Wer über die Künste nachdenkt, denkt über Phänomene nach, die in ausgezeichneter Weise geschichtlich sind. Das zeigt sich nicht nur daran, dass jede Antwort auf die Frage, welche Künste es gibt, immer Ausdruck eines bestimmten historischen Standes ist; der Film und die Performance etwa sind relativ jungen Datums. Und es zeigt sich ebenfalls nicht allein daran, dass der Sinn des Begriffs einer jeden Kunst in Bewegung ist; was Musik im Gefolge Stockhausens heißt, ist offensichtlich etwas anderes, als es zu Bachs Zeiten war. Vielmehr drückt es sich bereits darin aus, dass wir Künste in der Weise unterscheiden, wie wir es tun. In der Kunst der Moderne, die historisch auf die gesellschaftlichen Revolutionen im Gefolge der Entstehung des Bürgertums zurückgeht und deren Theorien systematisch den Gedanken der Autonomie der Kunst verteidigt haben,[1] sind die Künste paradigmatisch im Rahmen eines Systems der Künste in ihrem Zusammenhang bestimmt worden. Charakteristisch für das System der Künste ist der Gedanke, dass den Künsten aufgrund ihrer jeweiligen Materialien ein je eigenes und irreduzibles Ausdruckspotenzial zugesprochen wird.[2] Mit literarischen Werken lässt sich nicht dasselbe auf dieselbe Weise sagen wie mit architektonischen, musikalischen oder skulpturalen Werken.
Heute eine Variante des Systems der Künste zu verteidigen, ist mit mindestens zwei Herausforderungen konfrontiert. Erstens scheint uns der Begriff einer Kunst angesichts der Heterogenität der unter sie fallenden Gegenstände unter den Fingern zu zerrin191nen. Wenn sowohl die Fugen Bachs wie die elektronische Musik Stockhausens unter den Begriff der Musik fallen, stellt sich schnell die Frage, was hier Musik noch heißen soll. Zweitens gewinnen die Tendenzen der Entgrenzung der Künste in den letzten Dekaden eine derartige Dynamik – scheinbar kann in einer jeden Kunst mit allen möglichen Materialien und Medien im Kontext aller nur denkbaren Verfahrensweisen gearbeitet werden –, so dass es so wirkt, als sei der Begriff der Künste kaum noch geeignet, hier die richtigen Unterscheidungen bereitzustellen.[3] Mit Blick auf die erste Herausforderung werde ich gegenüber naheliegenden Versuchen, entweder nach einer minimalen Definition einer Kunst zu suchen oder eine disjunktive Definition zu formulieren,[4] geltend machen, dass wir das Verhältnis von Begriff und Gegenstand hier anders verstehen müssen: Ein Werk fällt nicht einfach unter einen gegebenen Begriff einer Kunst, sondern arbeitet an den Konturen des Begriffs dieser Kunst mit. Mit Blick auf die zweite Herausforderung werde ich hingegen geltend machen, dass wir den Begriff der Künste nicht vorschnell verabschieden sollten, weil er richtig verstanden eben nicht einfach Ungleiches gleichsetzt oder die Dynamik der Kunstentwicklung unter Berufung auf ein statisches Wesen der einzelnen Künste stillstellen will. Vielmehr ist er nach wie vor eine wertvolle theoretische wie kritische Ressource, insofern er das einklagt, was nicht einfach im Begriff einer Kunst aufgeht.[5]
Die drei Schritte einer solchen Neufassung des Grundgedankens des Systems der Künste sehen wie folgt aus: Zunächst (I.) werde ich den Grundgedanken des Systems der Künste ausgehend von Lessings Einteilung der Künste in Raum- und Zeitkünste erläutern und dann die Weiterentwicklung dieses Gedankens bei Hegel ver192folgen, der die Künste dezidiert in ihrer geschichtlichen Dynamik zu fassen versucht. Dann (II.) werde ich die klassische Bestimmung des Systems der Künste einer Kritik unterziehen, deren grundsätzliche Stoßrichtung wie folgt lautet: Fälschlicherweise behandelt das klassische System der Künste die einzelnen Werke so, dass sie unter einen gegebenen Begriff einer Kunst fallen, und kann daher die produktive Leistung, die das jeweilige Werk für den entsprechenden Begriff der Kunst leistet, nicht würdigen. Versucht man dies, so ist eine herkömmliche Definition der Künste nicht länger möglich, sondern die Künste lassen sich immer nur im Rückblick, und zwar ausgehend von den spezifischen Werken, die an ihren Konturen mitgearbeitet haben, erläutern. Steht in den ersten beiden Schritten somit die Frage der Geschichtlichkeit des Sinns des jeweiligen Begriffs einer Kunst im Zentrum meines Interesses, steht im dritten und letzten Schritt (III.) schließlich der Sinn des Begriffs der Künste insgesamt im Zentrum meines Interesses. Ich werde dafür argumentieren, dass wir angesichts jüngerer Entwicklungen der Kunstwelt keineswegs den Begriff der Künste aufgeben sollten. Mein Gedanke lautet, dass dieses Vorgehen letztlich dem anheimfällt, was es zu kritisieren vorgibt; das scheinbar emanzipatorische Potenzial, das darin steckt, dass alle Künstler*innen mit allen Materialien anstellen können, was sie wollen, zieht der Kunst in Wahrheit ihren kritischen Stachel, da die Kunst hier allein eine weitere gesellschaftlich verwertbare Ressource wird. Wofür ich hier argumentieren werde, ist eine negativistische Reformulierung des Systems der Künste: Die Künste sind kategorial unterschieden, aber der Unterschied zeigt sich in jeder Neuaushandlung ihres Verhältnisses immer in anderer Weise, ohne definitorisch abschließend gefasst werden zu können.
Eine einflussreiche Fassung findet das System der Künste in Lessings Unterscheidung zwischen Raumkünsten und Zeitkünsten.[6] 193Bei dieser Unterscheidung denkt Lessing vor allem an die Literatur und die Malerei; Erstere ist für ihn eine paradigmatische Zeitkunst, Letztere die paradigmatische Raumkunst. Kurz und prägnant hält Lessing fest: »Die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers«.[7] Den Grund seiner Unterscheidung findet Lessing in den jeweils unterschiedlichen künstlerischen Materialien der Literatur und der Malerei: Das Material der Malerei ist so organisiert, dass es auf der Fläche simultane Konstellationen darbietet und damit Elemente so organisiert, dass sie nebeneinander sind. Das Material der Literatur hingegen (das Lessing vor allem als Ton, im Sinne des gesprochenen Wortes, versteht) ist so verfasst, dass es in der Zeit eine sukzessive Folge von Elementen etabliert und diese nicht nebeneinander, sondern nacheinander organisiert. Daraus folgert er, dass Malerei Körper darstellt, die Literatur aber Handlungen – Körpern eignet offensichtlich eine entsprechende simultane Organisation und Handlungen eine sukzessive (sie bestehen genauer gesagt aus Phasen, das heißt teleologisch strukturierten zeitlichen Elementen).
Der plausible Grundgedanke von Lessings Position besteht darin, einer problematischen Gleichmacherei in der Kunst entgegenzutreten:[8] Die Kunst ist nicht uniform, sie zerfällt in verschiedene, in ihren Ausdrucksmöglichkeiten durchaus unterschiedene Künste. In der Tat lassen sich fast alle kunsttheoretischen Positionen, auch solche, die nicht dezidiert über die Künste sprechen, auch hinsichtlich der Frage untersuchen, in welcher Weise ihre Überlegungen an paradigmatischen Beispielen aus bestimmten Künsten orientiert sind. Viele Positionen erweisen sich gar nicht als Beiträge zu einer Philosophie der Kunst insgesamt, sondern in Wahrheit als Beiträge zur Philosophie bestimmter Künste. Zu den weiteren Vorzügen von Lessings Position gehört, dass sie darauf pocht, die Materialien oder Medien der jeweiligen Kunst als irreduzibel zu begreifen. Darin steckt eine Verteidigung eines Begriffs des künstlerischen Materials: Es ist offensichtlich so, dass das, was ein Gemälde sagt, nicht anders gesagt werden kann als durch den je spezifischen Gebrauch von Farbe, Fläche und so fort, und das, was ein Roman sagt, nicht anders gesagt werden kann als durch seinen besonderen Gebrauch von Worten.
194Das Problem ist gleichwohl, dass Lessing Materialien der Künste so versteht, dass in ihnen vorgängig abgezirkelt ist, was sie auszudrücken in der Lage sind. Daran ist nicht allein problematisch, dass eine solche Position genötigt ist, ein bestimmtes normatives Reinheitsideal in die Künste einzuführen, insofern er davor warnt, die Grenzen der Künste zu überschreiten. Vielmehr ist daran vor allem problematisch, dass seine Position künstlerische Materialien so versteht, dass sie, schon bevor sie im konkreten Kunstwerk Verwendung finden, einen festgelegten Sinn haben. Dadurch, dass die Malerei mit Farben und Flächen operiert und die Literatur mit Worten, soll schon vor der jeweiligen Konkretion im spezifischen Kunstwerk feststehen, was sie auszudrücken in der Lage sind. Das ist unzutreffend: Der Sinn der jeweiligen Materialien wird erst im Kontext der Arbeit am Kunstwerk entdeckt; auch wenn es keine Materialien ohne eine Geschichte (oder Vorgeschichte) solcher Materialien gibt, so ist es doch gerade nicht so, dass sie kunstwerkübergreifend in ihrem Sinn bestimmt wären.
Ich setze dabei Folgendes voraus: Zu sagen, dass die Materialien der Künste vor ihrer Verwendung im jeweiligen Werk in ihrem Sinn nicht feststehen, heißt nicht, dass sie sich ohne Widerstand allem fügen, was Künstler und Künstlerinnen mit ihnen anzustellen versuchen. Gerade weil das nicht so ist, muss man von einer künstlerischen Erarbeitung der Materialien sprechen: Sie werden praktisch im und durch das Hervorbringen des Werks durchdekliniert. Der Sinn der Farbe ist nicht gegeben, sondern wird erst im Kontext des jeweiligen Gemäldes konkretisiert, so wie der Sinn der Worte nicht einfach gegeben ist, sondern im Kontext eines Romans erarbeitet werden muss. In der künstlerischen Erarbeitung zeigen sich die Materialien der Künste damit in ihrer gleichermaßen plastischen wie widerständigen Dimension. Das Problem von Lessings Vorschlag ist entsprechend nicht, dass er auf die Eigenlogik der Materialien der Künste pocht, sondern dass er sie nicht hinreichend von der Arbeit der Künstler*innen her denkt.
Damit denkt Lessing die Künste letztlich ungeschichtlich. Literatur ist, was sie ist, und Malerei ist, was sie ist; die einzige Form der Geschichtlichkeit, die hier auftaucht, ist die Frage, zu welchem Zeitpunkt die wahre Bestimmung der Materialien der Künste erkannt worden ist. Wenn man noch einmal deutlich macht, dass seine These letztlich eine normative These ist und keine These zu 195faktischen Möglichkeitsräumen, so werden künstlerische Materialien von ihm so verstanden, dass sie eine gegebene, interne Norm des Gelingens der einzelnen Werke in sich tragen. Geschichtlich zu sein hieße demgegenüber, dass in die Künste qua ihrer Materialien selbst eine Dynamik eingetragen wird.
Hegels Fassung des Systems der Künste kann so verstanden werden, dass er genau das versucht hat. In der Tradition Lessings versteht er die Künste (als Leitkünste unterscheidet er Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Literatur) so, dass sie mit jeweils unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten einhergehen. Diese Unterschiedenheit führt er wie Lessing auf die jeweiligen Materialien der Künste zurück, welche er im Zuge seines ebenso leitenden wie schlagenden Gedankens, dass der Gehalt eines Kunstwerks in nichts anderem als in dessen Form bestehen kann, so erläutert, dass die Künste qua ihrer Materialien in unterschiedlicher Art und Weise in der Lage sind, Aspekte unseres geistigen Lebens zu artikulieren. Die Liste seiner Leitkünste ist dabei zugleich eine normative Reihung ihrer Ausdrucksmöglichkeiten: Sieht er in der Architektur eine Kunstform, in der es noch keinen angemessenen Ausdruck unseres geistigen Lebens geben kann, weil ihr Material »die schwere und nur nach den Gesetzen der Schwere gestaltbare Materie« und damit markant ungeistig ist,[9] so sieht er in der Literatur in Gestalt der Prosa ein Scharnier zwischen künstlerischem Ausdruck und philosophischem Gedanken.
Bestechend an Hegels Fassung des Systems der Künste ist die Tatsache, dass er die Materialien und ihre Ausdrucksmöglichkeiten als etwas geschichtlich Gewordenes begreift, ohne damit den systematischen Anspruch seiner Überlegungen zu depotenzieren. Dabei macht er geltend, dass auch dann, wenn es zu allen Zeiten und in allen Kulturen Formen von Literatur gegeben haben mag, sie (zusammen mit Malerei und Musik) zur Leitkunst in der europäischen Moderne wird. Denn erst hier haben wir es mit einem Selbstverständnis der Subjekte zu tun, das seine innersten Bewegtheiten und seine wesentlichen Orientierungen in ihrer Spezifik auch in Nuancen literarischer Formulierungen und kleinsten Übergängen in der Musik reflektieren kann. Das führt Hegel dazu, in seinen 196Vorlesungen über die Ästhetik anders als Lessing nicht gewissermaßen transzendentale Bestimmungen der Möglichkeitsräume künstlerischer Materialien anzugeben, sondern sie als etwas zu verstehen, was geschichtlich geworden ist.
Aber so überzeugend es ist, dass Hegel gegen Lessings statische Auffassung des Sinns künstlerischer Materialien ihr Gewordensein und ihre Dynamik ausspielt: Auch bei Hegel wird das Material der Künste als etwas verstanden, was nicht im und durch das jeweilige Werk erst bestimmt wird. Man könnte sagen, dass Hegel, auch wenn er die Geschichtlichkeit des künstlerischen Materials richtig sieht, die Doppelsinnigkeit des gelungenen Kunstwerks, dass es gleichermaßen Rückgriff auf eine Tradition des Gebrauchs künstlerischer Materialien wie Bruch und Neuverhandlung dieser Tradition ist, im Denken nicht in richtiger Weise in den Griff bekommt. Die Konsequenz aus diesem ersten Schritt meiner Überlegungen lautet wie folgt: Versteht man das künstlerische Material als Produkt künstlerischer Arbeit, so muss man die Ausdrucksmöglichkeiten einer Kunst als etwas verstehen, was von den einzelnen Werken erarbeitet wird. Lessing und Hegel mangelt es an einer richtigen Fassung des Gedankens, dass es das je einzelne Kunstwerk ist, von dem her auch der Begriff seiner jeweiligen Kunst konkretisiert werden muss.
Ich verstehe den Begriff des Materials als Grundbegriff einer Explikation dessen, was ein Kunstwerk ausmacht.[10] Das Material kann dabei nichts anderes sein als das Produkt künstlerischer Arbeit. Wenn man die Künste, wie Lessing und Hegel es tun, anhand ihrer Materialien unterscheidet, so muss es als etwas verstanden werden, was im und durch das jeweilige Werk je eigens erarbeitet wird. Worauf sich der Begriff einer Kunst bezieht, ist damit weder die Menge aller Werke noch ein einzelnes Werk, sondern distributiv jedes 197einzelne Werk dieser Kunst[11] – und zwar derart, dass das einzelne Werk etwas in spezifischer Weise etabliert, so dass ein Kunstwerk zu beurteilen heißt, es in seiner Besonderheit zu beurteilen. In diesem Gedanken, der der Einsicht Rechnung trägt, dass die Erfahrung, Deutung und Kritik eines Kunstwerks sich an einem je besonderen Gegenstand abarbeiten müssen, steckt folgende weitergehende Festlegung: Das Verhältnis von Begriff und Gegenstand muss hier ein anderes sein als in paradigmatischen Fällen praktischer oder theoretischer Vernunftausübung.
Diese Einsicht lässt sich unter Rückgriff auf Kants Analyse des ästhetischen Urteils entwickeln. In seiner Kritik der Urteilskraft konturiert er den Begriff des ästhetischen Urteils so, dass etwas ästhetisch zu beurteilen nicht heißt, es unter gegebene Begriffe zu bringen, sondern vielmehr, ausgehend von den konkreten Konturen des Gegenstandes begriffliche Bestimmungen zu entwickeln. Wir bringen hier anders als im Fall der bestimmenden Ausübung unserer Urteilskraft nicht etwas unter gegebene Begriffe,[12] sondern vollziehen den in Frage stehenden Gegenstand vielmehr in seiner Spezifik nach. Auch wenn diese Überlegungen einer allgemeinen Analyse des ästhetischen Urteils und nicht der spezifischen Kunstbeurteilung gelten: Darin steckt zugleich die wichtige Lektion, dass die Kunsterfahrung als besondere Form der Ausübung unserer begrifflichen Vermögen verstanden werden muss und nicht als deren Überschreitung. Auch in der Erfahrung des Kunstwerks sind Begriffe im Spiel – sie sind aber in einer suchenden, unbestimmten Weise im Spiel, insofern sie sich an einem Gegenstand abarbeiten, der sich qua seiner Spezifik nicht einfach gegebenen Begriffen fügt.
Produktionsästhetisch lässt sich diese Einsicht unter Rückgriff auf Kants Passagen zum Genie konkretisieren, die ich hier aus der Perspektive ihrer späteren Weiterentwicklung vor allem bei Adorno erläutern werde. Kant schreibt dort: »An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei.«[13] Dieser Überlegung 198zufolge kann das Gelingen eines Kunstwerks nicht aus vorangehendem Gelingen abgeleitet werden; wer Kompositionsweisen in der Musik oder Stile des Schreibens in der Literatur bloß kopiert, bringt epigonale Werke hervor. Kant bestreitet damit keineswegs, dass Künstler*innen in Traditionen künstlerischer Praktiken stehen (denn für die eigene künstlerische Entwicklung ist nicht nur unverzichtbar, sich auch mit Kunstwerken der Vergangenheit intensiv auseinanderzusetzen, sondern oftmals auch, in bestimmten Phasen der eigenen Entwicklung vorangehende Stile zu emulieren und zu imitieren). Aber das Gelingen von Kunstwerken ist ein exemplarisches Gelingen; Stile mag man kopieren können, das Gelingen hingegen nicht.
Wenn Kant hier von Regeln des Kunstwerks spricht, meint er scheinbar paradoxe Regeln, weil sie keine gegenstandsübergreifende Geltung haben; die immanenten Regeln des Gelingens einer Symphonie Beethovens wären willkürliche im Sinne äußerlicher Regeln des Gelingens einer Symphonie Mahlers. Das Argument Kants besagt, dass jedes Kunstwerk qua Produkt menschlichen Handelns nicht regellos ist, dass es aber aus sich selbst heraus seine Regeln entwickelt; alles in einem gelungenen Kunstwerk ist an seinem Platz, so dass es eine (wie immer durchkreuzte und gebrochene) immanente Logik aufweist, aber es keine höherstufige Regel gibt, die den Sinn dieser internen Organisation explizieren könnte (wie Kant sagt, ist für ästhetische Urteile charakteristisch, dass sie die Zweckmäßigkeit der in Frage stehenden Gegenstände allein der Form nach beurteilen[14] ). Wenn das so ist, dann kann jedes Kunstwerk auch nur an dem gemessen werden, was es aus sich selbst heraus erarbeitet.
Kants Einsicht in die Singularität des Kunstwerks und seines Gelingens lässt sich im Rahmen von Adornos Explikation der Strukturlogik von Kunstwerken gerade auch hinsichtlich der Frage des künstlerischen Materials konkretisieren und weiterdenken.[15] Die Eigensinnigkeit des Kunstwerks hat Adorno dahingehend erläutert, dass ein Kunstwerk keinen Inhalt im herkömmlichen Sinne hat, sondern der Gehalt eines Werks in der Spannung seiner Form zur außerkünstlerischen Realität besteht. Den Formbegriff ver199wendet er dabei so, dass jedes Kunstwerk ein Spannungsfeld einer Konstellation von Elementen etabliert, die in einem Verhältnis der wechselseitigen Konstitution stehen. Was ein Element eines Werks ist – seien es Töne, Worte, Kapitel, Passagen, Melodien, Gesten, Bewegungen, Farben oder Klänge –, erarbeitet das Werk je aus sich selbst heraus; das Material eines Werks kommt also nicht roh und unqualifiziert daher.[16] Im Rahmen des jeweiligen Kunstwerks ist das Material dergestalt das Produkt künstlerischer Arbeit, dass es in je konkrete und spezifische Konstellationen von Elementen durchgeformt ist.[17]
Eine solche Durchformung der Elemente meint nicht, dass alles vorgängig geplant wäre, und ebenso wenig, dass die Elemente zu einer im herkömmlichen Sinne verstanden »harmonischen« Einheit zusammengehen. Je nachdem, was in einer Jazzimprovisation alles passiert, hat jedes einzelne Element einen je anderen Sinn – eine Melodie zu wiederholen, etabliert ein anderes Element, als sie zu variieren.[18] Worüber immer Breughels Landschaft mit Sturz des Ikarus auch sonst noch sein mag – seine Elemente im Sinne der im Medium der Farbe scheinenden Landschaft, der Figuren und so fort gewinnen vor dem Hintergrund ihres Verhältnisses zueinander Kontur und werden, wenn man einmal die Füße des ins Wasser gefallenen Ikarus entdeckt, eine bestimmte Ordnung offenbaren.[19] Und es ist eine Entdeckung, wenn man feststellt, dass in Felix Gonzalez-Torres’ Arbeit Untitled (Lover Boys) die Elemente des Werks nicht die einzelnen Bonbons sind, sondern die Gesamtheit derselben in ihrem Gewicht, das genau dem Gewicht von Torres und seinem an Aids verstorbenen Geliebten entspricht – womit der Installation durch ihre formlose Form durchaus eine klassische Thematisierung der Vergänglichkeit der Liebe im Zuge einer abgründigen Reflexion über die Unmöglichkeit, das Qualitative im Quantitativen zu fassen, zu bekommen gelingt. Wie die Nennung der letzten Werke zeigt, geht es mir mit dem Gedanken einer entsprechenden Struktur des Kunstwerks im Sinne seiner Konstitu200tion von Elementen als Erarbeitung seines Materials nicht darum, eine harmonische Einheit zu denken (und auch nicht darum, zu bestreiten, dass dieser Gedanke je nach historischer Situation und vor allem auch je nach der Kunst, der das Werk zugehörig ist, einen je anderen Sinn gewinnt). Ich möchte allein hervorheben, dass, was immer ein Element eines Kunstwerks ist, nur aus seiner Konstellation mit den anderen Elementen desselben verstanden werden kann und daraus folgt, dass das, was das Material einer Kunst ist, im und durch das singuläre Werk jeweils neu verhandelt wird.
Gegen meine bisherigen Überlegungen lässt sich ein ebenso einfacher wie schlagender Einwand erheben: Der Versuch, das einzelne Kunstwerk im skizzierten Sinne als singulären Gegenstand zu begreifen, um eine falsche Gleichmacherei im Reich der Kunst zu vermeiden, erweist sich als ununterscheidbar von dem, was er kritisiert. Denn sind alle Kunstwerke singuläre Neuaushandlungen ihrer Materialien im Medium von Elementen, so macht sie das ohne weitere Qualifikation genauso ununterscheidbar voneinander wie in dem Fall, in dem man glaubt, einzelne Kunstwerke würden schlicht und einfach subsumtiv unter die Kategorie einer oder mehrerer Künste fallen. Das ganz und gar Besondere wäre in Wahrheit gar kein Besonderes mehr; dazu bedürfte es eines Allgemeinen, das verschiedene Besonderungen zu unterscheiden erlaubt. Ich möchte deshalb vorschlagen, die Kategorie der Künste als etwas zu begreifen, das aus den Werken heraus eine Art von Relationalität zu denken erlaubt, die just eine richtig verstandene Besonderheit verständlich macht – nämlich dass das Besondere notwendig das Besondere eines Allgemeinen ist, aber ein Besonderes, das nicht eine bloße Subsumtion unter ein vorgängig in seinem Sinn schon bestimmtes Allgemeines ist, sondern eine dialektische Neu- und Fortbestimmung dieses Allgemeinen.
Was heißt es, zu sagen, dass etwa eine Aufnahme Coltranes ein Werk der Musik ist, und zwar genauer, der Jazzmusik? Wie ist hier insgesamt das Verhältnis von Kunstwerk und Kunst (oder einer Untergattung einer Kunst) zu verstehen? Es heißt nicht, dass man mit einer vorgefertigten Definition der Musik oder der Jazzmusik beginnen kann und dann noch schaut, ob die in ihr angegebenen Bedingungen von dieser Aufnahme erfüllt werden. Vielmehr heißt es, die entsprechende Aufnahme so zu verstehen, dass sie ihre Materialien in spezifischer Weise erarbeitet und diese Erarbeitung in 201eine Reihe oder Serie von früheren Erarbeitungen zu stellen ist.[20] Mit scheint ein richtig verstandener Begriff der Tradition hilfreich zu sein, um diese Relationalität zu fassen.[21] Um ihn richtig zu verstehen, darf er nicht im Sinne einer projektiven Teleologie aufgefasst werden. Darunter verstehe ich den Gedanken, dass eine Tradition auf ein bestimmtes Ziel hin zuläuft und dass dieses Ziel schon vor dem Erreichen feststeht (auch wenn es vielleicht den beteiligten Subjekten epistemisch unzugänglich sein kann). Exemplarisch findet sich ein solches Projekt in Aristoteles’ Bestimmung von Lebensformen verwirklicht:[22] Die Stadien, die ein Lebewesen im Sinne seiner gedeihlichen Entwicklung durchläuft, stehen in ihrem Sinn schon vor dem Durchlaufen fest. Ein Bär, der nicht irgendwann geschlechtsreif wird und Weißkohl anstelle charakteristischer Bärennahrung zu fressen unternimmt, realisiert nur unzureichend das, was im Begriff der Lebensform des Bären vorausgesetzt wird – und das, was in der individuellen Lebensgeschichte des Bären passiert, geht nicht in das ein, was die entsprechenden Maßstäbe der Lebensform des Bären sind. Bei einer projektiven Teleologie handelt es sich damit in Wahrheit gar nicht um ein Modell geschichtlicher Entwicklung: Entwicklungen und eine mereologische Struktur derselben im Sinne verschiedener Phasen, die qualitative Veränderungen meinen, würden nur dann Geschichtlichkeit implizieren, wenn diese qualitativen Übergänge nicht schon vor ihrem Geschehen feststehen würden.
Geschichtlichkeit fängt demgegenüber dort an, wo Kontingenzen in einem Prozess derart ins Spiel kommen, dass sie im und durch den Prozess rückblickend in Notwendigkeiten verwandelt werden (dieser hegelianische Gedanke des Setzens der eigenen Voraussetzungen besagt ganz schlicht: Was ein nichtnotwendiges Ereignis war, ist aus der Perspektive späterer Ereignisse, die seine 202Konsequenzen entfalten, eine notwendige Voraussetzung derselben). Coltranes Aufnahme als in der Tradition der Musik, und genauer, der Jazzmusik stehend zu behandeln, heißt damit nicht, dass es einen vorgängig festgelegten Prozess gab, in dem diese Aufnahme Coltranes dann der Zielpunkt einer ganzen Tradition künstlerischen Schaffens gewesen wäre. Das, was ein vollwertiges und was ein privatives Kunstwerk ist, steht nicht nur nicht schon vor dem Prozess des Hervorbringens eines Kunstwerks fest; vielmehr ist es auch etwas, was durch die nachfolgenden Kunstwerke neu ausgehandelt wird. In der Erarbeitung seiner Materialien erarbeitet das Kunstwerk zugleich die Tradition, in der es steht, in neuer Weise – und handelt in seiner Erarbeitung seiner Materialien zugleich frühere Erarbeitungen solcher Materialien neu aus. Einer projektiven Teleologie im Geiste von Aristoteles ist damit eine retroaktive Teleologie im Geiste Hegels gegenüberzustellen:[23] Eine Tradition im Sinne einer Serie oder Reihe von Kunstwerken besteht nicht aus vorgängig definitorisch angebbaren Elementen. Vielmehr bestimmt jedes Element der Serie neu, was der Sinn der vorangehenden Elemente war – und durchaus auch, aus welchen Elementen eine solche Serie überhaupt besteht. Coltranes Aufnahme steht damit nicht passiv in einer Tradition, sondern schreibt an einer Tradition mit, oder stärker gesagt konstituiert sich eine Tradition in ihr neu und erneut. Auch wenn man sicher sagen muss, dass Coltranes Aufnahme eine exemplarische Aufnahme des Jazz ist und damit einen Standard setzt: Im Sinne der entwickelten Überlegungen Kants heißt das, dass das Gelingen dieser Aufnahme selbst dann nicht reproduziert werden kann, wenn man heute wie Coltrane spielt, indem man seine Verfahrensweisen in die Gegenwart überträgt und sogar Aufnahmen produziert, die unter epistemisch ungünstigen Bedingungen als verschollene Originalaufnahmen Coltranes missverstanden werden könnten. Vielmehr heißt dem Ereignis von Coltranes Aufnahme gerecht zu werden, es in seinem musikalischen Produzieren zu integrieren und weiterzudenken (was sich vielleicht von den Aufnahmen Michael Breckers sagen lässt, die Aspekte von Coltranes Stil in der Lebensform der 1980er Jahre aufgegriffen und weitergedacht haben). Coltrane konstituiert 203eine Tradition neu und erneut, so dass seine Aufnahme sich ihre eigenen Vorgänger schafft, indem sie deren Sinn neu bestimmt.[24]
Indem das Kunstwerk in je eigener Weise seine Materialien im Medium von Elementen neu aushandelt, handelt es somit retroaktiv zugleich den Sinn anderer Kunstwerke ebenso wie ihre Relationen neu aus. Damit lässt sich sagen, dass jedes Kunstwerk seine Kunst neu aushandelt. Aber indem jedes ästhetisch kraftvolle Werk seine eigene Kunst neu aushandelt, handelt es zugleich alle Künste neu aus. Eine konsequent retroaktive Bestimmung der Künste legt mich auf diesen Gedanken fest: Es gibt keine dem Werk vorgängig gegebenen Spielregeln, die nicht im Werk selbst zur Verhandlungsmasse würden. Das heißt zugleich, dass in jedem Werk immer auch das, was eine jede Kunst ausmacht, auf dem Spiel steht.
Wenn man die Künste durch das Brennglas des einzelnen Werks als etwas versteht, was retroaktiv neu verhandelt wird, so wird deutlich, dass ihnen Phänomene der Intermedialität, Hybridität und allgemeiner der Entgrenzung nicht von außen zustoßen. Gemessen an einem herkömmlichen, subsumtiven und abstrakten Verständnis der Künste sind sie immer schon entgrenzt. Und mit jedem neuen Werk kann prinzipiell auch zur Disposition stehen, ob wir es hier mit einer neuen Kunst zu tun haben; die Entstehung neuer Künste wie der Installation oder der Performance haben entsprechend nicht allein außerhalb der Künste technische, institutionelle und weitere Vorbedingungen, sondern es zeigen sich auch immer Vorgänger in den Künsten.[25] Mit diesen Überlegungen lassen sich durchaus klassische Bestimmungen wie diejenige, dass der Klang ein zentrales Material der Musik ist oder die Farbe und Fläche zentrale Materialien der Malerei sind, verteidigen; sie werden nun aber so gedacht, dass sie in ihrem Sinn wesentlich unbestimmt sind und es eine offene Frage ist, ob in dem Fall, in dem ein Kunstwerk nicht mehr vornehmlich im Medium des Klangs arbeitet, wir dem entsprechenden Kunstwerk die kategoriale Zugehörigkeit zur Musik vorenthalten sollten (was im Lichte der jüngeren Entwick204lungen der Neuen Musik sehr kontraintuitiv wäre). Gerade ohne einer Gleichmacherei das Wort zu reden, aber auch ohne Rekurs auf ein Besonderes, das nicht immer ein Besonderes eines Allgemeinen ist, auszukommen, möchte ich entsprechend auch die Unterscheidung zwischen prototypischen beziehungsweise paradigmatischen Kunstwerken einer Kunst und randständigen beziehungsweise marginalen Kunstwerken einer Kunst in Frage stellen: Jedes Kunstwerk und kein Kunstwerk ist ein marginales Kunstwerk seiner Kunst (insofern es eben aus dem Begriff der jeweiligen Kunst in seiner Besonderheit nicht schon abgeleitet werden kann).
Meine Überlegungen besagen, dass die einzelnen Kunstwerke nicht so sehr einfach unter den Begriff einer Kunst fallen, sondern diese vielmehr in ihrem Sinn neu- und weiterbestimmen. Dabei verstehe ich das, was ich bislang entwickelt habe, dezidiert als eine Reformulierung wie Verteidigung des Begriffs der Künste. Ein solches Vorgehen ist der Maxime verpflichtet, dass wir scheinbar überholte Begriffe nicht vorschnell aufgeben sollten, sondern sie so reformulieren sollten, dass wir neu und erneut ihren Sinn explizieren können.
Im Lichte jüngerer Entwicklungen der künstlerischen Praxis wie ihrer Diskurse drängt sich gleichwohl der Verdacht auf, dass dieses Unterfangen anachronistisch ist; die Neue Musik ist in vielen Ausprägungen von installativen Arbeiten oder der Performance scheinbar nicht länger zu unterscheiden und viele Arbeiten sozialer Kunst kaum noch von politischen Interventionen. Auf den letzten Punkt, die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Nichtkunst, werde ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen können, ich bin aber sicher, dass er nicht den von mir im Kontext der Analyse der Struktur eines Kunstwerks verteidigten Gedanken der Autonomie der Kunst bedroht (weil entsprechende künstlerische Interventionen eben keine politischen Interventionen simpliciter sind, sondern in Wahrheit in ihrem unklaren Status dessen, was jeweils dazu gehört, in der Struktur der jeweiligen Arbeit verkörperte Reflexionen auf politische Interventionen und das Politische insgesamt sind). Der erste Punkt wiederlegt zumindest nicht das von mir vorgestellte 205Modell der retroaktiven Neuaushandlung der Künste; für es ist ja sowohl wesentlich, dass das Kunstwerk begrifflich am kategorialen Rahmen der Künste mitarbeitet, wie es sich in eine Tradition solcher Aushandlungsprozesse einschreibt; wenn bestimmte Arbeiten der Neuen Musik anhand ihrer manifesten Eigenschaften ununterscheidbar von Arbeiten der Installation oder der Performance zu sein scheinen und nicht mehr im buchstäblichen Sinne im Medium des Klangs operieren, so können sie doch weiterhin deshalb der Musik zugerechnet werden, weil sie in einer von Schönberg über Stockhausen und Cage stammenden Tradition stehen, aus der heraus die Materialien der Musik dialektisch entgrenzt worden sind.[26] Nicht das Vorliegen manifester Eigenschaften, sondern das relationale Anschließen an vorangehende Arbeiten ist für die Frage zentral, welcher Kunst ein bestimmtes Werk zugehörig ist. Wenn also Werke der Neuen Musik ohne Kenntnis ihrer Traditionszugehörigkeit von Performances ununterscheidbar zu sein scheinen, so sollten wir die Kategorie der einzelnen Künste nicht aufgeben, sondern sie im Geiste dieser jüngeren Entwicklungen neu und zugleich erneut verständlich machen. Der Begriff der Künste erweist sich damit wie alle ästhetischen Grundbegriffe als in seinem Sinn beweglich und muss aus jeder Gegenwart (sprich: aus jedem jetzigen künstlerischen Produzieren und Rezipieren) neu konkretisiert werden. Wenn wir die jüngeren Entwicklungen in den Künsten in den Begriff der einzelnen Künste einzeichnen, heißt es, dass wir die kategorialen Bestimmungen der Künste als Effekt dessen verstehen müssen, was die einzelnen Werke je neu aushandeln – allerdings eben nicht als Effekt in einem pejorativen Sinne, sondern durchaus als Arbeit an dem Begriff der einzelnen Künste.
Die Kritiker*innen des (wie immer auch prozessualisierten und ungesicherten) Systems der Künste wird dieser Hinweis aber nicht zufriedenstellen. In der Tat ist im Kontext meiner Überlegungen allein die Singularität wie Relationalität des Kunstwerks ausgemacht (und damit auch, dass es als Besonderes am Allgemeinen, an begrifflichen Bestimmungen mitarbeitet). Dass dieses Allgemeine »die Künste« sein müssen, ist nicht notwendigerweise ausgemacht, und darum besteht ja gerade Streit – welche Grundbegriffe geeignet sind, die jüngeren Entwicklungen in den Künsten verständlich zu 206machen, ist eine zentrale Frage. Auf diese Herausforderung möchte ich damit antworten, dass ein Vorzug des Begriffs des Systems der Künste darin besteht, dass sich ihr Aushandlungsgeschehen im Rahmen einer Figur negativer Dialektik konkretisieren lässt – und damit im Rahmen einer theoretischen Figur, die die Unabgeschlossenheit unserer begrifflichen Bestimmungen ebenso betont wie das, was in ihnen nicht positiv auftaucht. Bestimmt ein Kunstwerk den Sinn seiner Kunst oder seiner Künste neu, bestimmt es, wie ich geltend gemacht habe, auch den Sinn aller Künste neu. Das Werk bestimmt neben der Kunst oder den Künsten, der beziehungsweise denen es zugehörig ist, negativ auch solche Künste weiter, denen es als sein Anderes nicht zugehörig ist. Denn ein Werk der Malerei wird auch dann nicht ein Werk des Tanzes, wenn es diesen als ihr Anderes weiter zu bestimmen vermag. Indem ein Werk sich etwa als Werk der Musik oder der Performance bestimmt, bestimmt es auch weiter, was Malerei und Kino sind – aber eben nicht unbedingt so, dass es selbst ein Werk der Malerei oder des Kinos wird. Hierin, so möchte ich mit Adorno und genauer seinen Überlegungen aus seinem Text »Die Kunst und die Künste« abschließend festhalten,[27] drückt sich aus, was am kategorialen Rahmen der Künste wahr sein könnte: Dass dieser, wie performativ und prozessual der Sinn der einzelnen Künste auch bestimmt werden mag, gegen eine falsche Gleichmacherei im Ästhetischen zu Werke geht. Diese drückt sich in dem scheinbar unschuldigen Gedanken aus, dass die Künste ideologische Einkerkerungen von den je besonderen Werken wären; ein solcher Gedanke gerät in die Dialektik der bloßen Besonderheit (die dann in Wahrheit schlechte Allgemeinheit wird), die ich im zweiten Teil skizziert habe. In dem Gedanken, dass sich Künstler*innen einfach über alle Gattungsgrenzen hinwegsetzen und als omnipotente Subjekte sich alle Materialien einverleiben, die sie gerade brauchen, steckt nicht nur eine Karikatur der Genieästhetik. Es steckt darin auch eine Verlängerung einer ökonomischen Verwertungslogik. Der Begriff der Künste pocht auf eine Unterschiedenheit von Materialien, die vor ihrer Erarbeitung in ihrem Sinn noch unbestimmt sind, und klagt damit das ein, was in jedem Werk gerade noch nicht realisiert ist, beziehungsweise klagt das Andere in der Logik des Werks ein.
207Die bislang entwickelten Überlegungen konturieren die geschichtliche Dynamik der Künste keineswegs erschöpfend; genauer müsste, wie bereits angedeutet, nicht allein die Dialektik von Kunstentwicklung und gesellschaftlicher Realität in den Blick genommen werden, die Adorno treffend so gefasst hat, dass das Kunstwerk gleichermaßen »autonom und fait social« sei:[28] Der Gehalt des Werkes ist seine eigene Form in ihrer Spannung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Diesen Gedanken konsequent zu entwickeln, hieße auch, die retroaktive Bestimmung der Künste nicht allein im Sinne einer entsprechenden rückblickenden Neuaushandlung ihres Sinns zu denken, sondern zugleich höherstufige kategoriale Umbrüche in Rechnung zu stellen (etwa von weitestgehend tonaler Musik hin zur Emanzipation des Geräusches als Bestimmung des musikalischen Klangs und schließlich die Entgrenzung der Musik zu anderen Künsten); ein Modell hierfür findet sich in Hegels Phänomenologie des Geistes, deren dialektische Bewegungen immer wieder an Punkte getrieben werden, wo eine grundsätzliche kategoriale Neubestimmung nötig ist (etwa der Übergang von »Bewusstsein« zu »Selbstbewusstsein«).[29] Vor diesem Hintergrund können die jüngsten Entwicklungen der Künste eben nicht allein als Überschreitung des Systems der Künste gesehen werden, sondern so, dass sie einen anderen, angemesseneren Begriff der Künste fordern, der das klassische System der Künste in dialektischer, prozessualer wie negativistischer Weise reformuliert.
Meine Überlegungen können trotz aller Polemiken gegen überkommene Wesensbestimmungen sogar als Arbeit am Begriff des Wesens einer Kunst wie der Künste verstanden werden. Eine klassische Wesensbestimmung hatte ich bereits im Kontext meiner Überlegungen zur Frage, was Geschichtlichkeit heißt, vorgenommen: die aristotelische Bestimmung des Wesens einer Sache, die darin besteht, zu behaupten, dass solche Lebensformen logisch jeder Veränderbarkeit wie auch jeder Affizierbarkeit durch ihre individuellen Träger enthoben sind. Das Wesen einer Sache zu bestimmen, heißt anzugeben, was die Sache zu derjenigen macht, die sie ist – und einer klassischen Wesensbestimmung zufolge hat das Wesen keine Geschichte. Aus meinen Überlegungen zu einer Reformulierung 208der Künste lässt sich aber ein anderer Begriff des Wesens gewinnen: Was eine Kunst ist, ist weder eine primordial gegebene Norm noch eine empirische Ansammlung von Daten, sondern etwas, das einen offenen und ungesicherten Prozess im Lichte der Gegenstände, die an ihrem Begriff mitarbeiten, meint. Die Künste sind kategorial geschieden – aber nicht allein ist der Sinn ihres Unterschieds in Bewegung, sondern ihr Wesen ist damit niemals positiv definierbar, sondern allein derart, dass es vorausgesetzt werden muss und doch von einer unbestimmten Bestimmtheit ist. Wenn das richtig ist, haben wir es hier nicht mit einer bloßen Beweglichkeit zu tun; vielmehr artikuliert sich das Wesen einer Kunst in jeweils anderer und neuer Weise durch seine Neuaushandlung in jedem singulären Werk so, dass wir ohne seine Voraussetzung nicht auskommen und es doch niemals positiv auf den Begriff gebracht werden kann.