Ist Musik eine Kunst unter Künsten? – Wenn man ihre Situation mit derjenigen der bildenden Kunst vergleicht, könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Musik eine Sonderrolle spielt, die sie zu einer entweder sehr exponierten oder weitgehend marginalen Existenz verurteilt oder sie ganz aus dem Spiel nimmt. Allein diese Diskrepanz ist bemerkenswert: Ist die Musik die Leitkunst der Gegenwart?[1] Oder hat sie den Anschluss an die künstlerische Gegenwart verloren?[2] Oder, nochmal ganz anders, ist sie die exemplarische Verkörperung autonomer ästhetischer Rationalität oder gar höherer Möglichkeiten des Menschseins?[3] Und: Sprechen wir von der gesamten Bandbreite vom Kinderlied über Volksmusiken und die Popmusik bis zur zeitgenössischen Kunstmusik? Oder unterscheiden wir Kunstmusik von vor- oder außerkünstlerischer Musik? Kann Musik überhaupt primär als Kunst gelten und nicht vielmehr zuallererst als Modus menschlicher Kommunikation und Vergemeinschaftung und steht insofern quer zur gesamten Diskussion? Und schließlich: Kann ihre Eigenheit als »Kunst unter Künsten« dieses unübersichtliche Feld zusammenhalten?
Aus der Perspektive der philosophischen Ästhetik liegt es nahe, für die Beantwortung dieser Fragen die westliche Kunstmusik ins 240Zentrum zu stellen, auch wenn sich an diese Gewichtung (nicht nur) aus musikethnologischer Perspektive einige Fragen stellen lassen. Ich möchte dabei von einem emphatischen Begriff des Zeitgenössischen ausgehen, der dieses nicht rein zeitlich, sondern qualitativ versteht: Zeitgenössisch wäre dann das, was mit dem Anspruch antritt, künstlerisch auf die kulturelle, gesellschaftliche und politische Situation der Gegenwart zu reagieren, sie zu reflektieren und in ihr zu wirken, wobei es sich auch auf seine eigene Geschichte und seinen künstlerischen Kontext beziehen muss. Was in diesem Sinne als zeitgenössisch gelten kann, wird immer umstritten sein, und insofern geht es hier zuerst einmal nur um diesen Anspruch und die sehr verschiedenen Versuche, sich zu ihm zu verhalten.[4] In dem Moment aber, in dem etwas im Bereich der zeitgenössischen künstlerischen Produktion als Musik bezeichnet wird, sich als solche versteht oder als solche wahrgenommen wird, setzt es sich nicht nur in ein Verhältnis zu anderen künstlerischen Praktiken, sondern auch zum unübersichtlichen Feld musikalischer Praxis außerhalb des Bereichs der Kunst und zu den gängigen, sehr verschiedenen Bestimmungen von Musikalität, sei es an sie anschließend oder sich von ihnen abgrenzend. All dies muss deshalb hier zumindest skizzenhaft mitbehandelt werden.
Ich werde mich im ersten Schritt unter dem Stichwort der Musikalität den Bestimmungen, wie sie in Anthropologie, Entwicklungspsychologie und Archäologie als Ursprung und/oder Basis der Musik diskutiert werden, und der historischen Last widmen, mit der eine westliche Musikpraxis zwangsläufig zu tun hat (2.), mich dann der Situation der zeitgenössischen Kunstmusik (3.) und schließlich Pop und Jazz als Musikformen zuwenden, deren Kunststatus umstritten ist, die aber als Kontext der Neuen Musik mitgedacht werden müssen (4.).
Mit Musikalität kann sehr Verschiedenes gemeint sein. Im Alltagsdiskurs wird damit meist eine menschliche Anlage bezeichnet, bei der darüber gestritten werden kann, ob sie allen zukommt oder nicht. Ein zweites, ebenso geläufiges Verständnis bezieht sich auf die Verfasstheit von Artefakten vor allem aus dem Bereich anderer Künste; man denke an Formulierungen wie die der Musikalität eines Tanzstücks, einer Theaterinszenierung et cetera. So weit all dies von der künstlerischen Musik entfernt zu sein scheint, bildet es doch einen Teil ihres diskursiven und praktischen Hintergrunds.
Die Frage danach, ob »musikalisch zu sein« ein ungleich verteiltes Talent oder eine (zu entwickelnde) menschliche Grundanlage ist, wird exemplarisch von John Blacking im Titel seines einflussreichen Buches gestellt: How Musical Is Man? Seine Antwort ist eindeutig: Die Vorstellung, dass Musikalität nur wenigen, besonders beschenkten Individuen zukommt, ist das Produkt einer Gesellschaft, in der musikalische Praxis von einem selbstverständlichen Bestandteil des alltäglichen Äußerungsrepertoires zu einem Privileg von wenigen geworden ist. Der Blick in andere Kulturen zeigt, dass das nicht so sein muss. Musikalität ist Blacking zufolge nicht nur für einzelne Gesellschaften, sondern für den Menschen überhaupt eine Universalie.[5] Wenn Musikalität als Anlage universal ist, dann ist es auch die Musik.
Dennoch werden die beiden sinnvollerweise unterschieden: »Musikalität in all ihrer Komplexität kann als Menge natürlicher, sich von selbst entwickelnder Grundanlagen definiert werden, die in unserem kognitiven und biologischen System gegründet ist und durch dieses bedingt wird. Musik in all ihrer Vielfalt kann als soziales und kulturelles Konstrukt definiert werden, das sich auf diese Musikalität gründet.«[6] Der Musikethnologe Blacking hält fest, dass es offenbar keine menschlichen Gesellschaften gibt, in denen sich nicht Praktiken finden, die wir als musikalisch bezeichnen würden – was das Problem ihrer Kategorisierung als musikalisch in 242jenen Fällen aufwirft, wo sich kein eigener Begriff von Musik findet.[7] Der Kognitionswissenschaftler Honing kennt diese Skrupel nicht, sondern operiert unbefangen mit den Begriffen Musik und Musikalität und traut sich überdies zu, jene »Grundanlagen« zu identifizieren. Beiden ist es darum zu tun, die Bestimmung von Musikalität so offen zu halten, dass ein möglichst breiter, pluraler Begriff von Musik möglich bleibt. Mit Ian Cross kann man festhalten, dass trotz der Annahme einer solchen Verankerung kein einziger Aspekt gegenwärtiger musikalischer Kulturen als »natürlich« im Sinne eines Vorkulturellen aufgefasst werden kann oder muss.[8]
Insgesamt stützen sich hier Forschungen aus verschiedenen Bereichen gegenseitig. Während Ethnolog*innen eine universale Verbreitung musikalischer Praktiken feststellen, verlegen Entwicklungspsychologie, Evolutionstheorie und Archäologie Musikalität weit in die menschliche – onto- und phylogenetische – Frühzeit. Colwyn Trevarthens und Stephen Mallochs Formulierung einer »kommunikativen Musikalität«, von der die frühkindliche Kommunikation geprägt sei, kann hier als paradigmatisch gelten.[9] Angesichts dessen, wie tief die Musik oder das Musikalische in der menschlichen Lebensform als solcher verankert wird, muss man sich daran erinnern, was dabei der leitende Gesichtspunkt ist: Musik erscheint hier eben nicht als Kunst, sondern, mit Cross und Woodruf gesprochen, als »kommunikatives Medium«,[10] mit dem Gemeinschaften in Situationen sozialer Unsicherheit stabilisiert werden, ohne dass geteilte Überzeugungen nötig wären.
243In der kulturvergleichenden Perspektive muss man hier etwas vorsichtig sein: Die musikalische Praxis einiger Kulturen als (primär) kommunikativ und die anderer als (primär) künstlerisch zu beschreiben, geriete in gefährliche Nähe zu einem normativen Urteil oder einer Kategorisierung nach Entwicklungsstufen, bei der die westliche Hochkultur wie selbstverständlich den höchsten Rang einnehmen kann. Der Punkt ist an dieser Stelle aber ein anderer: Wenn Musikalität als menschliche Grundeigenschaft angesehen wird, rückt sie in einen anderen Vergleichshorizont. Werden bestimmte Praktiken als hochentwickelte Kommunikations- und Vergemeinschaftungsformen beschrieben, so tut die Frage nach ihrem künstlerischen Charakter nichts zur Sache und taugt nicht zu ihrer Auf- oder Abwertung. Von hier aus kann die Universalität von Praktiken festgestellt werden, die wir als musikalisch bezeichnen würden, ohne die Frage nach der Kunst überhaupt zu stellen. Aus dieser Perspektive müsste man sagen, dass Musik niemals nur und vielleicht nicht einmal in erster Linie als Form der Kunst betrachtet werden muss.
Wenn Musikalität demgegenüber als Eigenschaft von Artefakten aufgefasst wird, sind wir mitten im eigentlich künstlerischen Bereich, wo Musik in ganz verschiedenen Hinsichten in Anspruch genommen wird, die unter Umständen weit von den bisher genannten Eigenschaften entfernt sind.[11] Von der »Musikalität« von Arbeiten anderer künstlerischer Disziplinen war schon die Rede: Hier wird in der Regel auf Formen angespielt, die sich primär in energetischen zeitlichen Verläufen bestimmen, auf rhythmische Artikulation setzen und explizite Referenz zurückdrängen. In ganz ähnlichem Sinne werden Prosodie und Rhythmus fast unweigerlich als die »musikalischen« Dimensionen der Sprache bezeichnet.
In der theoretischen Diskussion geht es eher um die mit der Musik assoziierte Medialität, etwa in Walter Paters bekanntem Diktum: »Alle Kunst strebt unaufhörlich hinüber in den Zustand der reinen Musik.«[12] Diese »condition of music« besteht in der 244vollständigen Integration von Form und Inhalt, die in Paters Vorstellung eines perfekten Kunstwerks nicht nur nicht getrennt, sondern nicht einmal voneinander unterschieden werden können. Die Bedingung medialer Integration läuft dabei vielfach mit dem seit Platon geläufigen Bild der Musik als Inbegriff von Proportionalität, Harmonie und Rationalität zusammen. Lydia Goehr hat deutlich gemacht, dass diese Bedingung nicht mit der tatsächlichen Musik verwechselt werden darf, sondern als Leitbild der Kunst überhaupt die »Kunst der Musik« eher marginalisiert, weil diese dem Bild kaum entspricht und auch gar nicht wirklich gemeint ist.[13] Dennoch hat auch dieses Verständnis von Musikalität Auswirkungen, wird es doch bis heute intermedialen und konzeptuellen Arbeiten als Maßstab entgegengehalten, von dem nur um den Preis abzuweichen ist, schlechte oder gar keine Musik zu produzieren, sondern ein halbgares Hybrid.
Wenn demgegenüber in der Kunst der 1960er Jahre von Musikalität die Rede ist, wird ihre Medialität oft ganz anders gefasst, nämlich als Verhältnis von Partitur und Aufführung. Für die event scores und instruction pieces aus dem Umkreis von Fluxus ist dies unmittelbar evident, aber auch für Sol LeWitt ist der Bezug zur Musik in genau dieser Hinsicht zentral.[14] Ken Friedman geht so weit, Musikalität schlechthin mit dieser Konstellation zu identifizieren: »Musikalität bezieht sich auf die Tatsache, dass viele Fluxusarbeiten als Partituren angelegt sind, als Werke, die von anderen Künstlern als ihrem Autor realisiert werden können.«[15] Hier sind es gerade nicht mediale Reinheit und Integration, für die die Musik exemplarisch sein soll, sondern im Gegenteil die mehrstellige mediale Konstellation, die der europäischen Kunstmusik zugrunde liegt. Für die bildende Kunst liegt die Herausforderung in der verteilten Autorschaft und dem Verschwinden des Originals, aber auch die Musik selbst wird herausgefordert, denn bei aller Refle245xion über Notierbarkeit, historische Interpretation et cetera bleibt doch die Vorstellung leitend, dass »Aufzeichnung und sinnliche Gestalt […] nur zweierlei Gestalt ein und derselben Vision des Schöpfers sind«,[16] dass wir es also bei einem Werk der Musik mit demselben in je verschiedenen medialen Realisierungen zu tun haben. Bei den event scores tritt nun aber gerade die Differenz zwischen Partitur und Ausführung überdeutlich hervor.[17]
Musik als menschliche Grundanlage, als Modus der Vergemeinschaftung, als energetische Verlaufsform, als vollständig medial integrierte oder medial mehrstellige Kunstform – aus all diesen Verständnissen von Musikalität ergeben sich Möglichkeiten für die zeitgenössische Musikproduktion, und aus manchen werden Ansprüche an sie abgeleitet, berechtigt oder nicht. Sie greift immer wieder auf sie zurück und muss sich nolens volens mit ihnen auseinandersetzen.
Wovon soll nun die Rede sein, wenn wir von Musik als zeitgenössischer Kunstform sprechen? Es ließen sich zwei Extreme identifizieren, die beide unplausibel sind, wenn auch nicht auf gleiche Weise: Auf der einen Seite könnte man alle musikalischen Äußerungen, die gegenwärtig gemacht werden, insgesamt einbeziehen – das würde in etwa dem entsprechen, jedes von irgendwem gemalte Bild als Kunst zu bezeichnen. Auf der anderen Seite könnten wir uns ausschließlich auf diejenige Musik beziehen, die als zeitgenössische Kunstmusik auftritt, also das, was in Deutschland als »Neue Musik« firmiert (auch wenn sich viele Komponist*innen mit diesem Label nicht mehr wohlfühlen).[18]
Arthur C. Danto hat in seinem klassischen »Artworld«-Auf246satz eine Bestimmung der Kunst vorgeschlagen, die nicht auf die Form und materielle Beschaffenheit von Artefakten allein bezogen ist, sondern sehr allgemein formuliert »eine Atmosphäre künstlerischer Theorie, ein Wissen von der Geschichte der Kunst: eine Kunstwelt«[19] voraussetzt. Ich halte dies über Dantos eigenen Ansatzpunkt hinaus für richtig und würde es als Anschluss an einen zeitgenössischen theoretischen Diskurs, ein Sich-Verhalten zur Geschichte und Gegenwart des eigenen Feldes, ohne die Entwicklungen in benachbarten Disziplinen zu ignorieren, und zur Gegenwart insgesamt reformulieren. Dass die »Kunstwelt« auch im Musikbereich eine weitgehend institutionalisierte Welt ist, bedeutet nicht, dass es außerhalb dieser Institutionen keine »gute« Musik geben kann – die Frage nach der Qualität sollte nicht mit derjenigen nach dem Kunstcharakter kurzgeschlossen werden. Natürlich können außerhalb ihrer auch Arbeiten oder Praktiken auftauchen, die den berechtigen Anspruch erheben können, als Kunst aufgefasst zu werden. Sie können aber nicht auf Dauer auf den Anschluss an den Diskurs der Kunstwelt, das heißt: auf Interpretation verzichten.[20]
Man kann daran arbeiten, den Diskurs über Musik als Kunst so zu verschieben, dass die Neue Musik nicht mehr sein unangefochtenes Zentrum bildet; dennoch erscheint es sinnvoll, bisweilen zumindest von ihr auszugehen, ohne sich auf sie zu beschränken. Dabei wird schnell klar, dass über Materialien, Medien, Institutionen und Diskurse gleichermaßen gesprochen werden muss. Die Neue Musik ist in der etwas prekären Situation, dass sie zwischen drei anderen Instanzen verspannt ist: der »klassischen« Musik, die nicht nur ihren historischen Hintergrund und Bezugsrahmen bildet, sondern mit der sie auch den institutionellen Ort teilt; den anderen Künsten, allen voran die bildende Kunst, mit denen sie den Gegenwartsbezug teilt und deren Praktiken und Diskurse sie mit Aufmerksamkeit verfolgt; und der Popmusik (und dem Jazz), 247für die das Gleiche gilt. In allen diesen Fällen changiert das Verhältnis auf ambivalente Weise zwischen Abgrenzung und Affinität.
Wenn ich bei den Institutionen ansetze, dann nicht, weil ich glaube, dass sie alles erklären, sondern weil sie sowohl für die Abgrenzung der verschiedenen Bereiche als auch für ihren jeweiligen inneren Zusammenhalt von besonderer Bedeutung sind. Es wird immer wieder gesagt, dass in der Kunst der Gegenwart Disziplinengrenzen längst keine Rolle mehr spielen und dass die Institutionen der tatsächlichen Praxis weit hinterherhinken. Die Beobachtung einer Diskrepanz zwischen der Flexibilität künstlerischer Arbeit und dem Beharrungsvermögen der Institutionen liegt sicher nicht falsch, scheint mir aber die Praxisarten, die Diskurse, Normen und Bewertungskriterien zu unterschätzen, die sich mit diesen Institutionen verbinden und das künstlerische Arbeiten zutiefst prägen. Man könnte in Anlehnung an Ludwik Flecks Begriffe des Denkstils und Denkkollektivs von Formkollektiven sprechen.[21]
Eine Musikhochschule ist ein ganz besonderer Typ eines solchen Formkollektivs. Zahlenmäßig und in der Regel auch vom Selbstverständnis ist sie primär ein Ort, an dem die Pflege des großen Erbes der europäischen Kunstmusik betrieben wird. Zeitgenössische Musikpraxis ist auf zeitgenössische Produktion angewiesen, aber in den Musikhochschulen ist dieser Vergangenheitsbezug die alles dominierende Praxis,[22] während institutionelle Kontakte zu Kunsthochschulen, die einen weit emphatischeren Gegenwartsbezug haben, kaum bestehen. Nicht zuletzt von hier ist die ungebrochene Bedeutung des Metiers, des approbierten Könnens zu verstehen. Der Begriff des Metiers spielt dabei nicht nur auf die technischen Fertigkeiten an, sondern auch auf den Bereich, in dem diese legitimerweise erworben werden können, und in der Tat hat die musikalische Ausbildung etwas Zunftartiges, bei dem sich Fertigkeit, Praxis und Institution nicht voneinander trennen lassen.[23] Das ist 248der Kontext, in dem auch die Ausbildung von Komponist*innen und jenen Instrumentalist*innen stattfindet, die sich primär der zeitgenössischen Musik widmen. Und es ist der fast ausschließliche Kontext, denn Quereinsteiger*innen und Autodidakt*innen sind die absolute Ausnahme.
Kontinuität mit der Tradition besteht aber nicht nur in der institutionellen Verortung, sondern weitgehend auch in Bezug auf die Bindung an die Partitur, das Instrumentarium und die Art der Präsentation. Der Aufbruch der 1960er Jahre, der sich mit Stichworten wie grafische und verbale Notation, Intermedialität, Performance, Konzeptualität, Politisierung und Institutionenkritik verbindet, ist zu einem Teil selbst von der Musik ausgegangen, hat aber deren Institutionen weitgehend unangetastet gelassen; im Hinblick auf ihre Medialität und auch die Explizitheit ihres Weltbezugs gab es eine Renormalisierung, die sicher etwas mit der Beharrungskraft der Institutionen und der in ihnen kultivierten Habitusformen zu tun hat. Entsprechend blieben strukturelle Komplexität und/oder erweiterte Klanglichkeit die Bereiche, auf die sich das Neue der Neuen Musik konzentrierte. Die Bandbreite dessen, was in den vergangenen Jahrzehnten mit traditionellen Mitteln produziert wurde, ist allerdings riesig: der strenge Serialismus der 1950er Jahre, Ligetis mikropolyphone Flächen, Xenakis’ Klangmassen, Feldmans extreme Verlangsamung, die Tonabstinenz von Lachenmanns musique concrète instrumentale, Rihms Wiedereroberung des Gestisch-Expressiven, Ferneyhoughs Ultrakomplexität, um nur einige der prominentesten Beispiele zu nennen.
Man muss dabei allerdings daran erinnern, dass wir es auch in Abwesenheit von Texten, visuellen Medien, politischen Programmen oder Ähnlichem mit einer medial mehrstelligen Praxis zu tun haben. Das Ideal oder die Idee der absoluten Musik, »daß Musik ein tönendes Phänomen und nichts sonst sei«,[24] die eng mit 249der oben beschriebenen Vorstellung von Musikalität als vollständig integrierter medialer Reinheit zusammenhängt, erscheint im 19.Jahrhundert in einer Situation, in der das System der medialen Differenz von Partitur und Aufführung, der sozialen Rollen von Komponist*innen, Interpret*innen und Rezipient*innen und der gesellschaftlichen Institutionen von Verlagen, Konzertsälen, Orchestern, Musikpresse et cetera etabliert war. Die Aufnahme- und Verbreitungstechnologie, die seit Anfang des 20.Jahrhunderts dazugekommen ist, hat dieses Feld nicht unverändert gelassen: Auf der einen Seite hat sie die Idee reiner Klanglichkeit durch die Möglichkeit kontextfreien Hörens eher noch befördert, auf der anderen hat sie in ihren radikalen Wandlungen neue Möglichkeiten geschaffen, mit denen künstlerisch umgegangen werden kann. Das Reinheitsideal, für das die bildende Kunst noch im 20.Jahrhundert von Kandinsky bis Greenberg auf die Musik blickte, hatte also eine mediale und institutionelle Konstellation zur Voraussetzung, die denkbar weit von ihm entfernt war und darauf angelegt zu sein schien, sich selbst unsichtbar zu machen.
Nun hat sich ein zwar nicht beherrschender, aber deutlich wahrnehmbarer Teil der gegenwärtigen Musikproduktion von der klassischen Medienkonstellation verabschiedet beziehungsweise ist bis zu einer Situation weitgehender medialer Offenheit über sie hinausgegangen. So spricht Stefan Prins in einer exemplarischen Selbstbeschreibung vom »komplexe[n], rhizomatische[n] Netzwerk von Beziehungen, das [er] zwischen und innerhalb all der verschiedenen Schichten oder Dimensionen angesiedelt sehen möchte, die eine Komposition bilden (das Konzeptuelle, das Philosophische, das Soziale, das Performative, das Szenographische, das Klangliche, das musikalische Material und die musikalische Struktur…)«.[25] In dieser Situation transformiert sich auch das Verständnis der eigenen Genealogie, und Jennifer Walshe schreibt zur Erläuterung ihrer multimedialen, mit dem Körper der Performerin rechnenden »Neuen Disziplin«, diese setze »Dada, Fluxus, Situationismus etc. […] selbstverständlich voraus«.[26] Die Gegenwart der Musik kann 250dann nicht mehr ausschließlich von der Musikgeschichte verstanden werden. Einer der wesentlichen Unterschiede zur Situation der 1960er Jahre liegt sicherlich in den unter dem Stichwort der Digitalisierung verhandelten Veränderungen, die Medialität, Produktion, Distribution und Rezeption gleichzeitig betreffen und die sich gegenseitig stabilisierenden Instanzen von Musikbegriff, Diskurs und Institutionen unter Druck setzen.[27]
Auch wenn heute ein großer Teil der zeitgenössischen Kunstmusik weiterhin in Partituren niedergelegt und von Ensembles gespielt wird, sind die von Prins genannten Dimensionen bis hin zum vollständigen Verzicht auf Klanglichkeit so verbreitet, dass sie zur medialen Grundausstattung der Neuen Musik gerechnet werden müssen. Wenn aber nicht einmal mehr das Vorliegen strukturierter Klanglichkeit als notwendige Bedingung angesehen wird, weil etwa »eine Performance an einem nackten Körper, rhythmisiertes Licht, ein im Loop laufendes Video mit aufwendig produzierten Vorgängen, die klingen, aber keiner Dramaturgie folgen«,[28] im Kontext der Musik auftauchen oder sich umgekehrt Musik oder auch nicht unmittelbar als Musik identifizierbare, aber von Komponist*innen produzierte Arbeiten im Museum finden, stellt sich die Frage ihrer künstlerischen Identität und ihrer Abgrenzung zu anderen künstlerischen Disziplinen auf ganz neue Weise.
Theoretiker*innen und Komponist*innen sind sehr verschieden damit umgegangen. Während zum Beispiel Kreidler die Kategorisierung seiner Praxis als Musik und seiner selbst als Komponist mittlerweile zurückweist, indem er institutionelle Zuordnungen, die sich aus der Beharrlichkeit von Institutionen und Formen der 251Ausbildung und Präsentation ergeben, als überholte und Produktivität hemmende Grenzziehungen begreift (und er doch Professor für Komposition ist), fordert Walshe für die »Neue Disziplin« offensiv, Musik und nicht etwa Musiktheater oder irgendetwas anderes zu sein, weil letztlich »jede Musik Musiktheater ist«,[29] nämlich eine multimediale performative Aktivität realer Körper.
Auf der theoretischen Ebene hat Seth Kim-Cohen ähnlich wie Kreidler eine Abkehr von der Musik hin zu einer »non-cochlear sonic art« gefordert, wie er es in Anlehnung an Marcel Duchamps »nicht-retinale Kunst« nennt – eine Kunst, die zwar ihren Anker im Klanglichen hat, aber statt auf das Ästhetisch-Strukturelle auf konzeptuelle Klarheit und Offenheit zur gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Situation setzt.[30] Demgegenüber hat Douglas Barrett gerade diesen Anker in Frage gestellt, dafür aber an einem Begriff von Musik festgehalten, der all das umfasst, was an die komplizierte mediale und institutionelle Tradition der Kunstmusik anschließt und gleichzeitig jene Offenheit kultiviert – Musikalität in Friedmans Sinne also. Von hier aus kann er auch John Baldessaris Baldessari Sings LeWitt, eine Videoarbeit, in der Baldessari LeWitts Sentences on Conceptual Art etwas ungelenk auf bekannte Melodien singt, als Musikstück und nicht etwa als »meta-conceptual exercise« begreifen.[31]
Die Frage, auf welcher Ebene dann nach einer Einheit der Musik als Kunst zu suchen wäre, ist damit aber nicht wirklich geklärt. Die post-medium condition, die für die bildende Kunst seit langem konstatiert wird, ist für die Musik eine prekäre Angelegenheit, da ihr Begriff damit auf ganz andere Weise zur Disposition steht als derjenige der bildenden Kunst, der mittlerweile institutionell und diskursiv und gerade nicht medial bestimmt ist. Eine rein institutionelle Bestimmung – etwa »alles, was von an Musikhochschulen ausgebildeten Menschen produziert wird und/oder auf Musikfestivals erscheint, ist Musik« – wäre offenbar unbefriedigend. 252Man könnte mit einem der im zweiten Abschnitt unterschiedenen Begriffe von Musikalität argumentieren und auf rhythmisch artikulierte zeitliche Formverläufe setzen, von denen aus auch Lichtinstallationen als musikalisch gelten können, oder im Gegensatz dazu auf die mediale Konstellation von Partitur, Aufführung und Aufnahme. Oder man gibt den Musikbegriff für die zeitgenössische Produktion ganz auf und fordert konsequenterweise eine Auflösung oder einen grundlegenden Umbau ihrer Institutionen, vielleicht auch, um endlich Anschluss an die gesellschaftlich, diskursiv und finanziell hegemoniale bildende Kunst zu finden. Auch wenn man dann noch von Musikalität als Dimension mancher künstlerischen Arbeit sprechen mag, wäre damit das Ende der Musik als eigenständiger Kunst besiegelt. Die Frage wäre, was dann mit dem Teil der zeitgenössischen musikalischen Praxis geschähe, der sich dem nicht fügt.
Überdies erscheint mir als grundlegendes Missverständnis, dass die konkrete Verortung künstlerischer Arbeit keine Rolle mehr spielen würde – die Traditionen, in die sie sich stellt und an denen (und gegen die) sie arbeitet, und damit verbunden die Frage, als was sie aufgefasst werden, welchen Kriterien sie sich unterwerfen will.[32] Von daher wäre auch auf den spezifischen Ort des Topos des Postmedialen hinzuweisen, der in der bildenden Kunst mit Bezug auf Greenbergs rigiden Begriff von Medienspezifität gebildet worden ist. Multi- oder intermediale Praktiken könnten dann auch von der Musik her oder im Kontext der Musik beschrieben werden, ohne sie unbedingt als Musik auffassen zu müssen und damit einen zunehmend diffusen Musikbegriff zu propagieren, der allmählich den Anschluss an die Praxis außerhalb des Bereichs der Kunstmusik verliert. Die theoretische Herausforderung scheint mir darin zu bestehen, neue Beschreibungsformen zu finden, die den sich verschiebenden Situierungen und Kategorisierungen künstlerischer Praxis Rechnung trägt, ohne die Situierung als solche aus dem Blick zu verlieren.[33]
Es ist richtig, dass diese Diskussion mit der zeitgenössischen Kunstmusik nur einen kleinen Bereich der gegenwärtigen Musikproduktion betrifft. Das bedeutet aber nicht, dass der Musikbegriff dort, wo er nicht ausdrücklich reflektiert und bearbeitet wird, in jedem Fall unproblematisch wäre. So ist Tobias Janz’ treffende Beobachtung, dass wir es »mit der Komplementarität einer zeitgenössischen Kunst zu tun haben, die gegenwärtig nicht mehr Musik sein will, und einer Musik, die nicht mehr (nur) Kunst sein will«,[34] nicht zu verstehen. Musik, die nicht Kunst sein will, ist zuallererst die alles dominierende Popmusik in einem weiten Sinne. So unterschiedlich sie ist, von Squarepusher bis Beyoncé, von Sunn O))) bis Adele, so wenig kann man pauschal sagen, dass in ihr im gleichen Sinne wie in der Neuen Musik der Musikbegriff als solcher zur Disposition steht. Nur: Popmusik ist ebenfalls bereits eine multimediale Konstellation, laut Diederichsen »der Zusammenhang aus Bildern, Performances, (meist populärer) Musik, Texten und an reale Personen geknüpfte[n] Erzählungen«.[35] Insofern das so ist und jener Zusammenhang neu geknüpft, verschoben, um neue Instanzen erweitert oder verengt wird, kann man durchaus von einer Arbeit am Musikbegriff sprechen. Aber die offene Frage ist hier in der Tat eine andere, nämlich nicht, ob die betreffende Praxis Musik ist, sondern ob sie Kunst ist.
Die Frage, ob Popmusik nicht Kunst sein will, sein kann oder schlicht nicht ist, ist nicht ganz einfach und kann sicher nicht für die ganze Bandbreite popmusikalischer Produktion gleich beantwortet werden. Vielem wird man gerade nicht gerecht, wenn man es als Kunst behandelt, weil es auf andere Formen der Aneignung, 254der Nutzung und des Umgangs angelegt ist und anderes im Mittelpunkt steht. Im Hinblick auf eine bestimmte Spielart des reflexiven Umgangs mit der popmusikalischen Matrix leitet Diederichsen daraus eine kategorische, nicht unproblematische Position ab: »Sie dekonstruiert und diskutiert die Posen, aber sie nimmt sie nicht ein. Ganz großartig, aber keine Popmusik.«[36] Demzufolge wäre eine reflexiv-dekonstruierende Haltung zur eigenen Produktion unvereinbar damit, selbst Popmusik zu sein, Pop also per definitionem nicht Kunst.
Ralf von Appen argumentiert anders, wenn er dazu auffordert, bestimmte Popmusik als Kunst zu hören und ihr eine musikwissenschaftliche Analyse angedeihen zu lassen.[37] Dass er damit die Frage nach dem Kunstcharakter wieder auf die rein klanglich-strukturelle Ebene verlagert und Multi- oder Intermedialität ausblendet, überzeugt mich so wenig wie die Wahl des Beispiels, aber der Grundansatz ist höchst produktiv: Er fragt nicht, ob Pop Kunst ist, sondern schlägt vor, sie als Kunst aufzufassen, sie also an die Diskurse der Kunstwelt anzuschließen, um ein bestimmtes Potenzial zu entdecken. Um den Typ Erfahrung zu entbinden, der den Kunstcharakter kultureller Artefakte aufscheinen lässt, bedarf es einer entsprechenden (Um-)Rahmung. In manchen Fällen führt dieser Versuch zu nichts, in anderen eröffnet er einen neuen Raum, indem er sie quasi neu situiert und auch Fragen bezüglich des Kunstbegriffs selbst aufwirft: Wie müssen wir Kunst(-musik) denken, wenn dies hier darunterfällt?
In der englischsprachigen Diskussion stellt sich das Problem insofern anders, als der Begriff art hier nicht die ganze Last trägt, da er deutlich breiter ist. Unterschieden wird nach high und low, was zwar das Problem nicht aus der Welt schafft und als offen klassistische Kategorisierung seine eigenen Schwierigkeiten hat, aber nicht immer nach dem Übergang in eine ganz andere Kategorie fragen muss. Entsprechend anders formuliert Simon Frith das Problem: 255»Der utopische Impuls, die Negation des Alltagslebens, der ästhetische Impuls, den Adorno in der hohen Kunst verzeichnet hat, muss auch Teil der niedrigen Kunst sein.«[38] Um dies plausibel zu machen, richtet er seine Aufmerksamkeit mindestens ebenso sehr auf musikalische Praktiken – der Produktion, der Rezeption und des Umgangs – wie auf Strukturen. Beide Vorschläge, so verschieden ihre Strategien sein mögen, erscheinen mir plausibel, weil sie die Frage nach dem Erfahrungspotenzial der Gegenstände mit derjenigen der diskursiven und institutionellen Rahmung verbinden.
Im Falle des Jazz liegt die Sache etwas anders, weil die Diskussion sich hier in der Regel auf die Gattung bezieht und es viel mehr um Fragen von Status und Anerkennung geht. So entscheidet sich Daniel Martin Feige, Jazz als Ganzen als eigenständige Form künstlerischer Musik zu betrachten, im Hinblick auf seine eigene Logik zu untersuchen und zur Kunstmusik in Beziehung zu setzen.[39] So plausibel dieses Vorgehen ist, so schwierig ist die Kategorie als solche: Ist Jazz eine Musikrichtung, ein Stil, ein Genre, eine Haltung? Was gehört dazu und was nicht? Koppelt man dies mit dem Kunstbegriff, potenzieren sich die Probleme: War auch King Oliver schon Kunst? Waren es Scott Joplins Ragtimes? Oder erst seine Opern? Und ist George Bensons Breezin’ noch Kunst? Weniger Probleme scheinen formal anspruchsvolle Stücke wie Charles Mingus’ posthum vollendetes Epitaph zu machen, auch wenn derartige Versuche von der Neuen Musik mit besonderem Argwohn betrachtet werden. In jedem Fall kommt man nicht um Entscheidungen und Ausschließungen herum, um einen Begriff von Jazz als Kunstmusik entwickeln zu können.
Man kann Feiges Vorgehen aber auch anders beschreiben, nämlich ähnlich wie von Appens Manöver: Wenn wir Jazz als künstlerische Musik beschreiben, was ist dann seine spezifische Weise, künstlerisch zu sein? Nahegelegt wird dieses Manöver nicht nur dadurch, dass das ästhetische Potenzial der Stücke offensichtlich groß ist, sondern auch aus dem Grund, dass Jazz seit Jahrzehnten von vielen so behandelt wird, auch wenn Produktionsbedingungen und Rezeptionskanäle in großen Teilen andere sind als die der Kunstmusik im engeren Sinne. Die schließt auch Zwischenformen 256wie Third Stream oder die europäische Spielart der frei improvisierten Musik ein, deren Selbstverständnis offenbar ein anderes ist als das des klassischen Jazz. Institutionell und diskursiv hängt Jazz weiterhin zwischen künstlerischer und populärer Musik. Wenn man ihn als Kunst hört und beschreibt, arbeitet man diskursiv an seiner Situierung als Kunst mit und in eins damit auch am Begriff der Kunstmusik selbst.
Interessanterweise kann ein guter Teil der Neuen Musik mit der eminenten Musikalität des Jazz, die Feige mit den Begriffen Improvisation, Interaktion und Intensität beschreibt,[40] eher weniger anfangen als mit den reflexiven Posen und der offensichtlichen Konzeptualität vieler Popmusik, auch wenn deren angebliche oder tatsächliche strukturelle Schlichtheit ein Problem für ein Selbstverständnis darstellt, das bei aller Kenntnisnahme der Entwicklung in den bildenden und performativen Künsten und Einbeziehung anderer Medien immer noch auf die Produktion von Komplexität festgelegt ist. Man hat den Eindruck, dass hier drei Dimensionen des Musikmachens auseinanderfallen und vor allem aus der Perspektive der Neuen Musik auf sie selbst sowie auf Jazz und Pop verteilt werden: Denken, Spielen, Inszenieren. Sie alle haben Negativformen, die man vielleicht als leerlaufende Gesten von Reflexivität, künstlerisch uninteressantes Muckertum und hohle Maskerade beschreiben könnte und die gern den jeweils anderen Spielarten entgegengehalten werden. Die Neue Musik hat, muss man wohl sagen, mit dem Spielen gerade dann ein grundsätzliches Problem, wenn es nicht als historische, sondern als zeitgenössische Praxis auftritt. Es fällt schwer, hier nicht auch eine Form des Eurozentrismus zu sehen, die offenbar noch schwerer zu überwinden ist als der hochkulturelle Elitarismus.
Offensichtlich kommt man bei alldem mit einem Kunstbegriff nicht weiter, der sich ungebrochen an westlicher Hochkultur orientiert. Nimmt man allgemeinere, daraus abgeleitete Kriterien wie Differenziertheit, Reflektiertheit und Interpretationsoffenheit oder auch existenzielle Bedeutsamkeit und Intensität, so lassen diese sich auf zahllose musikalische Beispiele außerhalb jenes Bereichs anwenden, von denen hier Pop und Jazz eher exemplarisch als ab257schließend angesprochen wurden – von außerwestlicher Musik, die ganz ausgespart wurde, einmal abgesehen.[41] Mit Danto kann aber daran erinnert werden, dass der Kunstbegriff nicht nur etwas mit der Beschaffenheit von Artefakten und Praktiken zu tun hat, sondern auch mit historischen Bezügen und diskursiven Verortungen, dass er also selbst situiert ist. Ihn schlicht als Wertbegriff zu verstehen, erscheint mir als falsche Universalisierung, sosehr sich mit ihr auch ein Plädoyer für historische und kulturelle Offenheit verbindet. So sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass die Charakterisierung einer Praxis als Kunst durchaus nicht immer als Ehrung oder Aufwertung aufgefasst wird, sondern unter Umständen auch als Entschärfung oder ganz allgemein als Prokrustesbett.[42]
Es ist aber bedeutsam, dass sowohl die Frage nach dem Kunstcharakter bestimmter Musik als auch die nach dem Musikcharakter bestimmter Kunst fortwährend gestellt wird, dass also das Feld der Musik als Kunst durchaus nicht klar umrissen, sondern zerklüftet und umkämpft ist. Was für die Diskussion eine wirkliche Herausforderung darstellt, ist der Verdacht, im Bereich der Popmusik könnte sich das eigentlich Zeitgenössische finden: eine Musik, die in der Gegenwart verwurzelt ist und auf sie reagiert, sie reflektiert und mitgestaltet, die international ist, deren gesellschaftliche und politische Wirkung weit über diejenige der Kunstmusik hinausgeht und die auch für die bildende Kunst eher als die Neue Musik die Referenz bildet. Dass sie all dies in der Regel gänzlich unbekümmert um ihren künstlerischen Status tut oder es, noch stärker, gerade deswegen tun kann, weil sie nicht als Kunst rezipiert wird und es auch nicht werden will, kann die Diskussion um Musik als Kunst unter Künsten nicht unbeeinträchtigt lassen.[43]