In der Philosophie der Künste kommt der Literatur nicht selten eine Sonderrolle zu. So bezeichnet etwa Hegel die Poesie als die »allgemeine Kunst«, die nicht, wie ihre Schwesterkünste, auf bestimmte Kunstformen und auf den Ausdruck besonderer Gehalte beschränkt ist, sondern sich über alle Formen und über die gesamte geschichtliche Entwicklung der Kunst hinweg erstreckt.[1]  Und auch für Heidegger, dem zufolge die Werke aller Künste in einem besonderen Sinne ›Dichtung‹ sind, insofern sie alle poetisch im Sinne von welterschaffend sind, haben die sprachlichen Kunstwerke »eine ausgezeichnete Stellung im Ganzen der Künste«.[2]  In beiden Ansätzen ergibt sich die besondere Rolle der Literatur, so lässt sich sagen, aus der Tatsache, dass sie die Kunst ist, die Sprache zum Medium hat. Und insofern es Sprache ist, die unsere Welt in einer grundlegenden Weise erschließt und all ihre historischen, sozialen, politischen und wissenschaftlichen Konstellationen durchdringt und prägt, liegt der Gedanke nahe, dass die Literatur als die Kunst der Sprache in einer besonders grundlegenden oder umfassenden Weise mit den verschiedenen menschlichen Verständnissen und Praktiken verbunden ist und daher für unser In-der-Welt-Sein insgesamt besonders signifikant ist.[3] 

Dem Gedanken, dass die Literatur in bestimmten Hinsichten besonders ist, weil sie die Kunst ist, die mit der nichtartistischen 259Sprache auf spezifische Weise in Verbindung steht, sie zu ihrem Ausgangspunkt und Medium nimmt, soll im Folgenden ein Stück weit nachgegangen werden. Dabei liegt es mir allerdings fern, einer hierarchischen Ordnung der Künste das Wort zu reden. Die Literatur steht mit den anderen Künsten in einem dynamischen Austausch und in spannungsvollen Verhältnissen; sie ist ihnen dabei nicht überlegen beziehungsweise nicht ursprünglicher und grundlegender als diese.

Die Literatur ist ein komplexer Bereich mit vielen unterschiedlichen Formen, Traditionen und Potenzialen. Ich möchte im Folgenden Schlaglichter auf einige wichtige Aspekte der Literatur werfen, um zu verdeutlichen, wie die verschiedenen literarischen Gattungen und Genres als ›Künste der Sprache‹ zu verstehen sind und in welchem Verhältnis sie dabei zu den anderen Künsten stehen. Dabei gehe ich in drei Schritten vor: Zunächst wird thematisiert, was als das Medium der literarischen Künste zu betrachten ist und welche Besonderheiten sich daraus ergeben, dass sie in und mit Sprache arbeiten. Danach wird betrachtet, wie sich sprachliche Kunstwerke von den Äußerungen alltäglicher und kommunikativer Sprachpraktiken unterscheiden und welche Funktionen literarische Künste in Bezug auf unsere Praktiken besitzen können. Im dritten Teil sollen sowohl die interne Differenziertheit und Dynamik der verschiedenen literarischen Gattungen und Genres als auch die Differenzen und Beziehungen der literarischen Künste zu und mit den anderen Künsten in den Blick genommen werden.

1. Literatur als Kunst der Sprache

(a) Sprachliche Praktiken als Gegenstand und Medium der Literatur

Das Medium beziehungsweise das Material der Literatur ist Sprache. Dies muss in einem weiten Sinn verstanden werden. Denn das Medium der Literatur besteht nicht nur aus den semantischen Gehalten der Begriffe, nicht nur aus den Propositionen, die mit ihr ausgedrückt werden können, und auch nicht nur aus den klanglichen und rhythmischen Qualitäten der Wörter (auch wenn diese Aspekte zweifelsohne zum Medium der Literatur gehören). Das Medium der Literatur ist die Sprache mit all ihren semantischen, 260grammatischen, performativen, expressiven und ästhetischen Eigenschaften, wie sie sich als lebendige Sprache in einer Sprachgemeinschaft findet; man kann auch sagen, es sind die Sprachpraktiken, in die wir als sprechende und schreibende Wesen involviert sind, die das Medium der Literatur darstellen.

Diese Sicht lässt sich beispielsweise mit Bezug auf Alva Noës Vorschlag erläutern, die Künste als Praktiken zweiter Stufe zu betrachten, die sich reflexiv, explikativ und rekonfigurierend mit den Praktiken erster Stufe auseinandersetzen; mit den vielen unterschiedlichen Praktiken also, die uns als menschliche und kulturelle Wesen auszeichnen und die unsere Identität, unsere Möglichkeiten und unsere Perspektive prägen. Gegenstand und Medium der Literatur wären dann die jeweils vorfindlichen Formen und Traditionen des Sprechens und Schreibens, die die lebensweltliche Praxis einer Sprachgemeinschaft bestimmen.[4]  Die Aspekte und Formen, an denen Literatur ansetzt, sind dabei so vielfältig wie die unterschiedlichen und ausdifferenzierten Praktiken unseres Sprechens und Schreibens selbst. Es kann der Literatur genauso um die Angemessenheit der Bezeichnung und Benennung der Dinge unserer Welt gehen wie um die ›Körperkraft‹ der Sprache, also ihre musikalischen, erotischen oder auch gewalthaften Aspekte.[5]  Es kann um Formen der Beschreibung genauso gehen wie um Folgerungsbeziehungen, um Expressionen sowie das ganze Spektrum performativer Sprechakte, um das Erzählen von Geschichten oder um moralische, ethische und ästhetische Wertungen und Urteile. In diesem weiten Sinn verstanden, gehören auch die Orientierungen, Erwartungen, Sensibilisierungen und Verständnisse der in die Praktiken des Sprechens und Schreibens Involvierten mit zum Medium und Material der Literatur.

261All die genannten Aspekte, die für uns als Sprechende und Schreibende bedeutsam sind, wurden und werden in und durch Literatur aufgenommen und ›bearbeitet‹, und das kann heißen: thematisiert, reflektiert, kritisiert oder transformiert. Dabei sind nicht alle Aspekte in jedem Werk und jeder Spielart der Literatur gleichermaßen bedeutsam; es gibt hier verschiedene Schwerpunktsetzungen: Die narrative Form ist beispielsweise vorderhand in der erzählenden Prosa zentraler und die klanglichen und expressiven Potenziale der Sprache werden eher in der Lyrik betont. Diese Schwerpunktsetzungen sind aber nicht verbindlich festgelegt: Was in einem einzelnen Werk wichtig und signifikant ist, entscheidet sich an diesem Werk selbst und ist nicht durch das Genre oder die Gattung, zu der es zählt, determiniert.

(b) Sprachgemeinschaft und Übersetzung

Da die Literatur die Kunst der Sprache ist, ist sie durch eine besondere Partikularität gekennzeichnet, denn Literatur vollzieht sich stets im Medium einer Einzelsprache. Sie richtet sich damit (zunächst) an eine besondere Sprachgemeinschaft und ihre Tradition und wirkt in diese hinein. Sprachliche Kunstwerke sind in dem Kontext einer solchen Sprache beheimatet, die den Hintergrund bildet, vor dem sie verständlich werden können. Auch wenn die Werke der Literatur nicht einfach als Sprechakte oder kommunikative Vollzüge in der alltäglichen, kommunikativen Praxis zu verstehen sind, sondern diese überschreiten,[6]  so sind sie doch (zunächst) nur von den Personen zu rezipieren, die diese Sprache sprechen und Teil dieser Kommunikationspraxis sind.

Literatur spricht die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft an;[7]  262und sie fordert diese Mitglieder auf eine besondere Weise heraus.[8]  Man könnte auch sagen: Nur die Mitglieder der jeweiligen Sprachgemeinschaft bringen die Voraussetzungen mit, die besonderen ästhetischen Erfahrungen zu machen und an der reflexiven Praxis teilzuhaben, die die literarischen Werke ermöglichen.[9]  Diese spezifische Partikularität in Bezug auf die (zunächst) adressierten Rezipierenden ist ein Merkmal, das die Gattungen der Literatur von anderen Künsten wie der Malerei oder der Musik unterscheidet, deren Werke für ein Publikum zugänglich und lesbar sind, das nicht durch die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft begrenzt ist.[10] 

Aufgrund dieser Verwurzelung in einer bestimmten Einzelsprache und Sprachgemeinschaft weist die Literatur, was ihre ontologische Verfasstheit betrifft, eine Besonderheit gegenüber den anderen Künsten auf. Sie setzt die für sie spezifische Dynamik der Übersetzungen in andere Sprachen und Sprachgemeinschaften in Gang, die strukturelle Verwandtschaft mit der Dynamik von Interpretationen einerseits und der Dynamik von Aufführungen andererseits aufweist, sich aber doch von beiden unterscheidet.

Interpretationen: Es ist wesentlich für Werke der Kunst, dass sie rezipiert, nachvollzogen und interpretiert werden. Die verschiedenen Erfahrungen und Verständnisse, zu denen sie Anlass geben, die verschiedenen Perspektiven, aus denen sie wahrgenommen werden, sowie der Diskurs und die Aushandlungs- und Abwägungsprozesse, die damit verbunden sind, sind notwendig für die Erschließung der Gehalte und Wirkungspotenziale eines Werks und damit für 263seine Identität und seine historische Entfaltung. Gadamer hat diese Dimension als Wirkungsgeschichte bezeichnet. Die interpretative Dynamik, die das Kunstwerk aus sich heraus um sich erzeugt, ist für das ›Leben‹ des Werks unabdingbar. Dennoch würden die Äußerungen und Texte, in denen sich die Erfahrungen, Deutungen und Wertungen manifestieren (Interpretation, Kommentar, Kritik, Urteil), nicht selbst als Vorkommnisse oder Teile des Werks gelten, sondern sie sind Äußerungen und Texte, die sich auf das jeweilige Werk beziehen und es zum Gegenstand haben, es sind Äußerungen und Texte über das jeweilige Werk.

Aufführungen: Anders verhält es sich bei den unterschiedlichen Aufführungen von – nach der Nomenklatur, die Nelson Goodman in Sprachen der Kunst anbietet – zweiphasigen Künsten.[11]  Die verschiedenen musikalischen Interpretationen einer Partitur oder die verschiedenen Inszenierungen eines Dramas auf der Bühne gehören dem Werk wesentlich zu. Auch wenn keine der Inszenierungen den Anspruch darauf erheben kann, die alleingültige oder abschließende Realisierung des Werks zu sein, so ist doch auch keine von ihnen nur eine partikulare Realisierung des Werks; alle sind, trotz ihrer Unterschiedlichkeit, jeweils vollgültige Realisierungen von ihm.[12]  Und das Werk ist auch nicht jenseits der Aufführungen in den Partituren und Dramentexten, quasi voll und rein, sondern eben noch gar nicht wirklich realisiert; es braucht die Aufführungen, um zu werden, was es ist. Das Werk einer zweiphasigen Kunstform existiert in der Varietät und Geschichte von Aufführungen, die auf seiner textualen und notationalen Basis entstehen.[13] 

Übersetzungen: Bei literarischen Übersetzungen haben wir es nun einerseits mit Realisierungen zu tun, bei denen es sich tatsächlich um das Werk selbst handelt und nicht nur um eine Interpretation oder einen Kommentar zum Werk – wenn ich Verbrechen und Strafe aus dem Regal nehme, habe ich tatsächlich ein Exemplar 264von Dostojewskis Roman in der Hand; andererseits sind Übersetzungen aber keine Realisierungen des Werks im vollsten Sinn – da es eben die Differenz zwischen Original und Übersetzung gibt, die es bei Inszenierungen und Aufführungen nicht in derselben Weise gibt. Die verschiedenen Übersetzungen in verschiedene Sprachen sind im Verhältnis zum Original der Ursprungssprache tatsächlich partikular und einseitig.[14]  Denn da es sich bei Literatur in vielen ihrer Gattungen wie Roman und Gedicht um einphasige Künste handelt, ist der Ausgangspunkt der Variationen der Übersetzungen selbst bereits das realisierte Werk – und nicht wie bei Dramentexten oder Partituren der zweiphasigen Künste nur ein Potenzial oder ein Keim, der noch auf die Realisierung durch die Aufführungen wartet.[15]  Übersetzungen literarischer Werke besitzen damit eine Art Zwitterstatus zwischen einer Realisierung und Instanziierung des Werks und einer Kommentierung und Deutung des Werks.

Die Wirkungsgeschichte und Wirkungssphäre von Literatur als Kunst der Sprache ist demnach unter anderem dadurch spezifisch, dass sie in Form der Übersetzungen eine besondere Sphäre von Perspektivierungen, Deutungen und Verständnissen um sich generiert und dass sie durch diese Übersetzungen Impulse in die verschiedenen Einzelsprachen hineingibt.

2. Die Praxis der Literatur und ihre Potenziale

(a) Literatur als Praxis

Insofern Literatur die Kunst der Sprache ist, welche sprachliche Praktiken als Medium und Gegenstand hat, ist eine Bestimmung dessen notwendig, was literarische Äußerungen und Texte als 265Kunst von solchen des alltäglichen Sprechens und Schreibens beziehungsweise von Sprachgebräuchen in anderen kulturellen und kommunikativen Kontexten unterscheidet.

Dabei kann zunächst festgehalten werden, dass der Versuch, spezifische formale Eigenschaften der Sprache zu benennen, ein wenig aussichtsreicher Weg der Bestimmung der Sprache der Literatur ist. Weder spezifische Kompositionsformen noch Eigenschaften wie Reim, Rhythmus oder rhetorische Figuren und ihre Häufigkeit sind Kriterien, mit denen sich Literatur von nichtliterarischem Sprachgebrauch unterscheiden lässt. Denn zum einen sind die Eigenschaften einer solchen formalen Bestimmung für das Vorliegen von Literatur nicht notwendig, da es literarische Texte gibt, bei denen sie nicht in besonderem Maße zu finden sind, zum anderen ist eine solche Bestimmung nicht hinreichend, da es auch in anderen kulturellen Kontexten – von Werbung bis Wissenschaft – nicht wenige Texte und Äußerungen gibt, in denen solche formalen Merkmale durchaus gehäuft Anwendung finden.

Sehr viel fruchtbarer ist es dagegen, die Äußerungen und Texte der Literatur als Elemente und Gegenstände einer besonderen Praxis zu begreifen.[16]  Eine sprachliche Äußerung zählt dann als Literatur, wenn sie (angemessenerweise) als eine Äußerung im Kontext der Praxis der Literatur verstanden wird. Und erst im Kontext dieser Praxis lässt sich dann sinnvoll bestimmen, welche Eigenschaften der Text (als literarischer Text) tatsächlich besitzt, in welchen Beziehungen die Formen und Elemente des Texts zueinander stehen und welche Bedeutung und Signifikanz ihnen zukommt.[17]  Die Literatur, als Praxis verstanden, umfasst besondere Weisen der Rezeption, der Aufmerksamkeit, des Nachvollzugs, der Deutung, 266der Wertschätzung und Bewertung, die sprachlichen Äußerungen außerhalb dieser Praxis nicht zukommen.

Dabei gewinnen die sprachlichen Äußerungen als Werke im Kontext dieser Praxis Eigenschaften, die sie außerhalb dieser Praxis nicht besitzen (würden). Insbesondere gewinnen Texte in ihrer Zugehörigkeit zur Praxis der Literatur die Eigenschaft der semantischen Feinkörnigkeit und individuellen Signifikanz, die dazu führt, dass dieser Text beziehungsweise dieses literarische Werk nicht ohne Verlust oder Veränderung übersetzt werden kann.[18]  Wobei dies nicht nur die Übersetzbarkeit in andere Sprachen betrifft, sondern ganz wesentlich auch die Übersetzbarkeit in derselben Sprache. Während die Gehalte und Sprechakte in der alltäglichen Sprache durch verschiedene Wörter oder grammatische Arrangements (zuweilen) ohne Bedeutungsveränderung ausgedrückt werden können, sind die sprachlichen Konfigurationen literarischer Texte in ihrer spezifischen Gestalt bedeutsam. Modifikationen von Wörtern oder Satzstellungen im Kontext der Praxis der Literatur gehen mit einer Änderung des Gehalts einher. Dabei können im Kontext dieser Praxis Eigenschaften eines Texts bedeutungstragend sein, die es außerhalb dieses Kontexts nicht sind: Konnotationen, Klang, Rhythmus, Interpunktion, Layout, intertextuelle Verweise sowie die komplexen Korrespondenzen zwischen all diesen semantischen, formalen und relationalen Eigenschaften des Texts. Erst durch den und in dem Kontext der Praxis der Literatur ist also die besondere Charakteristik und Bedeutungshaftigkeit der individuellen Werke gegeben.

Die für die Praxis charakteristischen Formen der Aufmerksamkeit und Deutung werden den Texten dabei nicht von außen oktroyiert, sondern diese sind an sich selbst bereits so verfasst, dass sie im Rahmen einer solchen Praxis angemessen und sinnvoll nachvollzogen und wertgeschätzt werden können, sie rechtfertigen sozusagen die besondere Aufmerksamkeit und den besonderen Umgang im Rahmen dieser Praxis, und sie tragen und stützen dadurch die ihnen entgegengebrachten Haltungen und Handlungen. Denn auch die Produktion von Werken – und nicht erst ihre Rezeption – ist bereits durch die Praxis dieser Kunst geprägt; auch die 267Produktion ist eine Dimension im Spiel dieser Praxis. Die Rolle eines*r Produzent*in im Rahmen der Praxis der Literatur einzunehmen, bedeutet, Texte zu schaffen, die den rezeptiven Haltungen und Handlungen entgegenkommen oder sie auf bestimmte Weisen herausfordern.

Eine Theorie, die Literatur als Praxis betrachtet, umfasst eine Fülle von produktionsästhetischen, werkästhetischen und rezeptionsästhetischen Aspekten und expliziert sie in ihrem Zusammenhang. Denn die Praxis der Literatur umfasst die bisher in der Tradition dieser Kunst realisierten Werke mit ihren Verfahren, Formen und Stoffen, die Reaktionen und die Interpretationen, die sich auf diese Werke beziehen, und die ästhetischen und formalen Fragen, Probleme und Herausforderungen, die sich aus der Tradition ergeben. Sie umfasst die Erwartungen der Rezipierenden genauso wie die Kenntnis dieser Erwartungen auf Seiten der Produzierenden, sie umfasst Fähigkeiten und Dispositionen wie besondere Sensibilität und Genauigkeit in Lektüre und Interpretation genauso wie Institutionen der (Aus-)Bildung, der Publikation und des diskursiven Austauschs. Dabei ist das jeweils gegebene Setting aus Institutionen, Kenntnissen, Erwartungen und Fähigkeiten wiederum etwas, was in den einzelnen Werken aufgenommen, adressiert oder irritiert werden kann. Werke können mit tradierten Formen und etablierten Erwartungen spielen, an sie anknüpfen oder sie durchkreuzen und transformieren.[19] 

Die Auseinandersetzungen mit literarischen Kunstwerken im Rahmen dieser Praxis können für uns bedeutsam sein, woraus sich der Wert der literarischen Kunstwerke und der Wert der Praxis der Literatur insgesamt ergibt. Die Erfahrungen, die wir mit Werken der Literatur machen, die Auseinandersetzungen, in die sie uns involvieren, können dabei sehr unterschiedlich sein. Die verschiedenen literaturtheoretischen Ansätze tendieren nun dazu, einzelne der vielfältigen Erfahrungsweisen, Funktionen und Quellen von Wert im Rahmen der Praxis herauszugreifen und als das, was Literatur insgesamt ausmacht, zu verallgemeinern; es ist zwar 268unbestreitbar, dass viele dieser Theorien ganz wesentliche Eigenarten und Potenziale der literarischen Kunst benennen; diese Verallgemeinerung und Vereinseitigung führt aber zu einer Reduktion und Begrenzung dessen, was in der Praxis der Literatur stattfindet.

(b) Funktionen der Literatur. Orientierung, Explizierung, Erweiterung, Kritik

Die Erscheinungsformen der Literatur und die Funktionen, die ihr zugeschrieben werden, sind vielfältig. Im Folgenden soll ein Schlaglicht auf diese Vielfalt geworfen werden, indem nachgezeichnet wird, wie Literatur unsere ethischen und wertenden Praktiken und Orientierungen aufgreift. Dies ist selbst bereits ein Ausschnitt aus einer umfassenderen Vielfalt, da Literatur auch epistemologische, ontologische, geschichtstheoretische und weitere eher theoretische Fragen und Aspekte aufgreifen kann, die unsere Praktiken prägen. Dass Literatur (in manchen ihrer Genres) in ausgezeichneter Weise mit der Thematisierung und Reflexion moralischer Orientierungen und intersubjektiver Beziehungen beschäftigt sein kann, liegt an besonderen Möglichkeiten, die in der narrativen Strukturierung (und im fiktionalen Potenzial) gründen, die zum Repertoire der Mittel der Literatur gehört. Romane, Erzählungen und Dramen präsentieren Welten und bevölkern diese mit Figuren, deren Geschichte und deren Handeln, deren Motivationen und Absichten, deren Beziehungen und Interaktionen sie schildert. Sie kann damit Perspektiven und Situationen aufzeigen und durchspielen, die für uns als handelnde Agent*innen in einer intersubjektiv geteilten Welt bedeutsam sind.

John Gibson sieht die Bedeutung der Literatur für unsere sittliche Welt, unsere Perspektive als Handelnde und unsere Wertorientierungen sogar als konstitutiv und grundlegend an.[20]  Die Geschichten und Situationen, die uns die Literatur präsentiert, bilden ein geteiltes Archiv mit ethischen und sozialen Paradigmen, in denen unsere moralische und intersubjektive Praxis gründet. Damit spielen die Darstellungen der Literatur im Verhältnis zu unserer sittlichen Praxis eine ähnliche Rolle, wie sie Wittgenstein in den 269Philosophischen Untersuchungen bezüglich des Urmeters in Paris für die Praxis des Messens bestimmt hat: Der Urmeter eröffnet die Möglichkeiten des Messens und des Vergleichens von Längen, und immer wenn wir etwas messen, beziehen wir uns implizit auf den Urmeter als paradigmatischen Bezugspunkt. In verwandter Weise ist Gibson zufolge die Literatur ein Fundus von Paradigmen der Möglichkeiten und Maßstäbe des Gelingens von Handlungen, Beziehungen und Lebenswegen. Hier finden wir Schilderungen von Liebe und Freundschaft, Treue und Verrat und von verschiedensten Formen von Erfolg und Scheitern. Dass wir uns in unserer Beurteilung von Handlungen und Beziehungen verstehen können, dass wir eine gemeinsame Basis haben (auf der wir dann auch in begründeter Weise uneins sein können), liegt daran, dass wir uns (implizit oder explizit) auf dieselben Plots und Szenen als maßgebliche Fälle beziehen. Der fiktionale Raum der Figuren, Beziehungen und Handlungen, der in und durch Literatur eröffnet wird, bildet demnach den Hintergrund unserer individuellen Wertorientierungen wie auch unserer geteilten sittlichen Praxis.

Eine maßgebliche Rolle für das ethische Leben schreiben auch solche Theorien der Literatur zu, die sie als Anwendungsfeld unserer Wertbegriffe und Prinzipien ansehen, die unser Verständnis ihrer erweitert und vertieft. In diesem Sinne setzt etwa Martha Nussbaum die Literatur den Texten der Moralphilosophie entgegen (beziehungsweise zur Seite). Während diese es mit allgemeinen ethischen Ideen und Begriffen zu tun hat, ermöglicht es jenen, diese in Konkretion anzuwenden und durchzuspielen.Dabei verbleibt Nussbaum nicht, wie es beispielsweise bei Noël Carroll der Fall ist, auf der vorrangig plotorientierten Ebene stehen, auf der die Geschichten der Literatur uns einfach eine Menge von fiktionalen Figuren und Handlungen bereitstellen, auf die wir die allgemeinen Prinzipien anwenden, die wir damit wertend durchspielen und konkretisieren können,[21]  sondern nach Nussbaum sind hier alle formalen, rhetorischen und perspektivierenden Mittel der Literatur von Bedeutung. Erst die Feinkörnigkeit der Sprache, der Reichtum literarischer Konnotationen und Bilder und die intrikate Konstellation von Perspektiven und Wertungen stellen die ethisch bedeut270samen Beziehungen, Haltungen und Handlungen so konkret und spezifisch dar, dass wir sie in ihrer Tragweite und Dringlichkeit verstehen können.[22] 

Was die Praxis der Literatur zu einer reflexiven Praxis macht, ist in Bezug auf die ethische Dimension beispielsweise, dass sie Aspekte aufzeigen und explizit machen kann, die für unser sittliches, intersubjektives Leben bedeutsam sind, ohne dass sie in den Vollzügen dieses Lebens in derselben Weise zugänglich sind. So ermöglicht es Literatur, auf diese Aspekte zu reflektieren und sich zu ihnen zu verhalten. Dies geschieht etwa in der nuancierten und feinkörnigen Beschreibung von Situationen, Relationen und Motivationen. Beispielsweise durch die Möglichkeiten der Repräsentation der Innensicht einer Figur kann Literatur individuelle Erfahrungen und subjektiv gefärbte und wertende Perspektiven auf die Welt präsentieren beziehungsweise verschiedene solcher Erfahrungen, Haltungen und Perspektivierungen in ihren komplexen, komplementären und konfligierenden Verhältnissen zueinander darstellen.[23] 

Obwohl Literatur in oben beschriebenem Sinne eine bedeutsame Rolle für die Reflexion unseres sittlichen Lebens und unsere Perspektive als Handelnde in einer intersubjektiv geteilten Welt spielt, wäre es ein Fehler, sie schlicht als eine Verlängerung des sittlichen Lebens zu begreifen, die etwa der Vermittlung und der Illustration geteilter Normen und Werte dient. Vielmehr ist es wichtig zu betonen, dass sie gegenüber unseren alltäglichen Praktiken einen Spielraum der Freiheit eröffnet, der es erlaubt, die ethischen, handlungsorientierten und intersubjektiven Aspekte unserer Lebenswelt zu reflektieren, zu distanzieren, zu irritieren, zu befragen und zu transformieren.[24]  Wo Literatur diesen Freiheitspielraum nicht ge271winnt und in der Rolle der Kommunikation und Illustration verbindlicher Regeln verbleibt, droht sie ihr Potenzial als Kunst zu verlieren und zu bloßer Propaganda, zu Gesinnungs- oder zu Ratgeberliteratur zu werden.

Einige Theorien der Literatur betonen diesen Freiheitsspielraum, indem sie ihr distanzierendes und transgressives Potenzial beschreiben. So hat etwa Georges Bataille in Die Literatur und das Böse Literatur auf die Aspekte und Kräfte hin untersucht, die Orientierungen der verbindlichen ethisch-moralischen Perspektiven unterlaufen.[25]  Die Werke der Literatur dienen in seinen Lektüren gerade nicht der Stabilisierung ethischer Orientierungen, sondern sie artikulieren Impulse und Triebe, die diese überschreiten. Hier drückt sich etwas aus, was der Logik einer geteilten, normenorientierten, produktiven und auf die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen gerichteten Praxis entgeht; was sich in Literatur zeigt, ist vielmehr radikal individualistisch, unverantwortlich, gegenwartsorientiert und (damit) irrational. Bezogen auf die herrschende Moral und die bestehende Praxis ist Literatur gefährlich und gewaltsam, sie ist revolutionär beziehungsweise mystisch, insofern sie einen Raum eröffnet, der die etablierten Ordnungen übersteigt.

Diese Perspektive auf Literatur steht in der Tradition Nietzsches, dem zufolge die künstlerische Sprache die bisherigen sprachlichen Ordnungen »zerschlägt, durcheinanderwirft und ironisch wieder zusammensetzt« und damit die Begrenzungen und Abgründe der gegebenen Praktiken aufzeigt und ein Experimentierfeld für Neues bildet.[26]  In dieser Tradition steht auch Adorno, wenn er davon ausgeht, dass sich in den Werken der Literatur etwas zeigen und artikulieren kann, das in den Strukturen und Zusammenhängen kommunikativer Sprache und gesellschaftlicher Praxis kein Gehör und keinen Platz findet. Literatur ist damit Hinweis auf, mit Adornos einschlägigem Begriff: Nichtidentisches, für das es in den gegebenen Lebensformen kein Sensorium und (noch) keinen Platz gibt. Literatur zeigt damit auf, dass etwas in unseren alltäglichen Praktiken (noch) nicht erkannt und anerkannt ist, und spielt Aus272drucksmittel durch, mit denen sich neue und andersartige Situationen, Haltungen und Ansprüche aussprechen und erfassen lassen. Sie besitzt aus diesem Grund ein welterschließendes Potenzial.[27] 

Die beiden Perspektiven der Konkretisierung ethischer und praktischer Orientierung einerseits und der Transgression andererseits schließen sich nicht aus, sondern sie sind, im Gegenteil, in ihrem komplementären und konfligierenden Zusammenhang zu erläutern. Beide benennen unterschiedliche Profile und Tendenzen, die jedoch alle in dem dynamischen Spielraum der Freiheit statthaben können, den die Literatur als Kunst eröffnet. Literarische Werke können Aspekte adressieren und explizieren und uns in Nachvollzüge und Erfahrungen involvieren, die uns in Bezug auf unsere alltäglichen Überzeugungen und Dispositionen orientieren oder irritieren, die uns einstimmen oder distanzieren, die unsere Verständnisse verfeinern oder alternative Perspektiven eröffnen.

Wichtig ist zu beachten, dass es sich bei der Thematisierung und dem Aufgreifen von Aspekten unserer alltäglichen Praktiken nicht um Vollzüge dieser Praktiken selbst handelt. Die Geschichten der Literatur unterscheiden sich von den biografischen und historischen Erzählungen unseres Alltags,[28]  die Artikulationen in literarischen Formen unterscheiden sich von expressiven Äußerungen der Personen in unserer Lebenswelt, und die Haltungen und Wertungen, die wir in literarischen Werken finden, sind keine, die in einem alltäglichen sozialen oder politischen Diskurs geäußert und geltend gemacht werden. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Form, ihres Gehalts und ihrer performativen Rolle, weil sie Werke sind, die für eine bestimmte künstlerische Praxis gemacht sind und in ihr ihre spezifische Identität und Signifikanz gewinnen.

Was Funktionen der Literatur sind, ist dabei nicht eindeutig und ein für alle Mal zu bestimmen. Wie Literatur wirkt, in welcher Weise sie uns involviert, was sie bewusst und erfahrbar macht, in273wieweit sie zu einem vertieften Verständnis oder einem Bruch und einer Neuorientierung führt, sind Fragen, die sich in Bezug auf die Gestaltung und die Erfahrungsmöglichkeiten einzelner Werke erweisen müssen und nur in Bezug auf diese erörtert werden können.

3. Die Künste der Literatur – die Literatur und die Künste

Um uns auf unterschiedliche Weise in Nachvollzüge und Erfahrungen zu involvieren und um ihre verschiedenen Wirkungen zu entfalten, machen sich die Werke der Literatur alle formalen, performativen und relationalen Eigenschaften und Möglichkeiten ihres Mediums zunutze, was zu einem großen Facettenreichtum artistischer Verfahren und Gestaltungsformen führt. Die Literatur arbeitet mit der Bedeutung der Sprache genauso wie mit ihrer Musikalität, mit der Bildhaftigkeit ihrer Metaphern und Beschreibungen genauso wie mit der grafischen Dimension ihrer Zeichen, sie entfaltet dramatische Geschichten genauso, wie sie die Stimmung und Signifikanz eines intensiven Augenblicks kristallisiert. Damit eröffnet sich bereits im Feld der Literatur eine Art interartistischer Dynamik, die man mit Albrecht Wellmer als ihre »latente Intermedialität« bezeichnen kann,[29]  in der die klanglichen, rhythmischen, bildlichen, semantischen und narrativen Aspekte auf unterschiedliche Weise akzentuiert werden und in verschiedene Konstellationen treten. Dieser Facettenreichtum realisiert sich in den verschiedenen Gattungen der Literatur, wobei sich die klassische und grobe Unterteilung in Epik, Dramatik und Lyrik wiederum in ein Spektrum an Untergattungen und Subgenres auffächert. Dabei sind alle diese Formen im vollen Sinne als Literatur zu verstehen: das Lautgedicht des Dada nicht weniger als ein klassisches Drama, die Miniatur eines Haikus nicht weniger als ein Romanzyklus, die Gestaltungen konkreter Poesie nicht weniger als ein Versepos.

In der Dynamik der verschiedenen ›Künste der Literatur‹ wird damit stets auch ausgetestet und ausgehandelt, was Literatur ist, welches ihre Formen und Verfahren sind, was sie ermöglicht und wo ihre Grenzen liegen.[30]  Eine verbindliche und abschließende 274Antwort, wie sie zum Beispiel Lessing im Laokoon versucht, ist auf diese Fragen nicht zu erwarten, denn was die ›richtigen‹ Verfahren und Themen der Literatur sind und welches die verbindlichen Maßstäbe ihres Gelingens, lässt sich aus keinem gegebenen Faktum – wie etwa der Art der Zeichen, mit der Literatur operiert – extrapolieren.[31]  Diese Fragen lassen sich nur mit Bezug auf die einzelnen Werke innerhalb des Rahmens der lebendigen und zukunftsoffenen Praxis der Literatur beantworten, und die jeweiligen Antworten können in diesem Rahmen stets wieder neu herausgefordert werden. Dass Antworten auf die Möglichkeiten, Grenzen und Maßstäbe nicht fixiert werden können, sondern immer vorläufig oder einseitig sind, zeigt sich retrospektiv an der literaturgeschichtlichen Entwicklung mit den Veränderungen der Genres, Stile und Beurteilungen. Dabei manifestiert sich in der Vielfalt der Genres mit der Unterschiedlichkeit ihrer ›latent intermedialen‹ Konstellationen die Vielfältigkeit dessen, was Literatur insgesamt ist und sein kann.

Eine korrespondierende Dynamik findet sich auch auf der Ebene der Künste, auf der die intermedialen Konstellationen und die interartistischen Verhältnisse in manifester Form hervortreten. Denn was die Künste der Literatur und ihre Potenziale und Grenzen sind, lässt sich nur ermessen, wenn man sie im Verhältnis zu den Potenzialen und Beschränkungen der anderen Künste betrachtet; dies allerdings wiederum nicht statisch und apodiktisch, wie Lessings Erörterung der Literatur gegenüber der Malerei, sondern in Anbetracht der dynamischen Verhältnisse, in denen sich die Künste befinden. Diese Dynamik lässt sich mit einem Bild von Albrecht Wellmer folgendermaßen beschreiben: »Es ist, als ob jede an ein bestimmtes Medium gebundene ästhetische Konfiguration einen Hohlraum in sich enthielte, gleichsam eine innerhalb dieses Mediums nicht mehr artikulierbare Sinnschicht, die sich nur durch das Hinzutreten eines anderen Mediums ans Licht bringen und artikulieren ließe.«[32] 

Man muss also die Verhältnisse zu den anderen Künsten mit in 275den Blick nehmen, um zu ermessen, was die Potenziale und Grenzen der jeweils einen Kunst sind. Diese Verhältnisse sind wiederum nicht einfach, sondern komplex und vielfältig, und sie können auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sein. Deutlich zeigen sich diese Verhältnisse an Werken, in denen die Künste auf die eine oder andere Weise in Beziehung zueinander gesetzt sind. Das Spektrum reicht hier von ›entfernteren‹ Beeinflussungen wie die Applikation von Struktur- und Kompositionsprinzipien, die ursprünglich in einer anderen Kunst beheimatet sind, oder intertextuellen Bezügen und Verweisen, über Übertragungen wie in Literaturverfilmungen oder der Ekphrasis bis hin zu tatsächlich intermedialen oder hybriden Kunstwerken, in denen künstlerische Sprache mit anderen Medien und artistischen Verfahren in einem Werk zusammenkommt (wie zum Beispiel Musik und Lyrik im Lied).[33]  Dabei können diese Elemente und Verfahren in unterschiedliche Beziehungen treten, sie können harmonieren und sich ergänzen, aber auch in Reibung miteinander stehen.

Die Komplexität solcher Konstellationen lässt sich beispielsweise an Gemälden illustrieren, in denen Schrift und Bild zusammentreten, wie etwa Escargot, femme, fleur, étoile von Joan Miró oder La trahison des images von René Magritte.[34]  Der Kontext der Malerei verstärkt und expliziert die grafischen Eigenschaften der Schrift und stellt so einen ihrer oft übersehenen Bedeutungsaspekte heraus; indem das Gemälde diesen nichtarbiträren Aspekt der Schrift betont, greift es aber gleichzeitig ihre semantisch-grammatische Logik an und droht sich die Schrift gleichsam vollständig anzueignen und sie zu einem rein grafisch-kompositorischen Element aus Linie und Farbe unter den anderen zu machen. In dieser Konstellation ergänzen und stützen sich also die Medien in Bezug auf bestimmte Aspekte, sie markieren aber auch deutlich ihre jeweiligen Grenzen und Differenzen, und sie überschreiten diese Grenzen wiederum, indem das Werk als Ganzes einen komplexen Reflexions- und Erfahrungsraum eröffnet, der sich mit den Mitteln eines der Medien allein nicht herstellen ließe.

276Die oben genannten Interaktionen erlauben einen Blick auf die Potenziale und Grenzen der einzelnen Künste und Medien, sie verändern aber auch die Konstellation der Künste, indem sie die Grenzen verschieben und neue Potenziale erschließen können, denn die intermediale Beeinflussung durch und das Zusammentreten von Elementen, Inhalten und Kompositionsprinzipien lässt diese nicht unverwandelt, sondern wirkt erweiternd und verändernd auf sie zurück.

Um zu ermessen, was Literatur als Kunst ist, muss man, so lässt sich nach der Skizze der vorangehenden Ausführungen sagen, in einer holistischen Perspektive verschiedene künstlerische Prozesse und Konstellationen in den Blick nehmen: In einer Art hermeneutischem Zirkel, der von den singulären Gestaltungen der einzelnen literarischen Werke über die verschiedenen literarischen Gattungen und Genres zu den anderen Künsten und wieder zurück führt und dabei auch die Sphäre der Interpretationen und des Kunstdiskurses mitberücksichtigt, lässt sich – nicht ein für alle Mal, aber immer wieder – sagen, was die Künste der Literatur auszeichnet, was sie von anderen Künsten unterscheidet und warum eine Auseinandersetzung mit ihren Werken für uns bedeutsam und wertvoll ist.