DIE Fotografie

1990 erschien auf Französisch eine Zusammenstellung der die Fotografie betreffenden Essays von Rosalind Krauss unter dem Titel Le photographique. Pour une Théorie des Ecarts.[1]  Der mit einem Vorwort von Hubert Damisch versehene und von Marc Bloch und Jean Kempf übersetzte, bei den Editions Macula publizierte Band enthält zwischen 1974 und 1984 vorrangig in der von der Autorin mitherausgegebenen Zeitschrift October publizierte Aufsätze. Diese Anthologie sollte in der Folge in den europäischen, aber auch deutschsprachigen Auseinandersetzungen mit der Fotografie eine zentrale Rolle spielen.[2]  Das nicht zuletzt deshalb, weil, wie Damisch ausführt, Krauss nicht so sehr für als gegen eine Art, über Fotografie zu schreiben, gearbeitet habe, insbesondere dagegen, eine Geschichte von dieser zu erzählen.[3]  Krauss’ Buch stelle somit einen Bruch mit dem dominanten Diskurs der Fotografie (der von Damisch zwar nicht spezifiziert wird, mit dem er aber den historiografischen meint) gleichermaßen dar, wie es auch Zeugnis vom »plötzlichen Hereinbrechen der Fotografie in das Feld der (Kunst-)Kritik« ablege.[4]  Herausgestrichen wird, dass Krauss keine Fotogeschichte vorlegen will, wie sie bislang bekannt war, ja mehr noch, 338dass sie überhaupt nicht über Fotografien schreiben wollte, sondern dass, »von der Fotografie ausgehend«, ihr theoretisches Unterfangen auf DIE Fotografie abzielte.[5]  Die Kunst der Nach-1960er-Jahre wie die Land- und die Body-Art habe Krauss deutlich gemacht, dass die Fotografie als Modell fungiere und zu begreifen sei. Dieses »modèle photographique«, also »fotografische Modell«, habe nicht nur vielen der künstlerischen Praktiken nach 1960 zugrunde gelegen, sondern bereits der Kunst eines Marcel Duchamp.[6]  Diese und nicht die Fotografie habe sie dazu gebracht, über DIE Fotografie zu sprechen, betont Krauss in ihrer Einleitung zur Anthologie.[7] 

Im Kontext des vorliegenden Aufsatzes, der Clement Greenbergs – auf der Folie seiner Konzeption(en) der modernistischen Kunst – angestellte Ausführungen aus der Perspektive der nach den 1970er Jahren formulierten fotografischen Medienspezifik liest, ist eine Beobachtung von Hubert Damisch von besonderem Interesse. In seiner Zusammenfassung der theoretischen Vorgangsweisen der Kunsthistorikerin setzt er deren Reflexionen über den Index – eine deskriptive, respektive analytische Kategorie, die Krauss von Charles Sanders Peirce übernommen und in ihre das Prinzip Fotografie untersuchende Analysen eingebracht hat – in Relation zur Projektion. In dem in der Anthologie abgedruckten Aufsatz »Duchamp ou le champ imaginaire« (»Duchamp oder das Feld des Imaginären«)[8]  bedient Krauss sich des Schattenmodells, dem sich, wie 339es Plinius d.Ä. in seiner Naturalis historia erzählt, der Ursprung der Malerei verdankt;[9]  dort wird der Schatten als irreduzibel indexikalisches Zeichen begriffen, das im Sinne von Peirce – solange man ihn nicht fixiert – einzig flüchtige Spuren wirft. Wird dieser Schatten aber umrissen, wie Plinius die darstellerische Aktivität des Mädchens (De)Butades beschreibt oder wie es Marcel Duchamp in seinem Tafelbild Tu m’ von 1918 visualisierte, dann kommt dies dem zeichnerischen Festhalten einer optisch generierten oder geometrischen Projektion gleich; diese aber ließe sich wiederum dem Dispositiv der Perspektive einverleiben, das »zu einem guten Teil die klassische Malerei« bestimmt habe.[10] 

Bemerkenswert ist, dass Damisch in seinen einleitenden Bemerkungen auch auf die Herkunft der New Yorker Kunsthistorikerin aus der formalistischen Schule Clement Greenbergs hinweist, die sie zwar gebildet und hervorgebracht, mit der sie allerdings gebrochen habe.[11]  Doch selbst wenn Damisch feststellt, dass Krauss sich von ihrer Zugehörigkeit zum sogenannten Greenberg-Zirkel und dem Einfluss des Kunstkritikers gelöst habe, findet sich ein Widerschein von dessen Verständnis der Malerei der Moderne in ihrem Text über Duchamp – wenn auch über den Umweg des als Projektion konzipierten indexikalischen Schattens. Gehören doch die geometrische Projektion und die Perspektive als Darstellungspraxis, die die Restituierung von Dreidimensionalität auf einer zweidimensionalen Fläche ermöglicht, zu den Sujets, die sich wie ein roter Faden durch Clement Greenbergs Reflexionen über die Darstellungsmodalitäten der Malerei der Moderne ziehen.

340Silhouetten und Modelle

In einem Abschnitt seines programmatischen Textes über die »Modernistische Malerei« führt Greenberg aus, dass diese in ihrer letzten Phase nicht die Wiedergabe wiedererkennbarer Objekte aufgegeben habe. Womit sie aufgehört habe, sei die Repräsentation einer Art von Raum, der wiedererkennbare Gegenstände zeige, was aber nicht bedeute, dass jede Gegenständlichkeit, dass jeder Realismus der spätmodernistischen Malerei fern liege – seien doch weder die Abstraktion (auch wenn Kandinsky und Mondrian das geglaubt hätten) noch die nichtfigurative Darstellung die Bedingung der modernistischen malerischen Selbstkritik; denn nicht dass die Malerei abbildet, »stellt []eine Beeinträchtigung der spezifischen Eigenheiten der Malerei dar«,[12]  sondern falls diese – wenn auch nur durch Allusionen an eine dreidimensionale Darstellung wie die Wiedergabe von Teetassen oder »Umrissen einer menschlichen Gestalt« – ihre Flachheit und mit dieser ihre malerische Spezifität untergräbt. Greenberg schreibt hier allerdings – was die deutsche Übersetzung weglässt – von der »fragmentary Silhouette of a human figure, or of a teacup«, von der fragmentarischen Silhouette einer menschlichen Figur oder einer Teetasse,[13]  die einen dreidimensionalen Raum evozierten, wodurch der malerische Raum von der buchstäblichen Zweidimensionalität, die die Unabhängigkeit der Malerei als Kunst garantiere, entfremdet werde. Die »Silhouette« als fragmentarischer Schattenwurf einer menschlichen Figur lässt, wie auch die Projektion einer Teetasse auf einen zweidimensionalen Bildträger, an Rosalind Krauss’ Beschreibung von Duchamps Tu m’ denken, in dem einige seiner Werke als auf die Leinwand geworfene Schattenrisse dargestellt werden.

Aber folgen wir Greenbergs Ausführungen: Nachdem er nunmehr erläutert, dass die Malerei, um darstellerische Implikationen 341»auszuschließen«, abstrakt geworden sei, rekurriert er auf die Geschichte der »westlichen Malerei«, die als naturalistische viel »der Skulptur« verdanke, »die ihr in ihren Anfängen beigebracht hat, wie man abschattet und modelliert, um die Illusion von räumlicher Tiefe zu erzeugen.«[14]  Es ist also ein anderes Bildmedium, nämlich die Skulptur, von dessen Bildwirkungen sich die Malerei ihr Darstellungsvokabular, wie dreidimensionale Gegenstände auf zweidimensionalen Flächen dargestellt werden können, abgeschaut hat. Dieser skulpturalen Illusion allerdings hat sie sich, um modernistische Malerei zu werden, zu entledigen.[15]  Doch auch wenn sie, weil sie flach ist, jede skulpturale Illusion, jedes Trompe-l’Œil ausschließt, muss sie eine optische Illusion zulassen.[16]  Denn erst wenn die optische Erfahrung eines Bildes alle anderen Erfahrungen dominiert, würde die Schattierung, das heißt Abschattung und die Modellierung der Körper und mit beiden alles, was die Skulptur, also räumliche Darstellungssysteme, assoziieren lässt, unterminiert. Zu Greenbergs Argumentationsstrategie gehört es im Übrigen, theoretische Postulate und empirische Daten, die einander auszuschließen scheinen, gleichrangig nebeneinander stehen zu lassen: So kann er gleichzeitig behaupten, dass die modernistische Malerei nicht abstrakt und gegenstandlos zu sein braucht, um im nächsten Gedanken in einem als historisch verkleideten Argument auszuführen, dass die Malerei, um jegliche Allusion an ein anderes Medium zu vermeiden, abstrakt wurde.

In seinen Diskussionen der Beziehung von modernistischen Darstellungspraktiken und den mittels dieser abgebildeten Gegenständen, das heißt der Tatsache, dass »alle wiedererkennbaren Entitäten (inklusive der Bilder selbst), im dreidimensionalen Raum« »existieren«,[17]  greift Greenberg auf unterschiedliche Terminologien zurück. So wird in »On the Role of Nature in Modernist Painting« 342(»Über die Rolle der Natur in der Modernistischen Malerei«)[18]  den malerischen Implikationen der »Nachahmung der Natur« (imitation of nature) nachgegangen, während es sich, wenn Greenberg von der »Illusion der Tiefe« (illusion of depth)[19]  oder der »skulpturalen Illusion«[20]  spricht, um ein repräsentationslogisches Problem handelt. Auch in seinem im Auftrag von Voice of America geschriebenen Radiovortrag über »Modernistische Malerei«, der 1960 aufgenommen und 1961 gesendet worden ist,[21]  findet sich diese begriffliche Ambivalenz wieder: Rekurriert er in dessen erster Textfassung von 1960 auf den Naturalismus als Bezugsrahmen, wenn er von einer »realistischen naturalistischen Kunst« spricht,[22]  dann ist in der 1965 erschienenen Überarbeitung wieder von einer »realistischen illusionistischen Kunst« die Rede.[23]  Ob naturalistisch oder illusionistisch, beide Darstellungsweisen sind das Andere der modernistischen Malerei. Denn während es das Ziel von realistischer, naturalistischer oder illusionistischer Kunst gewesen sei, mittels der Kunst das eigene Medium zu verleugnen, wollte der Modernismus mittels der Kunst auf die Kunst selbst aufmerksam machen.[24]  Trotz seiner Ablehnung von skulpturaler, realistischer oder naturalistischer Illusion kam Greenberg dennoch immer wieder auf den Realismus zurück; und wenn er dies tat, dann immer im Hinblick auf die Fotografie. So spricht er sich in seinem fünften, am Bennington College abgehaltenen Seminar 1971 gegen den Fotorealismus und für einen »close focus on realism« in Malerei und Fotografie aus. 343In dem mit James Faure Walker 1978 geführten Interview erzählt er, dass er 1964 sogar eine größere Arbeit über den Realismus und die Fotografie begonnen, diese aber wieder aufgegeben habe, als er realisierte, welch schwierig zu behandelndes Medium die Fotografie sei.[25]  Im gleichen Jahr ist auch sein zentraler Aufsatz über die Fotografie, die Sammelrezension »Vier Photographen« in der New York Review of Books erschienen in dem er auch der Frage nach der Art des Realismus in der Fotografie nachgeht.[26] 

Das Fotografische

Hubert Damisch hingegen betont in seiner Einleitung zu Das Photographische. Eine Theorie der Abstände mit Rosalind Krauss, dass weder die Fotografie und ihr Verhältnis zum Realismus noch ihre Geschichte, sondern die Fotografie als Modell in den von der Autorin vorgelegten Aufsätzen verhandelt wird.[27]  Diese Distanzierung von fotografischen, fotohistoriografischen Diskursen wird durch die Organisation des Buches, das heißt durch die (von wem? dem Verleger Jean Clay? der Autorin? den Übersetzern? dem Vorwortschreiber?) eingefügten Kapitelüberschriften betont: Beginnend mit »Gibt es einen Gegenstand, der durch den Ausdruck ›Geschichte der Fotografie‹ bezeichnet wird?« über »Fotografie und Kunstgeschichte«, »Fotografie und Form [Gestalt]« bis zu »En regard de la photographie«, womit »In Anbetracht der Photographie« (wie es in der deutschen Übersetzung heißt) gleichermaßen gemeint sein kann wie »Gegenüber der Fotografie« oder »Im Ver344gleich mit der Fotografie« oder auch »Gegen die Fotografie«.[28]  Viele der die Absetzbewegung von einer »klassischen« Diskursivierung der Fotografie unterstreichenden Bedeutungsnuancen finden sich in der deutschen Ausgabe des Buches nicht.[29]  Gleiches gilt für den Titel selbst, der Hubert Damischs Conclusio wiederaufnimmt, dass Krauss, indem sie eine Bewegung der Kunst nachzeichnete, an die Ränder (lisières) der Fotografie geführt worden sei.[30]  Damit will er verdeutlichen, dass im Zentrum der Aufsätze eine epistemologische Verschiebung steht, die einerseits zu restituieren suche, wie sich die Kraft der Fotografie durch ihr Einbrechen in die Darstellungskonventionen der bildenden Kunst manifestier(t)e; und die andererseits die – in Bezug auf die Domäne der Kunst – unhintergehbare Exteriorität der Fotografie unterstreiche. Damit markiert die Publikation eine Absetzbewegung von den dem Zeitraum der Abfassung der Aufsätze vorausgehenden US-amerikanischen Bemühungen um die Instituierung der Fotografie in Kunstinstitutionen sowie von den in den 1970er Jahren in den USA und in Europa im Entstehen begriffenen und sich ausdifferenzierenden Fotokulturen.[31]  So kann [Für] [E]ine Theorie der Abstände [oder Ränder oder auch Randgänge][32]  auch als Parteinahme für eine theoretische Auseinandersetzung mit der Fotografie gelesen werden, die diese – ob der ihr attestierten Medienspezifika – in die Domäne der Kunst respektive der kunsthistorischen Diskurse aufnimmt, indem sie sie als Geschichte(n) der Fotografie, der Fotograf*innen und fotografischen 345Bilder, der Geschichte eines neuen und spezifischen chemotechnischen Mediums also, zurückweist. Dass dieser Prozess, oder vielmehr diese theoretische Distanznahme nicht immer linear vonstattengeht, zeigen Krauss’ Auseinandersetzungen mit surrealistischen Fotografien, die durchaus – auch – als fotohistorisch bezeichnet werden können.[33] 

Bevor ich mich Clement Greenbergs Lektüre von Fotograf*innen und Fotografien zuwende, möchte ich meinen Ausführungen einige Überlegungen vorausschicken, die die Verallgemeinerungen der fotografischen Medienspezifika betreffen; diese sedimentieren sich – wie weiter oben ausgeführt – in Termini, die das nur Fotografien Eigene durch deren Spezifizität charakterisierende, aber ob ihrer Generalisierung als konzeptuell zu wertende Begriffe zu umschreiben suchen. Diese allgemeinen, verallgemeinerbaren Spezifika der Fotografie verdanken sich allerdings nicht allein der theoretisch-methodologischen Positionierung einer*s Fragestellenden, sondern – neben der akademischen Disziplin und dem kulturellen Kontext, also den Aktionsfeldern, denen diese*r verpflichtet ist – auch den lokalen, regionalen, ja nationalen Mediengeschichten. Bei der Konstituierung dieser allgemeinen, verallgemeinernden Begriffe spielt die Sprache eine nicht unwesentliche Rolle; wie gezeigt wurde, können durch den Begriffstransfer von einer Sprache in eine andere, von einer kulturwissenschaftlichen Disziplin in eine andere grundlegende Bedeutungsinhalte verschoben und damit verunklärt werden, wenn nicht sogar verloren gehen. Dies trifft zum Beispiel auf Greenbergs Verwendung von Begriffen wie »pictorial«, »Pictorialism« und »arty« im Kontext seiner Fotografietexte gleichermaßen zu, deren kulturelle Verankerung durch ihre Übertragung ins Deutsche manchmal zum Verschwinden gebracht zu werden drohen – ich komme darauf zurück. Mit Übersetzungen sind immer Verlagerungen von semantischen Kernen verbunden, wobei diese nicht unbedingt mit den beschriebenen Bedeutungsverlusten einhergehen müssen, sondern durch Bedeutungsverschiebungen immer auch neue Begriffsinhalte und damit neue Forschungsfragen beziehungsweise -felder zutage treten können.

Welchen lokalen und vielleicht zufälligen Konstellationen sich 346derartige übersetzungsbedingte Transpositionen verdanken und zu welchen Hypostasierungen von Begriffen sie führen können, hat im französischsprachigen Kontext Katia Schneller in ihrem Aufsatz »Sur les traces de Rosalind Krauss. La réception française de la notion d’index. 1977-1990 (»Auf den Spuren von Rosalind Krauss. Die französische Rezeption des Begriffs Index. 1977-1990«) dargelegt. In ihrer historiografisch präzisen Lektüre vermag sie aufzuzeigen, dass der Terminus »le photographique«, »das Fotografische« also, mit dem Kunstwerke bezeichnet werden, die dem Indexikalischen zu subsumieren sind, einem als Übersetzungsleistung zu qualifizierenden, redaktionellen Eingriff gezollt ist: »[…] die Kunst des Index, ein Begriff, den man leicht durch einen anderen: das Fotografische ersetzen könnte«,[34]  hieß es 1979 im letzten Paragrafen der französischen Übersetzung von »Notes on the Index I u. II«.[35]  Dem Index war damit nicht allein ein Synonym zugewachsen, sondern, mehr noch, beide Begriffe ver- und bestärkten sich gegenseitig und instituierten damit ein neues Designat. Schnellers Historiografie dieser Begriffsbildung, Begriffsdopplung – wenn man so will – ist umso bemerkenswerter, als das Fotografische, wie ausgeführt, im Deutschen zu einem medienwissenschaftlichen Schlagwort geronnen ist, das scheinbar alle Medienspezifika der Fotografie einzubegreifen vermag.[36] 

Die Aufsätze über den Index hat Rosalind Krauss nicht in die französische Zusammenstellung ihrer Fotoaufsätze, wohl aber in ihre bereits 1985 erschienene Anthologie aufgenommen, die sie unter das Motto Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne subsumiert hat.[37]  Das ist umso bemerkenswerter, als 347Krauss gerade in ihren Indexaufsätzen zum ersten Mal erläutert, wovon ihr späterer Duchamp-Artikel handeln sollte. Es ist auch deshalb interessant, weil die Autorin – anders als Damisch das in seinem Vorwort behauptet – nur hier ihre fotografische Theorie auf die US-amerikanische Kunst der 1970er Jahre bezieht.[38]  In den »Anmerkungen zum Index. Teil 1« fragt Rosalind Krauss danach, ob den vielfältigen Kunstpraktiken der von ihr als »Post-Movement Art in America« apostrophierten Kunst der 1970er Jahre, zu denen von ihr »Videokunst; Performance; Body Art; Konzeptkunst; Fotorealismus in der Malerei und ein paralleler Hyperrealismus in der Bildhauerei; Story Art; monumentale abstrakte Skulptur (Earthworks) und abstrakte Malerei« gezählt werden,[39]  trotz all ihrer Differenzen Gemeinsamkeiten eignen. Vito Acconcis Videoarbeit Airtime von 1973 erlaubt ihr, sich mit deiktischen Zeichen oder Shiftern, wie Roman Jakobson diese genannt hat, auseinanderzusetzen, »die nur deswegen ›mit Bedeutung gefüllt‹ werden können, weil sie ›leer‹ sind.«[40]  Von Acconci kommt sie auf das schon genannte Tafelbild Tu m’ von Marcel Duchamp zu sprechen, welches die Prinzipien Acconcis (die permutative Verwendung von Ich und Du) im Titel trägt. Und obwohl Du (m)ich – wie der Titel auf Deutsch hieße – bereits 1918 gemalt worden sei, ließe sich das Bild aufgrund des Dargestellten (Duchamp bildet unter anderem seine Readymades ab, aber auch seine 3 Stoppages étalon [3 Kunststopf-Normalmaße, 1913/1914] sowie eine Hand mit ausgestrecktem Index-, also Zeigefinger) und des darin abgehandelten Problems zu den diskutierten Kunstwerken der 1970er Jahre in Bezug setzen. Dadurch wird es für Krauss zur »Matrix für ein zusammenhängendes Ideengeflecht«, »dessen gemeinsames Bindeglied der Index ist«. Duchamp sei der 348Erste gewesen, der »die Verbindung zwischen dem Index (als Zeichentyp) und der Fotografie hergestellt« habe.[41] 

Die »Anmerkungen zum Index, Teil 1« eignen sich also nicht nur dazu, auf die Bedeutungsverschiebungen beziehungsweise -hypostasierungen hinzuweisen, wie sie aus Übersetzungen resultieren können, sondern auch dazu, gemeinsame Funktionsprinzipien herauszuarbeiten, die sich in und mittels unterschiedlicher Medien realisierten Kunstwerken ausmachen lassen. Paradox an dem von Krauss auf andere Medien übertragenen fotografischen Prinzip Index ist allerdings, dass dieses als Signum der (fotografischen) Medienspezifik das Konzept von nur einem Ausdrucksmedium eigenen Charakteristika zu unterlaufen scheint – einerseits. Denn andererseits ist es ein sehr allgemeines, in unterschiedlichen künstlerischen Medien und kulturellen Praktiken anzutreffendes Prinzip, das Krauss als Index vorstellt. Im zweiten Teil ihrer »Anmerkungen zum Index« verleibt sie 1976 entstandene, auch auf die Ausstellungswände gemalte ortsspezifische Arbeiten diesem in ihren Augen die Kunst der 1970er Jahre zusammenfassenden Prinzip ein. Krauss’ hier vorgelegtes Shiften von einem Medium in ein anderes, ihr Sich-Abarbeiten an einem durchaus als präskriptives ästhetisches Prinzip eingesetzten Kunstverständnis, verbindet die 1976 und 1977 geschriebenen Aufsätze mit Clement Greenbergs Versuchen, die Moderne aus Darstellungsparametern wie denjenigen des Verhältnisses von Perspektive und Flächigkeit zu destillieren.

Bei den Medienspezifika, welche Index und Fotografisches bezeichnen, handelt es sich um Reduktionen. Mehr noch, die als Spezifika extrapolierten Kriterien können, nachdem sie einmal definiert worden sind, zu ziemlich rigiden und eindimensionalen Qualifikationen führen; denen überdies – wie der Einsatz der Kategorie Fotografisches deutlich macht – eine gewisse Beliebigkeit eignet.

Literatur und Fotografie(n)

Dass eine monovalente Lektüre fotografischen Bildern nicht gerecht wird, verdeutlichen paradoxerweise gerade Clement Greenbergs in Ausstellungs- und Buchbesprechungen, in Interviews oder 349Seminaren vorgebrachte Überlegungen zum Medium. Anders als man aufgrund seiner Reflexion der Darstellungsweisen der »Modernistischen Malerei« glauben könnte, schließt er die Fotografie (zumindest explizit) weder aus dem Kanon der Künste aus noch liest er sie auf der Folie ihrer medialen Selbstreferenz. Ja mehr noch, er attestiert ihr Eigenschaften und Qualitäten, die sich radikal von dem unterscheiden, was er für die bildende Kunst, insbesondere für die Malerei der späten Moderne, postuliert hatte. So forderte er in der überarbeiteten Version von »Modernistische Malerei« von 1965, dass die visuellen Künste auf keinerlei andere Erfahrungen Bezug nehmen dürften als auf visuelle, wollten sie konsistent sein. Greenberg glaubte, dadurch die künstlerischen Disziplinen einem kritischen, wissenschaftlichen Vorgehen unterwerfen zu können, das darin bestand, dass Problemstellungen und deren Lösungen aus ein und derselben Methode zu erwachsen hatten. Für die modernistische Malerei hieße dies, alle literarischen Themen in »strikt optische, zweidimensionale Begriffe [zu] übersetzen«, »bevor diese zum Gegenstand der pikturalen Kunst werden können«.[42]  Alles Literarische hatte also derart in bildliche beziehungsweise malerische Systeme übersetzt zu werden, dass es seine Literarizität verliert. Ganz anders beschreibt Greenberg das für die Fotografie: Für sie galt, dass sie »eine Geschichte erzählen [muss], wenn sie als Kunstwerk gelingen soll.«[43] 

Hinsichtlich Greenbergs Beschreibungen, was gute Fotografien ausmacht, ist gerade diese Forderung nach einer Reinheit der Medien interessant, die – wie in »Modernist Painting« erläutert – die Unabhängigkeit eines Mediums, seine Selbstbestimmung und seine Selbstkritik garantieren soll.[44]  Diese für die »high art«-Malerei geforderte Selbstbestimmung und Selbstkritik scheint für Greenberg kein Kriterium zu sein, das er an seine Beurteilung von Fotograf*innen und Fotografien anlegt. Ja mehr noch, in der Fotografie lehnte er jegliche Selbstreferenzialität ab, wie sie mit der Straight Photography diejenigen US-amerikanischen Kurator*innen und Fotograf*innen (wie Beaumont und Nancy Newhall, Edward Weston und Ansel Adams) forderten, die die Fotografie als den anderen Bildkünsten gleichberechtigte Kunst zu instituieren suchten.

350Anfang 1964 erschien in der New York Review of Books Greenbergs Rezension von vier 1963 publizierten Fotobüchern: Der von Arthur D. Trottenberg herausgegebene Band unterlegte den aus der Sammlung von Berenice Abbott stammenden Fotografien Eugène Atgets Texte von Marcel Proust;[45]  anders als diese essayistische Zusammenstellung ist die zweite Publikation, A Life in Photography,[46]  eine Fotoautobiografie des 1962 als Direktor des Departments of Photography des Museum of Modern Art pensionierten Edward Steichen. Auch das dritte Buch, Andreas Feiningers Bildband, will die Ergebnisse und Erkenntnisse von 30 Jahren Berufspraxis im »Querschnitt« zeigen.[47]  Während Steichens in Zusammenarbeit mit dem Museum of Modern Art (MoMA) edierter Band die einzelnen Lebensphasen und Tätigkeitsfelder chronologisch auflistet, entspricht Feiningers Rückblick einem unterschiedliche Fotogenres und Bildwirkungen abhandelndem Fotohandbuch, das mit vielen seiner in der Zeitschrift Life erschienenen Fotos bebildert wurde. Beim vierten Band, den Greenberg bespricht, handelt es sich um eine überarbeitete Neuedition eines bereits 1947 vom MoMA publizierten Ausstellungskatalogs Henri Cartier-Bressons mit neuen Beiträgen der Autoren der Erstausgabe, Lincoln Kirstein und Beaumont Newhall.[48] 

In Greenbergs kurzer Besprechung finden sich zentrale Beschreibungen beziehungsweise Charakterisierungen der Fotografie,[49]  die diametral zu seinen die »Modernistische Malerei« charakterisierenden Aussagen stehen. Zum einen ist für ihn die Fotografie hier eine 351literarische Kunst; das heißt implizit, dass auf sie das Postulat der medialen Opazität, die den Blick des Betrachtenden auf das Gemacht-Sein des Kunstwerks, also zum Beispiel das Malerische der Malerei, lenkt, nicht zutrifft. Ganz im Gegenteil, in Greenbergs Verständnis ist die Fotografie ein transparentes (man sieht durch sie hindurch auf das Abgebildete) und damit ein literarisches Medium: Ihre bedeutendsten Werke seien – noch bevor sie bildhaft und/oder malerisch (pictorial) seien, historisch, anekdotisch; sie berichteten und beobachteten. »Wegen der Transparenz des Mediums ist der Unterschied zwischen der Bedeutung, die die Dinge außerhalb der Kunst im wirklichen Leben haben, und ihrer künstlerischen Bedeutung in der Photographie noch geringer als in der Prosa.«[50]  Im Dokumentarischen entstanden, würden Fotografien nur zu Meisterwerken, wenn sie »über das Dokumentarische« hinausgehen, was sie täten, wenn sie »etwas vermitteln«, »das einen stärker berührt, als es bloße Information vermag.«[51]  So sei Fotografie ohne Narration nicht denkbar, aber das »rein Informative und Beschreibende« wiederum stelle für sie ebenfalls eine Gefahr dar (eine »fast so große Gefahr […] wie das rein Formale oder Abstrakte«).[52] 

Atgets Werk kommt nicht nur in der Besprechung von 1964, sondern in den meisten von Greenbergs Rekursen auf die Fotografie eine herausragende Rolle zu. Nach meinem Dafürhalten ist selbst für die Konzeption der Fotografie als literarisches Medium der französische Fotograf mitverantwortlich, oder vielmehr nicht so sehr Atget selbst als einer der ersten Autoren, die über diesen geschrieben haben. Es handelt sich um Pierre Mac Orlan, der in dem auf den von Berenice Abbott erworbenen Fotografien des französischen Fotografen basierenden Bildband Atget. Photographe de Paris von 1930 für die französische und US-amerikanische Ausgabe das Vorwort geschrieben hat. Nicht nur, dass »Die Fotografie« »eine literarische Kunst« ist, liest man bei Mac Orlan, sondern auch, dass sie als statische Bilder erzeugendes Medium, wenn sie in uns schon nicht menschliche Regungen evoziert, uns zumindest nahebrin352ge, was um uns passiert.[53]  Auch Greenberg weist darauf hin, dass Fotografien »ein intensiveres menschliches […] Interesse hervorrufen«; wenn er ausführt, dass sich die »Anwesenheit von Menschen« vermittels Spuren und Zeichen in Atgets Fotos sedimentiert habe, macht er überdies deutlich, dass Erstere »ein intensiveres menschliches – das heißt literarisches – Interesse hervorholen«, als das menschliche Abbild es vermöchte.[54]  Als Spuren des Realen wüchse Fotografien auch eine Zeitlichkeit und »[m]it der verstreichenden Zeit« ein »ästhetischer Wert« zu. Auch sei die Fotografie »die historische Kunst par excellence«,[55]  weshalb sie immer einer Zeit, ja einem Zeitgeschmack verpflichtet sei, wie es Atgets Fotografien zeigten. Das Argument der Fotografien eingeschriebenen Zeitverhaftetheit als Signum der Fotografie findet sich bereits in Greenbergs 1946 erschienener Besprechung einer Ausstellung von Edward Weston. Im Kontext seiner Kritik an Westons fotografischem Formalismus kommt Greenberg auf das »heroische Jahrhundert der Fotografie« zu sprechen, als welches er deren »erstes halbes Jahrhundert oder mehr« bezeichnet. Wie es bereits Walter Benjamin in seiner »Kleinen Geschichte der Photographie« dargestellt hatte, waren auch für Clement Greenberg die ersten 50 Jahre nach Erfindung der Fotografie 1839 deren wichtigster Zeitraum; der ästhetischen Qualität der Bilder aus der Frühzeit habe auch deren fototechnische Insuffizienz nichts anhaben können.[56]  Noch 1971, als er während seiner Abendvorträge am Bennington College gefragt wurde, ob er glaube, dass die Fotografie den Schönen Küns353ten (major art) zuzurechnen sei, antwortet er, dass er anders als viele Leute glaube, dass das der Fall sei, weil einige Fotografien, die er gesehen habe, zu den schönsten Bildern gehörten, die er jemals gesehen habe. Daraufhin wird er gefragt, ob er sich auf »alte Fotografie« beziehe, was er bejaht, um hinzuzufügen, dass, wenn man sich mit der Ästhetik der Fotografie beschäftige, man schwerlich umhinkönne, deren Verhaftetsein in einer (vergangenen) Zeit (period flavor), das heißt deren Obsoleszenz zu akzeptieren.[57] 

Immer wenn Greenberg nach der Zugehörigkeit der Fotografie zu dem von ihm charakterisierten Universum der Künste gefragt wird, kommt er ins Stocken oder weicht aus – so auch, wenn James Faure Walker ihn danach fragt, ob die Fotografie als formalistisches und autonomes Medium anzusehen sei. Eines Tages würde er zu dem von ihm avisierten Text über das Verhältnis der Fotografie zur Realität zurückkehren, antwortet er, um die Frage des Realismus und der Fotografie abschließend zu bearbeiten; und fügt hinzu, dass er sie sehr ernst nehme und ihr den gleichen Status zubillige wie den anderen Künsten.[58]  Was Greenberg in seiner Auseinandersetzung mit Fotografien größere Probleme bereitete, war, deren unterschiedliche Funktionen und Anwendungsbereiche einem einheitlichen Kriterienkatalog einzuverleiben; sie dünkten ihm zu vielfältig, wie er schreibt, einige könnten in Zeitungen reproduziert werden und funktionierten immer noch als Bilder, während man bei anderen den Print selbst sehen müsse, um das Foto beurteilen zu können.[59]  Seine Ablehnung von zu formalistischen Fotografien, wie denjenigen von Edward Weston, oder beliebigen, wie denjenigen von Andreas Feininger, macht deutlich, dass er dennoch spezifisch auf dieses Medium und dessen Eigenheiten abzielende Bewertungskriterien angelegt hat. Es war nicht das In-Szene-Setzen der fotografischen Medienspezifik, wie sie in der Fotografie des Neuen Sehens oder der f/64-Gruppe praktiziert wurde, die ihn interessierte, sondern die andere Art, Geschichten zu erzählen, wozu für ihn insbesondere Atget, aber auch Walker Evans und bis zu einem gewissen Grad auch Henri Cartier-Bresson in der 354Lage waren. Greenbergs Blick auf die Fotografie ist vielerorts als ein das Medium nicht anerkennender, es herabsetzender kritisiert worden.[60]  Zweifellos spielen Fotografien eine sekundäre Rolle in seinen Auseinandersetzungen mit der ihm zeitgenössischen Kunst. Auch verdanken sich viele seiner Äußerungen über fotografische Bilder aktuellen Kenntnisnahmen wie Ausstellungsbesuchen und Lektüren, die er dann in Fotokritiken überführt hat.

Man kann behaupten, dass aus der Auseinandersetzung mit DER Fotografie diejenige mit dem Fotografischen erwächst, das ja – folgt man Greenbergs Ausführungen zur Bewegung der Abstrakten/Abstraktion (wie der Titel seines Radiovortrags lauten sollte) – die Eigenheiten eines Mediums extrapoliert. Interessant ist nun, dass Greenbergs Aufsätze über Fotografie genau diese Deduktion medialer Spezifika nicht vornehmen, sondern dass sie auf Kategorien rekurrieren, die in dessen der Malerei gewidmeten Aufsätzen nur eine periphere Rolle spielen, oder mehr noch, die aus dem Bereich der Kunst ausgeschlossen sind. Greenberg schreibt über Fotograf*innen und an einigen wenigen Stellen auch über deren Fotografien; Fotos, die seinen oft sehr subjektiven Vorstellungen dessen, was die Fotografie zu leisten vermag, entsprechen. Dass dies so ist, mag zum einen an den Textgenres liegen, in denen er sich mit dem Medium auseinandersetzt. Meist handelt es sich um Ausstellungs- oder Buchbesprechungen, mehr noch um Kritiken von kulturellen Events, die in New York angesiedelt sind. Es ist also ein ganz enger kultureller Rahmen, in den sich seine Ausführungen einbetten lassen. Dennoch kommt diesen aufgrund der Bedeutung, die New York für die Etablierung einer eigenständigen Fotokultur in diesem Zeitraum zukam, in dem seine Aufsätze erschienen sind, eine über den verengten lokalen und nationalen Blickwinkel hinausstrahlende Bedeutung zu. Wenn Greenberg betont, dass die modernistische Kunst keine theoretischen Demonstrationen an355biete, sondern – ganz im Gegenteil – theoretische in empirische Möglichkeiten transformiere, gilt das nicht so sehr für seine um 1960 dogmatisch gewordenen Konzeptualisierungen der Hochkunst, es gilt vielmehr für seine randständigen Überlegungen zur illustrativen Kunst der Fotografie. Hier liegt der große Unterschied zwischen den Modellierungen DER Fotografie von Rosalind Krauss und Greenbergs Diskursivierungen. Während ihre Auseinandersetzung mit dem Medium eine dispositive, theoretische ist, schreibt Greenberg empirisch über das Werk von Fotograf*innen und über einige wenige Fotografien.[61]