»Das Problem des Malers ist nicht zu malen, sondern zu erkennen, dass es Malerei ist.«
Benoît Maire[1]
Wie das Verhältnis der Malerei zu den anderen Künsten bestimmt und beurteilt wird, hängt von der eingenommenen Perspektive und den damit verbundenen Argumentationslinien ab. Nur eine dieser Perspektiven versteht unter Malerei eine bestimmte Kunstgattung, deren Anfänge ins 15.Jahrhundert datieren und deren Blüte und dominierende Stellung in der europäischen Kunst vom 16. bis zum 19.Jahrhundert gesehen werden. Darum dreht sich ein kunsthistorisches und kunstkritisches Verhandeln der Malerei, dem es darum geht, die Geschichte der Gattung nachzuzeichnen sowie deren gegenwärtige Relevanz abzuschätzen.[2] Ganz anders agiert dagegen ein kunsttheoretisches beziehungsweise kunstphilosophisches Schreiben, dem die Malerei zum Anlass für weit ausgreifende mediale und praxeologische Überlegungen wird. Für eine Einschätzung des gegenwärtigen Status der Malerei als Kunstform stellt die Unterschiedlichkeit dieser Herangehensweisen Problematik und Chance zugleich dar.
318Wird in der kunstkritischen »Diskursarena«[3] über den Status der Malerei gestritten, befinden wir uns immer schon in einem institutionellen Orbit, in dem es ausschließlich um Kunstwerke geht, die mit anderen Exemplaren derselben Gattung oder mit Werken anderer Künste verglichen werden. Im frühneuzeitlichen Paragone waren dies Zeichnungen und Skulpturen sowie die Schwesterdisziplinen der Musik und der Poesie, in den historischen Avantgarden entbrannte die Konkurrenz zu Fotografie und Film, seit der Neoavantgarde der 1960er Jahre gilt die Rivalität den neuentstehenden Praktiken von Installationskunst über Happening bis Performance. Inzwischen wurde der künstlerische Wettstreit durch die Frage ergänzt, ob die »Verfransung«,[4] die Adorno für die Künste konstatierte, sich auch im Subfeld der Malerei zeigt – zugespitzt zur Frage, ob die neuartigen Verfahren, derer sich die Malerei bedient, zu ihrer Erneuerung oder zum Leerlaufen des Gattungsbegriffs führen, indem das Malerische zum migrierenden Attribut wird, das auch Fotografien oder Installationen an der Malerei teilhaben lässt, ohne dass sie ihr zugehören.[5]
Teil dieses intrakünstlerischen Diskurszusammenhangs ist die Disparität, dass noch im Jahr 2015 die Malerei 89 Prozent der Sammlerkäufe ausmachte,[6] während Kurator*innen und Kritiker*innen längst anderen, in ihren Augen relevanteren bildkünstlerischen Praktiken den Vorzug geben, so wie es etwa bei der epochalen Documenta X (1997) geschah, deren künstlerische Leiterin, Catherine David, die Malerei fast vollständig ausblendete. Und während es stets Gemälde sind, welche zu immer abenteuerlicheren Auktionsrekorden führen, kürten 2004 die fünfhundert international bekanntesten Künstler*innen, Händler*innen, Kritiker*innen 319und Kurator*innen Marcel Duchamps Readymade Fountain von 1917 zum einflussreichsten Kunstwerk des vergangenen Jahrhunderts, und zwar ausdrücklich als Objekt, in welchem die geistige Tätigkeit des Künstlers über die manuelle Arbeit triumphierte und die Idee einer konzeptuellen Kunst geboren wurde.[7]
Gegenläufige Valorisierungen einer künstlerischen Gattung also, deren Konjunkturen nicht nur dem jeweiligen Zeitgeschmack geschuldet sind, sondern zugleich dadurch geprägt werden, wie innerhalb des unübersichtlichen Kunstgeschehens der Moderne und der Gegenwart der Begriff der Malerei gefasst und die für sie wesentlichen Merkmale beurteilt werden. Zumeist sind es dieselben Eigenschaften, welche die einen zur Wertschätzung und die anderen zur Ablehnung veranlassen. Während die ›Handschriftlichkeit‹ und die Bindung an eine bestimmte Auffassung von Metier den Malereiliebhaber*innen zum Argument für ihre immer noch bestehende – oder angesichts der umfassenden Digitalisierung und Virtualisierung der Lebenswelt noch gesteigerte – Relevanz dienen, zeigen dieselben den Verfechter*innen der Neuen Medien und einer konzeptuell und politisch gewendeten Kunst ihre Obsoleszenz an[8] – ständige Neuaufführungen eines inzwischen selbst in die Jahre gekommenen Streits, zu dessen Gründungsakten der Satz Paul Delaroches gehört, den er 1839, auf dem Gipfel seines Ruhms als Historienmaler und Salonnier, angesichts einer Daguerreotypie ausgerufen haben soll: »Ab heute ist die Malerei tot.«[9]
Dass in diesem Streit keine abschließenden Urteile zu erwarten sind, liegt weder allein an der divergierenden Interessenlage der Diskursakteur*innen noch allein an der inneren Dynamik des Kunstgeschehens, das die Reichweiten der unterschiedenen Gattungen fortlaufend verschiebt. Es liegt wesentlich daran, dass im Streit um die Malerei heterogene Standpunkte und Perspektiven eingenommen und entsprechend anders verlaufende Argumenta320tionslinien verfolgt werden, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen.
Insbesondere zwei dieser divergierenden Standpunkte und Argumentationslinien lassen sich herausdestillieren. In ersterer erscheint die Malerei als eine bestimmte Praxis: als »Kulturtechnik«,[10] die wesentlich dadurch definiert ist, dass Farben auf Flächen aufgetragen werden, wodurch diese in unterschiedlicher Weise bedeutsam werden. Die zweite Perspektive nimmt die Malerei als ein bestimmtes Medium in den Blick: als materiell flaches, aber imaginär tiefes Objekt sowie als Wahrnehmungsgegenstand, bei dem Träger, Malmaterie und immaterielles Bild sich voneinander scheiden lassen und dennoch eine unlösbare Verbindung eingehen.
Die beiden Perspektiven, obschon deutlich voneinander wegstrebend, sind nicht vollständig voneinander zu trennen; sie überlappen sich beispielsweise in der Rede vom Indexikalischen, das sowohl im praxeologischen als auch im medialen Malereidiskurs eine zentrale Rolle spielt, und genereller noch aufgrund des Artefaktcharakters jedes malerischen Kunstwerks. Zusammen bestimmen sie deren Spezifik innerhalb der »Sonderkommunikation« der Kunst.[11] Dennoch ist es analytisch notwendig, die beiden Standpunkte voneinander getrennt zu betrachten. Da in der Diskursarena der Malerei kunstkritische Beschreibungen, normative Setzungen und ästhetische Urteile irritierend leicht ineinander übergehen, stellt der differenzierende Nachvollzug der jeweiligen Argumentationslinien den unumgänglichen ersten Schritt jeder Reflexion über den gegenwärtigen Status der Malerei dar, will man der Tendenz rascher Urteile entgegentreten – insbesondere solcher, welche die Malerei in die ideologische Entgegensetzung von ›progressiver‹ oder ›reaktionärer‹ Kunst zwingen.[12]
321Die Aufgliederung ist aus einem zweiten Grund notwendig. In den Beschreibungen der Malerei, die deren Valorisierung begründen soll, werden häufig Aspekte als malereispezifisch angeführt, die nicht malereiexklusiv sind; sie finden sich zwar prominent in Gemälden – indes nicht nur hier, sondern beispielsweise in Bildern und Kunstwerken generell, weswegen sie kaum als Argument für die Besonderheit und Nichtersetzbarkeit der Gattung dienen können. Solches gilt für beide wesentlichen Perspektiven auf die Malerei, sowohl für die praxeologische wie die mediale.
In der praxeologischen Perspektive zeigt sich das Dilemma, dass die angeführten Eigenschaften zwar für die Malerei einschlägig sind, aber nicht exklusiv für sie gelten, bereits bei der ihr immer wieder attestierten Indexikalität. Diese resultiere, so die wiederkehrende Explikation, aus der Eigenart der malerischen Markierungen, sich der direkten physischen Einwirkung der künstlerischen Hand zu verdanken, wodurch diese auf den*die Künstler*in als Urheber*in des Kunstwerks rückverweisen, ja, ihn indirekt-zeichenhaft im Gemälde vergegenwärtigen.
Die so bestimmte Indexikalität macht beispielsweise Isabelle Graw zu einem der zentralen Argumente in ihrem Buch Die Liebe zur Malerei; Graw zufolge ist sie verantwortlich für jene »vitalistischen Phantasien«, welche Werke der Malerei auszulösen imstande sind und die dazu führen, dass wir in ihnen »Eigenschaften wie Subjektivität, Lebenskraft oder Beseeltheit« zu spüren scheinen.[13] Allerdings definiert sie die Indexikalität der Malerei in einer die 322Peirce’sche Bestimmung entschieden überschreitenden Weise, da sie auch solche Malerei einschließen möchte, die keine Spuren der Künstlerhand zeigt, weil sie sich, wie bei Andy Warhol, einem Drucksieb verdankt oder, wie bei Wade Guyton, dem Computerdrucker. Indexikalität meint bei Graw nicht mehr zwingend einen physischen Abdruck der Künstlerhand, vielmehr genügt es, wenn Kunstwerke eine »geistige Verbindung« zum*r Künstler*in suggerieren, was Graw, in Übernahme einer Formulierung Diedrich Diederichsens, als »metaphysischen Index« bezeichnet.[14] Wie sinnvoll man diese Kategorie auch einschätzen mag, gewiss ist, dass sie über die Malerei hinaus jedes Kunstwerk kennzeichnet.
Eine verwandte Spielart, das praxeologische Argument über die Gattung der Malerei hinauszuführen, zeigt sich in Paul Crowthers ebenfalls 2017 erschienenem Buch What Drawing and Painting Really Mean, das die »autografische« Qualität der Malerei beschwört, die sich einer Körpergeste verdanke, die ihren Abdruck im Gemalten hinterlasse – bald sichtbarer wie beim späten Tizian oder bei Vincent van Gogh, bald verschleierter wie bei Raffael oder Caspar David Friedrich.[15] Auch für Crowther verweist die Malerei auf ein sich darin artikulierendes Subjekt, zugleich betont er, sie führe in ihren Ergebnissen hinter das Subjekt zurück, da die »intrinsische Bedeutung« der malerischen Markierungen darin liege, ein »gestisches und ontologisches Unterbewusstes« aufblitzen zu lassen, worin deren eigentliche, nicht »explizite«, sondern »intuitive« Wahrheit liege.[16] Mit der Körpergeste werde jedoch, so Crowther weiter, nicht nur eine subjektive Spur gelegt, sondern – und anders als bei immateriell bleibenden Sprechakten – ein materielles Objekt geschaffen, unter Zuhilfenahme von Stoffen, mit denen gemalt wird, sowie solchen, auf die sie aufgetragen werden.[17] Auch wenn solche Bestimmungen zweifellos auf die Malerei zutreffen, weisen sie zugleich darüber hinaus; dem signifikanten Potenzial, vom dem hier die Rede ist, begegnen wir in jedem künstlerischen Artefakt, und den Reiz, den diese aufgrund dessen entfalten, empfinden wir auch bei einem Torso Auguste Rodins oder einer Installation Joseph 323Beuys’, lediglich mit dem Unterschied, dass sich der autografische Prozess nicht mittels Ölfarbe und Leinwand vollzieht.
Die größtmögliche Ausweitung der praxeologischen Perspektive findet sich in Ludger Schwartes Denken in Farbe, in dem neben der einschlägigen malereitheoretischen Literatur auch Erkenntnisse der Psychologie, der Sinnesphysiologie oder der Biologie aufgegriffen werden.[18] Schwartes Epistemologie des Malens, wie der Untertitel lautet, geht nicht nur über die Kunstgattung der Malerei hinaus, sondern überschreitet auch die Grenze zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Praktiken. Die Perspektive ist anthropologisch: Den Ursprung der Malerei erkennt er da, wo jemand erstmals Farbe auf einer Fläche auftrug, in der Absicht, eine signifikante Markierung zu hinterlassen. Malerei wird zum primordialen menschlichen Ausdruck, dessen älteste Zeugnisse weit hinter die ersten Schriftzeugnisse bis zur prähistorischen Höhlenmalerei zurückreichen und deren ›Anfänglichkeit‹ in jeder kindlich geschmierten Farbspur wiederkehrt.[19] Insgesamt möchte Schwarte über Malerei sprechen, »ohne damit schon zu unterstellen, dass Malereien Bilder geschweige denn Kunst sind.«[20]
Schwartes Zugang erinnert an Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie, die ebenfalls auf jene Primordialität des malerischen Aktes abhebt, unabhängig von der Unterscheidung, ob dieser Akt im Rahmen einer künstlerischen Handlung erfolgt. Bereits ein erster Farbfleck initiiere, so Merleau-Ponty im Eingangsparagrafen seiner Phänomenologie der Wahrnehmung, das Spiel von Figur und Grund, als erste fundamentale Sinngestalt, auf der alle weiteren Erschließungen des sinnlich Gegebenen aufbauen.[21]
In der Dämmerung der langen Geschichte des europäischen Tafelbildes, in den Reduktionsexperimenten der historischen Avantgarden, hat die Malerei begonnen, solche primordialen Figur-Grund-Kontraste als Bild zu inszenieren, von Kasimir Malewitschs Schwarzem Quadrat auf weißem Grund von 1915 bis zu Barnett Newmans Onement I von 1948, und dabei ging es tatsächlich um ein Anfängliches, das hier anschaulich werden sollte. Dennoch kommt darin keine malkünstlerische Essenz zum Vorschein, 324vielmehr handelt es sich um historisch spezifische Mischungen aus dem Dementi einer nicht mehr fortführbaren Tradition und einem herausfordernd inszenierten Neuanfang.[22] Hierin die Essenz der Malerei zu erkennen, treibt nicht nur diesen Gemälden, sondern der Kunstgattung insgesamt ihre Geschichtlichkeit aus. Denn gerade die Essenz der Malerei wurde historisch stets neu bestimmt. Die Mimesis des Lebendigen, die Plinius d.Ä. in seiner Naturalis historia an den Anfang der Gattung stellt,[23] fasst sie beispielsweise ganz anders als Roger de Piles’ Doctrine classique, die das Gemälde als »Maschine« versteht, dessen »Tout ensemble« das »Tout politique« spiegelt.[24] Durch die Jahrhunderte traten immer neue malerische Essenzen auf, aus deren Heterogenität Marcel Duchamp 1914 die antiessenzialistische Konsequenz zog, die Malerei zum »pikturalen Nominalismus« zu erklären.[25]
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass in praxeologischer Perspektive der Akt des Malens und der Begriff der Malerei maximal schillernd werden. Das ist nicht als Kritik an der betreffenden Literatur gemeint, die reich an Beobachtungen und Reflexionen ist, wie gerade Schwartes Buch zeigt. Die betreffenden Studien verdeutlichen allerdings, dass an Gemälden sinnliche 325Merkmale und ästhetische Eigenschaften interessieren können, die nicht gattungsspezifisch sind, ja noch nicht einmal exklusiv für die Kunst gelten.[26] So aufschlussreich sie sein mögen, als differentia specifica der Kunstgattung Malerei und als Argument für deren Legitimation können sie nicht dienen.
Eine andere Argumentationsweise entfaltet sich, wenn die Malerei nicht als bestimmte menschliche Praxis aufgefasst wird, sondern als Artefaktklasse in den Blick kommt, die durch ihre besondere Medialität ausgezeichnet ist. Diese Medienspezifik stand bereits im Vordergrund, als in der frühen Neuzeit nicht nur um die Nobilitierung der Kunst insgesamt gekämpft wurde, um sie vom bloßen Handwerk zu emanzipieren, sondern im Zuge des Paragone zugleich um die Rangfolge unter den einzelnen Künsten gestritten wurde.
Das malereibestimmende Merkmal wurde im zweidimensionalen Bildträger erkannt – als ein Zeigemedium, das im Augenblick des Zeigens zum ›unsichtbaren‹ Mittler wird. Die klassisch gewordene Bestimmung des Gemäldes als Fläche, die im Augenblick der Erscheinung des Dargestellten zum bloßen Rahmen wird, der den Durchblick ins Imaginäre freigibt, findet sich in Leon Battista Albertis De pictura von 1435, in dem dafür die Metapher des »offenstehenden Fensters« geprägt wird, durch das hindurch man auf die dargestellte Szenerie blickt.[27] Um ein Gemälde zu fertigen, genügt es Alberti zufolge nicht, eine Markierung auf einer Fläche anzubringen. Zunächst gilt es, das Feld zu bestimmen, welches die Malerei tragen soll, und dieser Rahmen, als »Parergon« des Gemäldes,[28] artikuliert die Bildfläche ebenso, wie er sie zum Verschwinden bringt.[29] 326Genau genommen ist es also nicht die Malerei, die in Albertis Traktat über den anderen Künsten steht, sondern das Bild, das anderen Darstellungsmedien überlegen ist, insbesondere der an ihre Dinglichkeit gefesselten Skulptur.
Diese Argumentation greift Leonardo da Vinci im zwischen 1480 und 1516 entstandenen Traktat von der Malerei auf. Sein Lehrbuch beginnt mit ausgreifenden Erörterungen, weswegen die Malerei den anderen Künsten überlegen sei, namentlich der Musik, der Poesie sowie der Schwesterkunst, der Skulptur. Die Überlegenheit gründet ihm zufolge in einer Wissenschaftlichkeit, deren Explikation er mit der die Malerei bestimmenden Flächigkeit beginnt.[30] Die Ausführungen lassen erkennen, dass die Bildfläche für Leonardo zwischen Geist und phänomenaler Welt steht, als materielles Ding und zugleich »Anstrengung des Geistes«.[31] Die »wunderbare Sache« eines jeden Gemäldes, »Ungreifbares greifbar aussehen zu lassen, Flaches erhaben, etwas Nahes entfernt«,[32] wird dabei zum Komplement des Auges als dem »Fenster der Seele«.[33] Das ›Augenfenster‹ und das ›Bildfenster‹ spiegeln sich ineinander, und die »totale Kunst« der Malerei,[34] welche diese in den Rang einer »Philosophie« hebt,[35] begründet sich in dieser (Meta-)Geometrie sich gegenüberliegender Flächen, von denen jede »ihr vollständiges Abbild« in der anderen findet.[36] Die Malerei – eigentlich aber das Bild – überragt die anderen Künste also deshalb, weil sich hier physikalische Welt und Geist ineinander reflektieren.
Das Echo dieser Auffassungen durchzieht in je anderer Akzentuierung den Malereidiskurs bis heute. Die eine Seite von Leonardos Lobpreis der Malerei, der enge Bezug zum Geistigen, der aus Bildern intelligente Flächen macht, in denen sich der kognitiv-perzeptive Dual von Sehen und Denken niederschlägt, zeigt sich besonders prominent in einem kunsttheoretischen Schreiben 327über Malerei, das sich in den letzten Jahrzehnten in Frankreich entwickelte, bei Louis Marin, Hubert Damisch, Daniel Arasse oder Georges Didi-Huberman. Bei diesen Autoren bleibt in produktiver und zugleich irritierender Weise offen, ob hier ein Diskurs über Malerei geführt wird oder ob der Malerei selbst die Fähigkeit zur Diskursivität zugesprochen wird, so als verfüge die Malerei über die Kapazität, die Scheidung von zeigen und sagen zu unterlaufen.[37]
Auch die andere Seite von Leonardos Malerei-Panegyrik, die Fokussierung auf die Zweidimensionalität des malerischen Bildes, bleibt bis heute virulent. Zu einem Höhepunkt wurde sie in Clement Greenbergs Theorie modernistischer Malerei geführt, welche die Entwicklungsgeschichte der Gattung mit Kants Kritizismus verbinden wollte.[38] Als die Kunst, so lautet Greenbergs berühmt gewordenes Argument im Essay über Modernistische Malerei, durch den Rationalismus der Aufklärung ebenso unter Druck geriet wie die Religion, habe die Kunst darauf durch den Nachweis von Erfahrungen reagiert, die nur durch sie selbst zu gewinnen seien. Der Modernismus sei nichts anderes als das Verfahren der einzelnen Künste, sich einer fortlaufenden Kritik von innen zu unterwerfen, und das darauf ziele, die einzelnen Künste in ihrem ureigenen Kompetenzfeld zu verankern. Dabei habe sich herausgestellt, dass »der eigene und eigentliche Kompetenzbereich jeder Kunst« mit dem zusammenfalle, »was einmalig am Wesen ihres Mediums« sei.[39] Dieses Wesen erkannte Greenberg bei der Malerei in der flatness des Bildes. Wie abstrakt und damit losgelöst von allen Aspekten des Metiers Greenberg den Kompetenzbereich der Malerei auffasste, zeigt sich in seinem berühmten Diktum, bereits eine bloß 328aufgespannte Leinwand könne ein Bild sein, wenn auch nicht unbedingt ein gelungenes.[40]
Auch vom Ende her gesehen zeigt sich die Wirkmächtigkeit der metonymischen Verbindung von Malerei, flachem Träger und Bild. Unmittelbar nach dem Verglühen des letzten malerischen Feuerwerks, das der Abstrakte Expressionismus um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts veranstaltete, wurde die dominante Stellung der Malerei als Leitmedium der bildenden Kunst durch die Neoavantgarden der 1960er Jahre grundlegend in Frage gestellt. Die Kritik an der Malerei ging dabei mit der Ablehnung eines künstlerischen Agierens im illusionären Bildraum Hand in Hand, wogegen eine interventionistische, in der tatsächlichen Raumzeit agierende Kunst gesetzt wurde – als Happening, Aktionskunst oder Performance. Damit vollzog sich ein bis heute nachwirkender Paradigmenwechsel, den der Kritiker und Kurator Laszlo Glozer 1981 auf die bündige Formel des »Ausstieg[s] aus dem Bild« brachte.[41]
Fassen wir die Eigenart auch dieser Perspektivierung der Malerei zusammen. Die metonymische Verbindung von Malerei und Fläche beziehungsweise zweidimensionalem Bild entstand in einer präfotografischen Zeit, als Bilder nicht anders generiert werden konnten als durch zeichnerisches oder malerisches Handwerk. Inzwischen hat sich das Erzeugen von Bildern derart aufgefächert, dass sich die Malerei nicht nur an den Rand der Bilderproduktion gedrängt sieht, sondern auch offensichtlich wird, dass sie ihre Legitimation nicht aus ihrer Bildlichkeit, die sie mit allen anderen bildgebenden Verfahren teilt, ableiten kann.
Erstaunlicherweise ist diese Diskurskrise durch die Konjunktur von Bildtheorie und Bildwissenschaft eher verdeckt als zutage gefördert worden. Was Bilder leisten können, wird beispielsweise von Gottfried Boehm, einem der Protagonisten des iconic turn, bevorzugt an Gemälden dargelegt, entgegen dem eigenen Anspruch, jegliche Form von Bildlichkeit im Auge zu haben. Dies geschieht mit dem Argument, dabei handle es sich um »starke Bilder«, die im Unterschied zu schwachen Bildern, beispielsweise Fotografien, 329über reine Abbildungen hinausgingen und »an der Wirklichkeit etwas sichtbar machen, das wir ohne sie nie erführen«.[42]
Ähnlich wie der praxeologische Ansatz mit seiner anthropologischen Universalisierung die spezifische Problematik der Malerei als Kunstgattung verfehlt, erweisen sich auch Greenbergs Medienessenzialismus der flatness und in anderer Weise Boehms ikonische Wende als zu generische Bestimmungen, um die Frage nach dem heutigen Status der Malerei als Kunst unter den Künsten in den Blick nehmen zu können. Doch auch hier geht es mir nicht um die Kritik dieser Ansätze selbst, sondern lediglich um das Moment des Nichtpassens, wenn es um die genannte Frage geht.
Sobald wir den Fokus wieder auf die Malerei als künstlerische Gattung verengen, sind wir auf das Feld jener sehr besonderen, im Europa des 15.Jahrhunderts entstandenen und seit den historischen Avantgarden weltweit exportierten Tradition des Tafelbildes mit seinen insgesamt übersichtlichen Verfahren und Materialien zurückverwiesen. Diese Tradition entsteht als Engführung der Aspekte, die ich in den vorangegangenen Abschnitten diskutierte. Ein Gemälde ist die signifikante Verbindung dreier Größen: Es bedarf (a) einer gerahmten Fläche, die als überschaubare, nach außen abgeschlossene Einheit zum Bild werden kann, das von der Spannung zwischen der Totalität dieser Fläche und der Gesamtheit ihrer Binnenrelationen lebt. Realisiert wird dies (b) mittels einer malerischen Praxis, die ikonisches Erscheinen des Dargestellten und indexikalischen Rückverweis auf die auktoriale Instanz ineinander umkippen lässt. Dies geschieht (c) im Zeichen der Kunst als einer menschlichen Praxis, deren Produkte nicht im Zeigen des Dargestellten aufgehen, sondern dasselbe reflexiv werden lassen, 330indem sie es zu einer »Darbietung im Medium des Erscheinens« machen.[43]
Dies bestätigt sich im Blick auf die Geschichte. Die Kunstgattung der Malerei entstand aufgrund der Zusammenführung zweier paralleler Innovationen: der Etablierung jener abgegrenzten und wandunabhängigen Fläche als Malgrund, die Alberti in die Gründungsmetapher des »offenstehenden Fensters«[44] kleidete, sowie der Profilierung der neuzeitlichen Künstlerpersönlichkeit, deren autografische Spur im Kunstwerk zu einer eigenständigen Quelle der Wertschätzung wurde. Sowohl der Akt, eine Fläche zu bemalen, als auch unterscheidbare auktoriale Handschriften existierten vor der Tafelbildkunst, wie sich beispielsweise am Linienwettstreit zwischen Apelles und Protogenes zeigt, den Plinius ebenfalls in seiner Naturalis historia erzählt.[45] Doch erst im 15.Jahrhundert resultiert daraus eine Praxis, die beides im Zeichen der Kunst zusammenführt.
Diese Engführung bedeutete einen wesentlichen Schritt im Ringen um jene Kunstautonomie, die sich beispielsweise im Bestreben der Renaissancekünstler*innen zeigt, ihr Tun aus dem Kreis der Artes mechanicae zu lösen und in denjenigen der Artes liberales zu überführen. Das Tafelbild avancierte hierbei zum maßgeblichen Treiber, weil sich darin unterschiedliche Autonomieverständnisse kreuzten: die Eigengesetzlichkeit malerischer Flächenkomposition;[46] die Handlichkeit und Reichweite eines leicht transportablen Kunstobjekts, die sich noch steigern sollten, als die Malerei im späten 15.Jahrhundert von Holz auf Leinwand umstellte;[47] und schließlich die wachsende Freiheit und Selbstbestimmung der Malerpersönlichkeit.
Methodologisch folgt aus dem Gesagten, dass erst die Zusammenführung der Diskurslinien des Autografischen und des Medialen jene besondere Konstellation in den Blick geraten lässt, um die 331es sich bei der Malerei als Kunst unter den Künsten handelt. Einerseits müssen die Vereinseitigungen vermieden werden, die Malerei auf ein einziges Fundament zu gründen, sei es die besondere Medialität oder aber die autografische Praxis. Andererseits geht es um die modale Qualifizierung, die ins Spiel kommt, wenn sich jene »Konversion« ereignet, von der Richard Wollheim in Painting as an Art spricht: wenn das Medium der Malerei und die malerische Praxis als Kunst thematisch werden.[48] Dieses Thematischwerden hat erhebliche Auswirkungen, sowohl für die autografisch-indexikalische wie die bildmediale Dimension der Malerei.
Was die autografisch-indexikalische Dimension der Malerei angeht, besteht die Konversion insbesondere darin, dass die Markierungen auf der Leinwand kein Durchschlag der Emotionen und Affekte der Malerpersönlichkeit sind, sondern dass deren Ausdruck derselben repräsentationalen Logik unterworfen ist, welche die Malerei insgesamt regiert.[49] Ja es braucht sogar, wie Ivan Gaskell betont, nicht nur besondere Präzision und Sorgfalt, sondern auch Übung und Expertise, um Emotionalität malerisch erfolgreich ins Bild zu bringen.[50] Es zählt zu den Leistungen der Sonderkommunikation der Kunst, etwas im Gemälde beobachtbar zu machen, was sich eigentlich der Wahrnehmbarkeit entzieht: psychische Interiorität. Was ein Kunstwerk kommuniziert, ist kein Abdruck der Künstlerseele, sondern, mit Niklas Luhmann gesprochen, ein »nichtnormales, irritierendes Verhältnis von Wahrnehmung und Kommunikation«, realisiert als »strukturelle Koppelung von Bewußtseinssystemen und Kommunikationssystemen«, die sich in der Malerei unter Umgehung von Sprache vollzieht.[51] Was ein Gemälde der Wahrnehmung anbietet, ist keine Wetterfahne, die anzeigte, welcher Wind die Farbflächen des Gemäldes formte, sondern vielmehr eine komplexe »Partitur«, deren perzeptiver und kognitiver Nachvollzug nicht nur die produktive Mitarbeit der Betrachtenden voraussetzt, sondern auch die Vertrautheit mit der Eigenart und Geschichtlichkeit malerischer Codes.[52]
332Als Kunst konvertiert die Malerei auch ihre Medialität zu etwas, in das verschiedenste Aspekte so eingefaltet sind, dass die beschreibende Sprache, die sie notgedrungen auseinanderfalten muss, an ihre Grenzen getrieben wird. Medium meint in einem Gemälde zugleich Mitteilungskanal, vermittelndes Objekt in einer Informationszirkulation, Darstellungsinstrument, informative Fläche, verwendete physische Substanz sowie intermittierende Ebene in einem kommunikativen Setting. Ein Gemälde ist ein Hypermedium, das all diese materiellen und prozessualen Aspekte ineinander übergehen lässt.[53] Die mediale Komplexität steigert sich noch, wenn wir die Selbstbeschreibungen von Maler*innen berücksichtigen, die sich als Medium ihrer Kunst begreifen, so als wären sie eine intermittierende Instanz, durch die sich etwas artikuliert, das hinter sie zurückreicht oder über sie hinausweist.[54] Besonders signifikant sind hierbei jene Selbstbeschreibungen, in denen sich die Agency verkehrt und der Maler zum Medium des Gemäldes wird, das ihn anzuleiten scheint, damit es zu dem wird, was in seiner inneren malerischen Logik angelegt ist.[55]
Angesichts all dessen erweist sich die Gleichsetzung des malerischen Mediums mit dem physischen Bildträger nicht nur als Vereinseitigung, sondern als begrifflicher Kurzschluss zwischen Medialität und Gegenständlichkeit. Medialität avanciert erst dann zu einem Terminus, der die Spezifik der Malerei als Kunst erfasst, wenn wir uns verdeutlichen, wie sich das Medium beim Verfertigen eines Gemäldes verdoppelt. Hier ist die Malerei einerseits Mittel zum Zweck, nämlich zur Verfertigung eines Bildes, andererseits demonstriert es die Freistellung der Mittel von diesem Zweck, insofern es die Praxis des Malens sowie die eigene Medialität als sol333che vorführt.[56] In diesem Zugleich von Mittel und Zweck besteht die Konversion des Bildmediums, auf die Richard Wollheim zielt, wenn er von Painting as an Art spricht.
Dieses Zugleich lässt in Gemälden ein Moment der Alterität aufblitzen, das anzeigt, dass sie im bildhaften Zeigen nicht aufgehen. Die Inszenierung dieser Alterität nahm im Laufe der Malereigeschichte unterschiedliche Formen an, vom Fleck, der die Darstellungsfunktion des Bildes durchkreuzt, bis zum Dementi des Abbildens in der ungegenständlichen Malerei.[57] In der jüngeren Vergangenheit wurde sie häufig als Medienkonkurrenz zur Fotografie inszeniert, von Franz Gertschs pointilistisch nachgemalten, riesenhaft vergrößerten Porträtfotografien über Gerhard Richters in die Unschärfe geführten Fotogemälden bis zu James Hydes Applikationen ungegenständlicher Malerei auf hochaufgelösten fotografischen Prints – jedes Mal mit dem Effekt, die Malerei zum Überschuss des bildlichen Zeigens werden zu lassen.[58]
334Doch schon auf der Ebene der Farbe selbst, als einem der Grundstoffe der Malerei, zeigt sich die Verdoppelung, welche die Medialität der Malerei so schillernd werden lässt. Farbe ist in einem Gemälde sowohl Einfärbung des Bildträgers als auch Farbzeichen des Gemalten, paint und colour in einem. Man kann keine Farbe (colour) malen, ohne sie mit Farbe (paint) zu malen – wodurch beides in jenes metonymische Verhältnis gerät, das in den Gipfelpunkten der Malereigeschichte, von Tizian über Velázquez und Vermeer bis zu Manet und Cézanne, in der Abstraktion bis Mondrian, Rothko oder Newman, zum sinnlichen Ereignis wird, zugleich aber auch zur intellektuellen Herausforderung, da es die Oppositionen von Materialität und Sinn, Ding und Zeichen, Selbstreferenz und Fremdreferenz unterläuft.[59]
Brauchen wir die Malerei in der Konstellation der Künste noch? Die Intuition Clement Greenbergs, das Fortbestehen der Malerei lasse sich nicht auf die Macht ihrer Tradition gründen, sondern könne nur durch ein von keiner anderen Kunst substituierbares Spezifikum gesichert werden, war richtig – unabhängig von Greenbergs eigener Bestimmung dieses Spezifikums. Das Malerische, als sensorischer Modus, ästhetische Kohärenz über Farbe und ihre 335Verläufe zu organisieren, kann in andere Künste abwandern; das Autografische kann von der Kunst insgesamt übernommen werden – als jene Praxis, die, nach einem Wort Harald Szeemanns, in der Entscheidung eines Einzelnen gründet, »es in einer Welt, in der alles auf Massenproduktion und -konsumption ausgerichtet ist, alleine zu versuchen«;[60] und »starke Bilder«[61] erzeugen längst nicht mehr nur Gemälde, sondern heute möglicherweise eher die Techniken der Virtual Reality. Insbesondere diese verweisen darauf, dass die Koppelung der Malerei ans Materiell-Handschriftliche da zur irritierenden Antiquiertheit wird, wo das Simulative, als Kopie ohne Original, mehr fasziniert als jene Authentizitätsemphase der Malerei, die den Verächter*innen der Gattung das harte Wort vom Warenfetisch zuspielt. Die Sonderkommunikation der Malerei irritiert aber auch jene, die von der Kunst eine wie auch immer durchgeführte Intervention ins soziale und politische Leben fordern, wozu die Mittel der Malerei tatsächlich schlecht geeignet sind. Rettungsversuche wie derjenige Isabelle Graws, »Malerei ohne Malerei« stark zu machen,[62] verkehren sich ins Gegenteil, weil sie anzeigen, dass sich die Engführung medialer und praxeologischer Aspekte, die ich als Spezifikum der Gattung postuliere, auseinanderdividieren lässt, um den Preis eines entkernten Malereibegriffs. Selbst die Praktiker*innen der Malerei misstrauen längst ihrem Fortbestand, wie die vielfältigen Manöver zeigen, die Malerei mit konkurrierenden künstlerischen Verfahren zu hybridisieren, insbesondere mit installativen, den Realraum bespielenden Formaten, so wie es gegenwärtig Katharina Grosse mit durchschlagendem institutionellem und kommerziellem Erfolg praktiziert. Damit aber inszeniert sie einmal mehr jenen »Ausstieg aus dem Bild«, den Glozer schon vor vierzig Jahren als das Begehren diagnostizierte, auf die Krise der Malerei mit einem Ausbruch aus der Gattungsnorm zu reagieren, zu welcher das vom Realraum abgegrenzte Bildfeld wesentlich gehört.[63]
336Über das Fortleben der Malerei entscheidet letztlich keine intrinsische Definition, aus der sich das Urteil ableiten ließe, ob und inwiefern sie nach wie vor aktuell oder aber von rückwärtsgewandter Gesinnung ist. Entschieden wird darüber von außen, vom System der Künste beziehungsweise von jener Kollektivinstanz, die Arthur Danto als »Kunstwelt« bezeichnete.[64] Die existenzielle Problematik, der jedes neue Gemälde mit Kunstanspruch sich stellen muss, liegt in der Ungewissheit, ob und wen die besondere Differenz, welche die Malerei ins Feld der Kunst einträgt, heute noch interessiert.
»Innerhalb der Theorie symbolisch generalisierter Medien«, schreibt Niklas Luhmann in Die Kunst der Gesellschaft,
hatte Talcott Parsons angenommen, daß jedes dieser Medien, so wie das Geld, eine reale Deckung benötige, die durch Vertrauen überzogen, aber nicht beliebig ausgedehnt werden könne. Und genauer: eine Überausnutzung oder Unterausnutzung des Mediums sei zwar möglich, aber dann käme es zu Inflationen beziehungsweise Deflationen, die die Funktion des Mediums gefährden könnten. […] Welches Ausmaß an Inflationierungen das Kunstsystem verträgt, ist dann letztlich eine empirische Frage. Die Sanktion liegt nicht in Reaktionen auf einen Normverstoß, sondern im Verlust des Interesses an Beobachtungen der Beobachtungen.[65]
Was Luhmann für das Kunstsystem insgesamt schreibt, gilt, mutatis mutandis, auch für die einzelnen Künste und Gattungen. Darin zeigt sich die ehedem so stolze, die bildenden Künste anführende Gattung der Malerei, die in der Frühen Neuzeit und erneut in der Moderne die Idee der Kunstautonomie wesentlich vorantrieb, von ihrer verwundbarsten Seite: dass ihr Gedeihen und ihre Geltung nicht in eigener, sondern in fremder Hand liegt, abhängig vom schwankenden Interesse an jener Engführung von Bild, subjektiver Imagination und autografischem Index, die sie auszeichnet. Sie kann sich in traditionalistischen Rückzugsgefechten engagieren oder im Begehren der eigenen Aktualisierung ihre Identität aufs Spiel setzen – ob sie noch immer an der Zeit ist, wird nicht von ihr selbst, sondern von der Zeit entschieden.