209Lydia Goehr
Für David Rosand
»Music is certainly a very agreeable Entertainment, but if it would take the entire Possession of our Ears, if it would make us incapable of hearing Sense, if it would exclude Arts that have a much greater Tendency to the Refinement of humane Nature: I must confess I would allow it no better Quarter than Plato has done, who banishes it out of his Commonwealth.«
Joseph Addison, The Spectator, 1711
»… but a silent Harmony is not true Music.«
Johann Mattheson, 1713
W.J.T. Mitchell eröffnet seinen Essay »Going Too Far with the Sister Arts« mit der Bemerkung Emersons, »dass [in Mitchells Worten] die ertragreichsten Gespräche stets zwischen zwei und nicht drei Personen stattfinden.«[2] Mitchell verwendet diesen Verweis, 210um zu erklären, warum, wenn die Schwesterkünste »zu streiten beginnen«, Dichtung und Malerei »im Rampenlicht standen«, so dass der Kunst der Musik »in diesem Gespräch eine Art Außenseiterrolle« zukam.
Mitchell erklärt diese Rolle der Musik als Außenseiterin auf zwei Weisen: Einerseits hat die Musik auf das von Dichtung und Malerei umkämpfte »Territorium« der »Referenz, Repräsentation, Bezeichnung und Bedeutung« verzichtet, und andererseits hat sich der Ausschluss der Musik aus dem Gespräch für einen »Krieg der Zeichen« geeignet, der entlang des grundlegend binären Gegensatzes von Wort und Bild konstruiert wurde. In dem Maße, wie dieser Krieg eine Resolution erreicht hat, hat diese sich auf eine vereinheitlichende semiotische Theorie gestützt, die – nach Mitchells Ausführungen – für die Musik immer noch keinen Ort gefunden hat.
Man könnte denken, dass Mitchell, indem er auf diese Weise seinen Text beginnt, die Musik in das Gespräch zurückholen würde. Das tut er jedoch nicht – jedenfalls nicht in diesem Essay. Er belässt die Musik in der Außenseiterrolle, so dass man sich fragt, warum er sie überhaupt erwähnt. Dennoch erinnert er seine Leser*innen daran, dass, obwohl die Musik ausgeschlossen war, für »alle Künste« seit langem gilt, dass sie »nach der Verfassung der Musik streben.« Mehr sagt er nicht, so dass er die Lesenden fragend zurücklässt, was diese Erinnerung bedeuten könnte. Vielleicht meint er, dass es für die Musik keinen Nachteil darstellt, im Streit der Schwesterkünste die Außenseiterin zu sein. Oder er meint, dass die Musik, indem sie als Verfassung gedeutet wird – vielleicht als göttliche oder als metaphysische –, eine Art zu denken ermöglicht, die einer semiotischen Theorie zugutekommt, die die Entfremdung des Bildes vom Wort überwinden möchte. Es wäre nicht seltsam, der Musik diese Rolle zuzuschreiben; seit langem schon wurde ihr in der Geschichte des Paragone – der konstatierenden und wetteifernden Künste – diese Rolle übertragen. So heißt es: Auch wenn die Kunst der Musik sprachlich und bildlich ohne Bedeutung ist, so trägt sie doch, gefasst als harmonisierende metaphysische Verfassung, die wahre Bedeutung aller Künste wie auch der gesamten Welt in sich. 211Nichtsdestoweniger werde ich zeigen, dass Musik als Verfassung zu verstehen ein tiefgehendes Problem in sich birgt in Anbetracht der Tatsache, wie oft dies zum Ausschluss und zur Verunglimpfung der Musik als Kunst geführt hat.
Als Mitchell 1987 schrieb, dass »alle Künste die Verfassung der Musik anstreben mögen«, hatte er dasjenige im Sinn, was Walter Pater ein Jahrhundert früher im Jahr 1877 geschrieben hatte. Pater bezog sich dabei auf die Malerei der italienischen Renaissance, insbesondere auf die »Schule des Giorgione«, so dass er erklären konnte, dass nicht »alle Künste«, sondern »alle Kunst«, und dass nicht »alle Künste danach streben mögen«, sondern dass »alle Kunst unaufhörlich nach der Verfassung der Musik strebt.« Erst auf Grundlage dieser Aussage hat Pater dann geschrieben, dass »wir uns alle Künste […] doch im steten Ringen« nach den »perfekten« und »vollendeten Momenten« der Verfassung der Musik »begriffen denken« dürfen.[3] Der Übergang von »alle Kunst« zu »alle Künste« und die Idee eines »unaufhörlichen Strebens« waren beide entscheidend für Paters Argument. Wenn, wie er annahm, der Musik eine bestimmte Verfassung zukommt, dann muss sie selbst nicht danach streben, diese zu erreichen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Ausdruck »alle Künste« sich auf »alle anderen Künste« bezieht und Musik ihren Außenseiterstatus beibehält. Wenn jedoch alle Kunst, und also jede Kunst, unaufhörlich nach einer allgemeinen Verfassung der Kunst strebt, wie Pater zusätzlich behauptet, dann ist die Musik in die Riege der Schwesterkünste einbegriffen. Am Ende dieses Essays werde ich zeigen, wie Paters Standpunkt sich auf subtile Weise so zwischen den ausschließenden und einschließenden Behauptungen bewegt, dass er an beiden festzuhalten vermag.
[…]
Pater formulierte sein Argument zu einer Zeit, in der ihm zufolge die Kunst der Musik die Verfassung nicht nur der Musik, sondern aller Kunst vollendet hatte, in einer Verfassung nämlich, die auf eine »untrennbare Einheit« des Inhalts und der Form des Kunstwerks hinausläuft. Sein Argument führte jedoch in die Irre, wenn man deshalb annähme, dass bereits in der Renaissance die Kunst der Malerei nach der Musik, verstanden als einer Kunst, 212strebte, da zu dieser Zeit die Kunst der Musik noch nicht diese vollendete Verfassung erreicht hatte. Pater setzte die Begriffe eines modernen teleologischen Narrativs voraus, dem zufolge die Musik für den Großteil ihrer Geschichte, in der sie als Kunst nicht so hoch angesehen wurde, ihren Stand zu verbessern suchte, indem sie nach dem strebte, was die anderen Künste auf dem Gebiet der Referenz und Repräsentation bereits erreichten. Erst als die Kunst der Musik sich um 1800 herum von diesem Gebiet abkehrte, wurde sie unter ihren eigenen Bestimmungen – jenen, die ihre Form und ihren Inhalt vereinten – als schöne Kunst akzeptiert, nach der alle anderen Künste sich umwandten, um ihr nachzueifern. Pater bietet jedoch zu diesem teleologischen Narrativ eine unerwartete Wendung an. Die subtile Unstimmigkeit zwischen seinen »prä-modernen« Beispielen aus der »Schule des Giorgione« und seinen romantisch-modernen ästhetischen Aussagen des 19.Jahrhunderts erlaubte es ihm zu zeigen, wie die Malerei, ohne das Gebiet der Repräsentation zu verlassen, nach der vereinigenden (unifying) Verfassung der Musik streben konnte, noch bevor die Kunst der Musik diese Verfassung selbst erreicht hatte. Das hatte erstens zur Konsequenz, dass nach der Verfassung der Musik zu streben nicht bedeutete, wie man vielleicht meinen könnte, die Musik über die anderen Künste zu stellen oder zu preisen, und zweitens, dass die Kunst der Musik, obwohl sie schließlich die Verfassung erreichen sollte, nach der alle anderen Künste streben, die Verfassung der Musik auch auf eine Weise betrachtet werden konnte, die sie von der Musik als Kunst abgrenzte.
Mein Essay umreißt einen wetteifernden Diskurs über die Schwesterkünste, der sich über die Renaissance bis zurück in die Antike erstreckt. Er stellt ältere und jüngere Aussagen nebeneinander, auch um zu zeigen, dass der historische Wendepunkt der Jahre um 1800 zwar einen Unterschied in Bezug auf die Spannung zwischen der Musik als Verfassung und als Kunst macht, aber keinen so großen.
[…]
Dieser Essay wählt mehr oder weniger chronologisch einige bestimmte Momente und Beispiele […] aus, die die Auswirkungen des Unterschieds aufzeigen, »Musik« als Verfassung oder als Kunst zu begreifen. Auf diese Weise zeige ich sowohl die Spannung in Paters so oft zitierter Äußerung als auch die Eigenartigkeit der Be213hauptungen der wetteifernden Künste. Viele lesen Paters Arbeit im Hinblick auf Probleme, die entweder Musik oder aber die anderen Künste betreffen. Ich lese sie dem Paragone entsprechend im Hinblick auf beide Seiten.
Die auf unterschiedliche Weisen begriffenen Künste wurden seit langem eingestuft und hierarchisiert, auch wenn die »Schwesterkünste« im Westen nicht seit je als eine besondere Klasse der »schönen Künste« »systematisiert« wurden.[4] Die Musik wurde dabei manchmal zuunterst, manchmal an der Spitze und manchmal jenseits der Spitze angesiedelt, »verwaist« in dem Sinne, wie Robert Schumann den Begriff einst verwendet hat, als habe sie weder Vater noch Mutter und nicht einmal Geschwister.[5] Ein Grund dafür, dass die Musik diese seltsame und sich stark von den »anderen« Künsten unterscheidende Geschichte hat, liegt darin, dass sie entweder überhöht oder herabgesetzt wurde, mit dem Ziel, die Verfassung und die Kunst entweder gleichzusetzen oder aber gegeneinander abzugrenzen. Je mehr die Verfassung der Musik mit der Musik als Kunst identifiziert wurde, desto weniger konnten die anderen Künste diese Verfassung auch für sich beanspruchen, weswegen vielleicht Pater in den 1870er Jahren so erpicht darauf war zu beweisen, dass sie es dennoch können. Aber je mehr die Verfassung von der Musik als Kunst abgegrenzt wurde, desto eher waren die anderen Künste wie die Dichtung und die Malerei in der Renaissance in der Lage, ohne Paradox die Fähigkeit für sich in Anspruch zu nehmen, jene Verfassung auf subtil andere Weise oder vielleicht sogar besser anzustreben als die Kunst der Musik.
Man bedenke nun, dass wir etwas Substanzielles zu sagen scheinen, wenn wir feststellen, dass Dichtung und Malerei oder Bildhauerei und Architektur nach der Verfassung der Musik streben. Was aber sagen wir – wenn wir es überhaupt sinnvollerweise tun können – jenseits einer Tautologie, wenn wir sagen, dass die Kunst der Musik nach der Verfassung der Musik strebt? Sagen wir dann, dass die Musik teleologisch danach strebt, sie selbst zu sein, viel214leicht frei und unabhängig, oder ihre Essenz als Kunst zu verwirklichen? Aber sollte das so sein, warum würden wir dann nicht über die Dichtung oder die Malerei sagen, dass jede auf vergleichbare Art und Weise nach ihrer je eigenen wesentlichen Verfassung strebt? Einige haben natürlich genau das behauptet: dass die Dichtung nach einer Verfassung der »Lyrik« oder »Poesie«[6] strebt und die Malerei nach der Verfassung der Kunst (im Allgemeinen), so als ob sich die Kunst in der Malerei erschöpfen würde. Wenn wir nach alldem immer noch sagen, dass Malerei und Dichtung nach der Verfassung der Musik streben, sagen wir dadurch nicht, dass sie nach einer Verfassung streben, die nicht die ihrige ist? Oder ist der Punkt, dass die Verfassung der Musik für alle Künste gilt, weil sie es am Ende ist, die die Kunst wesentlich zur Kunst macht? Aber wenn das stimmen sollte, warum ist die Schwesterkunst der Musik dann aus dem Gespräch ausgeschlossen – weil sie eine Verfassung ist? Oder anders gesagt: Warum ist sie miteinbegriffen, nur um dann als Schwesterkunst herabgesetzt zu werden? Und was ist darüber hinaus mit dem »Bestreben« gemeint, wenn nicht, dass eine Kunst scheitern kann, entweder im Allgemeinen oder in Bezug auf ein spezifisches Exemplar? Und wenn das so ist, kann die Musik als eine Kunst daran scheitern, ihrer eigenen Verfassung zu genügen? Und sollte sie das können, würde es passieren, wenn sie »fälschlicherweise« versucht, das »Territorium« der »anderen« Schwesterkünste zu betreten, nämlich das der Referenz und der Repräsentation? Viele haben das Scheitern der Musik in dieser Weise artikuliert und damit das erfolgreiche Erreichen der Verfassung der Musik als abhängig von der Abkehr von diesem Territorium beschrieben. Aber bedeutet das jetzt, dass all die anderen Künste sich ebenfalls von diesem Territorium abkehren und auf ihre Kraft der Referenz und der Repräsentation verzichten sollten, um eine »musikalischere« Verfassung zu erreichen? Oder könnte es sein, dass sie viel eher innerhalb dieses Territoriums unaufhörlich nach der Verfassung der Musik streben sollten, insofern es genau das Territorium der Referenz und der Repräsentation ist, das es ihnen erlaubt, die besonderen Künste zu sein, die sie sind? Aber warum sollte man dann nicht schließlich die Kunst der Musik ebenfalls in dieses Territorium zurückkehren lassen, um zu sehen, ob sie stets versuchen kann, auf 215jene Weisen zu bedeuten, auf die auch die »anderen« Schwesterkünste bedeuten, ohne damit dasjenige zu beeinträchtigen, was die Musik zu der besonderen Schwesterkunst macht, die sie ist?
Sich der Musik als Kunst und als Verfassung zu widmen, hilft, die verworrene Rolle aufzuklären, die der Kunst im Wettstreit der Schwesterkünste zugekommen ist: die »musikalischen« Bestimmungen, mit denen und für die die »rivalisierenden Künste« gegeneinander angetreten sind. Diese Verwirrung war produktiv, destruktiv und manchmal sogar tödlich. Wenn die Verfassung der Musik am stärksten von der Musik als Kunst abgegrenzt war, waren die Konsequenzen für diese Kunst und alle anderen Künste oft schwerwiegend genug, dass jene, die Kunst produzierten, aus der Stadt verbannt oder zum Tode verurteilt wurden. Verbannung oder Tod waren die Folgen, wenn die Verfassung der Musik als normativer Standard behandelt wurde, der die Künstler*innen darin anleiten sollte, wie sie als Bürger*innen zu handeln hatten und wie sie ihre Kunst produzieren sollten. Die Verfassung der Musik hat die »korrekte« Beschaffenheit, Bedeutung und den »korrekten« Wert aller produzierten Kunst festgelegt. Nichtsdestoweniger haben Künstler*innen aller Art Mittel und Wege gefunden, sich den disziplinierenden und standardisierenden Tendenzen dieser Verfassung zu widersetzen. Sie haben innerhalb ihrer Künste Wege gefunden, diese Verfassung so zu reinterpretieren, dass die ihnen entsprach, und vielleicht Kunst zu produzieren, die diese Verfassung in Frage stellt oder sogar verspottet und ihr gleichzeitig scheinbar gehorsam folgt. Anders gesagt: Die beiden Seiten des platonischen Erbes, die moralisierende oder zensierende und die strategische oder ironische, haben seit langem eine Geschichte geprägt, in der die Künste wetteiferten: sowohl miteinander in Bezug auf ihre Bedingungen als Kunst als auch diejenige Verfassung betreffend, die allzu oft so beschrieben wurde, als sei sie dem Urteil enthoben.
Auf diese Weise enthoben […] wurde die Verfassung der Musik als Standard, Prinzip oder Gesetz aufgefasst, mit verschiedentlichem Bezug auf Metaphysik, Moralität, Theologie und schließlich einer moderneren ästhetischen Theorie. Abgeleitet von der antiken 216Vorstellung der mousiké, hat die Verfassung der Kultivierung des Geistes, des Körpers und der Seele allen Musenschwestern erlaubt, alle Künste dazu anzuregen, ohne Ausnahme nach der väterlich apollinischen Verfassung zu streben. Mit dieser Herkunft hat die Verfassung der Inspiration die Schwesterkünste so weit ausgedehnt, dass sie für eine vollständige kosmologische Harmonie und Ordnung standen, nach der alle menschlichen Handlungen und sogar die Philosophie – vielleicht wie Platon meint: vor allem die Philosophie – unaufhörlich zu streben hatten. Zu begreifen, wie der antike Streit der Philosophie und der Künste die späteren Streitigkeiten der Schwesterkünste geprägt hat, heißt zu verstehen, wie erstens die Verfassung der mousiké allein zur Verfassung der Musik wurde, wie sie aber zweitens auch die weitere Verfassung des Museums wurde, das den meisten Schwesterkünsten die Türen öffnete, lange bevor es der Musikkunst den Zutritt ermöglichte. […]
1985 formulierte der französische Philosoph Michel Serres folgende exemplarische Aussage: »La musique, venue de toutes les Muses, ne peut passer pour un art; elle somme tous les arts. Aucun d’entre eux ne réussit, à son tour, s’il n’a la musique; elle garde chacun d’eux et le fait exister.« – »Die Musik, die von allen Musen herkommt, kann nicht als eine unter den Künsten gelten; sie ist die Summe aller Künste. Keine Kunst kann erfolgreich sein, wenn sie keine Musik hat; die Musik behütet sie alle und schenkt ihnen das Dasein.«[7] Serres illustriert seine Behauptung (hier in der veröffentlichten deutschen Übersetzung) folgendermaßen: »Die Poesie geht zu Fuß oder schlimmer: auf Knien, ohne die Musik. Die Architektur ist nur ein Steinhaufen, die Statue nur Material, die Prosa bloßer Lärm.« Wo, mag man fragen, bleibt die Musik in dieser Auflistung? Sicherlich würde doch die Musikkunst ohne Musik – also ohne die Verfassung der Existenz der Kunst – ebenfalls zu Fuß gehen, totes Material oder bloßer Lärm sein? Serres würde dem wahrscheinlich zustimmen. Tatsächlich tut er das auch, allerdings wandelt die englische Übersetzung genau den Satz ab, in dem er dies tut. Serres schreibt: »Elle-même retombe dans les notes, le calcul plat, sans elle-même« – »Sie selbst [die Musik] ist nur eine 217Ansammlung von Noten, ein plattes Kalkül, wenn sie keine Musik hat.«[8] In der englischen Übersetzung heißt es: »Eloquence deprived of rhythm and the modulations of singing evocation collapses into gibberish and boredom.« – »[D]ie Redekunst fällt zurück in Unsinn und Langeweile, wenn ihr der Rhythmus und das Auf und Ab der Betonungen fehlen.« Indem sie sich statt auf Musik auf die Redekunst beziehen, übergehen die englischen Übersetzer*innen subtil die Konfliktivität der scheinbar gegensätzlichen Aussagen, dass Musik »nicht als Kunst gelten kann« und sie dennoch eine Kunst ist und damit, wie alle Künste, der Verfassung der Musik untersteht. Dennoch wäre Serres sicherlich in seiner doppelten Behauptung klarer gewesen, hätte er geschrieben: »Musik, die von allen Musen kommt, kann nicht nur als Kunst angesehen werden; sie ist auch die Summe aller Künste«; oder noch besser: »Mousiké, das für alle Musen steht, erschöpft sich nicht in der Musik als Kunst, sondern ist die Verfassung aller Künste, einschließlich ›la musique‹.«
Serres formuliert dies jedoch nicht auf diese Weise, weil er es nicht muss. Er kann mousiké mit la musique – also die Verfassung mit der Kunst – identifizieren, weil es üblich ist, dies zu tun, wenn man bedenkt, wie viele es vor ihm getan haben. Aber genau diese Gleichsetzung hat es zugelassen, die Musik aus dem Gespräch auszuschließen, so wie die englischen Übersetzer*innen dies unwissentlich getan haben; oder es hat Denker wie Serres dazu ermutigt, Wege zu finden, nach denen alle Künste »musikalisch« sind, da sie aus seiner Perspektive ohne »Musik« alle bedeutungslos, langweilig oder gewöhnlich sind. Sie wären tatsächlich nicht einmal Kunst.
[…]
Obwohl sie 1985 formuliert wurden, ließe sich sagen, dass Serres’ Behauptungen darüber, wie etwas Gewöhnliches durch die Mittel der »Musik« in Kunst verklärt wird, andere zeitgenössische Perspektiven aufnehmen, wie diejenige, die Arthur Danto in seinem 1981 veröffentlichten Buch Die Verklärung des Gewöhnlichen dargelegt hat. Serres’ Standpunkt bezieht sich auf eine uralte mystizistische und metaphysische Tradition der mousiké und der Musik, um die Verfassung zu erklären, die alle Künste zu Kunst macht. Danto säkularisiert und verwirft den Mystizismus, indem er die Metaphy218sik teleologisch als »entmündigende« (disenfranchising) Geschichte dessen liest, was über Kunst behauptet wurde bis zu dem Zeitpunkt, da dieser ihr eigenes Wesen bewusst geworden ist (in den 1960ern), nach dem die Verfassung der Existenz von Kunst zwar eine deflationistisch herabgesetzte, aber philosophisch wie künstlerisch akzeptable Verfassung wird, nach der Kunst bedeutungsvoll in einer Kunstwelt existieren kann, die von Geschichte und Theorie durchdrungen ist, aber nicht mehr von einer musikalischen Göttlichkeit. So gelesen, schließt Dantos Position, wie auch die Mitchells, die Musik nur aus, insofern sie als metaphysisch überhöhte Verfassung verstanden wird. Der naheliegende nächste Schritt ist es dann, die Musik als Schwesterkunst bona fide in die Kunstwelt wieder einzugliedern.
In einem Augenblick vor seinem Tod fragt Sokrates nach der Bedeutung einer Anweisung, die ihm in einem Traum gegeben wurde: dass er nämlich mousiké praktizieren solle (Phaidon 60e). Er fragt sich, ob dieser Begriff ihn dazu auffordere, sich auf das einzulassen, was die Dichter-Musiker (poet-musicians) tun, oder ob er fortfahren solle, das zu tun, was er sein Leben lang getan hat: nämlich Philosophie. Indem er diese Auswahlmöglichkeit aufstellt, räumt er ein, dass es sowohl eine gewöhnliche wie auch eine höhere Bedeutung von mousiké gibt. Er erwägt, ein gewöhnliches Lied zu komponieren, doch als er merkt, dass er in dieser Aufgabe ohne Inspiration bleibt, leiht er sich einen Vers bei Äsop. Sokrates zieht es vor, ein Lied zu borgen, als selbst eines zu komponieren: Das passt zu seiner Ansicht, dass das Streben nach der Verfassung der mousiké bedeutet, Vortrefflichkeit in nur einer Tätigkeit anzustreben; und Sokrates ist Philosoph, kein Verseschreiber. Es entspricht zudem seinem strategischen Bedürfnis, sich mit einem hässlichen Mann zu identifizieren, der durch seine Verse, seine Fabeln und seinen Scharfsinn auf der Straße überlebt, bis er wie Äsop zu Tode kam.[9] Mousiké zu beanspruchen, bedeutet, den eigenen Versuch, Körper und Geist 219in Einklang zu bringen, zu belegen und, was für den vorliegenden Aufsatz am wichtigsten ist, zu zeigen, dass das Instrument, Medium oder Mittel der erwählten oder natürlichen Aufgabe oder Kunst mit ihrem Zweck übereinstimmen. Äsops Lied passte zu seinem Leben; indem Sokrates es sich borgte, beglaubigte er, was an seinem eigenen Leben »musikalisch« war, ungeachtet seiner gegenteiligen nur gewöhnlichen oder hässlichen Erscheinung. Indem er sich das Lied oder die Fabel geborgt hat, wurde im Moment des Todes des Philosophen die gewöhnliche Bedeutung von Musik in der Reflexion wieder mit der göttlichen Bedeutung der mousiké verbunden.
In einem anderen Moment aus der Politeia (399e) wird Sokrates beschrieben, wie er bei einem Mythos über einen Musikwettstreit Anleihen nimmt, der später eine außergewöhnliche Rolle im Streit der Schwesterkünste spielen wird. Sokrates borgt dabei das Urteil des göttlichen Apollon, als dieser den Satyr Marsyas (der hier mit Pan verschmilzt) dafür bestraft, dass er mit Hybris eine Disharmonie in der Stadt zu stiften droht, indem er eine phrygische oder lydische Musik auf einem gewöhnlichen Blasinstrument spielt. Sokrates verwendet das Urteil Apollons, um diejenigen Musikinstrumente, die in der Stadt erlaubt sind, von denen zu unterscheiden, die außerhalb der Stadtmauern verbleiben sollen. Er verbietet zum Teil Blasinstrumente und behält Saiteninstrumente bei, räumt dann aber ein, dass auch Saiteninstrumente, wenn sie zu viele Saiten haben, einen Missklang (discordance) erzeugen können. Auf diese Weise lässt er offen, was genau das perfekte Instrument wäre.
Es müsste sicherlich dasjenige sein, welches Apollon selbst im Wettstreit verwendet, aber was für ein Instrument ist das? Ist es wirklich ein Instrument der Musikkunst oder eines, das, wie wir Sokrates’ Argumenten entnehmen können, verklärt wurde, um einer höheren Verfassung zu dienen? Der Wettstreit von Apollon und Marsyas kann unterschiedlich gelesen werden, ich verstehe ihn hier so, dass er aufzeigt, wie die Musik als Kunst so sehr von der Musik als Verfassung abgetrennt wird, dass die Kunst zunächst degradiert wird, bevor sie wieder aufgewertet werden kann, wenn das überhaupt möglich ist. Den Wettstreit auf diese Weise zu interpretieren, bedeutet nicht, sich auf die Hybris zu konzentrieren, die Marsyas, ein einfacher Mensch oder Satyr, dazu bringt, einen Gott herauszufordern; es heißt vielmehr, die Bedeutung des Wettstreits so umzukehren, dass wir verstehen können, warum Apollon sich, wie So220krates, bereit erklärt, in einen Wettstreit mit einem gewöhnlichen und niedrigen Menschen zu treten, wenn der Sieg des Gottes dabei garantiert ist. Die Garantie ist dadurch gegeben, dass Apollon sowohl Teilnehmer als auch Richter ist, wodurch suggeriert wird, dass das Interesse an dem Wettstreit nicht darin besteht, wer gewinnt, sondern wie der unvermeidliche Sieg errungen wird. Die Errungenschaft folgt jedoch keinem geraden Weg: Sie ergibt sich aus rhetorischen, aber »edlen« Tricks, die von den Wissenden angewandt werden, um die Tricks der Gegner aufzudecken, bei denen es sich (angeblich) nur um krumme und kunstvolle Täuschungen handelt. Um aus einem gewöhnlichen Wettstreit einen solchen zu machen, der etwas Edles oder Göttliches offenbart, bedarf es einer subtilen Neuverhandlung seiner Konditionen: in diesem Fall einer solchen, die eine gewöhnliche Musik in mousiké verwandelt.
In dem Wettstreit sind die Richter die Musen, deren Anführer Apollon ist – Apollôn mousêgetês –, aber es gibt auch noch andere Richter, die sich ihnen anschließen, so dass es mindestens einen namens Midas geben wird, der das angeblich falsche Urteil fällt. Auf der Straße produziert Marsyas die bessere Musik oder zumindest ist das gewöhnliche Publikum von seinen Melodien eingenommen. Seine Vorstellung gelingt, da er das Talent eines darstellenden Künstlers besitzt. Midas ist von Marsyas’ Auftritt so angetan, dass er ihn zum Sieger erklärt. Daraufhin bestraft Apollon Midas dafür, dass er sich nur von der bloßen oder kunstvollen Erscheinung hat täuschen lassen, indem er ihm die Ohren eines Esels verpasst. Doch warum klingt Marsyas’ Musik in Midas’ Ohren besser als die Apolls? Weil Apollons Spiel von denen weder gehört noch verstanden werden kann, deren Ohren dem Göttlichen gegenüber taub sind. Weder fähig noch gewillt, durch die Kunst der Musik zu gewinnen, verdrängt Apollon die Kunst durch eine Verfassung metaphysischer oder göttlicher Wahrheit. Er stellt, wie es in einer Version heißt, sein Saiteninstrument »auf den Kopf«, was, wie ich es lese, bedeutet, dass er, indem er es umkehrt, die wahre Ordnung innerhalb des Gesamtkonzepts der Musik offenbart. Er verwandelt sein Saiteninstrument in ein perfektes pythagoreisches Symbol universeller Harmonie und macht damit sein Instrument qua Instrument als Mittel der Kunst überflüssig.[10] Oder er zeigt in dem Maße, 221in dem er weiterhin ein Instrument spielt, dasjenige, wonach nun alle unaufhörlich streben sollten: das Symbol oder die Verfassung über der Kunst zu erfassen. Als Marsyas hingegen seine Flöte auf den Kopf stellt, muss er feststellen, dass er seine scheinbare Musik in eine bloß gewöhnliche Produktion von Wind verwandelt hat: in bloßes Geräusch.
Apollon hätte hier aufhören können, aber das tut er nicht. Er zeigt Marsyas auch, dass er mit seinem eigenen schönen Mund, befreit von einem allzu menschlich aussehenden Instrument, durch Dichtung und Gesang göttliche Worte sprechen kann, und vermutlich hätte er mit mehr Zeit durch die Kunst der Bildhauerei oder Malerei göttliche Bilder erschaffen können. Im Gegensatz dazu kann Marsyas mit vollem Mund (wie Oscar Wilde es einst mit seinem üblichen Scharfsinn ausdrückte)[11] den Namen des Göttlichen nicht (aus)sprechen, was ihn als impotent zeigt. Als Sieger des Wettstreits übernimmt Apollon die Bestrafung, wodurch er Teilnehmer, Richter und Henker in einem wird. Aus vielen späteren Gedichten und Gemälden ist zu ersehen, dass Apollon, indem er Marsyas kopfüber aufhängt und ihm seine Haut nimmt, seine Absicht aufzeigt, das Instrument der Musikkunst und den Körper des Musikers gleichermaßen umzukehren. […]
Der Wettstreit zwischen Apollon und Marsyas deutet auf eine Entwicklung hin, die entweder die Kunst der Musik von der göttlichen Verfassung absondert oder sie durch ihre Verklärung in diese Verfassung auflöst. Es lässt sich auch eine zweite Entwicklung beschreiben, durch die ein Raum eröffnet wird, der den anderen Künsten ermöglicht, dem Wettstreit beizutreten, so dass auch sie diese Verfassung anstreben und erreichen können. Diese Beschreibung erweckt jedoch den Anschein, als hätte die Musikkunst schon immer einen besonderen oder vorrangigen Anspruch auf diese Verfassung gehabt oder als sei sie immer eine singuläre oder einheitliche Kunst gewesen, mit der die anderen Künste konkurrieren konnten. Dies ist nicht der Fall. Der Wettstreit erzählt auch davon, dass Blas- und Saiteninstrumente gegeneinander antreten zu lassen 222zwei Arten von musikalischer Aktivität zusammenbrachte, die in keiner Weise ausgeglichen waren: dass nämlich mit unterschiedlichen Instrumenten sehr unterschiedliche modale und nationale Melodien erzeugt werden konnten, manchmal solche, die gedichtete Verse begleiteten, und andere, die dies nicht taten. Doch all dies ist und war schon immer sehr verzwickt. Erstens, weil es in dem Wettbewerb vielleicht gar nicht zwei verschiedene Instrumente gab, sondern nur eines, nämlich die Flöte, während das andere die Saiten der Verklärung (the strings of transfiguration) waren. Und zweitens, weil Marsyas, hätte er einen Freund mitgebracht – seinen Schüler Olymp –, diesen hätte bitten können, zu seinem Flötenspiel zu singen, wodurch Apollon sich einen anderen Trick hätte ausdenken müssen. Natürlich hatte Apollo noch unendlich viele Pfeile in seinem Köcher, aber das betrifft uns nicht mehr. Für uns ist es einzig entscheidend zu wissen, dass es zu jener Zeit und in diesen frühen Mythen keinen Überbegriff für Musik gab, der all das abgedeckt hätte, was wir heute unter Ausschluss von allem anderen als Musikkunst bezeichnen würden. Stattdessen gab es den Überbegriff und die Verfassung der mousiké, auf die so viel mehr als die Kunst der Musik einen Anspruch erheben konnte und erhob.
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Viele frühe Argumentationen berufen sich auf eine Verfassung der Musik – Harmonie, Proportion, Ordnung, Vernunft und Beständigkeit –, um die Über- oder Unterlegenheit einer Schwesterkunst gegenüber den anderen zu bemessen. Viele Kunstwerke beziehen sich auf Instrumentalmusiker*innen oder singende Dichter*innen oder stellen sie dar, wie sie mit ihren Ohren, Augen, Fingern oder Bögen auf das hinweisen, was die Kunstwerke selbst als Kunst anstreben, während sie die Instrumente als »gebrochene« oder »gefallene« in einer Welt der Vergänglichkeit, Unvollkommenheit oder Sünde beiseitelegen. Die Musik in ihre »freiheitlich-göttliche« und ihre »mechanische« oder »instrumentale« Seite zu unterteilen, ist eine vorherrschende Art und Weise, wie die »anderen« Künste ihren eigenen Status aufwerten. Damit aber stellt sich die agonis223tische Frage, ob die Musikkunst die gleiche Trennung im Konzept der Musik inszenieren kann. Es wird gesagt, dass Dichtung und Malerei durch Wort und Bild auf die Kunst und die Verfassung der Musik reflektieren können. Aber kann die Musik als reine »Tonkunst« in einem, wie man jetzt wohl sagen kann, Akt der Selbstreflexion auf ihre eigene Verfassung reflektieren? Kann sie das Territorium der Referenz oder der Repräsentation betreten, um auf ihre eigene Fähigkeit als Kunst zu reflektieren? Oder reicht es aus, den Punkt performativ zu vollziehen, indem zum Beispiel bei der Aufführung von Musik gezeigt wird, wie Instrumente weggeworfen werden, um eine Aufwärtsbewegung in Richtung der »Stille« des Himmels zu vermitteln, oder indem Musiker*innen aus dem Sichtfeld entfernt werden, so dass sie, hinter einer Leinwand oder unter einer Bühne verborgen, von dem rein klingenden Medium getrennt werden, das nun in ästhetischer Isolation an das Ohr herangetragen wird? All diese Vorschläge wurden erwogen, je mehr die »Tonkunst«, manchmal getrennt und manchmal gemeinsam mit ihren Schwesterkünsten, versucht, die Verfassung der »mousiké« zu erfüllen, die im Laufe der Jahrhunderte entweder als »Musikalität« oder, um die Verwirrung noch zu vergrößern, einfach als »Musik« bezeichnet wurde.[12]
Während des 18.Jahrhunderts war die Kunst der Musik gefangen zwischen der Suche nach den Bedingungen ihrer Unabhängigkeit und jenen, die sie weiterhin mit den »anderen« Künsten verbünden würden. Dazu tendierend, eine Sprache der Emotionen und Leidenschaften zu werden, sieht sich die Musik mit demselben Problem wie die Dichtung konfrontiert: nämlich ob ihre potenzielle semiotische Fähigkeit sie zu einer bloß konventionellen Sprache macht oder ob sie durch oder trotz ihrer konventionellen Zeichen eine direkte oder unmittelbare Beziehung zur Natur aufrechterhält. Oder aber ob die Musikkunst, in Richtung Werk- und Objekthaftigkeit (workhood and objecthood) tendierend, zunehmend nach den Bedingungen ihrer Dauerhaftigkeit oder Beständigkeit sucht, ohne dass dies jedoch ihre energetische Zeitlichkeit (energetic temporality) gefährde. Oder dass die Musik, zu einer Versöhnung neigend, eine Vereinigung mit ihren Schwesterkünsten anstrebt, um 224so als Oper unter dem vereinigenden Dach der Architektur untergebracht zu sein: die »gefrorene Musik« par excellence. All diese Tendenzen tragen zu dem bei, was ich ein »imaginäres Museum der musikalischen Werke« genannt habe, ein Museum, das nicht nur versucht, die Zeit der Kunst zum ewigen Stillstand zu bringen, sondern das dies in einer Weise tut, die suggeriert, dass man durch das Betreten dieses Museums in eine Welt eintritt, die vollständig von der Verfassung der Musik durchdrungen ist.
In einer einflussreichen Abhandlung des frühen 16.Jahrhunderts, De Harmonia Musicorum Instrumentorum Opus,[13] erinnert Gaffurius, wie auch Serres später, seine Leser*innen daran, dass zwar viele sagen, alle Musen seien aus dem Kopf Apollons geboren worden, dass es aber wichtiger war, dass sie von ihm unterrichtet wurden, weil dadurch und deswegen Apollon selbst als die Verfassung der mousiké/musica benannt wurde oder diese umfasste. Gaffurius beschreibt dann die göttlichen numerischen und proportionalen Eigenschaften von Apollons Instrument in einer Weise, die auf alle Künste zutrifft. Fast drei Jahrhunderte später, im Jahre 1785, greift der deutsche Philosoph Herder denselben Gedankengang auf, obwohl er, wie viele seiner Zeitgenossen, versucht, den Wettstreit der Schwesterkünste zu beenden, indem er endgültig ihre aufgeklärte Gleichwertigkeit verkündet. Dennoch kann er nicht widerstehen, die Kunst der Musik dabei herabzustufen.
Herder inszeniert einen Wettbewerb, ein Göttergespräch,[14] bei dem wiederum Apollon als »die Verfassung der Musik« in der Rolle des Richters fungiert.[15] Der Wettstreit soll dabei zeigen, wie die Musik, je freier und unabhängiger sie wurde, desto eher diejenige Hybris an den Tag legte, die diese Schwesterkunst dazu veranlasst hat, sich mit dem Begriff der Musik als Verfassung aller Künste zu identifizieren. Als Vaterfigur versucht Apollon grundsätzlich die konkurrierenden Töchter zu beschwichtigen. Er lässt die Malerei, die Dichtung und die Musik – also Bild, Wort und Ton – ihre (an Lessing erinnernden) Behauptungen darüber durchspielen, was 225jede von ihnen aufgrund ihrer plastischen oder energetischen Medien und ihrer mimetischen Weisen der Repräsentation, Referenz und Expression erreichen und bedeuten kann. Apollon scheint dabei keiner dieser Behauptungen den Vorzug zu geben; er ist vielmehr stolz auf ihre unterschiedlichen Fähigkeiten, bis er es plötzlich für angebracht hält, seine Tochter Musik dafür zu tadeln, dass sie denkt, sie könne ohne Worte und einzig mithilfe von Instrumenten – als Tonkunst[16] – bedeuten, ohne dafür auf die Bedeutung angewiesen zu sein, die die anderen Schwesterkünste stiften. Als die Tonkunst[17] geltend macht, dass sie einzig durch ihr Instrument die perfekte Harmonie mit dem herstellen könne, was Apollon auf seinem spielt, macht dieser ihr unmissverständlich klar, dass er seine Abgrenzung von der Musik wie von allen anderen Schwesterkünsten genauso gut mit dem metaphysischen Pinsel oder Stift hätte beweisen können. Keine Schwesterkunst kann einen besonderen Anspruch auf ihn erheben. Er will, dass sie einzig bei ihm sitzen oder um ihn herumtanzen, aber stets etwas unter ihm, als gehorsame Töchter.
Hinter dem Vorhang dieses Wettstreits lacht Herder jedoch im Schatten von Sokrates über die Anmaßungen eines jeden Richters, der glaubt, er könne wirklich die Bedingungen der Schwesterkünste auf diese Weise diktieren. Er beschreibt diese Kritiker an anderer Stelle (in einer schönen Mischung aus apollinisch-marsyanischen Begriffen) als apollinische »Schwätzer« (windbag), die mit ihrem aufgeblasenen Gerede all das abtöteten, was zu Recht den Namen Philosophie trägt. Es gebe zwei Arten von Schwätzern: die barbarischen Ästhetiker, die zu seiner Zeit in Deutschland das Sagen hätten, und die Pedanten, die in diejenige »leere Kontroverse« vertieft sind, die unablässig versucht, die Überlegenheit einer Schwesterkunst über die andere zu bestimmen. »Schade nur!«, führt er fort, dass, »statt bloß den Unterschied« zwischen Malerei, Poesie und Musik bestimmt zu haben, der Theoretiker »auf die leere Grille gerät, den Vorzug zu bestimmen, den eine vor der andern habe. Zwischen völlig ungleichartigen Dingen läuft eine bloße Rangordnung auf einen so schülerhaften Wettstreit hinaus, als«, wie er scharfzüngig hinzufügt, »vor einigen Jahren die Malerei, Musik, Poesie und 226Schauspielkunst, unter Aufsicht eines Magisters der Weltweisheit, förmlich und feierlich haben eingehen müssen.«[18]
[…]
Angesichts des aufgeklärten Zustands der schönen Künste ungefähr um 1800 könnte man meinen, dass die Auseinandersetzungen um ihre disziplinäre Rangordnung nachlassen würden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Ihr Wettbewerb bleibt für Künstler, Kritiker und Philosophen weiterhin akut. Sosehr die Verfassung der Musik auch in den eher säkularen oder aufgeklärten Begriffen des »Ästhetischen« artikuliert wird, verliert sie dadurch nie ihren Geist. Dieser Geist trennt nach wie vor aus allen möglichen Gründen ihre eher disziplinäre apollinische von ihrer eher ironischen oder satyr-ähnlichen Seite, die zunehmend mit Marsyas’ artverwandtem Bruder in Verbindung gebracht wird: Dionysos. Im Spiel dieser beiden Seiten gibt der »Geist der Musik« weiterhin die Regeln und die Inspiration für die Künste vor, aber er dient gleichzeitig als Geist der gegenwärtigen Gesellschaft als Ganzer, um etwas aus der Antike wiederzugewinnen, das verloren geglaubt ist. Zu diesem Zeitpunkt stellten sich die Fragen, die insbesondere die Kunst der Musik betreffen, umso dringender: ob sie als »höchste Kunst« oder, weil sie endlich ihre Verfassung als Musik erreicht hat, als gänzlich abgetrennt von allen anderen Künsten genauso gut oder vollständig wie die anderen Künste als Kunst bedeutsam sein kann. Als Verfassung oder Geist über die anderen Künste erhoben, bleibt das, was die Musik als Kunst erreichen kann, ein Problem, das es immer schon war. Aus der drängenden Anerkennung dieses Problems entsteht die »Philosophie der Musik«, wie wir sie noch heute kennen.
Nachdem er sich durch alle »anderen Künste« gearbeitet hat, entsprechend ihren jeweiligen Leistungen in der Welt, erfahren durch Repräsentation, Referenz und (platonische) Ideen, schließt Schopenhauer das dritte Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung, indem er sich der »einen Kunst« zuwendet, die bisher »aus 227der Betrachtung ausgeschlossen« war – nämlich der »Musik«. Obwohl er die Musik so beschreibt, als sei sie völlig »von allen anderen« Künsten »abgesondert« und als gehöre sie einzig der Welt zu, die aus der wahrhaftigsten und tiefsten Perspektive des Willens erfahren wird, meint er, dass die Musik als Kunst Grenzen hat. So argumentiert er beispielsweise, dass keine tatsächlich in der Welt gehörte Musik gänzlich rein sei, da die Bewegung ihrer Entfaltung einen dissonanten Weg gehen müsse, bevor sie sich selbst auflöst. Und er zeigt, dass keine Musik – im Gegensatz zu den anderen Künsten – auf die Beziehung reflektieren oder sie zu Bewusstsein bringen kann, in der die Kunst im Allgemeinen zum Willen steht. In der Welt der Vorstellungen bleiben die anderen Künste dadurch gefangen, wie der Wille objektiviert oder artikuliert wird, und versuchen unaufhörlich, den Willen in den Kunstwerken neu zu artikulieren. Doch auch diese Künste sind insofern begrenzt, als dass die Erfahrung von Schönheit, die sie ermöglichen, es denjenigen, die die Werke erfahren, einzig auf vorübergehende Weise erlaubt, sich von der Bindung an den Willen zu lösen. Hat die Musik dann den Vorteil, diese Suche aufgegeben zu haben? Nur zum Teil, und das ist der Punkt. Da er auf beiden Seiten – der Musik und der »anderen« Künste – die Grenzen aufzeigt, wendet sich Schopenhauer schließlich von allen Künsten ab, hin zur Moralität und einer reinen Philosophie. In Raffaels Cäcilia findet er keine subtile philosophische Reflexion über Musik und Malerei als Künste. Stattdessen findet er einen Gegenstand ästhetischer Erfahrung, der ihm ermöglicht, alle symphonischen und dramatischen Qualen der Welt gleichermaßen beiseitezulegen. Dennoch tritt ihm dann aus dem Kunstwerk die metaphysisch musikalischste der moralischen Heiligen, Cäcilia, entgegen, um ihn in Stille in den letzten Satz seiner eigenen metaphysischen Symphonie zu führen.
In dem Fragment »Über Musik und Wort« aus dem Jahr 1871 setzt sich Nietzsche[19] mit der Sichtweise Schopenhauers auseinander, die sich nun mit der Wagners vermischt. Während die Musik im Lied oder in der Oper Ideen und Bilder »zeugen« oder »erzeugen« kann, so dass sie die Dichtung und Malerei zu einer »mysteriösen Burg« erhebt, können Dichtung und Malerei sich nicht 228von selbst erheben. Nietzsche fordert uns dazu auf, Raffaels Cäcilia zu betrachten, wie sie »entzückt den Harmonien der Engelchöre« lauscht. »[K]ein Ton«, bemerkt er, »dringt aus dieser […] Welt« – er meint wohl die Welt des Gemäldes. Aber stellt euch vor, fährt er fort, wenn wir wie durch ein Wunder die Musik hören könnten: Würden nicht alle Figuren im Gemälde, selbst die Engel, unserem Blick entweichen und »schattengleich verblassen und verlöschen«? Daraus folgert Nietzsche, dass wir dann nicht mehr mit den Augen Raffaels sehen würden, sondern »wie auf jenem Bilde die weltlichen Instrumente zertrümmert auf der Erde liegen, so würde unsre Malervision, von dem Höheren besiegt« – nämlich der Musik. Danach präsentiert Nietzsche Argumente, die wir aus der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik kennen. Sie beziehen sich darauf, wie die apollinische Vision den Weg für einen tieferen und erschütternden dionysischen musikalischen Ausdruck freimacht. Doch das Beispiel des Gemäldes fordert uns auf zu erwägen, ob, indem wir uns die Aktualisierung des Engelsgesangs vorstellen, unsere Ohren mit einer Musik gefüllt würden, die der Kunst oder nur einem metaphysischen oder moralischen Gedanken entspringt. Würden wir eine Musik wie die von Beethoven oder Wagner hören, eine Musik mit Worten oder ohne Worte, oder aber eine Musik, die aus dem Geist[20] der Musik geboren einen Gedanken oder ein Gefühl totaler und lebendiger Gemeinschaft hervorruft? Für den frühen Nietzsche ist das nicht mehr eine Frage des Entweder-Oder. Eine Musikkunst, aus dem »Geiste der Musik« wiedergeboren, ob als Symphonie oder als Musikdrama, ist zu seiner Zeit die einzig wahre Form oder das Behältnis für diesen Geist und übertrifft damit sowohl die Metaphysik als auch die Moralität. Der »Geist der Musik« durch die Musikkunst vermittelt ist das, was Nietzsche nun als »das Ästhetische« bezeichnet, das das Leben als Ganzes rechtfertigt. Aber dieses Leben umfasst auch alle anderen Künste: Dichtung, Malerei, Skulptur, Architektur und Tanz.
Schopenhauer nicht ganz so fern, wie manche meinen könnten, und zwei Jahrzehnte früher als dieser, widersteht der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick jeder Tendenz, den Wettstreit der Schwesterkünste in eine Einheit aufzulösen, wenn das bedeutet, die Autonomie und Freiheit des Geistes, die jeder Kunst und jedem 229Kunstwerk aus sich selbst heraus zukommen sollte, zu beeinträchtigen. Wie Schopenhauer beginnt Hanslick folgendermaßen: Obwohl die Musik »allein […] diesen sachlichen [oder autonomen, L.G.] Standpunkt noch immer nicht erringen zu können« scheint, besitzt sie nun nach der Revision ihrer ästhetischen Beurteilung die Fähigkeiten dazu.[21] Die Musik, erklärt er, sei lange Zeit durch eine »falsche« Theorie beeinträchtigt worden, die versucht habe, Musik auf eine lediglich kommunikative oder imitierende Sprache menschlicher Gefühle zu reduzieren. Wenn Musik einzig dazu da ist, Gefühle in menschlichen Subjekten zu befördern, dann verdient sie es, wie jede andere bloß genussfördernde Form behandelt zu werden. Wenn sie jedoch den Rang erreichen will, der die anderen Künste zum ästhetischen Selbstzweck gemacht hat, muss sie für sich selbst ein Medium erschließen, das sich nicht auf ein rein instrumentelles Mittel reduzieren lässt. Dieses Medium setzt sich, so Hanslick, aus rein instrumentalen Klangformen zusammen, die die Genres der Symphonie und der Sonate definieren, und noch wichtiger aus Formen, die auf »spezifisch musikalische« Weise durch den Geist oder Gehalt[22] bewegt sind, der sie in reiner Weise schön sein lässt. Einem Argument folgend, das Herder und bereits viele vor ihm vorgebracht haben, kann das Medium der Musik nicht bloß empirisch im Sinne einer bloßen Klangsprache angesehen werden, die auch außerhalb der Musikkunst anzutreffen wäre; es muss hingegen rein ästhetisch begriffen werden, so dass die Erfahrung, die es ermöglicht, selbst wenn sie etwas mit Gefühlen zu tun haben sollte, doch gänzlich von den bloßen Effekten in der Alltagswelt verschieden ist. Es handelt sich dabei nach seiner Beschreibung um eine mysteriöse Erfahrung, die an die »Chemie« erinnert, die Goethe in den »Wahlverwandtschaften« so beschreibt, dass sie ungleiche oder unterschiedliche Sachen in eine Ähnlichkeit hineinzieht, die – als Sehnsucht – jedoch keine Identität ist. Für Hanslick ist diese Goethe’sche Chemie in der geistigen Bewegung und dem geistigen Gehalt[23] enthalten, der so zwischen dem tonalen Material und der Form der Musik eingezwängt ist, dass er zu deren Leim oder geistigem Inhalt wird, um das reine ästhetische Medium 230zu jener »untrennbaren Einheit« zu machen, die in der Rede von den »tönend bewegte[n] Formen« ihren Ausdruck findet. Das musikalisch bewegte Medium allein, das die Hörer*innen in einem solch intensiven Maße bewegt, macht die Musik zu jener schönen und »spezifisch musikalischen« Kunst. Indem Hanslick das ästhetische Medium in den Begriffen der unzertrennlichen Einheit der Form und des Inhalts eines Kunstwerks bestimmt, glaubt er, die erste angemessene Philosophie der Musik formuliert zu haben. Im Kern wird die Kunst der Musik dabei qua ästhetischem Medium mit der Verfassung eines jeden musikalischen Werks identifiziert, so dass nun alle anderen Arten von Kunstwerken, seien es Gedichte, Gemälde, Skulpturen oder Gebäude, unaufhörlich zu dieser vereinten Verfassung neigen und nach ihr streben.
Mit dieser Position im Sinn beginnt Walter Pater […] seinen eigenen Ansatz zu formulieren. Auch Pater hebt die Musik von den anderen Künsten ab. Während alle anderen Künste unaufhörlich nach der Verfassung der Musik streben, muss die Kunst der Musik selbst nicht danach streben, da die Kunst ihre wahre Verfassung erreicht hat oder (jetzt) gerade erreicht. Musik, schreibt er, »realisiert sich am vollständigsten« in ihrer »vollkommenen Identifikation von Materie und Form«. In ihren »vollkommenen Momenten« ist der Zweck »nicht mehr zu trennen von den Mitteln, die Form nicht mehr von der Materie, der Inhalt nicht vom Ausdruck; sie beinhalten sich und gehen gänzlich ineinander auf; daher kann man davon ausgehen, dass alle anderen Künste nach ihr streben.« In der Musik also, fügt Pater hinzu, nicht »in der Dichtung« finden wir »de[n] reinste[n] Typus und Maßstab vollendeter Kunst«.[24]
Die Behauptung, die Musik sei in sich selbst als eine Kunst vollkommen, bewegt Pater jedoch noch nicht dazu, sie als die vollkommenste der Künste zu betrachten. Der Großteil seiner Argumentation dreht sich darum, zu zeigen, wie alle anderen Künste nach der Verfassung der Musik streben, ohne dadurch ihre jeweilige Be231sonderheit als Künste zu gefährden. In den 1870er Jahren analysiert er eine Bewegung in Richtung Abstraktion und Formalismus, in der alle anderen Künste willentlich das Territorium der Referenzialität und Repräsentation aufzugeben scheinen (wie es Mitchell später ausdrücken wird), im Glauben, dadurch nun auf die Weise der Musik bedeuten zu können – und das hieß nun nicht referenziell und nicht repräsentational! Pater akzeptiert die Aufgabe dieses Territoriums jedoch nicht gänzlich. Stattdessen schaut er auf das zurück, was einige italienische Maler in der Renaissance vorgeführt haben: nämlich die Fähigkeit, ein externes Modell oder einen externen Sinn so zu verklären und zu bewahren, dass die Werke selbst in sich geschlossen, einheitlich und unteilbar werden. Aber genau anhand einer solchen Fähigkeit, so zeigt er dann, kann ein Kunstwerk als eines betrachtet werden, das etwas außerhalb seiner eigenen Grenzen aufzeigt und anstrebt, ohne dass dies in irgendeiner Weise seine innere Einheit beeinträchtigt.
Für Pater ist das Kunstwerk weder »empirisch« noch »bloß«. Das, was Form und Inhalt vereint, ist eine reine ästhetische Bewegung, die er als »Handhabung« (handling) bezeichnet. An diesem Punkt folgt er Hanslick und kommt Serres zuvor, wenn er behauptet, dass die »bloße Materie« (mere matter) eines Gedichts oder Bildes »nichts ohne die Form, den Geist und die Handhabung« ist, wobei er unter »bloßer Materie« nicht wie Serres Worte, Geräusche oder Ziegel versteht, sondern mit Hanslick die externen oder alltäglichen Ereignisse oder Objekte, Begebenheiten oder Charakteristika in ihren gewöhnlichen Besonderheiten, die erst, wenn sie von einem Kunstwerk repräsentiert, oder besser: umfasst werden, gänzlich durch die Form »durchdrungen« und also verklärt werden.
[…]
Pater zeigt einen Platonismus – ein gerichtetes Streben –, der sein Denken in allen seinen Wendungen beeinflusst: dass im »Wie« des Strebens genauso viel, wenn nicht mehr Bedeutung steckt als darin, »dass« gestrebt wird.[25] Für Pater erfüllt die Musik ihre Verfassung nun per Definition durch Erfüllung und Vollendung ihrer Natur. Für Sokrates erfüllen die Künste die Verfassung der mousiké, wenn überhaupt, nur wenn die Künstler*innen von den 232Göttern mit Inspiration belohnt werden. Aber keine der beiden Deutungen zählt als künstlerische oder menschliche Leistung, worauf Pater hinweist, wenn er schreibt, dass »eine der Hauptaufgaben der ästhetischen Kritik, welche sich mit den Erzeugnissen älterer oder neuerer Kunst beschäftigt«, darin besteht, »den Grad festzustellen, bis zu welchem jedes Kunsterzeugnis dem musikalischen Gesetz […] nahe kommt.«[26] Aber rhetorisch gefragt: Was wäre die Aufgabe ästhetischer Kritik, wenn ihr Gegenstand ein Erzeugnis der musikalischen Kunst ist, bei dem es also, da es nichts zu entsprechen hat, auch nichts zu kritisieren gibt?
Um die Rhetorik etwas zu mäßigen, dreht Pater den Spieß einmal um: Jeder bildenden Kunst, einschließlich der Musik, kommt ihr eigenes »nicht kommunizierbares Element« (incommunicable element), ihre eigene »unübersetzbare Ordnung der Eindrücke« (untranslatable order of impressions) und ihre eigene »besondere Art« zu, dasjenige zu erreichen, was er als »imaginative Vernunft« (imaginative reason) bezeichnet. Dies zu erreichen, ist, was alle Künste tun, wenn jedes Kunstwerk als Selbstzweck aufgefasst wird. In dieser Behauptung ist das musikalische Werk das Vorbild, dem alle anderen Kunstwerke folgen müssen. Aber Pater meint auch, dass, selbst wenn ein musikalisches Werk die vollkommene Einheit von Form und Inhalt aufweist, die freie Beschäftigung unserer imaginativen Vernunft durch alle Arten von Kunst und durch jede auf ihre je besondere Weise befördert wird. Pater lehnt das ab, was er als den tiefgreifendsten Fehler bezeichnet: alle getrennten Künste unter eine verallgemeinernde Ästhetik oder ein metaphysisches Gesetz der Kunst zu subsumieren, in gewissem Sinne selbst unter das Gesetz des musikalischen Werks. Keine Kunst ist wie die andere; noch ist irgendeine Kunst eine »bloße Übersetzung« oder ein »Supplement« einer höheren Sache. Darin aber liegt eine dialektische Wendung: Alle Künste gleichen sich darin, als besondere und singuläre Kunstformen verschieden zu sein. Und in dieser Verschiedenheit, wie Herder schon vor ihm meinte, ergibt die Rangordnung der Künste, einschließlich der Musik, wirklich keinen Sinn.
In Anlehnung an Hanslicks Versuch, die Musik als autonome, von allen Abhängigkeiten von anderen Künsten befreite Kunst zu begründen, bezieht sich Pater auf die Verfassung der Musik, 233um, so können wir nun endlich sagen, die Unabhängigkeit jeder Kunst zu beweisen. Die Errungenschaft jeglicher Kunst ist singulär und hängt davon ab, wie sie ihre besondere Einheit von Inhalt und Form stiftet. Aber wenn das stimmt, bedeutet das auch, dass keine Kunst als besondere Kunstform das ausschöpft, was Kunst sein kann, selbst wenn es für jede Kunstform ein konkurrierendes Streben danach gibt, den allgemeinen Begriff der Kunst auszuschöpfen.[27] Um den Konkurrenzdruck zu reduzieren, erklärt Pater, wie jede Kunst(-form) von einer anderen profitieren kann, indem sie Eigenschaften leiht oder anstrebt, die ihr selbst nicht zukommen, genauso wie auch Sokrates von Äsop geliehen hat, um sein Streben nach etwas »Musikalischem« zu zeigen, das in seinen eigenen Begriffen der Philosophie nicht fassbar war. Jede Kunst strebt danach, ihre Fähigkeit über die Grenzen ihres eigenen Mediums hinaus zu erweitern, so dass sie, wie Pater schreibt, an »aller Kunst« als Ganzer »teilhaben« kann. Eine Kunst mag sich, wie im Gesang oder in der Oper, mit einer anderen verbinden, aber für Pater ist es wichtiger, dass sich jede einzelne Kunst(-form) auf das einlässt, was die deutschen Romantiker als das »große Anders-Streben«[28] bezeichnet haben, ein Streben oder eine Sehnsucht oder die Wahl einer Verwandtschaft, die eine Sache dazu bringt, Qualitäten einer anderen Sache zu übernehmen oder eine Vereinigung mit dieser zu erreichen, die jedoch keine Identität ist. Jede Kunst, schreibt Pater, zielt darauf, »in die Verfassung einer anderen Kunst überzugehen«, ohne jedoch dadurch das zu werden, was sie nicht ist: nämlich die andere Kunst. Eine »Entfremdung« von ihrem eigenen Medium ist aus seiner Sicht gewollt und notwendig, solange diese Entfremdung »partiell« bleibt. Das heißt, dass die Annahme eines ihrer selbst Anderen am Ende wieder in der Kunst(-form) selbst enthalten sein muss, so dass ihre Einheit nicht gefährdet ist. Durch das Streben aus sich selbst heraus zu »dem Anderen« wird jeder, wie Pater sagt, »eine neue Kraft« (a new force) zuteil. Das Streben einer Kunst über ihre Grenzen hinaus bedeutet also, dass sie dem treu bleibt, was innerhalb ihres Mediums möglich ist, und gleichzeitig eine Verfassung anstrebt, die vielleicht höher, vielleicht allgemeiner oder einfach gleich(-wertig), aber anders ist.
234Die Idee der Grenzen[29] geht sowohl auf Sokrates als auch auf spätere Theorien von Lessing, Herder, Goethe, Kant und Hegel zurück. Sie ist eine der Kernideen der modernen Ästhetik, wie sie später im Kontext der Krise der Moderne (modernist crisis) vom Kunstkritiker Clement Greenberg und dem Philosophen Theodor W. Adorno explizit formuliert wird. Demzufolge strebt ein Gemälde oder ein Gedicht die Verfassung der Musik an, ohne dadurch sein Medium – seine Grenzen – zu verletzen, genauso wie einige der »reizvollsten Beispiele« der Musik, so Pater, »stets eine Annäherung an die Figur, an die bildliche Bestimmung« (approaching to figure, to pictorial definition) zu sein scheinen. Die Verfassung der Musik, die unteilbar ihre Form und ihr Inhalt ist, schließt daher nicht das Streben eines jeglichen Kunstwerks aus, mehr als es selbst zu sein. Sie muss nur das Bestreben ausschließen, dieses Mehr oder Extra als Äußerliches zu betrachten. Genauso wie für die deutschen Romantiker ein Fragment zwar partiell und begrenzt ist, aber doch auf das Ganze hinweist, so wird ein Kunstwerk hier im Sinne dessen betrachtet, was es intern über sich selbst hinausgehend anstrebt. In dieser Argumentation wäre es falsch, den Begriff des »Außermusikalischen« (extramusical) als nichtmusikalisch zu lesen, also als außerhalb des musikalischen Territoriums oder Bereichs gelegen.
Stattdessen gilt es, ihn zu lesen, wie es die romantischen Modernisten taten, also mit einem antiken Dreh – als »außermusikalisch«[30] – als Mehr als die Kunst der Musik, also als die Kunst der Musik, der Malerei oder der Dichtung, wie sie nach einer (höheren) Verfassung streben.[31] So beschreibt Pater die Spannung zwischen dem, was dem Werk äußerlich bleibt, und dem Inneren des Werks als stetiges Bemühen oder ständiges Ringen des Letzteren, das Erstere zu übertreffen derart, dass alle Unterschiede zwischen Form und Inhalt innerhalb des Werks aufgehoben sind. In diesen romantisch-dialektischen Begriffen, und das ist der letzte Punkt, nimmt das musikalische Werk am Kampf und an der Errungenschaft gleichermaßen teil wie jede andere Schwesterkunst. Alle Künste streben daher unaufhörlich nach dem, was jedes Kunstwerk 235schließlich als Kunst sein will: einzigartig in Bezug auf sein Medium, besonders als Werk und beispielhaft für die Kunst als Ganze. Nachdem die Musik vom Gespräch der anderen Schwesterkünste ausgeschlossen wurde, hat Pater sie schließlich als nichts weiter als noch eine Schwesterkunst wieder aufgenommen.
Ich habe eine besonders platonische Geschichte einiger der wichtigsten Bewegungen zwischen mousiké, musica und Musik in Bezug auf die Erhöhung und die Herabsetzung der Musik als Kunst nachgezeichnet. Zu einer Verfassung erhoben, musste sich die Musik als Kunst, oder als nicht mehr Kunst, mit ihrer Stellung als Schwesterkunst konfrontieren, dies geschah sowohl zu ihrem Vorteil als auch zu ihrem Nachteil. Zum Schweigen gebracht oder zerbrochen, wurden ihr auf verschiedene Weisen ihre Instrumente, ihre Verkörperung, ihre Notation, ihre Schöpfer, ihr Anblick, ihre Berührung und sogar ihre Fähigkeit, auf weltliche Weise zu bedeuten, abgesprochen. Doch ohne ihre Veräußerlichung, oder das, was Adorno manchmal ihre Artikulation genannt hat, diente sie als dasjenige, wonach nicht nur die Künste sondern auch die Menschheit als Ganze streben solle.[32] Der Musik ihre Artikulation zu verweigern, wurde von denen propagiert, die sich von der Musik abgrenzen, mit ihr konkurrieren oder sich mit ihr verbünden wollten; sowohl innerhalb als auch außerhalb der musikalischen Welt. Diese Verweigerung gehörte weder hauptsächlich einer früheren noch einer späteren historischen Epoche an; die historischen Wendepunkte haben in dieser Geschichte keinen bedeutenden Unterschied gemacht. Was heute über Musik geschrieben wird, wiederholt oft ebenjene Bewegung des Begriffs der Musik zwischen ihrem Status als Verfassung oder als Kunst, so als ob die beiden in einer ewigen kosmischen Spannung entweder gleichgesetzt oder getrennt wären. Natürlich muss uns die Tatsache, dass Meisterwerke der Kunst – in allen ihren Bereichen, einschließlich der Musik – auf der Grundlage von beschädigten Instrumenten entstanden sind, innehalten las236sen, wenn man im Anschluss an meinen Aufsatz meint, man müsse die Musik als Verfassung ablehnen, um die Musik als eine vollständige Kunst wiederzugewinnen. Wenn man jedoch die gesamte Musik als Kunst wieder einbezieht, wie es heute in vielen Theorien der Fall ist, sind wir dazu verpflichtet, die grundlegenden Fragen zu überdenken, zu denen wir besonders als Philosoph*innen neigen: denen nach der Definition, dem Status oder der Bedeutung der »Musik« im Verhältnis zu den »anderen« Künsten.
Im 20.Jahrhundert haben viele Schlüsselfiguren wie Greenberg, Adorno, Danto, Fried, Clark, Mitchell und Serres, um nur einige zu nennen, die Medienspezifik der Kunst und des einzelnen Kunstwerks gegen die Tendenz verteidigt, die Grenzen zwischen den Künsten gänzlich niederzureißen. Oder sie haben auf diesen Abriss gedrängt, um das platonische und dann theologische Erbe desjenigen Diskurses der Klarheit und Verworrenheit zu bekämpfen, der, obwohl er im 18.Jahrhundert in Begriffen, die dem aufklärerischen Konzept des Ästhetischen entsprachen, neu artikuliert wurde, nie seine disziplinierende oder entmündigende Kraft verloren hat. Viele Denker*innen haben auch weiterhin die Frage gestellt, welche der Künste, um Greenbergs Ausdruck zu verwenden, das »hauptsächliche Opfer« des Vergleichs der Künste war, der immer auch ein Wettstreit war.[33] Von einem Hauptopfer zu sprechen, bedeutet dann allerdings, die falsche Sprache zu verwenden, wenn dies zu der Annahme führt, die Künste hätten nicht zu ihrer eigenen Entfremdung als Künste zugunsten der Erhöhung oder der nüchternen Herabsetzung ihrer bestimmenden Begriffe beigetragen. Dass die Künste nach einer Verfassung streben, die philosophisch oder theologisch ist, hat ihre enorme Fähigkeit demonstriert. Doch manchmal war dieses Streben mit extrem hohen Kosten für all das verbunden, was eine Kunst zur Kunst macht.
Aus dem Englischen übersetzt von Tilman Giustozzi