleicht ist die Kunst, sind die Künste nichts anderes als eine Technik zweiten Grades, eine zweite Stufe der Konfrontation mit der Grundlosigkeit oder die Technik des Grundes an sich. Wie den Grund erzeugen, der sich nicht selbst erzeugt? – würde die zentrale Frage der Kunst lauten – und darin läge zugleich ihre ursprüngliche Pluralität.

[…]

Wie und auf welche Weise den Grund herstellen, wenn es den einen Grund nicht gibt und man aus keinem Grundstock schöpfen kann? Er müsste demnach dem Heterogenen entspringen. Der Grund stellt sich nicht selbst her und kann auch auf keinerlei Weise hergestellt werden. Der Grund ist die Evidenz und Offenheit des Seins. Er ist die Existenz als unabschließbare, zumindest ist sie dies, solange man sie nicht auf einen Zweck hin manipuliert, die Existenz als »unendliche Vielfalt der Welt«.[28]  Aber die Vielfalt der Welt ist weit mehr als die Vielfalt einer Welt: Sie kennzeichnet die Welt als eine Heterogenität von Welten, und darin besteht die Einheit der Welt.

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112So ist der Sinn in vielfacher Weise einzig und in einzigartiger Weise vielfach. Das muss man aber noch etwas genauer betrachten. Man kann nämlich weder von einer einfachen äußerlichen Abgrenzung der Sinne gegeneinander sprechen, es sei denn, man vereinfachte gröblich, noch eine Homologie zwischen der Aufteilung der Sinne (oder der sinnlichen Bereiche und materiellen Zustände) annehmen. Ebenso wenig gibt es eine einfache Vielfalt, die an die Stelle des Einen treten könnte.

Man muss vielmehr davon ausgehen, dass die Vielfalt die Einheit in vielfacher Weise exponiert, jedoch nicht als deren verschiedene Figuren, die ja dann nichts weiter wären als Darstellungen ihrer selbst; so könnte man der Pluralität der Künste nicht wirklich gerecht werden (im Übrigen kann man wohl mit Recht behaupten, dass die Kunst stets de-figuriert und die Konsistenz des je gegenwärtig Dargestellten auflöst). Die Pluralität exponiert die Einheit und ist ihr Ausdruck, insofern sie diese von Anfang an außer sich setzt, so dass folglich das Eine der Einheit nicht »ein für alle Mal« eines ist, sondern sich im Gegenteil jedes Mal als eines, sozusagen »alle Male für eins« ereignet. Jede einzelne Kunst exponiert auf ihre Weise die Einheit »Kunst«, die außerhalb dieser »einzelnen« Exposition weder einen Ort hat noch Konsistenz gewinnt – ja mehr noch, auch die Einheit einer einzelnen Kunst wird nur in ihren Werken, je einzeln und einmalig, exponiert. Jedes einzelne Werk ist auf seine Weise Synästhesie und Eröffnung einer Welt. Wobei allerdings »die Welt« an sich, in ihrem Welt-Sein (dem Sein, auf das hin sich ein In-der-Welt-Sein öffnet) Pluralität von Welten ist.

So ist die spezifische »Art und Weise« einer jeden Kunst, eines jeden Stils, eines jeden Werks, das heißt die nie vollständig explizierbare Technik, keine Ausdrucksvariante eines im Grunde identischen Themas. In ihr vollzieht sich die notwendige diskrete Unterscheidung als Rhythmus von Schnitt und Ausschnitt des Erscheinens. Das heißt nicht, dass sich eine Figur durch Ausschneiden von einem Hintergrund abheben würde, gemeint ist vielmehr der Schnitt, der eine Form entstehen lässt, insofern eine Form ein (Hinter)grund ist, der sich entzieht, sich zurückzieht oder sich außer sich setzt, sich in Differenz zu sich selbst als Grund setzt. Hubert Damisch etwa schreibt, dass sich bei Dubuffet die Figuren »nicht vom Hintergrund abziehen lassen. Der Hintergrund wird selbst als Figur behandelt und die Figuren wiederum füllen seine Lücken, nisten sich in 113die Leerstellen ein, bis sie selbst nichts weiter mehr sind als Leerstellen und Lücken.«[29]  Form ist die Kraft eines Grundes, der sich immer wieder verlagert und zurückweicht, sein synkopischer Rhythmus.

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(Übrigens müsste man zur eben beschriebenen Pluralität der Figuren, das heißt zur Pluralität der Weisen, die die Künste und ihre Techniken ausmachen, weitere Pluralitäten hinzufügen, etwa die ihrer relativen oder absoluten »Größe«, die unterscheidet zwischen »artes maiores« und »artes minores« bis hin zu jenen schwer definierbaren »Künsten« der Konversation, der Liebe, der Mode et cetera und zwischen mehr oder weniger bedeutenden Stilen, den »großen Meisterwerken« und den »seichten Operetten«. – Wie, wenn die Wahrheit des pluralen Singulars der Kunst letztendlich in der unendlichen Anzahl der Künste selbst und ihrer Formen, Stillagen, Größen, Berührungen und all der aus μίμησις und μέΘεξις entspringenden Wechselbeziehungen läge …?)

Hier zeigt sich die Grenze eines jeden phänomenologischen Ansatzes: Damit ein Hintergrund, der sich zurückzieht und dann wieder als Form kenntlich wird, scharf – als Schnitt – abgegrenzt werden kann, reicht es nicht, allein auf die Figur eines »Erscheinens« zu rekurrieren. Es könnte sich höchstens um ein Erscheinen des Erscheinens selbst handeln, was dann aber kein einfaches Erscheinen mehr wäre – um ein Gegenwärtigwerden, das jeder Ankunft als Erscheinung vorausgeht, um ein Ankommen der Welt vielmehr als um ein In-die-Welt-Kommen, um ein Bedeuten, das jeder sinnstiftenden Intentionalität vorausgeht. In Wahrheit geht es jedoch weder um Sinnstiftung noch um Intention, ja nicht einmal um Bedeuten. Das Ankommen der Welt ist auch gar kein Kommen. Die Welt ist einfach offenbar (im Sinne des lateinischen patens), sie scheint auf, ohne Erscheinung zu werden, denn keine Immanenz eines Subjektes geht der Transzendenz der Welt voraus, kein dunkler Grund liegt hinter ihrem Leuchten. Sie ist unendlich offenbar, so wie die Wahrheit bei Spinoza qui se ipsam patefacit und nullo egeat signo. Wahrheit ist dies in der Tat, oder Sinn des Sinns, das Offenbarsein der Welt, einerseits das Aufscheinen dessen, was nicht in Erscheinung tritt, oder das Nicht-Erscheinen des »Aufscheinen114den« und andererseits die Evidenz, dass es nur die Welt gibt. Daraus folgt nun aber nicht, dass die Kunst für die Wahrheit zuständig wäre oder dass sie sie aufscheinen und leuchten ließe. Das bedeutet vielmehr, dass die Wahrheit selbst Kunst wäre, genauer gesagt, sie wäre eine eigene Kunst – und hätte ihre eigenen Künste.

Die Gegenstände der Kunst leiten sich von keiner Phänomenologie her – man könnte auch sagen, sie sind selbst die Phänomenologie, allerdings in einem ganz anderen Sinn von »-logie« –, denn sie sind noch vor dem Phänomen selbst. Sie gehören zum Offenbarsein der Welt. Oder aber, genau das ist das phenomenon, jedoch nicht in dem Sinn, dass etwas im Licht erscheint: nicht φανείν, sondern φάος, das Licht selbst, und zwar nicht das Licht, das erscheint (lumen), indem es sich auf die Oberflächen der Dinge legt, sondern das Licht, das einfach aufscheint (lux) und zum Erscheinen bringt, selbst jedoch nicht in Erscheinung tritt. Lux ohne fiat, ein Licht ohne Schöpfer und Ursprung, das selbst Ursprung ist, ein vielfach in sich gebrochener, in sich strahlender, explodierender, geborstener Lichtquell.

Husserl schreibt: »Der Widersinn erwächst erst, wenn man philosophiert und, über den Sinn der Welt letzte Auskunft suchend, gar nicht merkt, daß die Welt selbst ihr ganzes Sein als einen gewissen ›Sinn‹ hat […].«[30]  Dem muss man zustimmen, wenn man die Welt im Sinne eines »Sinns« als identisch betrachten will mit der Welt als all dem, was die Endlichkeit insgesamt umfasst, als ihr unendlicher Umfang. Man könnte auch sagen: Die Endlichkeit ist der Akt, in dem das Unendliche sich fühlt, seine notwendig diskrete Berührung.

Der weiteren Argumentation Husserls können wir uns jedoch nicht anschließen, wenn er fortfährt, dass dieser gewisse Sinn »absolutes Bewußtsein, als Feld der Sinngebung voraussetzt«. Denn der unendliche Sinn, der sich als endlicher berührt (der sich fühlbar unterbricht), wird nicht »gegeben«, von nichts und niemandem und für nichts und niemanden. Er ist nicht »gegeben«, er ist einfach offenbar und in seinem Offenbarsein selbst in der Schwebe, offenbar-nichterscheinend. Er geht sich selbst unendlich voraus, aber nicht als Subjekt einer Intentionalität, sondern als Offenbar115werden seines schwebenden Zustandes und seiner augenblicklichen »Partikularisierung«. So gibt es auch nicht verschiedene »Weisen« einer einzigen »Sinngebung«, sondern die »Gabe«, wenn man bei diesem Wort bleiben will, ist selbst schon aufgefächert in ihre unterschiedlichen Weisen. Und die Weisen sind Welten.

Die Kunst exponiert genau dies. Das bedeutet nicht, dass die Kunst das ursprüngliche Offenbarsein darstellen würde (dann dächte man Kunst immer noch unter der Aufsicht der Philosophie). Dass es Kunst gibt und dass es mehrere Künste gibt, ebendies tritt hervor als jenes Offenbarsein. Anders gesagt, darin ist das Offenbarsein offenbar. Mit anderen Worten: Es ist die Darbietung der Darbietung. Oder vielleicht noch genauer: Es macht die Tatsache offenbar, dass es überhaupt Offenbarsein gibt. Es stellt uns vor die Tatsache, dass es überhaupt Darbietung gibt. Und da es gerade eben keine Darbietung und kein Offenbarsein im Allgemeinen gibt, gibt es nur die plurale Darbietung des pluralen Singulars der Darbietung.

Die Darbietung (praesentatio) der Darbietung ist keine Darstellung (repraesentatio): Sie bezieht die Darbietung nicht auf ein Subjekt, für das oder in dem sie statthätte. Die Darbietung der Darbietung bezieht diese auf sich selbst. Das Offenbarsein wird auf sich selbst bezogen – so als würde man einfach sagen patet, »es ist manifest«, »es ist evident«, und zwar nicht, um die unendliche reflexive Bewegung von »es ist evident, dass es evident ist« in Gang zu setzen, sondern vielmehr um dieses es als »Subjekt« der Evidenz sichtbar, vernehmbar, unterscheidbar, fühlbar und berührbar zu machen. Dieses es enthält einerseits so etwas wie »es gibt da Evidenz«, wobei der Akzent auf dem da liegt, es gibt ein Da, je nach Vielfalt der Orte, der Stellen, der Zonen, der Augenblicke, und andererseits so etwas wie ein »es, das eben evident ist«, wobei dieses es weder Person noch Sache, weder Prinzip noch Grund ist, sondern der plurale Singular der Geschehnisse des Daseins oder der Gegenwart oder des Vorübergehenden. Dass die Darbietung sich berührt, heißt auch, dass sie mitten in ihrer flüchtigen Bewegung, in ihrem Kommen und Gehen anhält und in der Schwebe bleibt.

Man kann es noch einmal anders ausdrücken: Die Kunst ist die Transzendenz der Immanenz an sich, die Transzendenz einer Immanenz, die im Moment des Transzendierens nicht aus sich heraustritt, nicht extasis ist, sondern Existenz. Eine »Transimmanenz«. Genau das exponiert die Kunst. Ich betone es noch einmal: Sie stellt 116es nicht dar. Sie ist die Exposition der Transimmanenz. Die Transimmanenz oder das Offenbarsein der Welt ereignet sich als Kunst, in den Werken der Künste. Und so wird das Paar aus Transzendenz und Immanenz durch die Werke selbst unauflösbar ineinander verwoben. Adorno schreibt: »Ihre Stringenz [die der Werke] und inwendige Gefügtheit haben sie der geistigen Herrschaft über die Wirklichkeit abgeborgt. Insofern ist ihnen transzendent, kommt ihnen von außen zu, wodurch sie zu einem Immanenzzusammenhang überhaupt werden. Jene Kategorien werden aber dabei so weitgehend modifiziert, daß nur der Schatten von Bündigkeit übrig ist. Unabdingbar setzt Ästhetik die Versenkung ins einzelne Werk voraus.« Er fügt hinzu: »Die monadologische Konstitution der Kunstwerke an sich weist über sich hinaus«, nur um sogleich wieder zu präzisieren: »Doch ist das ästhetische Bestimmen auf das Moment seiner Allgemeinheit einzig durch sein monadologisches Verschlossensein hindurch zu beziehen.«[31] 

Anders gesagt, wir alle wissen oder machen früher oder später die Erfahrung, dass es nicht möglich ist, das Eigentliche des Kunstwerks (mittels eines Diskurses über den Sinn) zu berühren. Man kann das Werk nur dann im Bereich des Sinns situieren, insbesondere im Bereich eines möglichen »Sinns der Kunst« überhaupt (und eines »Sinns« des Wortes »Kunst«), wenn man den diskursiven Zugriff (entsprechend dem Gesetz des Berührens) durch jenes »Verschlossensein« unterbricht, in welchem das Werk nur sich selbst berührt oder für sich selbst seine eigene Transimmanenz ist. Und dies gilt nicht nur für das einzelne Kunstwerk, sondern ebenso für das Gesamtwerk eines Künstlers, für einen Stil, eine Gattung, für jede einzelne Kunst und alle zukünftigen »Künste«: Es gilt für den pluralen Singular des Wesens der Künste.

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In gewisser Weise entspringt daraus der Kunst ein Privileg. Es ist das Privileg, ein Hinweis zu sein, etwas, das zeigt und berührt, das zeigt, indem es berührt. Es ist nicht das Privileg einer höheren Offenbarung. Die größte Schwierigkeit, wenn man über Kunst spricht, besteht wohl darin, zu vermeiden, dass die Rede in eine Glorifizierung des Sakralen oder in irgendwelche Mystizismen ver117fällt. Um dem zu begegnen, muss die Rede über »die Kunst« unbeirrt immer wieder bei der Rede über ihren pluralen Singular ansetzen. Denn die Pluralität der Künste wird notwendig ein doppeltes Grundprinzip fühlbar werden lassen.

(1) Wenn man die reine Darbietung oder das Offenbarsein berührt, berührt man nichts. Man dringt nicht in ein Geheimnis ein, was man berührt, ist die Evidenz, und die Evidenz selbst ist unabschließbar und vervielfältigt sich in ihrer eigenen Immanenz als Farbe, Nuance, Körnung, Linie, Timbre, Nachhall, Rhythmus …

(2) Kaum dass sich »Kunst« ereignet, verschwindet sie auch schon wieder: Nimmt man eine Kunst, so ist diese wiederum ein Werk, das ein Stil ist, eine Weise, ein besonderer Widerhall anderer Sinnesbereiche, ein rhythmisches Hin und Her zwischen unendlich vielen Zonen. In einem ganz bestimmten Sinn ist die Kunst selbst ihrem Wesen nach nichterscheinend und/oder im Verschwinden begriffen. Sie verschwindet sogar zweimal: Ihre Einheit geht auf in der Pluralität der materiellen Werke und ihr Wesen löst sich jenseits ihrer selbst auf (das Moment des kantischen Erhabenen oder der hegelschen Aufhebung ist stets präsent, stets am Werk inmitten der ästhetischen »Immanenz« selbst).

Und daher suche ich hier auch nicht nach einer »Definition«, einer »Bestimmung« oder einer »Beschreibung« der Kunst, in der falschen Hoffnung, diese von der Diversität der Künste ausgehend erneuern zu können. Ich suche nur nach einer Möglichkeit, diese Diversität nicht aufzugeben, ich will keinen neuen Diskurs über die Kunst führen, sondern eine Weise aufspüren, in der etwas von der »Kunst« als pluraler Singular artikulierbar wird, ohne dass dabei ihre grundsätzliche Pluralität auf eine organische Einheit oder eine Synthese oder ein System reduziert würde.

Das soll aber keinesfalls irgendeinem Ästhetizismus Vorschub leisten. Jeder Ästhetizismus impliziert gewöhnlich von Anfang an als eine seiner Grundbedingungen die Tendenz, »Kunst« in den Singular zu erheben. Die Ästhetik im Sinne eines Ästhetizismus birgt wohl immer die Gefahr, das, worum es eigentlich geht, zu verdecken, da ja der Singular »die Kunst« durchaus ein konsistenter Begriff ist, wenn er als pluraler Singular verstanden wird. Zweifellos 118hat eine Überhöhung der Kunst immer die Tendenz, dem »Werk« mit heiligem Respekt zu begegnen, wo doch die Achtung (und der genaue Blick) einzig seinen Verfahrensweisen, also der Technik gelten sollte. Der technische Charakter der Kunst entzieht der Kunst ihre »poetische« Aura, wenn man darunter die Fähigkeit zur Offenbarung eines Verborgenen versteht oder die Kunst als eine φύσις begreift, deren Wahrheit sie entschleiert. Die Technik entschleiert hier nur sich selbst, wobei dies, wie wir gesehen haben, nicht einfach die Offenlegung der Verfahren, die Mittel und Kalküle meint – die gleichwohl auch ihre nackte Wahrheit sind. Die sich selbst offenlegende Technik betrifft auch die »Entwerkung« des Werks, sie ist es, die das Werk außerhalb seiner selbst setzt und das Unendliche berühren lässt. Der Prozess der technischen Entwerkung treibt die schönen Künste immer zur Verausgabung und hindert sie stets aufs Neue daran, in einer ästhetizistischen Position zu verharren. Daher ist die Kunst auch immer kurz vor ihrem Ende. Das »Ende der Kunst« ist immer der Beginn ihrer Pluralität. Aus dem Ende der Künste könnte auch die »Technik« im Allgemeinen einen anderen, neuen Sinn gewinnen.[32] 

»Technik« ist nichts anderes als eine Regel für einen Endzweck. Wenn das Ende unabschließbar ist, muss die Regel dem entsprechen. In gewissem Sinn ist dies der zentrale Gedanke der Kunst119philosophie seit der Romantik – seit der unendlichen Entgrenzung der Endzwecke des Menschen. Die romantische Auffassung der »Kunst« – als absolute Kunst – beruht auf einer Hypostasierung des unendlichen Endes (als Poesie, Fragment oder Gesamtkunstwerk). Unversehens geht so die Technik in der Gestalt des »Genies« auf. Die romantische Auffassung zu überwinden verlangt, mit aller Strenge das Un-Endliche in seiner endlichen, pluralen, heterogenen Beschaffenheit zu denken. Endlichkeit bedeutet keine Beschränkung, sondern unendliche Bejahung all dessen, was unaufhörlich an sein Ende rührt: Es gilt einen anderen Sinn der Existenz zu bejahen und damit auch einen anderen Sinn der »Technik«.

Vielleicht geht damit auch eine bestimmte Auffassung von »Kunst«, die unsere nämlich, zu Ende, das heißt, die einer Epoche, die von »Kunst« an sich und absolut gesprochen hat; vielleicht gehen auch die mit ihr verbundenen Kategorisierungen der »schönen Künste« ihrem Ende entgegen wie überhaupt ein bestimmtes ästhetisches Gefühl oder Urteil, all das Schwelgen im Erhabenen. Das ist kein Ende, es ist vielmehr die erneuerte Forderung, der bloßen Darbietung des pluralen Singulars der Evidenz oder der Existenz – was dasselbe ist – den rechten Platz einzuräumen. Man kann auch sagen, es ist eine Pflicht. Es ist die Pflicht der Kunst, das Ende der »Kunst« herbeizuführen. Aber diese Pflicht stellt nicht in puritanischer Manier einer »Ästhetik« eine »Ethik« entgegen. Und sie basiert auch nicht auf einer Art »Ethik der Ästhetik«, wie man vielleicht meinen könnte. Diese Pflicht benennt den Sinn als ἔΘος.

Eine solche Pflicht setzt notwendig die Kunst oder so etwas wie »Kunst« – jedoch nicht die eine, absolute Kunst – als kategorischen Imperativ der Welt-nach-der-göttlichen-Schöpfung (was eigentlich schon die Ausgangssituation des kantischen Imperativs war, wenngleich auch nur der Spur nach vernehmbar). Diese Pflicht gibt dem Formalismus des kategorischen Imperativs erst seinen Inhalt, denn sie allein erfüllt ihn mit einem endlichen Zweck: Sie setzt anstelle der bloßen Form des Gesetzes die Darbietung oder das Offenbarsein als Grund-Figur. Wie die Kunst vor der Religion ist (wenn auch nicht im diachronen Sinn), so kommt sie auch nach ihr: im Heute. Aber es ist nicht die eine absolute Kunst, die da kommt, sondern die τέχνη der Existenz, welche mehr ist als bloße φύσις. Ihr Offenbarsein, ihre Evidenz, gleicht nicht dem Aufblühen einer Rose.

120Nicht dass es keine Ethik gäbe, es fehlt uns wahrlich nicht an moralischen Normen, an Tugenden oder Wertvorstellungen, und heute haben wir derer nicht weniger als früher (dass wir sie nicht befolgen oder gegen sie verstoßen, ist ein anderes Problem). Doch was heute fehlt, ist eine ars, die ihnen Sinn verleiht, die ars der Existenz – was nicht »Lebenskunst« meint, sondern Technik, Technik als Möglichkeit, sich auf unendliche endliche Zwecke zu beziehen.

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Aus dem Französischen von Gisela Febel und Jutta Legueil