Inwiefern bilden die Künste eine Einheit, die mit dem Begriff der Kunst umrissen werden kann? Diese Frage ist in der Geschichte der Kunsttheorie immer wieder mit einem Verständnis des Kunstbegriffs verbunden worden, das ich als klassifikatorisch bezeichne. Der Begriff der Kunst gilt demnach als Oberbegriff für all die Ausprägungen von Werken und Aktionen innerhalb der unterschiedlichen Praxiszusammenhänge, die als Künste bezeichnet werden. Was auch immer innerhalb von Künsten zustande kommt, fällt unter den Begriff der Kunst. Der Begriff der Kunst wird dabei im Sinne einer Erklärung der Eigenart verstanden, die die Künste miteinander teilen. All die Phänomene, die es in Künsten gibt, weisen die in Frage stehende Eigenart auf. In diesem Sinn kann man zum Beispiel von künstlerischen Werteigenschaften sprechen, die von Kunstwerken, Kunstaktionen und Künsten realisiert werden. Solche Eigenschaften sind charakteristisch für all die Phänomene, die unter den Begriff der Kunst fallen.[1] 

Einer entsprechenden Erläuterung des Kunstbegriffs ist allerdings immer wieder zu Recht entgegengehalten worden, dass er den Eigenarten der unterschiedlichen Künste nicht gerecht wird. Die künstlerischen Werteigenschaften eines Haiku zum Beispiel – wie Prägnanz und Kürze – haben, so mag man sagen, nichts mit denjenigen einer viersätzigen romantischen Symphonie – wie Kontrastreichtum und thematisches Durchgestaltetsein – gemein. Künste sind, so die immer wieder geäußerte Intuition, in ihren medialen Formationen und den mit diesen Formationen verbundenen Praktiken viel zu spezifisch, als dass sie in plausibler Weise auf einen umfassenden Allgemeinbegriff gebracht werden könnten. Dies kann es motivieren, Künste als unterschiedliche für sich stehende Medien zu begreifen und eine Einheit der Kunst zu bestreiten.[2] 

139Auch wenn die Argumente gegen einen Einheitsbegriff der Kunst grundsätzlich überzeugend sind, greifen sie zugleich zu kurz. Sie gestehen einem klassifikatorischen Verständnis des Kunstbegriffs zu viel zu. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass in entsprechenden Positionen der Begriff der einzelnen Künste (wie der Literatur, der Malerei und des Musiktheaters) seinerseits auch klassifikatorisch gefasst wird.[3]  Auch ein Begriff wie derjenige der Literatur wird so verstanden, dass er die unterschiedlichen künstlerischen Phänomene, die literarisch verfasst sind, unter sich versammelt. Der Begriff der einzelnen Künste wird dabei aber genauso missverstanden, wie dies bei dem eingangs genannten Ansatz für den Begriff der Kunst insgesamt gilt. Diese Begriffe funktionieren nicht klassifikatorisch, sondern evaluativ. Sie artikulieren einen Anspruch, der von den entsprechenden Gegenständen und Ereignissen verfolgt wird.

Nun mag man gleich an diesem Punkt einwenden, dass ich mit meinem Rekurs auf Werteigenschaften bereits ein evaluatives Verständnis des Kunstbegriffs beziehungsweise des Begriffs einzelner Künste eingebracht habe. Dies aber ist nicht der Fall, zumindest so lange nicht, wie Werteigenschaften als Eigenschaften begriffen werden, die ein Gegenstand aufweisen muss, um unter den fraglichen Begriff zu fallen. Werteigenschaften werden hier zur Klassifikation herangezogen. Sie werden als vorhanden konstatiert. Wenn hingegen ein Anspruch verfolgt wird, steht gerade von dem Werk her in Frage, ob es seinem Anspruch gerecht wird oder nicht.

Um den evaluativen Charakter des Kunstbegriffs zu begründen, diskutiere ich im Folgenden zwei paradigmatische Positionen, die diesen Begriff klassifikatorisch anlegen. Auf der einen Seite stehen Versuche, einen umfassenden Kunstbegriff und die mit ihm behauptete Einheit durch Kriterien zu stützen. Auf der anderen Seite steht die konsequente Demontage eines Kunstbegriffs, der über die Theorien einzelner Künste hinauszugehen beansprucht. Ich werde darlegen, dass diese beiden Positionen unhaltbar sind, da sie sich auf einen klassifikatorisch verstandenen Begriff der Kunst beziehungsweise der Künste stützen. Die Probleme, mit denen die para140digmatischen Positionen verbunden sind, lassen sich lösen, wenn man den Kunstbegriff als einen evaluativen Begriff versteht. Dann wird begreiflich, dass dieser Begriff nicht die Einheit der Künste herstellt, sondern dass diese Einheit aus dem Konflikt resultiert, den die Künste unentwegt untereinander austragen. Dieser Konflikt, so lege ich dar, hat sein Zentrum in dem praktisch-gesellschaftlichen Anspruch, den alle Künste verfolgen. Und genau für die Artikulation dieses Anspruchs ist der Begriff der Kunst wichtig (unabhängig davon, ob er explizit gebraucht wird oder nicht). Nach dem Vorschlag, den ich im Folgenden konturieren werde, resultiert die Einheit der Künste aus einem in allen von ihnen verfolgten Anspruch, um den sie immer auch miteinander konkurrieren. Die Einheit basiert nicht auf einem geteilten Nenner, sondern darauf, dass Kunstwerke und Kunstaktionen, um das zu sein, was sie sind, in einen andauernden Konflikt (miteinander) einsteigen müssen. Dieser Konflikt begründet die Einheit der Kunst.

1. Probleme einer klassifikatorisch verstandenen Einheit der Künste

In der Geschichte der abendländischen Kunsttheorie ist die Einheit der Künste immer wieder unter Rekurs auf eine oder mehrere spezifische Eigenschaften von Kunst expliziert worden. Besondere Prominenz und Bedeutung hat dabei der Begriff der Mimesis erlangt. Demnach ist es für die Künste eigentümlich, dass sie diejenigen, die sich mit ihnen auseinandersetzen, mit Nachahmungen konfrontieren. Platon hat mit seiner Dichter- und Kunstkritik einen entsprechenden Kunstbegriff präformiert.[4]  Aristoteles ist ihm im Grundsatz gefolgt, wobei er eine entscheidende Umwertung vornahm: Im Gegensatz zu Platon traut er der durch Kunst hervorgebrachten Nachahmung eine spezifische Erkenntnisleistung zu.[5] 

Die Problematik des Versuchs, ein Kriterium für die spezifische Leistung der Künste zu benennen, tritt allerdings dann zutage, wenn man die Künste tatsächlich umfassend mittels eines Begriffs wie dem der Nachahmung zu fassen sucht. Dies lässt sich unter an141derem in Kunsttheorien des 18.Jahrhunderts beobachten. So zeigt sich beispielsweise in Charles Batteux’ Les beaux arts reduits à un même principe (1746) die Schwierigkeit, Musik unter den Begriff der Mimesis zu bringen.[6]  Unter anderem der Widerstand der nicht darstellenden Kunst der Musik, als Nachahmungspraxis gefasst zu werden, kann einen konkurrierenden Ansatz motivieren, der Künste als spezifische Ausdrucksphänomene fasst, also den Begriff des Ausdrucks ins Zentrum der Kunsttheorie stellt.[7]  Entsprechende Versuche sind allerdings weit weniger verbreitet als die, die mit dem Begriff der Nachahmung operieren, und können auch noch weniger überzeugen.[8] 

Die Geschichte abendländischer Kunsttheorien lässt sich demnach als Scheitern einer Suche nach der Einheit der Künste im Sinne eines von ihnen gemeinsam geteilten Nenners resümieren. Die Einheit der Kunst wird hier so konzipiert, dass sie den grundlegenden Unterschieden der Künste keinerlei Rechnung trägt. Aus diesem Grund misslingt sie. Dies führt gewissermaßen zwangsläufig zu Ansätzen, die mögliche Kriterien für die in Frage stehende Einheit der Künste pluralisieren. Zwei Versuche, die diesen Weg gehen, verdienen aus meiner Sicht besondere Beachtung: zum einen Hegels Formulierung eines »Systems der Künste« und zum anderen die sich auf Wittgenstein stützenden Rekurse auf den Begriff der »Familienähnlichkeit«.

Das in Hegels Ästhetikvorlesungen entwickelte System der Künste schlägt eine interne Pluralisierung von für die Künste entscheidenden Kriterien vor, die durch ein Spannungsfeld ermöglicht wird, in dem Hegel die Künste verortet. Kunst hat nach seinem Verständnis eine sinnliche Präsentation geistiger Gehalte zu leis142ten.[9]  Die Einheit von sinnlich-materialer Gestalt und geistigem Gehalt, die das Kunstwerk dabei idealerweise realisiert, begreift Hegel als eine Mitte, die zwei Pole verbindet: auf der einen Seite einen Überhang sinnlich-materialer Realisierung und auf der anderen Seite einen Überhang des Geistigen in der Kunst. Zwischen diesen beiden Extremen sieht Hegel die unterschiedlichen Künste aufgespannt. Hegel setzt in dieser Weise Architektur, Plastik, Malerei, Musik und Poesie in Beziehung zueinander. Seine These ist dezidiert nicht, dass diese Künste ein Kriterium miteinander teilen. Vielmehr sieht er hinsichtlich der sinnlich-materialen Präsentation geistiger Gehalte in den von ihm systematisch unterschiedenen Künsten je spezifische Verhältnisse hergestellt.

Die von Hegel angebotene Systematik aber ist zu rigide. Hegel erwartet grundsätzlich, dass Künste sich in aufschlussreicher Weise als Verhältnis von Sinnlichkeit und Geistigkeit erläutern lassen. Diese Fixierung aber hat hinsichtlich einiger Künste Spannungen zur Folge, die ein Indiz dafür sind, dass sein System der Künste zu eng angelegt ist. Denken wir an Literatur.[10]  Zwar lässt sich hier in einer gewissen Weise von einer sinnlichen Materialität der Sprache sprechen, in der geistiger Gehalt dargeboten wird. Zudem gibt es sicherlich literarische Werke, wie Gedichte der konkreten Poesie, in denen tatsächlich dem sinnlich-materialen Charakter der Sprache ein besonderes Gewicht zukommt. Aber ein Großteil literarischer Texte ist von anderen Dimensionen geprägt. Es geht in ihnen auch nicht einfach um spezifische Arten geistigen Gehalts. Entscheidend sind hier vielmehr Dimensionen wie Narrativität und Fiktionalität, Dialogizität und Realitätsgebundenheit.[11]  Hegels »System der Künste«, so kann man diese Überlegungen knapp resümieren, fehlt es also an einer Vieldimensionalität, wie sie für die Künste und für ihre immer offene Entwicklung charakteristisch ist.

Dies mag es naheliegend erscheinen lassen, sein Glück in einer Ausweitung der Kriterien für Künste zu versuchen. So gelangt man 143zu Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit,[12]  mit dem sich, so die Hoffnung, die Probleme eines einheitlichen Kriteriums oder eines einheitlichen Spannungsfelds für alle Künste vermeiden lassen. Der Kerngedanke, der sich mit Wittgensteins Begriff artikulieren lässt, besagt, dass sich begrifflich auch lose gekoppelte Einheiten denken lassen, die nicht von einem einheitlichen Kriterium umfasst werden, sondern von mehreren Kriterien, die sich in unterschiedlicher Weise überlappen. So wie sich in einer Familie unterschiedliche, zum Beispiel physiognomische, Eigenschaften auf die Familienmitglieder so verteilt finden, dass die Eigenschaften bei den Individuen in unterschiedlicher Weise zusammenkommen, ist es demnach auch bei den Künsten: Manche sind darstellend, andere ausdruckshaft, wieder andere form- sowie bewegungsbezogen und so fort. Nach dem von Morris Weitz für die Kunsttheorie in Anschlag gebrachten Begriff der »Familienähnlichkeit« resultiert die Einheit der Künste aus einem komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Eigenschaften über die unterschiedlichen und vielfältigen Künste hinweg.[13] 

Aber auch das Konzept der Familienähnlichkeit hält nicht, was es verspricht. Der heruntergestimmte Versuch, die Einheit der Künste zu erklären, löst diese Einheit letztlich auf. Die sich überlappenden gemeinsamen Nenner bieten keine Erklärung dafür, welche Phänomene in das Feld der Künste fallen und welche nicht. Warum ist ein neues Kriterium als ein solches zu begreifen, das das Feld der Künste erweitert? Warum liegt es nicht außerhalb dieses Feldes? Der Rekurs auf eine Familie der Künste hilft hier nicht weiter. Er suggeriert – gegen Wittgensteins Intention – eine Naturalisierung der zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge, die jeder konsequente Versuch, sie in ihrer Pluralität zu fassen, hinter sich lassen muss. Wenn der Zusammenhang unterschiedlicher Kri144terien nicht anderweitig gesichert ist, vermag das Überlappen von Kriterien nichts zu erklären. Es bleibt dann immer die Frage offen, ob die Kriterien nur kontingenterweise zusammentreffen oder ob ihr Zusammentreffen eine tragfähige Grundlage hat.

Der Rekurs auf das Konzept der Familienähnlichkeit erweist sich so als Konsequenz eines verfehlten Versuchs, die Einheit der Künste zu fassen. Wenn man die Einheit der Künste auf ein oder mehrere Kriterien stützen will, vermag man nicht, der Einheit und Unterschiedlichkeit der Künste zugleich Rechnung zu tragen. Das Problem liegt hier darin, dass der Begriff der Kunst und die für ihn in Anschlag gebrachten Kriterien klassifikatorisch gedeutet werden. Aus diesem Grund wird die Unterschiedlichkeit der Künste entweder um einer kriterial gefassten Einheit willen reduziert, oder es wird die Unterschiedlichkeit so konsequent expliziert, dass die Einheit nicht mehr einsichtig zu machen ist. Um diese Konsequenzen zu vermeiden, gilt es, einen Weg zu finden, wie sich die Einheit der Künste auf eine nichtklassifikatorische Weise begreiflich machen lässt.

2. Warum es unmöglich ist, den Theorien einzelner Künste den Schwarzen Peter zuzuschieben

Bevor ich einen solchen Weg beschreite, will ich aber erst überlegen, ob eine plausible Reaktion auf das Scheitern einer klassifikatorischen Fassung der Einheit der Künste nicht darin liegen könnte, den einheitlichen Begriff der Kunst insgesamt aufzugeben. In geradezu mustergültiger Weise hat dies Dominic McIver Lopes in Beyond Art getan.[14]  Er präsentiert einen äußerst aufschlussreichen Versuch, den Begriff der Kunst und die mit ihm verbundene Idee der Einheit der Künste aus der Kunsttheorie zu verabschieden, und stützt sich dabei auf die saloppe Formel, es gelte, den Schwarzen Peter weiterzuschieben.[15]  Immer wieder habe man in Bezug auf die Kunsttheorie Aufklärung von einem allgemeinen Begriff der Kunst 145erhofft. Diese Aufklärung sei aber nicht zustande gekommen, da alle entscheidenden Fragen in Bezug auf einzelne Künste nur mit Blick auf sie selbst beantwortet werden könnten. Insofern müsse der Schwarze Peter an die Ebene der Theorie einzelner Künste weitergegeben werden.

Ein wichtiger Aspekt dieser Argumentation von McIver Lopes liegt in dem Gedanken, einen bildungsbürgerlich und westlich-abendländisch übersteigerten Begriff der Kunst hinter sich zu lassen. Der Rekurs auf die Einheit der Künste wird so als kulturell eingeschränkt und von spezifischen (elitären) diskursiven Interessen geleitet verstanden.[16]  Im Sinne Bourdieus kann man McIver Lopes so verstehen, dass ihm zufolge der allgemeine Kunstbegriff primär mit dem Ziel verbunden ist, symbolischen Wert zu generieren, und aus diesem Grund keinen gehaltvollen Begriff der Einheit der Künste bereitstellt.[17]  Gerade deshalb wird er auch, so lässt sich im Sinne von McIver Lopes weiter sagen, der kulturellen Vielfalt in unterschiedlichen historisch-sozialen Zusammenhängen auf der Welt nicht gerecht.

McIver Lopes plädiert daher für ein Verständnis der Künste, das diese als spezifische Zusammenhänge kultureller Praktiken deutet. Es gilt ihm zufolge, unterschiedliche Arten dieser Praktiken (die Kultur des Poetry Slam genauso wie die der japanischen Töpferkunst) aus sich heraus zu begreifen. Dazu führt er den Begriff »appreciative kinds«[18]  ein, als den Begriff für Arten von Praktiken, die mit der Realisierung von je spezifischen Werteigenschaften verbunden sind. Künste sind, so gesehen, wertschätzungsbezogene Arten, da in ihnen je unterschiedliche Kriterien für das etabliert werden, was eine qualitativ gelungene Instanziierung der Art ausmacht. Werke oder Ereignisse in zum Beispiel Tanz und Architektur sind so nicht an gemeinsamen Kriterien zu messen, sondern müssen ihr Gelungensein je vor dem Hintergrund der für die Kunst, der sie angehören, spezifischen Kriterien unter Beweis stellen. Auch die Unterscheidung von Kunst und Nichtkunst lasse sich, so McIver Lopes, nicht von allgemeinen Begriffen her treffen, sondern werde 146in jeder Kunst je eigen etabliert.[19]  So gesehen, ist es zum Beispiel der Theorie der Musik überlassen, zwischen Gebrauchsmusik und Kunstmusik zu unterscheiden. Mit den je spezifischen Kriterien des Gelingens würden innerhalb einer künstlerischen Art auch entsprechende Unterscheidungen fundiert.

McIver Lopes’ konsequenter Versuch der Verabschiedung des Kunstbegriffs aus der Kunsttheorie kann aber insgesamt nicht überzeugen, da er insbesondere zwei Probleme nicht zu lösen vermag.[20]  Das erste Problem lässt sich als Problem der neuen Künste bezeichnen. Wenn man die Künste vereinzelt, kann man nicht mehr erklären, wie neue Künste zu den bereits etablierten Künsten hinzukommen. Zwar ist leicht einsichtig zu machen, dass sich mediale und praktische Zusammenhänge entwickeln, mit denen eine eigene Art von Praktiken neu etabliert wird. Aber wie lässt sich eine solche neuetablierte Art als neue Kunst begreifen? Bei der Etablierung muss so etwas wie ein künstlerischer Anspruch im Spiel sein, den die betreffende Art von Praktiken aber nicht aus sich heraus generieren kann. Erforderlich ist vielmehr ein Rekurs auf einen bereits in anderen Künsten etablierten Anspruch.

Das zweite Problem bezieht sich in allgemeiner Weise auf die Unterscheidung von Künsten und Nichtkünsten, geht also über den Unterschied zwischen der Gebrauchsvariante und der Kunstvariante eines spezifischen Mediums (wie der Musik oder der Literatur) hinaus: Auch wenn man den Theorien einzelner Künste aus sich heraus zutraut, alle entscheidenden Fragen in Bezug auf sie und die für sie relevanten Unterschiede zu klären, bleibt dennoch unklar, warum man überhaupt von Künsten spricht. Einzelne Praxiszusammenhänge wie zum Beispiel die Praxis der Literatur lassen sich als kulturelle Praxis begreifen, die – wie zum Beispiel die Praxis des Restaurantbesuchs oder die des Blogs im Internet – spezifische materiale, mediale und soziale Rahmenbedingungen aufweist. Warum man die eine Praxis als eine solche der Künste, andere Praktiken aber als solche außerhalb des Bereichs der Künste versteht, kann ein Ansatz, der nur von einzelnen Künsten her denkt, nicht begreiflich machen.

Nun kann man versuchen, auf diesen Einwand hin geltend zu 147machen, dass Praktiken einfach zum Teil als solche der Künste begriffen werden, so dass die entsprechende Bezeichnung als Aspekt der kulturellen Wirklichkeit zu verstehen ist, also keinen darüberhinausgehenden spezifischen Anspruch transportiert, sondern historisch und kulturell kontingent ist. Eine solche Argumentation aber greift nicht. Sie liefert keine Begründung für die Unterscheidung, um die es geht, also die Bezeichnung eines Praxiszusammenhangs als eines solchen der Künste (Literatur) und eines anderen Praxiszusammenhangs als eines solchen, der nicht in dieser Weise zugeordnet wird (Restaurantbesuch). Der Theorie ist es aufgegeben, Begründungen für die entsprechenden Bezeichnungen zu geben. Genau dies unterbleibt hier.

Diese Überlegungen zeigen, dass McIver Lopes’ Reaktion auf das Problem, die Einheit der Künste klassifikatorisch zu begreifen, dieses nicht klärt. Unterschwellig bleibt der Rekurs auf »appreciative kinds« einem klassifikatorischen Ansatz verpflichtet, was dazu führt, dass nicht mehr verständlich wird, inwiefern die jeweiligen Arten überhaupt als Künste zu begreifen sind. Es gilt also, den klassifikatorischen Ansatz konsequenter zu verabschieden, als dies bei McIver Lopes geschieht.

Genau dafür bieten die Ausführungen von Beyond Art einen Anknüpfungspunkt, den es weiterzuentwickeln gilt. Wie dargestellt, begreift McIver Lopes Künste als wertschätzungsbezogene Arten. Künste werden so als Zusammenhänge von Praktiken begriffen, in denen es um die Realisierung eines jeweils verfolgten Wertanspruchs geht. Die Wertschätzung muss innerhalb dieser Praktiken von jeder einzelnen Instanziierung der betreffenden Art verdient werden. Aus diesem Grund sind evaluative Stellungnahmen mit Blick auf künstlerische Praktiken entscheidend. Was Kunst ist, wird entsprechend nicht klassifikatorisch festgestellt, sondern evaluativ eruiert.

Das Verständnis von Künsten als wertschätzungsbezogene Arten eröffnet also eine Perspektive, die über ein klassifikatorisches Verständnis von Künsten hinausführt. Genau diese Perspektive gilt es aus meiner Sicht auszubauen. Wie gesehen, führt der Verzicht auf den Kunstbegriff dazu, dass nicht mehr verständlich wird, inwiefern Praxiszusammenhänge überhaupt als Künste zu begreifen sind. Daraus muss man allerdings nicht schließen, dass ihr Status als Kunst gesichert wäre. Richtig ist vielmehr der Schluss, dass in al148len Praxiszusammenhängen von Künsten tatsächlich in Frage steht, welche Werke oder Performanzen tatsächlich als Kunst zu begreifen sind. Damit kommt man zu einem evaluationsbezogenen Ansatz. Richtig an dem Vorschlag von McIver Lopes ist also der Gedanke, dass der Kunstbegriff nicht einfach herangezogen werden kann, um das Feld der Künste positiv zu umgrenzen. Der Versuch, eine durch Kriterien gestützte positive Bestimmung dessen, was Kunst ist, zu geben, ist zum Scheitern verurteilt. Damit aber ist, anders als McIver Lopes meint, der Kunstbegriff selbst nicht aus dem Spiel. Er muss vielmehr anders rekonstruiert werden.

3. Einheit durch Konflikt

Die zurückliegenden Überlegungen zeigen, dass das zentrale Problem im Verständnis der Künste darin besteht, den in ihnen verfolgten künstlerischen Anspruch und ihre jeweiligen Eigenheiten miteinander zu vereinbaren. Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen den Künsten so herstellen, dass ihren Unterschieden und Divergenzen Rechnung getragen wird? Die Antwort auf diese Frage, zu der die Auseinandersetzung mit der Position von McIver Lopes uns gebracht hat, besagt, dass Kunst als ein Anspruch zu begreifen ist, der in allen Künsten auf unterschiedliche Weise verfolgt wird. Der Kunstbegriff hat, so gesehen, in einer Praxis steter Auseinandersetzungen und Konflikte über die Frage, was Kunst ist, seinen Sitz. Er muss aus dem unentwegten Streit über die Frage heraus verstanden werden, was dem Anspruch, Kunst zu sein, gerecht wird. Es handelt sich also nicht um einen klassifikatorischen, sondern um einen evaluativen Begriff.[21] 

Unter einem evaluativen Begriff verstehe ich einen Begriff, der in Beurteilungen als Kriterium fungiert. Ein solcher Begriff artikuliert einen mit einem Gegenstand oder Geschehen verbundenen Anspruch, dessen Einlösung im Rahmen von Evaluationen bewertet wird. Von einem klassifikatorischen Begriff unterscheidet sich ein evaluativer Begriff dadurch, dass er nicht einfach eine Eigen149schaft in spezifischen Gegenständen oder Ereignissen konstatiert. Vielmehr artikuliert er einen Anspruch, den der jeweils beurteilte Gegenstand implizit oder explizit verfolgt. In den weiteren Überlegungen dieses Abschnitts wird es mir darum gehen, die Funktionsweise des Kunstbegriffs als eines evaluativen Begriffs näher zu bestimmen und so begreiflich zu machen, inwiefern die Einheit der Künste aus einem ständigen Konflikt darüber resultiert, welche Gegenstände und Ereignisse den durch den Kunstbegriff artikulierten Anspruch einlösen.

Der Anspruch der Künste – Entscheidend für eine angemessene Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Künsten ist es, Künste nicht als bloßen Bestandteil historisch-kultureller Praktiken zu begreifen. Auch wenn Künste an historisch-kulturelle Kontexte gebunden sind, fügen sie sich in diese doch nicht einfach ein wie Praktiken der Vorbereitung von Speisen oder die Durchführung demokratischer Wahlen. Künste sind vielmehr als Praktiken zu begreifen, die mit einem Anspruch verbunden sind, historisch-kulturellen Kontexten Impulse für Transformationen zu geben. Von diesem Anspruch her leisten Künste innerhalb der Kontexte, in denen sie zustande kommen, Selbstverständigung in Form einer Selbstkritik.[22]  Vor diesem Hintergrund lässt sich der Kunstbegriff folgendermaßen verorten: Kunst ist der Begriff für genau den Anspruch, auf eine spezifisch autonome, von Gegenständen und Aktionen ausgehende Art und Weise produktive Impulse zu einer Transformation historisch-kultureller Praktiken zu realisieren.[23]  Die Transformation, von der hier die Rede ist, kann sehr unterschiedlich funktionieren. Künste können transformativ auf Wahrnehmungs- und Bewegungsweisen ausgerichtet sein; sie können aber auch die Formation 150von Gemeinschaften oder die Formulierung politischer Ideale und vieles andere mehr betreffen.[24]  Die Transformation kann zudem sowohl einen verändernden als auch einen bestätigenden und bewahrenden Duktus aufweisen.[25] 

Die transformativen Impulse, die Kunstwerke und Kunstereignisse realisieren, sind – hier kann ich unter anderem an McIver Lopes, aber auch zum Beispiel an Martin Seel[26]  anschließen – an spezifische mediale Formationen und an die mit ihnen verbundenen Praktiken (wie die mediale Formation von Flauberts Emma Bovary und die mit ihr verbundenen Praktiken der Lektüre, des emotionalen Nachvollzugs der Entwicklung der Protagonistin und der Diskussion über die Bedeutung des Endes von Flauberts Text) gebunden. Mit Blick auf die Eigenschaften unterschiedlicher Künste, in denen die Impulse begründet sind, bestehen keine Gemeinsamkeiten, die so etwas wie einen oder mehrere geteilte Nenner abgeben würden. Dass aber überhaupt von Gegenständen und Aktionen her transformative Impulse ausgehen sollen, verbindet die Künste miteinander, und zwar im Sinne eines Anspruchs, den sie verfolgen und in Bezug auf dessen Einlösung sie – im Rahmen all derjenigen Auseinandersetzungen, die sich pauschal mit dem Begriff der Kunstkritik umreißen lassen – beurteilt werden.[27]  So sind die Diskussionen zu verstehen, die innerhalb der Künste und in der Kunstkritik in Bezug auf Weiterentwicklung und Ausrichtung der Künste unentwegt stattfinden: Unabhängig davon, ob dabei explizit der Begriff der Kunst gebraucht wird, sind Produktion und Rezeption von Künsten sowie Kunstkritik wesentlich an dem grundlegenden Anspruch der Realisierung transformativer Impulse im Rahmen gesellschaftlicher Zusammenhänge orientiert.

Wenn man den Begriff der Kunst in dieser Weise verortet, gewinnt man einen ersten Anhaltspunkt dafür, wie sich Künste ent151wickeln und inwiefern sie mit einer Abgrenzung von nichtkünstlerischen Praktiken verbunden sind. Die Entwicklung der Künste hängt damit zusammen, dass der sie leitende Anspruch, auf bestimmte Art und Weise transformatorische Impulse freizusetzen, weitergetragen beziehungsweise immer wieder aufgegriffen wird. Dies geschieht zum einen innerhalb einer spezifischen künstlerischen Praxis wie der des Comics oder der japanischen Töpferkunst, gilt aber gerade auch dort, wo Praktiken als neue Künste verstanden werden beziehungsweise verstanden werden wollen. Die Entwicklung des Films oder des Computerspiels als Kunst rekurriert auf den Anspruch, im Rahmen einer Verbindung von medialer Formation und Praktiken transformatorische Impulse zu realisieren.[28]  Man stelle sich kontrafaktisch vor, der Film wäre nur dazu genutzt worden, optische Sensationen hervorzubringen oder politische Geschehnisse zu dokumentieren. Gesetzt den Fall, es wäre in einem Film an keinem Punkt um die Veränderung der Gefühle in Bezug auf andere oder sein Potenzial, politische Anstöße hervorzubringen, oder Ähnliches gegangen, hätte sich wohl keine Diskussion um Film als Kunst ergeben oder sie wäre im Sande verlaufen. Dass der Film kurz nach seinem Entstehen von lebhaften Diskussionen um die Frage, ob er als Kunst zu verstehen sei, begleitet wurde, lässt sich so erklären, dass er zumindest zum Teil mit einem Anspruch verbunden wurde, der in ganz anderer Weise zum Beispiel in Literatur und Malerei realisiert wurde und immer noch wird.

Die Entwicklung der Künste resultiert, so gesehen, daraus, dass der Anspruch, der einzelne Künste leitet, in anderen medialen Formationen und Praktiken fortgeführt und reaktualisiert wird. Künste entwickeln sich aus einem Anspruch heraus, in Bezug auf den sie aneinander anschließen. Dies gilt innerhalb etablierter medialer Formationen und Praktiken genauso wie dort, wo sich neue Formationen anheischig machen, zum Bereich der Künste zu gehören. In der steten Weiterentwicklung der Künste erfährt der Anspruch, von dem ich spreche, seinerseits durchweg Transformationen. Die Art und Weise, wie er in den Tragödien des fünften vorchristlichen Jahrhunderts verfolgt wurde, ist durch vielfältige Wandlungen und Erweiterungen sowohl im Feld der Künste als auch in historisch-sozialen kulturellen Zusammenhängen verändert worden. 152Dennoch schließen künstlerische Praktiken der Gegenwart noch an diesen Anspruch an, so dass sich nicht nur eine erhebliche Veränderung, sondern zugleich auch eine durchaus relevante Kontinuität behaupten lässt, die sich unter anderem daran zeigt, dass es für uns nicht nur in einem kulturhistorischen Sinne interessant ist, uns mit diesen Tragödien zu befassen, sondern dass sie bis in unsere Tage hinein als künstlerische Reaktualisierungen erfahren werden.

Konfliktive Struktur der Künste – Das bisher gezeichnete Bild des mit Künsten verbundenen Anspruchs ruft allerdings den Einwand hervor, dass mit ihm die Probleme der im ersten Abschnitt diskutierten Ansätze wiederkehren. Wird der Anspruch, transformatorische Impulse zu generieren, nicht als eine Eigenschaft verstanden, die alle Künste beziehungsweise Kunstwerke miteinander teilen? Auch wenn der Anspruch als Grundlage von Evaluationen zu verstehen ist, tritt er in den bisherigen Erläuterungen, so zumindest scheint es, wie eine Eigenschaft auf, die alle Künste aufweisen.

Um den Einwand zu entkräften, ist es erforderlich nachzuvollziehen, wie Kunstwerke in ihrem Anspruch zusammenhängen. Wie unter anderem ein Blick auf die frühen Tage der Fotografie lehren kann, stehen Kunstwerke, künstlerische Aktionen und Künste in Bezug auf den von ihnen verfolgten Anspruch nicht einfach nebeneinander. Die Verteidigung von Fotografie als Kunst war nicht nur mit dem Gedanken verbunden, dass im Rahmen einer neuen medialen Formation der Anspruch auf Hervorbringung transformatorischer Impulse aufgegriffen und weitergeführt wird. Das Geltendmachen des Anspruchs war immer wieder auch mit dem Gedanken einer Ablösung der Malerei verbunden.[29]  Fotografie wurde als die bessere Kunst verteidigt und als die schlechtere Kunst (sofern sie überhaupt als Kunst anerkannt wurde) kritisiert. Denken kann man auch an Richard Wagners Gegenüberstellung von Sprache und Musik, die mit der These verbunden ist, dass erst in der Musik künstlerische Ansprüche vollständig eingelöst werden.[30]  Phänomene wie die genannten machen deutlich, dass der Anspruch, der im Begriff der Kunst artikuliert wird, antagonistischer 153Natur ist. Künste wetteifern in Bezug auf diesen Anspruch sowohl intern als auch untereinander. Die Weitergabe des Anspruchs, von der ich bislang gesprochen habe, ist entsprechend immer wieder mit Überbietungsgesten und Konkurrenzdenken verbunden.

Die Konkurrenz der Künste ist uns seit der Antike durch den Paragone und durch das Motto Ut pictura poiesis vertraut. Immer wieder sind die Künste wechselseitig aneinander gemessen und gegeneinander ausgespielt worden. Aber auch innerhalb einzelner Künste sind Entwicklungen von Konflikten geprägt. Paradigmatisch ist diesbezüglich die Querelle des Anciens et des Modernes, die künstlerische Konflikte bis weit in die Moderne hinein vorgeprägt hat. Solche Konflikte ziehen sich unter anderem bis in die Popmusik hinein; man denke an den Antagonismus zwischen den Beatles und den Rolling Stones oder – 20 Jahre später – denjenigen zwischen Michael Jackson und Prince (Antagonismen, die sich als Symptom dafür, dass auch hier künstlerische Ansprüche verfolgt werden, begreifen lassen). In dem Wettstreit geht es um Unterschiede zwischen einer besseren und einer weniger guten Realisierung des Anspruchs, transformatorische Impulse zu erbringen. Es geht um graduelle Unterschiede und nicht nur um die Frage, ob etwas ganz oder gar nicht mit dem Anspruch, Kunst zu sein, verbunden ist.

Zugleich ist für die graduellen Unterschiede in künstlerischen Realisierungen des Anspruchs der Kunst auch die Differenz von Kunst und Nichtkunst relevant. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Geringschätzung von Glenn Gould für die Kompositionen Mozarts. Es geht um kleinere oder größere Überbietungen und damit immer um die Frage, welche künstlerischen Werke und Darbietungen in besonderer Weise hinsichtlich des Anspruchs auf transformatorische Impulse überzeugen. In Adornos Ästhetischer Theorie heißt es, »ein Kunstwerk [sei] der Todfeind des anderen«.[31]  Dies ist übertrieben, wenn man darin suggeriert sieht, dass es in der Kunst letztlich nur ein gültiges Werk geben kann. Nicht übertrieben aber ist es, wenn man Kunstwerke grundsätzlich als in einem strukturellen Überbietungswettstreit gefangen sieht. Der in den Künsten verfolgte Anspruch wird also nicht neutral geteilt, sondern in Kon154flikten gegeneinander vertreten. Er ist ein Aspekt der Position, die Kunstwerke und Künste in Entgegensetzung zu anderen Kunstwerken und Künsten beziehen.

Produktivität des Konflikts – Nun aber scheint das Pendel in Bezug auf die Verbindung von Einheit und Unterschiedlichkeit in den Künsten wieder in die andere Richtung, also im Sinne einer Vorrangstellung der Unterschiede auszuschlagen. Der Konflikt von Kunstwerken und Künsten in der Realisierung des Anspruchs der Kunst scheint jeden Zusammenhang und damit jede Einheit der Künste aufzubrechen. Diese Einschätzung aber wird der konfliktiven Struktur nicht gerecht, da sie auf der unhaltbaren Prämisse beruht, der Konflikt habe einen trennenden Charakter. Betrachten wir zum Beispiel die für den Wettstreit von Kunstwerken und Künsten wichtige Frage, welche transformatorischen künstlerischen Impulse in einer spezifischen gesellschaftlich-kulturellen Situation an der Zeit sind. In dieser Frage sind zum Beispiel Stravinsky und Schönberg nicht voneinander getrennt, sondern miteinander verbunden. Der Konflikt ihrer musikalischen Positionen um die Frage, welche Musik an der Zeit ist, stiftet einen Zusammenhang zwischen ihnen. Dies gilt genauso für die abstraktere Frage, was eigentlich die gültige Realisierung einer spezifischen Kunst ist. Inwiefern sind zum Beispiel Skulpturen von Michelangelo als schlechthinnige Erarbeitungen des in der Skulptur Möglichen zu begreifen? Die Frage nach der Gültigkeit des in der Skulptur zu Leistenden verbindet Michelangelo unter anderem mit Bernini, Rodin und Giacometti. Sie stiftet keine Trennung, sondern eine Verbindung, die trotz, oder genauer gesagt: gerade wegen der Unterschiedlichkeit der jeweiligen künstlerischen Positionen besteht.

Der Konflikt der Künste stiftet Zusammenhänge, die eine gleichermaßen historische wie kulturelle Bindungen übersteigende Struktur haben. Auch wenn die Künste, wie betont, immer mit Fragen ihrer Zeit konfrontiert sind, ist doch die von ihnen gesuchte Entwicklung transformativer Impulse immer auch anachronistischer Natur. Ihr Wettstreit geht nicht darum, mit der Zeit zu gehen, sondern darum, in der richtigen Weise eine Distanz zur eigenen Zeit zu etablieren.[32]  Nicht zuletzt aus diesem Grund gehört zur 155Entwicklung der Künste grundsätzlich die Neuentdeckung älterer künstlerischer Perioden und Werke. Kein in Künsten generierter transformatorischer Impuls ist für immer erledigt, nur weil er einer vergangenen Zeit angehört. Das Potenzial entsprechender Impulse kann sich immer wieder aufs Neue als besonders aktuell erweisen. So gesehen, geht es in dem Wettstreit der Künste um eine produktive Unabhängigkeit von der (eigenen) Zeit. Künste haben – dies hat wohl niemand so deutlich wie Hegel gesehen – wie die Religion und die Philosophie das Potenzial, über Zeiten hinweg mit ihren Impulsen wertvoll zu bleiben.[33] 

Künste unter Künsten – Jede in den Künsten mit Praktiken verbundene mediale Formation entwickelt sich gleichermaßen intern wie extern konfliktiv. Das hat Konsequenzen für ihre Verfasstheit. Künste sind in ihrer Spezifik nicht ohne die Beziehungen konstituiert, in denen sie zu anderen Künsten stehen. Genau dieser zentrale Aspekt ist im Rahmen der Kunsttheorie immer wieder bestritten worden, in besonders wirkmächtiger Form von Clement Greenberg. Er präformiert mit seiner These, dass einer Kunst wie der Tafelbildmalerei ein spezifisches Medium eigen sei, ein Verständnis, demzufolge Künste an je eigene Regeln gebunden sind.[34]  Greenbergs Idee, dass Tafelbildmalerei in eigener Weise die Bildfläche als Fläche gestalte und so in flächigen Malereien das Eigene des Mediums zu sich komme, beantwortet eine zentrale Frage nicht: Inwiefern bietet die flächige Gestaltung von Gemälden eine Realisierung des Anspruchs, aus der eigenen Medialität heraus transformative Impulse freizusetzen? Greenberg fasst die Eigenart der Malerei in einer Weise, die diese nicht als Kunst reflektiert, und erklärt aus diesem Grund gerade nicht, was er zu erklären beansprucht: Was Malerei als Kunst spezifisch macht. Seine Explikation betrifft nur das Medium, nicht aber die Realisierung eines künstlerischen Anspruchs in diesem Medium.

Um eine künstlerische mediale Formation in ihrer Spezifik zu begreifen, muss der Anspruch ihres Beitrags zur gesellschaftlichen Selbstverständigung beziehungsweise -kritik in seinem Zustandekommen rekonstruiert werden. Genau dies aber setzt die Beziehung zwischen unterschiedlichen medialen Formationen voraus. Wie be156reits in Platons Dichterkritik indirekt deutlich wird,[35]  werden die von einzelnen Künsten verfolgten Ansprüche immer durch ihre Bezüge zu anderen Künsten spezifiziert, sei es dadurch, dass sie die Ansprüche anderer Künste aufgreifen (wie Platon es dem Theater in Bezug auf die Malerei zuschreibt), oder dadurch, dass sie sich von deren Ansprüchen abgrenzen. Das spezifische Leistungsvermögen einer medialen Formation kommt erst durch ihre Anleihen von und ihre Abgrenzungen gegenüber anderen Künsten zustande. Künste teilen in dieser Weise grundlegende Konstellationen wie zum Beispiel den Rhythmus oder das Herstellen synchroner Flächigkeit. Die Spezifik einer Kunst entscheidet sich aus diesem Grund in den Grenzbereichen, in denen sie sich zu anderen Künsten verhält.[36] 

Die Dynamik, die jeder Kunst eigen ist, wird dabei durch einzelne Kunstwerke oder künstlerische Aktionen bewerkstelligt. Mit jedem neuen Kunstwerk wird die Frage nach dem Anspruch der Impulsgebung neu aufgeworfen und wird dieser Anspruch aufs Neue in Relation zu anderen Künsten ausgehandelt. Auch wenn Werke oder Aktionen sich dem Anschein nach auf das gesicherte Terrain einer wohletablierten Kunst verlassen, führen sie indirekt Antagonismen fort, die die Konstitution dieser Kunst ausmachen. Künste wie die Malerei oder der Film sind so konstitutiv in Bewegung, und dies in einer Weise, die jeden sicheren Kern, den man in ihnen phasenweise erkennen möchte, in Frage stellt. Adorno spricht in seinen Überlegungen zu Künsten in der Nachmoderne von einer »Verfransung der Künste«.[37]  Mit dem Begriff der Verfransung lässt sich aber kein spezifischer historischer Zustand profilieren. Recht betrachtet, sind Künste immer schon im Zustand der Verfransung. Immer entwickeln sie das, was sie ausmacht, im Zusammenspiel mit und in Abgrenzung von anderen Künsten, so dass sie in ihrer Konstitution irreduzibel mit ihnen verfranst sind.

In Bezug auf die Gegenwartskunst ist in unterschiedlicher Weise die These vertreten worden, dass eine Ordnung der Künste in ihr keine Rolle mehr spiele, sondern ein Zustand der – wie Peter Osborne es nennt – »postconceptuality« eingetreten sei.[38]  Ein sol157cher Zustand zeichne sich durch künstlerische Phänomene aus, die keine Zuordnung zu Künsten oder ähnlichen Ordnungsschemata mehr erlauben. Die These von der postconceptuality aber verspricht mehr, als sie zu halten vermag. Sie fasst in prägnanter Weise ein konstitutives Moment der konfliktiven Konstitution von Kunstwerken und Künsten. Indem jedes Kunstwerk die Kunst, der es sich zuordnet (sofern es sich überhaupt zuordnet) in Frage stellt, stellt es grundsätzlich wie auch immer geartete Ordnungen in Frage.

Nun mag man einwenden, dass eine solche Infragestellung zwei sehr unterschiedliche Ausprägungen anzunehmen vermag, indem sie im einen Fall zu einer Weiterentwicklung von Künsten und ihren Gattungen beiträgt und im anderen Fall jede solche Weiterentwicklung gänzlich suspendiert. Jede Infragestellung von Ordnungen aber setzt diese grundsätzlich voraus, da sie nur möglich ist, wenn es zu einem negativen Rekurs auf die jeweiligen Ordnungen kommt. So sind in neuesten künstlerischen Phänomenen wie den Arbeiten von Anne Imhof oder Tino Seghal klare Bezugnahmen auf spezifische Künste wie die Installation, den Tanz oder das Theater durchweg erkennbar. Die ordnungsüberschreitende Dimension ihrer Arbeiten basiert auf Ordnungen, an die sie zugleich anschließen. Insofern nimmt es nicht wunder, dass – gerade im Sinne einer agonalen Konstitution der Künste – von diesen Arbeiten ihrerseits deutliche Impulse für die Weiterentwicklung der Künste ausgehen, mit denen sie sich auseinandersetzen.

Charakteristisch für die Künste ist, so gesehen, dass ihre ständige Entwicklung immer auch mit deutlichen Brüchen verbunden ist, die zu einer Neuordnung der Zusammenhänge und Unterschiede der Künste führen. Sowohl die Kontinuitäten als auch die Diskontinuitäten der Entwicklung sind dabei als Aspekte des Konflikts zu begreifen, den Kunstwerke und Künste untereinander austragen und der den Raum der Kunst ausmacht. Das Miteinander im Gegeneinander kennt die grundlegende Infragestellung ordnender Orientierungen genauso wie ihr Fortgeschrieben-Werden. Dies bestätigt noch einmal in aller Deutlichkeit, dass die Einheit von Kunstwerken und Künsten nicht aus einer Struktur des Etwas-mit158einander-Teilens resultiert. Sie lässt sich nur aus dem Raum eines agonal vertretenen Anspruchs heraus erklären, den Kunstwerke und Künste in Verbindung mit vielfältigen kunstkritischen Praktiken aufspannen und der durch den Begriff der Kunst artikuliert wird.