Fragt man danach, was die Architektur in ihrem eigenen und eigentlichen Gegenstandsbereich, in ihrer geschichtlichen Dynamik und kulturellen Funktion ausmacht, so führt dies zur Tektonik und zum Raum. Damit sind die zwei großen Bereiche benannt, die die Architektur über die praktische Tätigkeit des Bauens hinaus als Baukunst auszeichnet, die sie einerseits von den Künsten unterscheidet, andererseits gleichermaßen zu den Künsten aufschließen lässt als eine besondere kulturelle Praxis, in der der Mensch sein Verhältnis zur Welt zur Sichtbarkeit bringt und zur Grundlage des Lebens macht.
Seit der Tektonik der Hellenen (1844) von Carl Bötticher sahen die verschiedenen Autoren wie Gottfried Semper oder Rudolph Rettenbacher in der Tektonik nicht nur eine Voraussetzung für die Schaffung von Raum und Räumen, sondern weit über die Tektonik als konstruktive und materielle Praxis hinaus in ihr die eigentliche poetische Instanz der Architektur oder, wie Kenneth Frampton schreibt, das »poetische Ausdrucksvermögen«[34] der Architektur schlechthin. Die Konstruktion bezieht auch und nicht zuletzt die »Vorstellung von Poesie«[35] mit ein. Mit der Wende zur Neuen Sachlichkeit und dem modernen Bauen nach 1919 wurde dann die Kunst der Architektur um den Begriff Raumkunst erweitert, nachdem der Raum schon gegen Ende des vorherigen Jahrhunderts in der Kunstgeschichte von August Schmarsow und Adolf Hildebrand thematisiert, von den Architekten aber erst nicht und dann nur zögerlich rezipiert worden ist.
In Tektonik und Raum ist die Architektur bei sich, was Frampton zu der Aussage veranlasst hat, dass die »Natur des Bauens viel mehr tektonisch und taktil als szenographisch und visuell ist.«[36] Ästhetische Erscheinung und sinnliche Wirkung gehören also nicht zum eigentlichen Gegenstandsbereich, der die Architektur in ihrer 377Spezifik von den anderen Künsten unterscheidet. So flüchtig und schwer bestimmbar, wie sie sind, scheinen sie abgeleitete Größen, daher von weniger grundsätzlicher Art, sowie Tektonik und Raum nachgeordnet zu sein. Das aber zu Unrecht. Wo doch die sinnliche Wahrnehmung geradezu Voraussetzung dafür ist, dass die Architektur überhaupt als das erkannt werden kann, was sie ist, nämlich Möglichkeitsraum für die menschlichen Sozialisierungsprozesse. Als Baukunst zielt die Architektur weniger auf die individuelle Rezeption als auf die Wahrnehmung durch die Gemeinschaft. Sosehr sie Kunst der Tektonik und des Raumes ist, so sehr ist die Architektur auch Kunst des Sozialen. Darin ist sie keineswegs nur passiv, als Auslöser von Handlungen besitzt sie einen aktiven Anteil daran.
Stellt man dann die Frage spezifischer und richtet das Interesse auf die Verfahren der Herstellung und der Handlungen, so zeigt sich die Architektur als sowohl dynamische wie auch unmittelbare kulturelle Praxis und keineswegs als statisch und immobil. Dynamisch ist die Architektur als Objekt, bei dem die Denk- und Herstellungsprozesse vielfache Zeichen und Spuren hinterlassen; unmittelbar ist sie als dasselbe Objekt, das mittels ästhetischer Wahrnehmung und Interpretation selbst wiederum Auslöser von Handlungen wird. Die Architektur als Artefakt, als ein Gemachtes, ist dadurch bestimmt, dass, was als Symptom, Spur oder Signal wahrnehmbar ist, einerseits in einer Kausalbeziehung zu den Herstellungsprozessen steht wie andererseits in einer Kausalbeziehung zu den Handlungen, die diese in dem*der Benutzer *in auslöst.
Als eine konstruktive Praxis, die im Sinne der Tektonik Ausgangspunkt und Träger ihres poetischen Ausdrucks ist, zeichnet die Architektur gegenüber den anderen Künsten aus, dass Objekt, Zeichen und Interpretation in der ganzen Breite ihrer Wirkungsweise durch indexikalische Beziehungen definiert sind. Indexikalische Zeichen sind dadurch bestimmt, dass sie innerhalb von Charles Sanders Peirce’ triadischem Zeichensystem, im Unterschied zu den abbildhaft-ikonischen und arbiträr-symbolischen Zeichen, nicht nur etwas bedeuten, indem sie auf etwas Bezug nehmen, was sie selbst nicht sind, sondern dass in ihnen die Verknüpfung von Material und Bedeutung, von Präsenz und Absenz und von Phänomen und Logik der Zeichen[37] immer mitthematisiert ist. Es ist die Inde378xikalität, in der weit über den Objektbezug hinaus die Dynamik und Unmittelbarkeit der kulturellen Funktion der Architektur begründet liegt.
Dem liegt Peirce’ methodologische Maxime des Pragmatismus zugrunde, dass Zeichen und ihre Bedeutung nur durch den Bezug auf mögliche Aktionen geklärt werden können. Peirce dachte dabei an »Aktion[en] des Denkens«,[38] für die Architektur geht dies jedoch weit darüber hinaus und schließt die Aktionen ein, in die das Objekt eingespannt ist, insofern es als Artefakt immer gemacht ist und gleichermaßen gebraucht wird. Architektur ist, in Anlehnung an Aristoteles, immer zugleich Resultat von Herstellungsprozessen und selbst Auslöser von Handlungen. Wo diese auf Kausalitätsbeziehungen gründen, zeigt sich die Architektur in ihrem eigenen und eigentlichen Gegenstandsbereich als eine durch und durch indexikalische Zeichenpraxis. Nach Beseitigung aller Vorurteile, nach Durchbruch durch die Idealisierungen und Abschälung aller zweifelhaften Prämissen wie beim Häuten einer Zwiebel zeigt sich die Kunst der Architektur als Kunst und Poetik der Indexikalität.
In Hinblick auf den poetischen Gehalt kann für die Bestimmung des Status der Indexikalität in der Architektur auf Peirce’ pragmatistische Semiotik und spekulative Grammatik zurückgegriffen werden. Es zeichnet Peirce’ Semiotik aus, dass sie die Theorie der Zeichen um eine phänomenologische Sichtweise erweitert. Peirce bindet Phänomen und Logik der Zeichen zu einer Einheit und zeigt daran anschließend, dass die Zeichenprozesse immer Auslöser von Handlungen auf der emotionalen, performativen und kognitiven Ebene sind. Das architektonische Zeichen ist demnach Teil einer Erfahrung, »deren erster Teil im Prozess des Gemachtwerdens des Zeichens, deren zweiter Teil in der phänomenalen Präsenz des 379Zeichens selbst und deren dritter Teil in der performativen Aneignung des Zeichens liegt.«[39]
Nach Peirce ist Architektur sowohl Zeichen und Phänomen, wobei unter Phänomen verstanden wird, »was zu irgendeiner Zeit auf irgendeine Weise gegenwärtig ist«,[40] während Zeichen Dinge sind, die in der Regel auf etwas Abwesendes verweisen, das sie selbst nicht sind. In der Architektur sind die Zeichen selbst Phänomen und in der Präsenz ihrer materiellen Erscheinung ernst zu nehmen. Dabei ist die Architektur auf besondere Weise Phänomen, weil sie sich gegenüber den Dingen der Natur dadurch auszeichnet, dass sie Artefakt und damit ein von Menschen Gemachtes ist, das seine Existenz einem Prozess der aktiven Herstellung, des kreativen Zusammenfügens von einzelnen Elementen und Materialien zu einem Ganzen verdankt. Es macht ihren besonderen Zeichencharakter aus, dass die Architektur nur einerseits Zeichen ist, das auf etwas anderes, Abwesendes verweist, während sie andererseits auf sich selbst verweist – im Sinne von »Ich bin eine Säule« –, dabei auch auf unterschiedliche Weise immer das eigene Gemachtsein anzeigt.
Das ist die Grundlage, wobei darauf hingewiesen werden muss, dass jedem Gemachtwerden immer ein Prozess der Konzeption und des Entwurfs vorausgeht. Wobei es jedoch beim Entwurf nicht bei der bloßen Imagination des zukünftigen Objekts und seiner materiellen und konstruktiven Herstellung bleibt, also dabei, wie die einzelnen Elemente wie Wände, Türen, Fenster und vieles andere zueinander in Relation gesetzt werden sollen; mindestens so sehr nimmt der*die Architekt*in beim Entwerfen imaginativ vorweg, zu welchen Handlungen, Tätigkeiten und Aktionen das Gebäude auffordern und welche Art des Gebrauchs es auslösen soll. Es besteht also eine genuine Zeichenhaftigkeit der Architektur nicht nur in Bezug auf ihre Herstellung, auf ihr Gemachtsein, sondern auch auf ihre Wirkung im Sinne des Gebrauchtwerdens. Bevor es aber zum Gebrauch kommt, wird die Möglichkeit dazu durch Zeichen angezeigt, die wahrgenommen werden müssen, wobei der Prozess der Wahrnehmung der Zeichen immer zugleich ein Prozess der Interpretation des Wahrgenommenen in Hinblick auf seinen 380möglichen Gebrauch ist. Man kann demnach von der vierfachen Wurzel des Zeichencharakters der Architektur sprechen, dass sie sowohl sich selbst in ihrer Präsenz anzeigt wie auch auf Abwesendes verweist, dass sie aber auch immer Zeichen ihres Gemachtseins wie auch Gebrauchtwerdens ist.
Mit Aristoteles gilt es festzustellen, dass das »Vermögen zu bauen eine Kunst und ein mit Verstand verbundener Habitus des Hervorbringens«[41] ist, wobei ihm zufolge der Habitus des Hervorbringens von dem »mit Vernunft verbundenen Habitus des Handelns« und damit vom Gebrauch der Architektur verschieden ist. Beide definieren jedoch die zwei Seiten der Architektur, die mittels des materiellen Objekts zu einer Einheit verbunden sind. Denn das Handeln, der Gebrauch, den die Architektur ermöglichen soll, ist nichts, was unabhängig vom Gemachtsein des Objekts existiert, während umgekehrt der Herstellung des Objekts der Entwurf vorausgeht, der das Möglichkeitspotenzial eines zukünftigen »Habitus des Handelns« zum Inhalt hat. Die Architektur geht nicht, wie man glauben könnte, allein in der Präsenz von Materialität und Objekt auf. Sie ist eine kulturelle Praxis, mithin eine Kunst, die aus der Logik und der Dynamik der Herstellungsprozesse und damit aus dem Prozess des Gemachtwerdens heraus entsteht, die das Objekt konstituieren und die ihm sichtbar eingeschrieben sind, wie sie umgekehrt aber auch die Logik des Handelns als Möglichkeitspotenzial enthält.
Was jetzt die Herstellungsprozesse betrifft, so ist Architektur immer Dokument ihrer Herstellung, es zeigt sich in ihr, wie sie gemacht ist. Als Artefakt, das eben nicht natürlich ist, kann sie nicht anders, als die Herstellungsprozesse und die in ihnen wirkenden Kausalitätsbeziehungen offenzulegen. Das zeigt sich in den vielfältigen Zeichen wie im Muster der hölzernen Schalbretter auf einer Betonwand, in den Schrauben und Nägeln oder auch in den Fugen zwischen den Dielen eines Fußbodens; jedes dokumentiert den Prozess des Gemachtseins, wobei es indexikalische Zeichen sind, die den Herstellungsprozess anzeigen. So sind Fugen indexikalische Zeichen, die das intentionale Zusammenfügen der einzelnen Elemente sichtbar machen. Eine gemauerte Wand hält uns in Spannung, weil in den Steinen und den Fugen dazwischen das 381Gemachtsein unmittelbar präsent ist, ein Stein neben und auf dem anderen. In besonderem Maße zeigt sich das Gemachtsein dann, wenn die Mauer unregelmäßig gebaut ist, wenn einige Steine darin schief und die Fugen unregelmäßig sind.[42] Dann ist der mit Vernunft verbundene Habitus des Hervorbringens gestört, die Kausalitätsbeziehung zwischen den einzelnen Steinen geschwächt, es drängt sich ein anderer Kausalzusammenhang in die Sichtbarkeit, was Zweifel an der Standfestigkeit der Mauer wecken kann.
Daraus resultiert nun die besondere Stellung der Indexikalität in der Architektur. Wo die Architektur Phänomen und Logik der Zeichen in ein Kontinuum stellt, steht die Indexikalität im Zentrum einer phänomenologischen Zeichentheorie. Nach Peirce zeichnet sich das indexikalische Zeichen, im Gegensatz zu den abbildhaft-ikonischen und arbiträr-symbolischen Zeichen, dadurch aus, dass es in einer realen Verbindung zu dem Objekt steht, auf das es sich bezieht, oder dass es, zumindest, das Denken zwingt, sich darauf auszurichten. Im Kontext des Habitus des Hervorbringens lassen sich drei Arten der Indexikalität klassifizieren. Da ist einmal (a) die faktische Indexikalität, bei der das Objekt, auf das sich das indexikalische Zeichen bezieht, unmittelbar physisch das Zeichen hervorgebracht hat wie der Fuß den Abdruck im Sand an einem Strand. Indem der Fuß einer Person auf den Sand einwirkt, wandelt sich dieser zum Zeichenträger, der Fußabdruck, der dann wiederum in Abwesenheit des Fußes auf gerade diesen Fuß verweist.
Davon ist (b) die deiktische Indexikalität zu unterscheiden. In diesem Fall ist das Zeichen vom Objekt, auf das es sich bezieht, nicht unmittelbar berührt, steht aber trotzdem im Einfluss von dessen Kraft, die es zwingt, sich auf das Objekt auszurichten. Deiktisch indexikalische Zeichen sind zum Beispiel ein Pfeil oder ein ausgestreckter Zeigefinger, die beide nicht in ihrer Form, aber in ihrer Ausrichtung in einer Kausalbeziehung mit dem Objekt stehen, das sie bezeichnen. Die (c) imaginären indexikalischen Zei382chen sind dann Zeichen, die in einer gedachten oder konzeptuellen Wirkungsbeziehung zu dem Objekt stehen, das sie bezeichnen. Das kann zum Beispiel ein strenger Blick sein, der in einer imaginären, vielleicht auch fiktiven Kausalbeziehung zur Autorität einer Person steht.
Alle drei indexikalischen Beziehungen – faktisch, deiktisch und imaginär – kommen im Hinblick auf den Habitus des Hervorbringens in der Architektur vor, wobei das Bezeichnete nicht nur ein materielles Objekt, sondern auch ein soziales Objekt, eine Idee, ein Gedanke oder eine Kraft sein kann.
Die Kunst der Indexikalität der Architektur geht aber über die bloße Sichtbarmachung des Gemachtseins der Architektur hinaus. Bliebe es dabei, würde man der Architektur zu Recht den Vorwurf des Materialismus machen. Es würde die Architektur allein auf architekturimmanente, materielle und konstruktive Inhalte reduziert, wobei doch die kulturelle Funktion der Architektur weniger in ihrer Objekthaftigkeit liegt als in ihrer sozialen Funktion, dass sie Auslöser von Aktionen, Handlungen und psychologischen Konstellationen ist. Architektur ist eine aktive Instanz, die Einfluss auf den Lauf der Dinge nimmt, indem sie dazu anregt, in der Freiheit der Entscheidung etwas mit ihr zu tun, dieses oder jenes oder auch im Missbrauch dessen, was sie normativ vorzugeben scheint. Sie besitzt Aufforderungscharakter, beispielsweise fordert eine Treppe dazu auf, auf ihr hinauf- oder hinabzuschreiten. Sie kann aber auch dazu gebraucht werden, in erhöhter Position zu stehen, um eine Rede an eine Gruppe von Menschen zu halten, oder vielleicht auch nur dazu, auf ihr zu sitzen. Ähnliches gilt für einen Türgriff, der dazu auffordert, ihn herunterzudrücken, die Tür aufzumachen und durch sie hindurch auf die andere Seite der Wand zu gehen. Man kann aber auch einfach etwas an ihn hängen.
Eine entscheidende Eigenschaft des Aufforderungscharakters der Dinge ist das Versprechen auf ein Ereignis. Mit dieser Beobachtung kann Aristoteles’ Definition der Kunst des Bauens als ein »mit Vernunft verbundener Habitus des Hervorbringens« um jene Aspekte ergänzt werden, die die Kunst des Bauens zur Kunst der 383Architektur erweitern. Zur Architektur wird, was in der Umkehrung der Kausalbeziehung ein Handeln oder eine Aktion auslöst. Die Kunst der Architektur liegt im Vermögen, soziale Handlungen oder überhaupt Aktionen auszulösen. Die Handlung, die das Artefakt auslöst, und die vorausgehende Hervorbringung des Artefakts, die Voraussetzung dafür ist, sind in der Architektur mittels des Objekts zu einer Einheit verbunden. Es macht die besondere gesellschaftliche Stellung des architektonischen Objekts aus, dass sie beides in ein Kontinuum setzt, dass sie das eine durchlässig für das andere macht.
Es zeichnet die Dynamik der Architektur aus, dass sie selbst hervorbringende Kunst ist, indem sie den Möglichkeitsraum schafft, der dem*der Benutzer*in Handlungen und Bewegungen suggeriert und so soziale Prozesse auslösen kann. Wo aus ihrer gestalterischen Logik heraus die Dinge eine Aufforderung zum Handeln enthalten, liegt jedem Handeln eine Kausalbeziehung zwischen Ding und Handlung zugrunde. Besteht dann die Kunst der Architektur darin, Phänomen und Logik der Zeichen in eine Kontinuität zu setzen, so kann man für die Seite des Habitus des Handelns von einer umgekehrten Kausalität sprechen, die nicht mehr retrospektiv, sondern prospektiv ist, die vom materiellen Objekt zum sozialen Objekt geht, dabei nicht minder indexikalisch ist. Wo die Architektur dennoch aus einem Prozess der Herstellung resultiert, ist das Zeichen, das die Handlung darstellt, ein Folgezeichen des Zeichens der Herstellung des Objekts. Das heißt aber, dass jede Handlung Teil der architektonischen Semiose, also des architektonischen Zeichenprozesses ist, der über das Objekt und den Herstellungsprozess auf den Entwurfsprozess zurückgeführt werden kann, was allerdings nicht in jedem Fall bedeutet, dass eine Intentionalität am Anfang steht.
Jede Architektur enthält somit die Möglichkeit zur Umkehrung der indexikalischen Kausalitätsbeziehung vom Herstellen und Gemachtsein zum Handeln und Gebrauchtwerden. In der Möglichkeit zur Umkehrung der Kausalbeziehung bergen indexikalische Zeichen in sich das Potenzial für soziale Objekte. Das heißt, dass die Kunst der Indexikalität nicht auf die Dokumentation des Herstellungsprozesses im Objekt beschränkt ist, im Gegenteil, sie zeigt sich auch in dem, was sie an Handlungen und sozialen Aktionen auslöst. Im Unterschied zur Dokumentation des Habitus des Herstellens kann man mit dem italienischen Philosophen Maurizio 384Ferraris dann von der Dokumentalität des Habitus des Handelns sprechen. Unter Dokumentalität versteht Ferraris die Theorie und Wirkungsweise, mit der den Dingen das Potenzial für soziale Handlungen eingeschrieben ist. Dokumentalität, im Sinne der umgekehrten Indexikalität, zielt auf soziale Objekte, im Unterschied zum Dokumentcharakter der materiellen Objekte. Dokumentalität als Initiator von Handlungen ist dabei, weit über die individuelle Tat hinaus, kollektiv wirksam. Mit Ferraris kann man von der »kollektiven Intentionalität«[43] der Dokumentalität der Architektur sprechen.
Es ist die Dokumentalität, mit der Architektur zum gesellschaftlichen Akteur wird; das architektonische Objekt greift in den Gang der Dinge ein. In der Dokumentalität kommt der Eigensinn der Architektur zur Wirkung, sie stellt dabei die strikte Trennung in materielle und soziale Räume in Frage. Es zeigt sich, dass der soziale Raum so sehr vom Objekt wie von der Gesellschaft her vorstrukturiert ist. Wo alles von den Akteur*innen und deren Körpern ausgeht, ist daher der »prozessuale Raumbegriff«[44] kein rein soziologischer Begriff, im Gegenteil, das Handeln des Menschen im Raum hat mindestens so sehr seinen Anlass im Objekt wie in der gesellschaftlichen Konditionierung. Es gilt, vom Objekt her einen performativen Raumbegriff zu konzipieren, in dem die Impulse für die Performativität von Körper und Leib im Raum von den Zeichen des Objekts ausgehen. Man kann dann von einer performativen Indexikalität sprechen, durch die die sozialen Objekte an die materiellen Objekte gebunden sind.
Im Dokument und in der Dokumentalität gründet die Sprachlichkeit der Architektur, mittels des indexikalischen Zeichenbezugs spricht die Architektur über sich und was man mit ihr oder mittels ihrer machen kann. Die Erweiterung zur Poetik und damit die Fähigkeit, über sich hinaus, also nicht nur auf sich selbst zu verweisen, entwickelt sie dagegen erst in der Schwächung der indexikalischen 385Bindung. Peirce sprach von der Möglichkeit einer »degenerierten Form« (degenerate form) oder einer »Degenerierung« (degeneracy)[45] der Zeichen. Mit der Schwächung des indexikalischen Bezugs öffnen sich Möglichkeiten, auf Abwesendes und außerhalb der Architektur Liegendes Bezug zu nehmen, so dass man feststellen kann, dass die Sprachlichkeit der Architektur so sehr in der Indexikalität der Zeichen liegt wie in deren Schwächung.
Die Entstehung der Sprachlichkeit aus der Indexikalität kann man bis auf die ideellen Anfänge der Architektur zurückführen – was immer man auch als Anfang benennen möchte. In seiner subtilsten Form zeigt sich das in der griechischen Klassik und ihrem Gebrauch der Ornamente. Diese gründen in indexikalischen Zeichenrelationen und gerade nicht, wie herkömmlicherweise angenommen, im Abbild oder Symbol und damit in der Erfindung durch den*die Architekt*in. Das macht sie so robust und wandlungsfähig wie auch unabkömmlich. Ornamente resultieren aus der Logik der Herstellung der Architektur.
Ein Hinweis dafür findet sich in dem ältesten Werk der Architekturtheorie aus dem 1.Jahrhundert vor Christus, Marcus Vitruvius Pollios Zehn Bücher über die Baukunst. Im vierten Buch thematisiert Vitruv die in der Indexikalität sich artikulierende Logik der Architektur und ihre Sichtbarmachung mittels des Ornaments: »Alles, was sie [die Baumeister] nur in ihren Gebäuden anbrachten, musste daher vollkommen passend seyn, und den unverfälschten Charakter der Natur tragen: und nichts gefiel ihnen, für dessen Wahrheit nicht ein zureichender Grund angegeben werden konnte.«[46] Hinter dem Begriff »zureichender Grund« verbirgt sich die Forderung nach Kausalität, und hinter dem, was die Baumeister anzubringen meinten und was vollkommen passend sein musste, das Ornament.
Vitruv zeigt dann, wie die Ornamente des klassischen Tempels als indexikalische Zeichen im Übergang vom Bauen mit Holz zum Bauen mit dem weit edleren und haltbareren Stein entstanden. In den Tempeln aus Holz war die Konstruktion sichtbar und in 386ihrer Logik nachvollziehbar, es bedurfte keiner gesonderten Zeichen oder Hinweise. Die Gebäude erklärten sich selbst, was sich mit dem Übergang zum Tempel aus Stein änderte. Denn mit dem Wechsel zum Bauen mit Stein mussten, aufgrund der großen Spannweiten, Decken- und Dachkonstruktion weiterhin aus Holz sein. Um aber die erhabene steinerne Erscheinung des Tempels nicht zu schwächen, sollten diese hinter der steinernen Fassade verborgen werden, wodurch sie aber der Lesbarkeit entzogen wurden. Beim Stoffwechsel von Holz zu Stein – was im Übergang zu Stahl und Stahlbeton in der Moderne wieder zum Thema wurde – stand die Architektur in Gefahr, zu einem abstrakten Gebilde zu werden. Abstrakt in der Architektur ist, was sich der Wahrnehmung der Logik des Gemachtseins oder Gebrauchtwerdens entzieht.
Um dem entgegenzuwirken, haben dann die Baumeister des dorischen Tempels, so Vitruv, die Ornamente erfunden. Um die Deckenbalken zur Sichtbarkeit zu bringen, ersetzten sie den Rhythmus aus Deckenbalken und Zwischenräumen mit steinernen Ornamenten, den Triglyphen und Metopen. Die Triglyphe, oder Dreischlitz, verweist auf einen Deckenbalken, die Metope auf den Zwischenraum. Die Deckenbalken wurden in die Bildhaftigkeit eines zweidimensionalen Ornaments übersetzt. Beide sind indexikalische Zeichen, die in einer Kausalbeziehung zu den Balken und Zwischenräumen hinter der Fassade stehen. Andere Ornamente sind der Zahnschnitt, die Mutuli und Guttae, die auf Elemente wie Dachsparren oder -latten Bezug nehmen. Auch der Giebel, der Tympanon, mit seiner figürlichen Darstellung von Szenen aus dem Mythos, ist ein indexikalisches Zeichen, das die unsichtbare Dachkonstruktion dahinter in ihrer Dreiecksform anzeigt. Tympanon, Guttae, Mutuli und Zahnschnitt wie auch Triglyphe und Metope gehören in die Kategorie der deiktisch indexikalischen Zeichen. Sie stehen nicht in einer physischen oder faktischen Beziehung zum Bezeichneten, sondern in einer Zeigebeziehung.
Von den deiktisch indexikalischen Ornamenten gilt es, die imaginär indexikalischen Ornamente zu unterscheiden. Dazu gehören die Entasis der dorischen Säule oder Kapitell und Säulenbasis. Sie bringen weniger die Konstruktion als das dem Tragwerk – der Einheit aus Stütze und Träger oder Säule und Architrav – zugrundeliegende statisch-konstruktive Prinzip zur Sichtbarkeit. Es ist das Prinzip des Gleichgewichts von Kraft und Gegenkraft, das an jeder 387Stelle des Gebäudes und in jedem Moment gelten muss. Das Spiel von Kraft und Gegenkraft kann berechnet werden, sehen kann man es aber nicht oder nur in dem Fall, in dem das Gleichgewicht gestört ist und das Gebäude einstürzt. Man sieht dann aber auch nur das Resultat, das dahinterstehende theoretische Modell selbst bleibt unsichtbar.
Die Entasis, die Schwellung der Säule – dass sie in der Mitte gestaucht zu sein scheint –, ist ein solches imaginär indexikalisches Zeichen, das das Spiel von Kraft und Gegenkraft bildhaft in die Sichtbarkeit überträgt. Heinrich Wölfflin hat dies anschaulich im Kontext der Einfühlungstheorie beschrieben: »Wir haben Lasten getragen und erfahren, was Druck und Gegendruck ist, wir sind am Boden zusammengesunken, wenn wir der niederziehenden Schwere des eigenen Körpers keine Kraft mehr entgegensetzen konnten, […] darum wissen wir das stolze Glück einer Säule zu schätzen.«[47] Gerade das bringt die Entasis zur Sichtbarkeit, als ob die Säule unter der Last gestaucht worden und in die Breite gegangen wäre, während gleichzeitig suggeriert wird, dass der Kraft von oben eine gleichgroße Kraft von unten entgegengesetzt wird. Last und Gegenlast sind im Gleichgewicht. Ähnliches gilt auch für die Säulenbasis der ionischen Säule, die unter der Last wulstartig zusammengedrückt zu sein scheint. Torus und Trochilus, die konkav und konvex geformten Wülste, sind imaginär indexikalische Zeichen, die ein lebendiges Bild von Druck und Gegendruck oder von Last und Gegenlast und damit von der Dynamik der Kräfte in der Säule geben.
Aber auch die Kapitelle sind imaginär indexikalische Zeichen. Plastisch nachvollziehbar ist dies an den Kapitellen der ionischen Säulenordnung mit ihren seitlichen Voluten. Auch sie sind, wie die Entasis, indexikalische Zeichen, die den neuralgischen und baukonstruktiv schwierigen Punkt der Umlenkung der Kräfte aus der Horizontalität des Architravs in die Vertikalität der Säule bildhaft vermitteln sollen. Das gilt auch dann, wenn Vitruv das ionische Kapitell und die Voluten anders begründete, nämlich bildhaft-symbolisch. Im Sinne einer anthropomorphen Bildübertragung verglich 388er die Volute mit den Locken einer Frau. Am »Kapitell brachten sie [die Baumeister, J.G.] zur Rechten und Linken schneckenförmige Windungen an, sie vorhängend, wie geträufelte Locken dem Haupthaar.«[48] Im Gegensatz zur männlichen dorischen Säule ist für Vitruv die ionische Säule weiblich konnotiert. Bevor sie aber mit einer anthropomorphen Bedeutung aufgeladen wurden, sind die Voluten indexikalische Zeichen für die Überleitung der Kräfte aus dem Architrav in die Säule.
Wie bei den dorischen und korinthischen Kapitellen ist auch im ionischen Kapitell die Verbreiterung der Auflage zwischen Balken und Säule, das Kapitell, und zwischen Säule und Erdboden, die Basis, eine konstruktive Notwendigkeit. Sie hilft, die statischen Kräfte ohne Schaden aus der Horizontalen in die Vertikale umzulenken. Es ist der der Architektur inhärente Überschuss an Form, der dann erlaubt, die statisch labile Umlenkstelle zum Thema der Gestaltung des Kapitels oder der Basis zu machen. Unter dem Einfluss der Last scheint sich das Material des ionischen Kapitells nach außen zu wölben, wie bei einem Meißel, der sich über Jahre hinweg durch unzählige Hammerschläge zu verformen, auszufransen und nach außen – lockenartig, wenn man will – einzurollen beginnt. Das ionische Kapitell resultiert unmittelbar aus der Erfahrung der Handwerker und Baumeister und deren Übertragung in die Bildhaftigkeit und Symbolik der Architektur.
In ihrer Indexikalität sind die Ornamente notwendige Elemente der Sprache der Architektur, weil sie es sind, durch die die Logik der Architektur als Artefakt zum Thema werden kann. Mittels der Ornamente erzählt die Architektur ihre Geschichte. Wo sie die Logik des Gemachtseins ins Bild übersetzen – als Entasis, Triglyphe oder Volute –, sind sie, ganz im Sinne der klassischen Definition der Ästhetik, Mittel der sinnlichen Erkenntnis der Architektur. Das ist der Ausgangspunkt, die Kunst der Architektur geht aber darüber hinaus, sie zeigt sich in den verschiedenen Abstufungen 389und den damit einhergehenden Veränderungen – Schwächung oder Stärkung – des indexikalischen Zeichencharakters. »Zeichen wachsen. Sie entwickeln sich aus anderen Zeichen heraus«,[49] wie Peirce feststellte. Das macht den Kern der Peirce’schen Semiosis oder Zeichenprozesse aus und liegt den poetischen Verfahren der Architektur zugrunde.
Die Schwächung oder Degenerierung des indexikalischen Zeichenbezugs bedeutet so viel wie Öffnung der Zeichen für die Bezugnahme auf anderes, außerhalb des konkreten Objekts Liegendes. Dass die Zeichen wachsen, bedeutet so viel wie Umbau oder Metamorphose des Zeichencharakters, Schwächung des indexikalischen Zeichenbezugs mit dem Ziel der Stärkung des ikonischen und symbolischen Gehalts. Die Schwächung der Indexikalität öffnet die Möglichkeit zu einem weitergehenden assoziativen Bezug der Architektur auf andere Phänomene der Kultur und deren Aufnahme in den Gehalt der Architektur. Indexikalischer Zeichenbezug und dessen Schwächung, das ist die Grundlage für die poetische Erweiterung des Zeichenbezugs auf Dinge jenseits der materiellen und konstruktiven Präsenz der Architektur.
Was die graduelle Lösung aus der indexikalischen Bindung für die geschichtliche Dynamik und kulturelle Funktion der Architektur bedeutet, lässt sich wiederum am klassischen Tempel und besonders an der Triglyphe und Metope zeigen. Ausgangspunkt ist, dass der klassische Tempel seine besondere ästhetische Einheit der Tatsache verdankt, dass das Triglyphen- und Metopenfries auf allen vier Seiten um den Tempel herumgeführt wird. In der ästhetischen Einheit des Tempels, in seiner Rundansichtigkeit, liegt gleichsam auch der Keim zur Erweiterung seines poetischen Potenzials. Denn auf der Giebelseite des Tempels liegen die Decken- und Dachbalken parallel zur Fassade, ein Anlass zum indexikalischen Zeichenbezug mittels Triglyphe und Metope ist nicht gegeben. An der Giebelseite ist der Zeichenbezug der Triglyphe auf die Deckenbalken geschwächt, was besonders auf der Rückseite des Prostylos oder Antentempels erkennbar ist, wo kein Säulenumgang ist und das Gebäude mit der Zellawand abschließt. Der unmittelbare indexikalische Bezug zwischen Triglyphe und Deckenbalken ist hier 390aufgelöst. Triglyphe und Metope verändern ihren Zeichencharakter, sie verweisen nicht mehr wörtlich auf einzelne Balken und Zwischenräume, vielmehr auf die hölzerne Decke als Ganzes.
Allerdings ist im Triglyphen- und Metopenfries überhaupt schon der indexikalische Zeichencharakter auf die Deckenbalken geschwächt. Der Rhythmus aus Triglyphe und Metope folgt nicht mehr der Konstruktion allein, sondern mindestens so sehr den Gesetzen der Wahrnehmung. Denn die Zahl der Triglyphen ist nicht identisch mit der der Balken, sie folgen vielmehr einem eigenen Rhythmus, der durch das Interkolumnium der Säulen und die Proportionen des Gebäudes gegeben ist. Der unmittelbare Bezug von Triglyphe und Konstruktion, die Verbindung von innen und außen, ist zugunsten der Logik der äußeren Erscheinung der Architektur geschwächt. Die Schwächung der Indexikalität ermöglicht, dass sich im Triglyphen- und Metopenfries nun zwei Erzählungen überlagern, eine visuelle und eine konstruktive.
Ist der indexikalische Bezug einmal geschwächt, bieten sich die Ornamente für die Konnotierung mit neuen Zeichenbezügen an. Das passiert überwiegend an den Stellen, die in ihrer indexikalischen Zeichenhaftigkeit schon geschwächt und daher offen für andere Zeichenbezüge sind. Nach Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) wurde die Metope sehr früh schon mit Kriegstrophäen, Opfergeräten oder »Köpfen von Stieren oder Widdern ausgezieret«,[50] was später dann als Relief in Stein ausgeführt wurde. Der geschwächte konstruktiv indexikalische Zeichenbezug wurde mit Bildern und Zeichen überlagert, die einem anderen logischen Bezug folgten. »An der Frise des Dorischen Tempels der Pallas zu Athen sind«, wie Winckelmann weiter ausführte, »auf die Metopen Gefechte mit Thieren vorgestellet, und an dem Tempel des Theseus daselbst die Thaten dieses Helden.«[51] Die Metope erzählt damit die Geschichte eines anderen Gemachtseins. Wie am Parthenon auf der Athener Akropolis kann das die heroische Geschichte der siegreichen Kriege Athens über seine Feinde sein oder aus der griechischen Mythologie der Kampf der Lapithen mit den Kentauren, beides Gründungsmythen Athens.
391Von hier aus ist es dann ein kleiner Schritt, die schon geschwächte Triglyphe und Metope weiter aus ihrer Beziehung zur Konstruktion des Bauwerks zu lösen und an beliebigen Orten anzubringen, wo diese überhaupt keinen Bezug mehr zur Konstruktion haben. Aus den indexikalischen und daher kausal motivierten Zeichen werden arbiträre oder symbolische Zeichen. Diese Art des Zeichengebrauchs ist charakteristisch für verschiedene Phasen der Architektur, wie zum Beispiel im Rokoko des 18.Jahrhunderts, im Eklektizismus des 19.Jahrhunderts oder auch in der Postmoderne des 20.Jahrhunderts. Durch die Lösung des architektonischen Zeichens aus der indexikalischen Zeichenfunktion konnten die Ornamente in großer Beliebigkeit auf jeder Oberfläche angebracht werden wie zum Beispiel auch in Gebäuden mit Stahlbetonwänden und -decken. Ihrer ursprünglichen architektonischen Bindung entleert, wandeln sich die indexikalischen Zeichen dann zu ungebundenen, arbiträren Zeichen und frei flottierenden Signifikanten.
An der im Historismus und Eklektizismus des 19.Jahrhunderts beschleunigten Lösung der Zeichen aus ihrer indexikalischen Bindung und ihrer freien Verwendung setzte die Kritik der Moderne an. Das Ziel der Moderne war es, unter dem Einfluss neuer Materialien und Technologien einerseits und neuer gesellschaftlicher Modelle andererseits die Einheit von Praxis und Zeichenhaftigkeit wiederherzustellen. Das Programm der Moderne besteht in der Rückführung der Zeichen auf die Indexikalität und damit Wiederherstellung der kausalen Verknüpfung von Phänomen und Logik der Zeichen.
Wie Clement Greenberg in »Modernistische Malerei« für die Malerei zeigte, geht es auch der modernen Architektur um die Wiederherstellung der ihr eigenen Praktiken und Verfahren und damit um nicht weniger als die Wiederherstellung ihrer Identität. Nach Greenberg liegt das Wesen des Modernismus darin, »die charakteristischen Methoden einer Disziplin anzuwenden, um diese Disziplin ihrerseits zu kritisieren – nicht um sie zu untergraben, sondern um ihre Position innerhalb ihres Gegenstandsbereichs zu 392stärken.«[52] Die Avantgarde der Moderne zielt nicht auf Subversion und gar Auflösung der Tradition, sondern im Gegenteil auf die Rückführung der künstlerischen Praktiken auf die Grundlagen und damit auf jene Verfahren und Methoden, über die sie allein verfügt und was »ausschließlich in dem Wesen ihres jeweiligen Mediums angelegt ist.«[53]
Wiederherstellung des indexikalischen Zeichenbezugs ist auch das Programm der Architektur der Moderne. Sie zielt nicht auf das Neue als ein völlig Anderes, die Revolution der Moderne fand in dieser Hinsicht nicht statt, vielmehr ging es ihr um die Kritik an der Zeichenpraxis und damit an der degenerierten, geschwächten oder fehlenden Indexikalität der Ornamente in Historismus und Eklektizismus. Rückbindung an die Indexikalität bedeutete dann so viel wie Verschiebung von der reichen sinnlichen Erfahrung der bildhaften ikonischen und symbolischen Zeichen zur Intellektualität der Wahrnehmung, die sich mit den indexikalischen Zeichen verbindet. Es ist nicht allein die Abschaffung der Ornamente, sondern die Indexikalisierung der Architektur, die die Moderne, besonders die weiße Moderne, so unsinnlich, so kühl und so abweisend erscheinen lässt.
Die Protagonist*innen der modernen Architektur waren sich dessen bewusst und auch, dass sie nur die Grundlagen für eine künftige Ausdrucksfähigkeit der modernen Architektur in der ganzen Fülle intellektueller und sinnlicher Erfahrung legten. Ziel war es, in einem ersten Schritt eine neue Grammatik zu entwerfen, auf der aufbauend sich eine neue Sprache der modernen Architektur im Sinne von neuen Formen der sinnlichen Erkenntnis entwickeln konnte. Von hier aus sollte dann in einem Prozess der Ausdifferenzierung eine moderne Identität der Architektur und der Gesellschaft möglich werden.
Es gilt aber auch wahrzunehmen, dass im Hintergrund der avancierten Praxis der Moderne immer die Parallele zur Klassik steht. Dem Übergang von Holz zu Stein im klassischen Tempel folgte ein weiterer Stoffwechsel zu Stahl, Beton und Glas. Das zeigt sich eindrücklich in Adolf Loos’ Architektur und in seinem Aufsatz Ornament und Verbrechen von 1908, einem Schlüsseltext zur Theorie 393des Ornaments. Paradoxer-, aber konsequenterweise wandte sich Loos darin keineswegs pauschal gegen das Ornament als solches, sondern gegen dessen Erfindung aus einem falsch verstandenen individuellen, künstlerischen oder ästhetischen Impuls heraus. In Erweiterung der Definition von Kultur, die Loos in Architektur von 1910 gab, kann man festhalten, dass Ornament das ist, was »allein ein vernünftiges denken und handeln verbürgt«.[54] Das Ornament steht in der Logik der Kultur und ihren Kausalbeziehungen, der die Architektur als eine ihrer zentralen Kulturtechniken verpflichtet ist.
Die Rückführung der Zeichen auf ihre genuine Kausalitätsbeziehung, das zeigt sich eindrücklich in Loos’ Haus Scheu aus dem Jahr 1913, ist aber ein charakteristisches Element in seinem Gesamtwerk. Was scheinbar funktional begründet ist, folgt in Haus Scheu einem indexikalischen Verfahren. Das gilt für die Fassade wie für den Baukörper. Die Fenster sind nicht nur funktionale Wandöffnungen, sie stehen in einer indexikalischen Beziehung zu den Räumen dahinter, die sie in ihrer spezifischen Verwendung und spezifischen Größe anzeigen. Seien es Wohn- oder Schlafzimmer, Küche, Badezimmer oder Treppenhaus, jedes wird durch ein eigenes Fensterformat deiktisch angezeigt. So besitzt die Fassade ein eigenes Narrativ. Das gilt ebenso für das abgetreppte Gebäudevolumen, das auf jedem Geschoss gleichsam Index der Größe der Wohnung ist. Daher ist die Behauptung nicht zu weit hergeholt, dass die Fenster und das Gebäudevolumen von Haus Scheu nicht formal, aber in einer analogen Beziehung zu den deiktisch indexikalischen Ornamenten des klassischen Tempels stehen wie das Triglyphen- und Metopenfries oder die Entasis; nur dass bei Loos der indexikalische Bezug nicht die Konstruktion betrifft, sondern die Konzeption des Gebäudes in seiner räumlichen Organisation.
In analoger Beziehung zum klassischen Ornament entwickelte auch Henry van de Velde das, was er als neues Ornament oder »rationales Ornament« benannte. Die »Ornamentik ist vor allem notwendig, sie entsteht aus dem Gegenstand, mit dem sie verbunden bleibt, sie weist auf seinen Zweck«,[55] so skizzierte van de Velde 394die deiktische Indexikalität des Ornaments. Er schreibt dann weiter: »Dieselben Gesetze, welche die Arbeiten des Ingenieurs leiten, leiten auch die Ornamentik.«[56] Das zeigt sich in jenen Stahlbalken über den Fenstern der Kunstgewerbeschule in Weimar, die keine tragende, sondern eine verweisende Funktion auf die Tragkonstruktion dahinter haben. Wie Loos sucht auch van de Velde die Rückbindung der aktuellen Praxis der modernen Architektur an die Klassik und die dort formulierten Grundlagen der Architektur. Er hält an der aufklärenden Funktion des Ornaments fest. Die Traditionslinie aus der Gegenwart in die Geschichte hinein ist dabei keine formale, sondern eine konzeptuelle.
Ihr spezifisch Eigenes erhält die moderne Architektur durch die Erweiterung des Denkens der Architektur und der Reflexion über die Frage hinaus, wie das Objekt gemacht ist, um die Frage, wie das Objekt gedacht und entworfen ist. Wie bei Loos sichtbar wurde, zeigt sich die Intellektualisierung der Wahrnehmung als Verlagerung des indexikalischen Bezugs von der Konstruktion zur Konzeption. Das macht die besondere Stellung von Walter Gropius’ Meisterhäusern in Dessau von 1926 aus. Zu ihnen gehören das Direktorenhaus, die Doppelhäuser Moholy-Nagy und Feininger, Muche und Schlemmer, Kandinsky und Klee. Gropius beschäftigte sich damals mit dem Entwerfen mittels eines »Baukastensystems« von unterschiedlich dimensionierten, aber standardisierten Gebäudevolumen. Ein Missverständnis wäre aber, würde man das Baukastensystem nur mit einem Verfahren additiver Kombination von einzelnen Volumen verstehen. Die Volumen sind dagegen so platziert, dass sich in ihnen eine eigene Zeitlichkeit zeigt. Sie scheinen wie verrückt, einige gestalterische Elemente können als Spuren und damit Hinweise auf eine ehemalige Position der Volumen gelesen werden, darauf also, dass die Gebäudevolumen einstmals, probeweise und experimentell, eine andere Position eingenommen haben, jetzt aber verschoben sind, was als materielle Spur in Form einer negativen Ecke oder einer Leerstelle in der Fassade, was jetzt Tür ist, lesbar ist.
Die Meisterhäuser sind keineswegs so zeitlos, wie sie auf den ersten Blick in ihrer Ornamentlosigkeit zu sein scheinen. Eine eigene, selbstbezügliche Zeitdimension des Konzipiert- und Entworfen395seins ersetzt nun die historische und die konstruktive Zeitdimension der Architektur, die durch den Verzicht auf die klassischen Ornamente verloren gegangen ist. Mittels eines erweiterten Gebrauchs indexikalischer Zeichen führte die Moderne neben der historischen und der konstruktiven Zeitlichkeit eine weitere Zeitdimension ein, es ist konzeptuelle Zeitlichkeit ihres Entworfenseins, als ob die Gebäude unter dem Einfluss einer großen, unbekannten, magischen Kraft gestanden hätten, die auf sie eingewirkt hat. Vermittelt durch die indexikalischen Zeichen kehrt so als unbekannte, bewegende Kraft das Erhabene in die Architektur der Moderne zurück und damit das, was durch den Verzicht auf die Ornamente und ihren historischen Bezug auf die mythische Vergangenheit verloren gegangen war.
Die Rückstellung der Architektur auf die indexikalische Zeichenbeziehung, die gegenüber den ikonischen und symbolischen Zeichen die unsinnlichere, weil intellektuelle Zeichenbeziehung ist, brachte der Moderne den Vorwurf des Fundamentalismus und Elitismus ein. Hier setzte dann die Kritik der Postmoderne an. Sie hielt die mit der Indexikalisierung einhergehende Intellektualisierung der Wahrnehmung nicht mehr aus und drängte zu den Bildverfahren und den Oberflächenphänomenen, zu den sinnlichen Qualitäten der Architekturerfahrung zurück, die nur mittels der Schwächung der Indexikalität ihrer Zeichen möglich war. Unterstützt durch die Idee des flottierenden Signifikanten, die aus dem Poststrukturalismus in die Architektur übertragen wurde, betrieb die Postmoderne die Lösung der architektonischen Zeichen aus ihrer Kausalbeziehung und deren Öffnung für vielbezügliche Zeichenprozesse und ihre unendlichen Assoziationsketten.
Alles geht von der Indexikalität aus, alles geht in der Pendelbewegung der Geschichte zur Indexikalität zurück. In der Geschichte der Architektur war aber die Moderne nicht die einzige Epoche, die die Rückführung der Architektur auf die ihr inhärent konzeptuelle, konstruktive oder performative Indexikalität verfolgte. Die Geschichte der Architektur lässt sich, neben dem großen Narrativ als Ideengeschichte, auch als Geschichte der wechselvollen dyna396mischen Veränderung der Zeichenbeziehungen und der daraus resultierenden veränderten Sprach- und Artikulationsfähigkeit bestimmen: Immer wieder Lockerung und Lösung aus der kausalen Bindung, aber auch immer wieder Rückführung darauf. Spätgotik, Rokoko und Eklektizismus waren jene Epochen, die die freie, ungebundene, assoziative Verknüpfung der Zeichen favorisierten, was zur Schwächung der Aussagefähigkeit, aber zur Stärkung ihrer sinnlichen Wirkung führte. Renaissance, Klassizismus und Moderne waren die unmittelbare Reaktion darauf. Sie verfolgten die Rückführung der Architektur auf die ihr eigenen Motive und stehen daher, trotzt der zeitlichen Distanz, konzeptuell auf derselben Ebene.[57] Mit der Wiederherstellung der indexikalischen Bindung als Garant für die Aussagefähigkeit der Architektur verfolgen sie nichts weniger als die Wiederherstellung der Identität der Architektur im je veränderten kulturellen Kräftefeld.