»There really is no such thing as Art« – »Eigentlich gibt es so etwas wie Kunst überhaupt nicht.« So lautet der erste Satz in Ernst Gombrichs Buch The Story of Art aus dem Jahr 1950.[1] Das ist das Verdikt eines Kunsthistorikers, der sich in seiner Geschichte dessen, was landläufig Kunst genannt wird, keine Scheuklappen gegenüber der Pluralität ihrer Phänomene auferlegen will. Deshalb fährt Gombrich fort: »Es gibt nur Künstler. […] Es spricht nichts dagegen, alle diese Tätigkeiten [von Kunstschaffenden, M.S.] Kunst zu nennen, solange wir nicht vergessen, dass so ein Wort je nach Zeit und Ort sehr Verschiedenes bedeuten kann, und uns klarmachen, dass es die Kunst gar nicht gibt [»that Art with a capital A has no existence«].[2] Wenn einem großgeschriebenen A im Feld der visual arts keine Existenzberechtigung zukommt, oder, ins Deutsche übertragen, wenn ein in Großbuchstaben geschriebener Begriff der KUNST in einer Geschichte der bildenden Künste entbehrlich ist, das besagt Gombrichs eröffnende Geste, verbietet es sich, verstiegene Annahmen über die Einheit der unter diesem Titel angesprochenen Arten der Hervorbringungen von Künstlerinnen und Künstlern zu machen. Entsprechend könnte es einer Kunsttheoretikerin in den Sinn kommen, jeden Glauben an die Einheit des üblicherweise »Kunst« genannten Phänomens im Blick auch auf alle anderen Künste zu bestreiten. Ihr Verdikt würde lauten: »Genau genommen gibt es so etwas wie ›die Kunst‹ überhaupt nicht« – ganz gleich, von welcher Kunstart wir sprechen, und erst recht, wenn wir uns anmaßen, »den Künsten« eine einheitliche Funktion zu diktieren. Würden wir dieser Spur folgen, müssten wir aus historischen und systematischen Gründen sagen: Die Tatsache der unüberschaubaren Pluralität der Kunstformen sprengt jeden Gedanken an eine Einheit der Künste.
Diese Konsequenz wäre jedoch einigermaßen voreilig. Zwar kommt man weder historisch noch systematisch um die Anerken160nung der Pluralität der Künste und ihrer Werkarten herum, aber genauso wenig um die Allgemeinbegriffe, anhand derer wir sie unterscheiden – und deshalb auch nicht um den Singular des Begriffs Kunst, dessen erste Funktion es ist, dieses besondere Feld von Pluralitäten in den Blick zu nehmen. Dass es sich so verhält, lässt sich leicht vor Augen führen.
Denn wollte man auf den Begriff der Kunst verzichten, stünde man immer noch mit Begriffen der verschiedenen Künste da, mit denen der bildenden Kunst, der Literatur, der Musik, des Theaters, des Films und so weiter, die ihrerseits in viele Untergattungen zerfallen, im Bereich der bildenden Kunst sind das unter anderen die Skulptur, das Relief, die Malerei, die Grafik, die Druckgrafik, die Fotografie, um nur diese zu nennen (sie alle kommen in Gombrichs Geschichte der bildenden Künste vor), in der Literatur kennen wir das Epos, das Drama, die Dichtung oder den Roman, wenn wir nur bei diesem verweilen und noch zarter differenzieren wollen, stoßen wir auf den Bildungs-, den Schauer-, den Kriminalroman et cetera, sollte uns aber auch das noch zu abstrakt, zu fettgedruckt, zu obsessiv oder repressiv erscheinen, können wir uns auf die Stufe kleinerer Einteilungen wie des Tatsachenromans oder des nouveau roman begeben, nur um wiederum festzustellen, dass die Werke Michel Butors, Alain Robbe-Grillets, Natalie Sarrautes oder Claude Simons eben doch recht unterschiedlich sind, wir müssten uns also mit einer rein künstlerbezogenen Kategorisierung begnügen, wobei uns freilich aufgehen würde, dass es den Claudesimonroman genau genommen ebenfalls nicht gibt, sondern nur allerlei individuelle Werke dieses einen Autors, wobei ich der Kürze halber vernachlässige, dass uns bei unserer wachsenden Angst vor Überverallgemeinerung auch der Begriff eines über die Jahre hinweg produzierenden Autors oder sonstigen Künstlers längst suspekt geworden sein müsste, einmal ganz abgesehen davon, dass wir immer noch von »Romanen« (oder wenigstens »Erzählprosa«) reden würden, obwohl wir uns davon überzeugt haben wollten, dass es viel zu viele Dinge gibt, die landläufig Roman genannt werden, als dass man ernsthaft von der Existenz von Romanen sprechen könnte, ganz zu schweigen von der Einteilung des künstlerischen Schaffens in Kunstperioden oder Kunstepochen.
Dieser ein wenig parodistische Satz schärft den Sinn für die inneren Konflikte im Reich der Künste. Jeder einzelne Roman, jede 161Spielart des Romans, jede Großgattung desselben, jede Form literarischer Texte und entsprechend für die Stufungen innerhalb aller anderen Kunstgattungen: von allen diesen kleineren oder größeren Größen, denen wir im Feld der Künste begegnen, gilt, dass sie nur sind, was sie sind, weil sie jeweils anders sind. Die Frage nach der »Pluralität der Kunst« ist allein deshalb eine ziemlich anspruchsvolle Frage, weil in ihr von dem grammatischen Subjekt, nach dessen Status gefragt wird, in einem Singular die Rede ist. Aber gibt es die Kunst überhaupt – und wenn ja, wie gibt es sie? Schließlich ist uns die Sphäre der Kunst nur in Gestalt verschiedenartiger Künste bekannt, die uns ihrerseits stets in der unübersehbaren Pluralität ihrer Werke begegnen. Der Begriff der Kunst, so gesehen, bezeichnet ein Kollektivsubjekt, einen Vielvölkerstaat, dessen Verfassung sich nur aus dem Mit- und Gegeneinander ihrer größeren und kleineren Gemeinschaften sowie der Individuen innerhalb dieser Gemeinschaften erkennen lässt. Wenn wir also wissen wollen, was Kunst ist und was sie kann, müssen wir danach fragen, was es mit der Pluralität ihrer Erscheinungsformen auf sich hat.
Deshalb werde ich mich im ersten Teil meines Beitrags zunächst ein wenig in der Landschaft der Künste umsehen. Im zweiten Teil werde ich am Beispiel einer Kunstform verdeutlichen, warum jede Kunstform – und letztlich: jedes Kunstwerk – nur aus seiner Interaktion mit anderen Künsten und Kunstwerken zu verstehen ist. Dies wird mich im dritten Teil zu der These führen, dass das, was es mit »Kunst« auf sich hat, wesentlich dem Ausspielen ihrer pluralen Verfassungen entspringt. Dieses Selbstsein im Anderssein jeder Kunstart und jedes Kunstwerks aber, so werde ich am Ende sagen, hat wesentlich mit unserem Selbstsein im Anderssein zu tun: mit dem Umstand, dass wir als menschliche Subjekte nur sind, was wir sind, wenn wir in dem, was wir können, auch anders können – oder doch könnten.
»Selbstsein im Anderssein« oder »Beisichselbstsein« im Anderen lauten Hegels Formeln für das Grundverhältnis subjektiver Freiheit, die akzentuieren, dass Subjekte nur zu sich selbst kommen können, wenn sie fähig sind und fähig bleiben, über sich hinauszu162gehen. Ohne viel Federlesens, obwohl Hegel nachher noch einen Auftritt haben wird, möchte ich mir diesen Gedanken hier für meine Zwecke aneignen, indem ich sondiere, auf welche Weise eine Polarität von Selbstsein und Anderssein auch im Verhältnis von Kunstwerken und Künsten maßgeblich ist.
Meine bisherigen Beobachtungen legen eine einfache Vermutung nahe: Selbstsein im Anderssein bestimmt den Bereich der Kunst all the way down, aber ebenso all the way up – all the way down, weil die Sphäre der Kunst über die diversen Kunstgattungen hinweg bis hin zu einzelnen Kunstobjekten der Schauplatz eines durch und durch differenziellen Geschehens ist; all the way up, weil Kunstobjekte mitsamt den Kunstgattungen, denen sie angehören, in dem Bereich, den wir gewohnt sind, »Kunst« zu nennen, den Schauplatz ihres vielstimmigen Erscheinens haben.
Nimmt man diesen Gedanken ernst, lassen sich sowohl der Verdacht eines kunsttheoretischen Einheitswahns als auch die Gefahr einer selbstdestruktiven Pluralitätseuphorie aus dem Feld schlagen. Allein Verhältnisbestimmungen können die Verhältnisse innerhalb der Künste zureichend bestimmen. Immer schon haben die Künste und ihre Hervorbringungen auf vielfältige Weise miteinander zu tun. Wie es mit einer von ihnen steht, lässt sich nur unter Bezug darauf sagen, wie sie zu anderen steht. Auch wenn es zutrifft, »daß die sogenannten Künste nicht untereinander ein Kontinuum bilden«, wie Adorno in seinem Essay über »Die Kunst und die Künste« aus dem Jahr 1967 sagt,[3] ohne die Spannungen zwischen den Künsten und die Affären unter ihnen ist keiner von ihnen beizukommen – weder in der Begegnung mit ihnen noch in der Theorie ihrer Eigenart. Man kann mit einer Kunstform (oder der Eigenart anderer Dimensionen des Ästhetischen) nichts anfangen oder hat nur einen beschränkten Zugang zu ihr, wenn man nicht auch etliche der anderen zu schätzen weiß. Man versteht eine Kunstform nicht, wenn man nicht ihre ostentativen und latenten Korrespondenzen mit den anderen Künsten und weiteren Dimensionen des Ästhetischen erkennt und anerkennt – wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse, die von einem Ranking unter den Künsten (und anderen ästhetischen Sphären) zwangsläufig verzeichnet werden, weswegen ihnen nur ein nichthierarchisches oder, wie es bei Adorno heißt, »kon163stellatives«[4] und beharrlich komparatives Denken gerecht werden kann. Es sind die Dissonanzen der Künste, die ihr Miteinander bestimmen. Es ist die Einheit der Künste, die ihre Vielheit hervorbringt; es ist die Vielheit der Künste und ihrer Objekte, die diese Einheit beständig verwandelt.
Theorien dessen, was gemeinhin »Kunst« genannt wird, müssten deshalb eigentlich den Titel »Die Künste der Künste« tragen, da, selbst wenn sie vor allem einer Kunstform gewidmet sind, die anderen in größerem oder geringerem Maß längst bereits virulent sind. Die Künste, ob man es ihnen auf den ersten Blick ansieht oder nicht, können nicht anders, als sich andauernd aufeinander einzulassen und miteinander zu interagieren. Man denke nur an die Musikalität vieler Kunstformen, die selbst überhaupt nicht zu den Klangkünsten gehören, und erst recht an die Spielarten des Rhythmischen, die sich in jeder Kunstform und nahezu jedem Kunstwerk entdecken lassen.[5] Überall haben wir es mit Polaritäten von Gestaltungsmöglichkeiten zu tun, zwischen denen die Grenzen grundsätzlich auch dort fließend sind, wo Gegensätze der Verfahrensweisen unüberwindbar scheinen. Das ist übrigens nicht nur im Feld der Künste so. Eine angemessene Theorie der Sprache beispielsweise müsste unter der Flagge eines Versuchs über die »Sprachen der Sprachen« segeln, nicht nur, weil diese in einer unübersehbaren Pluralität gegeben sind, sondern auch, weil sich keine Sprache auf irgendeinen vermeintlichen »Originalmodus« reduzieren und von ihm her analysieren lässt, sondern ein gleichursprüngliches Gemenge eindeutiger und uneindeutiger, heller und dunkler, buchstäblicher und figürlicher, logischer und rhetorischer, faktiver und fiktiver Rede darstellt, einschließlich reichhaltiger »Idiotismen«, also idiomatischer und idiosynkratischer Wendungen, wie es in Johann Gottfried Herders Fragmenten »Über die neuere deutsche Literatur« so schön heißt.[6] Auch die Spiele der Sprache, deren Vielfalt 164Wittgenstein, ohne von Herder zu wissen, nicht minder energisch verteidigt hat, stehen gerade dort im Austausch miteinander, wo sie ihre eigenen Wege gehen. Eine Philosophie der Kunst, die sich ein solches konstellatives Denken zu eigen macht, lässt sich in keinem noch so vielbändigen Werk unterbringen, sondern allein in einer von Vielen geschriebenen und stets fortzuschreibenden Enzyklopädie, die den Verhältnissen der Verhältnisse unter den Künsten in historischer und systematischer Hinsicht unter variierenden Gesichtspunkten nachgeht.
Ein kleines Kapitel in diesem imaginären Kompendium wäre mein Buch über Die Künste des Kinos,[7] das die intimen Beziehungen dieser Kunstform zu etlichen anderen ein Stück weit durchspielt. Aber ich will hier nicht vom Kino sprechen. Ich möchte stattdessen ein anderes Kapitel über die Interaktion der Künste wenigstens skizzieren, das mit dem Kinofilm immerhin so viel zu tun hat, als es sich auch hier um eine Zeitkunst der Raumbildung, Raumteilung und Raumvervielfältigung handelt. Ausgerechnet bei Hegel, der sich in seinen Vorlesungen über die Ästhetik massiv eines hierarchischen Denkens schuldig macht, was sich an einer seiner Lieblingswendungen zeigt, dieses und jenes, außerhalb und innerhalb der Künste, befinde sich »höher hinauf« in den Domänen des absoluten Geistes – ausgerechnet bei Hegel findet sich ein Lob der Architektur, jener Kunstart, die bei ihm offiziell als die niederste von allen rangiert.[8] Hegel beginnt das Kapitel über den »allgemeinen Charakter der Musik« mit einem Vergleich derselben »mit den bildenden Künsten und der Poesie«. »Erstens«, heißt es da, »steht sie [die Musik, M.S.] zur Architektur, obschon sie derselben entgegen165gesetzt ist, dennoch in einem verwandtschaftlichen Verhältnis.«[9] Denn der Musik kommt ein »architektonischer Charakter« zu, da auch sie eine Kunst der Raumbildung ist, die »wie die Architektur« ihre Zuhörerinnen und Zuhörer mit einem »nach den Regeln der Symmetrie und Eurhythmie« gestalteten »Tongebäude« umfängt.[10] Der architektonischen Seite der Musik, heißt das, entspricht eine musikalische der Architektur – ein Gedanke, dem Paul Valéry in seinem Dialog Eupalinos oder Der Architekt ein literarisches Denkmal gesetzt hat.[11] Sokrates und Phaidros haben sich im Hades getroffen und trauern nun, da sie ihres »Körpers beraubt sind«,[12] um die verlorene Möglichkeit, sich an »vergänglichen Himmeln«[13] und allen anderen Zuständen ästhetischer Hingabe zu erfreuen. Über den fiktiven Architekten Eupalinos sagt Phaidros zu Sokrates: »Er bereitete dem Licht ein unvergleichliches Instrument vor, das es – vollständig erfüllt von der verständlichen Form und versehen mit beinah musikalischen Eigenschaften – verbreitete in den Raum, in dem die Sterblichen sich bewegen.«[14]
Die gesamte Passage, aus der ich hier zitiert habe, liest sich wie ein vorweggenommenes Porträt des Schweizer Architekten Peter Zumthor, der in einem Vortrag aus dem Jahr 2003, in dem er seine Arbeitsweise beschreibt, verwandte Überlegungen angestellt hat. Zum »Klang des Raums« heißt es dort: »Hören Sie! Jeder Raum funktioniert wie ein großes Instrument, er sammelt die Klänge, verstärkt sie, leitet sie weiter. Das hat zu tun mit seiner Form und mit der Oberfläche der Materialien und der Art und Weise, wie sie befestigt sind.«[15] Ähnlich äußert sich Zumthor über den Einsatz des Lichts in seinen Bauwerken, über den »Zusammenklang der Materialien«, die besondere »Temperatur« eines Raums und die Poesie der Dinge in ihm. »Architektur«, sagt Zumthor, »ist sicher eine Raumkunst […], Architektur ist aber auch eine Zeitkunst. Ich 166erlebe sie nicht nur in einer Sekunde. […] Auch Architektur ist Zeitkunst, wie die Musik Zeitkunst ist.«[16] Und er fügt hinzu: »Wo ich immer viel lerne in dieser Beziehung, ist natürlich das Kino. […] Die Kameraleute und die Regisseure arbeiten mit dem gleichen Aufbau von Sequenzen. Und das versuche ich auch in meinen Gebäuden.«[17] Von hier aus gesehen, ist es alles andere als ein Zufall, dass Adorno, wenn er in »Die Kunst und die Künste« an die seinerzeit neueste Musik denkt, auf deren Verhältnis zur Architektur und anderen Künsten zu sprechen kommt. »Die gesamte Arbeit von Stockhausen kann als Versuch aufgefaßt werden, Möglichkeiten musikalischen Zusammenhangs in einem vieldimensionalen Kontinuum zu erproben. Solche Souveränität, die in einer unabsehbaren Mannigfaltigkeit von Dimensionen es gestattet, Zusammenhang zu stiften, schafft von innen her die Verbindung der Musik mit Visuellem, mit Architektur, Plastik und Malerei.«[18]
Um es kurz zu machen: Man versteht die Architektur – oder zumindest die Baukunst, wenn wir den polemischen Gebrauch der Unterscheidung zwischen diesen beiden Termini im Ohr haben, mit der die Wittgenstein nachgebildete Figur des Roithamer in Thomas Bernhards hochmusikalischem Architekturroman Korrektur über die von ihm wenig geschätzte Baubranche herzieht[19] –: man versteht nicht, was Architektur als Architektur kann, wenn man nicht ihre Affinitäten zu vielen anderen Künsten erkennt und damit zugleich, wie diese Kunstform anders mit Raum, Zeit, Licht, Klang, Holz, Stein, Stahl sowie den Differenzen von Drinnen und Draußen operiert, als irgendeine ihrer Verwandten es kann. Auch wenn es hier wie überall in der Kunstproduktion immer wieder zu Grenzfällen kommt, die sich einer Klassifikation unter die zu einer Zeit gängigen Gattungsbegriffe entziehen, so sind doch gerade solche Grenzfälle, wie der Name schon sagt, nicht ohne ein Gespür und einen Begriff für die Grenzen zu verstehen, die jeweils überschritten oder außer Acht gelassen werden. So ein Fall war beispielsweise der ganz aus Holz errichtete und einen intensiven Geruch ausströmende, vollkommen leere, nur sich selbst offenbarende, Klangkörper Schweiz betitelte Pavillon, den Zumthor für 167die Weltausstellung in Hannover im Jahr 2000 errichtet hat, ein fast skulpturales, weil unbewohnbares und unbenutzbares Bauwerk in Gestalt einer Installation oder umgekehrt, aber, wie gesagt, solche Grenzfälle gibt es bekanntlich nur dann und da, und sie können nur dann und da betören, wenn der ohnehin – und zwar seit jeher – bestehende Grenzverkehr zwischen den Künsten als das, nämlich als Transfer und Transformation ihrer Eigenheiten und also Differenzen, anerkannt wird.
Von Thomas Bernhard, um noch einmal auf die Literatur zu blicken, gibt es einen weiteren Architekturroman, er trägt den sprechenden Titel Beton[20] und ist wohl der einzige von Bernhards Romanen, der das Epitheton »sozialkritisch« verdient, eine absatzlose zweihundertseitige Suada, in der naturgemäß auch die Musik eine zentrale Rolle spielt, wie ja sein eben erwähntes Buch Korrektur ebenfalls nicht nur ein Architekturroman, sondern auch ein Philosophieroman, eine Familienerzählung und einiges weitere ist. Ich erwähne das, weil wir hier – mit Zumthors Klangkörper Schweiz im Vergleich etwa mit dem von ihm geschaffenen Kunsthaus Bregenz und diesen beiden Romanen – wieder auf der untersten Ebene angekommen sind, zu der man gelangt, wenn man die Individualität von Künsten und Kunstwerken all the way down verfolgt, obwohl »unterste Ebene« genau genommen allzu despektierlich klingt, da man mit Fug und Recht sagen könnte, darauf bezieht sich ja Gombrichs Affekt gegen den Ober- und Einheitsbegriff der KUNST in Großbuchstaben, dass diese sogenannte unterste Ebene, was die Künste betrifft, genau genommen ihre höchste ist.
Aber ich werde meine Terminologie jetzt nicht mehr austauschen. Vielmehr möchte ich vor dem Hintergrund meiner Erinnerungen an die vielgestaltige, andauernde, nie stillzustellende Interaktion zwischen den Künsten resümieren, was geschieht, wenn wir von der Vergegenwärtigung des Selbstseins im Anderssein einzelner Objekte und Objektgruppen in den Künsten noch einmal die Bewegung all the way up vollziehen. Ohne auf die weit anspruchsvol168leren Form- und Funktionsbestimmungen der Kunst einzugehen, wie sie seit Hegel im Handel sind, die alle ebenfalls auf komparativen Bestimmungen beruhen und der Kunst im Vergleich mit Philosophie, Religion, dem Ritual, den Objekten des Willens, dem Zeug, der Ware, der Kontingenz sozialer Systeme und so weiter eine eigene Stellung innerhalb und gegenüber anderen Hervorbringungen der kulturellen Evolution zuweisen (Bestimmungen, die alle etwas für sich haben) – ohne diese ehrwürdige Tradition zu kommentieren, möchte ich einen vergleichsweise bescheidenen Vorschlag machen, wie der unumgängliche Begriff der Kunst-im-Singular im Zeichen der Pluralität der Künste aufzufassen ist.
Eines habe ich schon gesagt: Der Begriff der Kunst ist im Grunde nichts weiter als eine Abkürzung für die Künste der Künste und das, was sie in ihrem dissonanten Zusammenklang vermögen. Diese Kunst der Künste, worin immer sonst ihre Meriten liegen mögen, so meine ich, besteht zumindest darin, in den besten ihrer Präsentationen ebendiese ihre plurale Natur ins Spiel zu bringen und auf die eine oder andere Weise auszuspielen.
Bei dem, was wir »Kunst« nennen, und das heißt, bei den Objekten, die wir zu ihren Instanzen zählen, handelt es sich um besondere Arten von Artefakten und besondere Arten der Darbietung, die etwas darbieten, indem sie sich darbieten. In ihren Konfigurationen und Korrespondenzen machen sie sich auffällig, exponieren sich, stellen sich zur Schau und geben auf diese Weise ihre Gehalte dem Vernehmen und Verstehen frei. Sie können in ihrem Selbstsein nur aufgefasst werden, sofern sie in ihrem Anderssein wahrgenommen werden.
»Anders als was?«, könnte an dieser Stelle gefragt werden. Daraufhin muss man die betreffenden Gebilde jeweils selbst erkunden und befragen, wäre die einfachste Antwort. Ganz so leicht aber möchte ich es mir nicht machen. Deshalb antworte ich: Anders als alles, was im Bezirk der Künste und darüber hinaus je vorgekommen ist. Denn die Kunst in der Vielfalt ihrer Erscheinungen, heißt es am Ende von Niklas Luhmanns Die Kunst der Gesellschaft, zeigt der Gesellschaft, und ich ergänze, sie zeigt es allen, die sich auf ihre Objekte einlassen, die Kunst, sagt Luhmann, und Adorno hätte hier kaum widersprechen können, die Kunst führt in ihren Werken vor, dass es, innerhalb ihrer eigenen Domäne und darüber hinaus, wenn auch nicht beliebig, so doch jederzeit anders geht. 169Der entsprechende Satz bei Luhmann lautet vollständig: »Man könnte dann der Vermutung nachgehen, daß die Kunst fiktionale und doch reale Arrangements ausprobiert, um der Gesellschaft in der Gesellschaft zu zeigen, daß es auch anders geht. Aber gerade nicht: daß es beliebig geht.«[21] Der einschlägige Satz in Adornos Ästhetischer Theorie lautet: »Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt von der Möglichkeit des Möglichen.«[22] Beide Sätze sind ihrerseits Kurzfassungen einer Überlegung, die sich am Anfang von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften findet:
Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist das und das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.[23]
Von dieser Form des Denkens, die Musil hier beschreibt, lassen sich Künstlerinnen und Künstler, ob in den Sphären der Architektur, des Films, der Fotografie, der Literatur, der bildenden Künste, des Tanzes, des Theaters und so weiter, in ihrer Produktion leiten: Sie folgen der Spur dessen, was noch nicht ist, aber sein könnte, und bringen Objekte oder Arrangements hervor, die nicht so wie die anderen, sondern anders als alle anderen sind.
Das ist es, was Künstlerinnen und Künstler können. Das ist es, was die Kunst in der unendlichen Vielfalt ihrer Manifestationen kann. Aber was geht uns das an? Warum spricht uns das Selbstsein im Anderssein, das innerhalb der Landschaft der Künste überall und auf allen Stufen anzutreffen ist, auf besondere Weise an? Die Antwort, so denke ich, liegt auf der Hand: Weil es uns in unserem Selbstsein im Anderssein anspricht. In seinem Buch The World Viewed, das der Ästhetik des Kinofilms gewidmet ist, sagt Stanley Cavell deshalb: »Unabhängig von dem Verlangen nach Selbstsein 170(und dem damit jederzeit einhergehenden Zugeständnis von Andersheit) verstehe ich nicht, worin der Wert der Kunst bestehen sollte.«[24]
Hegels Formel vom Selbstsein im Anderssein, die ich bisher nur in kunsttheoretischer Bedeutung gebraucht habe, ist auch, was das menschliche Selbstverhältnis betrifft, nicht so befremdlich, wie sie beim ersten Hören klingen mag. Diese Formel, so hatte ich anfangs gesagt, steht für das Grundverhältnis subjektiver Freiheit. Sie hebt hervor, »dass Subjekte nur zu sich selbst kommen können, wenn sie fähig sind und fähig bleiben, über sich hinauszugehen.« Diese Fähigkeit aber hat ihre Quelle darin, dass wir in unseren Selbstverhältnissen – den Konstellationen unseres Denkens, Handelns und Fühlens – immer schon über uns selbst hinaus sind.[25] Wir können unsere Unabhängigkeit nur in Abhängigkeit von anderen und anderem gewinnen. Wir können uns nur bestimmen, indem wir bereit und fähig sind, uns von den Gegebenheiten unseres Lebens immer wieder bestimmen zu lassen. Wir können uns eine unbefangene Einstellung zu uns selbst und der Welt nur erhalten, wenn wir in der Lage sind, unsere Einstellungen zwar nicht andauernd, aber doch ein ums andere Mal zur Disposition zu stellen. Wir können innerhalb unserer Praktiken nur Gewohnheiten ausbilden, die uns Spielräume des Fühlens, Denkens und Handelns – und damit der Freiheit – eröffnen, solange wir Zugang zu Bereichen der Erfahrung haben, die uns Gelegenheiten bieten, uns vom Gewohnten zu entwöhnen. Ohne Formen des Sichverlierens, die einem freien Selbstverhältnis förderlich sind, wären wir verloren.
Eine Fülle solcher Gelegenheiten, und nicht die geringsten unter ihnen, bietet die Begegnung mit Objekten der Kunst. Diese spüren Konfigurationen unseres Selbstseins im Anderssein nach und 171stören sie auf, zeichnen sie nach und zeichnen sie vor, schreiben sie um und spielen sie durch – und geben uns dadurch die Möglichkeit, unseren eigenen Möglichkeitssinn zu aktivieren. Auf diese Weise geht das, was ich metaphorisch die Interaktion der Künste und Kunstwerke genannt habe, ihre beständigen Korrespondenzen miteinander, mit einer zweiten, ebenfalls metaphorischen Art der Interaktion einher: derjenigen zwischen Kunstwerken und dem Publikum, das sich auf sie einlässt und sich den hierbei entstehenden Korrespondenzen mit den Gesten, dem Rhythmus, der Dynamik, den Perspektiven der betreffenden Werke überlässt. Metaphorisch ist auch diese Interaktion, weil sie in einem Mitvollzug des Geschehens der jeweiligen Werke besteht, der nichts weiter als ein waches Reagieren auf deren vielstimmige Impulse verlangt. Jedoch ist dies ein Prozess, der seinerseits eine ausgezeichnete Möglichkeit der buchstäblichen Interaktion eröffnet: in Gestalt von Dialogen über Kunst, die es den Beteiligten erlauben, von sich etwas preiszugeben, ohne sich dabei preisgeben zu müssen. In dieser indirekten Form der Selbstpreisgabe stellt die Kommunikation der Kunstwerke zugleich eine einmalige Weise der Kommunikation unter denen bereit, die ihnen zugetan sind. Diese können es den jeweiligen Werken überlassen, ihren Affinitäten und Aversionen Ausdruck zu geben, sie können, indem sie über deren oft rätselhafte Bewegtheit sprechen, ihrem oft undurchschaubaren Bewegtsein eine Stimme verleihen.
Auch das ist es, was die Kunst kraft der formalen Verfassung ihrer Objekte kann. Sie animiert ihr Publikum, im individuellen wie im kollektiven, im kulturellen wie im gesellschaftlichen Maßstab zu einer Selbstbegegnung und Selbsterprobung der besonderen Art. Denn die Kunst geht uns etwas an, weil es in ihr um ein Experiment damit geht, was uns überhaupt etwas angehen kann. Sie ist eine Institution der Erkundung dessen, wovon und wie wir uns in unseren Selbst- und Weltverhältnissen bestimmen lassen wollen oder bestimmen lassen könnten – und wovon und wie eher oder überhaupt nicht. Darin liegt der Wert der Kunst: In der Interaktion ihrer Werke agiert sie ein ums andere Mal aus, wie wir zu dem stehen, wie es mit uns steht.