Einleitung

Kunstwerke sind Artefakte, ihre Herstellung ist immer mit irgendeiner Technologie verbunden, und viele neue Künste nutzen und erschließen neue Technologien. Es gäbe keine Romane ohne kostengünstigen Buchdruck und Buchbinderei. Der moderne Wolkenkratzer ist ein Produkt der Stahlherstellung. Jazz vereinte die europäische Technik der diatonischen Tonleiter mit afrikanischen Rhythmen. Ein Faktor in der Entstehung des Impressionismus war die Herstellung von gebrauchsfertigen Ölfarben in Tuben, was das Malen im Freien bei natürlichem Licht erleichterte. Sobald Computer verfügbar waren, wurden sie verwendet, um Kunst zu machen – das erste computerbasierte Kunstwerk wurde bereits 1951 geschaffen[1]  –, und seitdem ist der Bestand an digitalen Kunstwerken sprunghaft gewachsen. Doch obwohl der erste philosophische Artikel zu »kybernetischer Kunst« schon 1961 erschien,[2]  beginnen Philosoph*innen erst jetzt damit, sich tiefergehend den Fragen zuzuwenden, die durch digitale Kunst aufgeworfen werden. Was ist digitale Kunst? Wie, wenn überhaupt, ist sie als Kunstmedium neu und interessant? Kann sie uns etwas über Kunst als Ganzes beibringen?

Antworten auf diese Fragen zu geben, bietet ein Gegenmittel gegen den Hype, der häufig mit digitaler Kunst einhergeht. Wir hören, dass Computerkunst unsere Kultur tiefgreifend verändert und die Art und Weise, wie wir über Kunst denken, revolutioniert habe. Sie befreit die Künstler*innen von der Materialität traditioneller Kunstmedien und -praktiken. Kunstrezipient*innen, einst passive Empfänger*innen ästhetischen Genusses, können endlich aktiv am Kunstprozess teilnehmen. Äußerungen wie diese entspringen weniger einer sorgfältigen Analyse als vielmehr den Kräften des Mar400ketings sowie einfachen Missverständnissen einer komplexen und vielgestaltigen Technologie. Eine treffende Konzeption des Wesens digitaler Kunst und ihres Potenzials könnte den Enthusiasmus, der jeder Innovation beiwohnt, kanalisieren, ohne ihn zu ersticken. Gleichzeitig setzt er einigen kulturkritischen, gegen digitale Kunst gerichteten Klageliedern etwas entgegen. Radikaler Antihype zieht seine rhetorische Kraft oft aus unserer Reaktion auf den Hype. Wenn man uns sagt, dass elektronische Musik oder fraktale Kunst oder Virtual-Reality-Brillen die Zukunft der Kunst sind, haben wir einen guten Grund, an der Glaubwürdigkeit unseres*r Informant*in zu zweifeln, und dieser Zweifel kann zu einer pauschalen Skepsis gegenüber digitaler Kunst führen. Doch obwohl ein Großteil der digitalen Kunst zugegebenermaßen grässlich ist, zeigt das nicht, dass sie niemals von Wert oder Interesse ist. Die richtige Lehre daraus ist, dass wir mit Vorsicht vorgehen sollten.

Dieses Kapitel ist in drei Abschnitte unterteilt. Der erste behandelt die Verwendung von Computern als Werkzeuge für die Produktion von Kunst. Der zweite beschreibt einige Kunstwerke, die sich die spezifischen Potenziale von Digitalcomputern und digitalen Netzwerken zunutze machen. Um diese Werke zu verstehen, müssen wir digitale Kunst definieren und überlegen, ob es sich um ein neues Kunstmedium handelt. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit der Verwendung von Computern als Instrumenten, die allgemeine Einsichten in die Produktion von Kunst erlauben. Diese Dreiteilung ist ein Beispiel für einen brauchbaren Weg, um über jeglichen Einsatz von Computern nachzudenken, nicht nur in den Künsten. Beispielsweise könnte eine Philosophie der künstlichen Intelligenz mit einer Diskussion über Computer als kognitive Hilfsmittel beginnen (zum Beispiel als Hilfe bei Berechnungen), dann prüfen, ob Computer eine Art von Intelligenz besitzen, und mit einer Diskussion über die Verwendung von Computermodellen des menschlichen Geistes in der kognitiven Psychologie schließen.

1. Kunst digital machen

Der Digitalcomputer hat zwei recht verschiedene Arten von Innovationen hervorgebracht. Er hat viele Aufgaben automatisiert und beschleunigt, insbesondere Routineaufgaben, die einst relativ 401schwierig oder zeitaufwändig waren. Zudem hat er einige Tätigkeiten möglich gemacht, die zuvor unmöglich oder ungeheuer schwierig waren. Die meisten Diskussionen über digitale Kunst sind mit der letztgenannten Art von Innovation befasst; jedoch sollte die Wirkung der erstgenannten nicht ignoriert werden. Wenn Kunst immer irgendeine Art von Handwerk beinhaltet, dann kann die Ausübung des Handwerks den Einsatz von Computern einschließen. Des Weiteren kann ein klarer Blick auf den Einsatz von Computern als Werkzeugen der Kunstproduktion helfen, einen Begriff von der Art der Innovation zu gewinnen, die neue Möglichkeiten für die Kunst eröffnet.

Wenn das einem Kunstmedium zugrundeliegende Handwerk praktische, nichtkünstlerische Anwendungen hat, kommt häufig digitale Technologie zum Einsatz, um die Ausübung dieses Handwerks einfacher und effizienter zu gestalten. Der Einsatz von Computern in der Produktion von Kunst dehnt einfach deren Verwendung in andere Bereiche menschlicher Unternehmungen aus. Die ersten bildgebenden Computertechnologien, die Ausgabe von Plotter-Zeichnungen, wurden für technische und wissenschaftliche Anwendungen entwickelt, dann allerdings schnell von Künstler*innen in den frühen 1960er Jahren übernommen. Es muss kaum darauf hingewiesen werden, dass Textverarbeitungsprogramme sich als Segen für Buchautor*innen und Büroleiter*innen erwiesen haben. Software, die für die Luftfahrtkonstruktion entwickelt wurde, hat den Weg für die atemberaubenden, komplexen Kurven geebnet, die charakteristisch für Frank Gehrys jüngste Gebäude sind, insbesondere das Guggenheim Bilbao. Da die digitale Klangverarbeitung und das MIDI-Protokoll speziell mit Blick auf Musik entwickelt wurden, stellt Musik eine Ausnahme von der Regel dar, dass Technologien für digitale Kunst solche Technologien adaptieren, die für irgendeinen nichtkünstlerischen Zweck entwickelt wurden. In jedem dieser Fälle realisiert der Computer jedoch lediglich Effizienzsteigerungen in der Kunstherstellung oder im Kunstvertrieb. Digitale Technologie, einschließlich digitaler Netzwerke und der Compact Disk, wird genauso wie die Schallplatte zur Speicherung von Musik verwendet, jedoch in einem Format, das wesentlich portabler und auch ohne Rauschen übertragbar ist. Musikaufnahmen, für die früher Live-Musiker*innen, ein Studio und etliche Techniker*innen erforderlich waren, können heute zu einem Bruchteil 402der Kosten von einer Person in ihrer Garage mit einem Keyboard und einem Computer gemacht werden.

Computer erleichtern manchmal die Arbeit von Künstler*innen, und indem sie die technischen Anforderungen des einem Kunstmedium zugrundeliegenden Handwerks reduzieren, erleichtern sie manchmal unerfahrenen Einsteiger*innen, Kunst zu machen. Zudem führen manche Verwendungsweisen von Computern bei der Produktion und Verbreitung von Kunst dazu, dass Kunstwerke Eigenschaften besitzen, die sie sonst nicht hätten. Die Verwendung von Schreibmaschinen durch einige Schriftsteller*innen der Moderne im frühen 20.Jahrhundert beeinflusste den Charakter ihres Schreibens. Der relativ kostengünstige digitale Filmschnitt ermutigt Filmemacher*innen dazu, mit schnellerem Tempo und komplexerer Sequenzierung zu experimentieren. Eine technische Schwäche beim Spielen ist heute für die Aufnahme von Musik und deren weltweite Verbreitung vom Schreibtisch aus kein Hindernis mehr. Die Hyperinstrumente von Tod Machover können auf interessante Weise gespielt werden – einige sind zum Beispiel Stofftiere, deren Klang davon abhängt, wie sie zusammengedrückt werden –, und sie können dazu verwendet werden, Musik zu machen, deren Klang ihre Instrumentierung reflektiert.[3]  Welche Eigenschaften Kunstwerke einer Epoche besitzen, hängt zum Teil von den Technologien ab, die in dieser Epoche bei der Kunstherstellung eingesetzt wurden. Die Geschichte der Kunst ist teils von technologischer Innovation getrieben.

Während die bisher diskutierten Typen von Innovationen zwar Kunstwerke mit neuen Eigenschaften erzeugen, so bringen sie doch weder neue Kunstmedien hervor, noch verändern sie unsere Standards für die Bewertung von Kunstwerken. Bei der ästhetischen Bewertung der Qualität eines Popsongs muss nicht berücksichtigt werden, ob seine Aufnahme analog, digitally remastered oder direct-to-digital ist und ob diese Aufnahme von einer Schallplatte, einer Magnetbandrolle, einer Compact Disk oder einer MP3-Datei abgespielt wird. Die relative Einfachheit der Onlinepublikation bedeutet, dass viel mehr veröffentlicht wird, die Natur der Literatur und ihre ästhetisch relevanten Eigenschaften jedoch bleiben bestehen. Ein Roman ist ein Roman und ist so gut oder so schlecht, 403wie er ist, ob er gedruckt und als Buch gebunden oder per E-Mail an Freund*innen verschickt wird. Es ist zwar wichtig zu erkennen, wie Computer den Weg in Ateliers von Künster*innen gefunden haben – oder die Ressourcen eines Studios breiter und kostengünstiger verfügbar gemacht haben. Aber dies ist keine Revolution in der Natur der Künste.

2. Die digitale Palette

Computer erleichtern die Ausführung einiger Aufgaben, aber sie rüsten uns auch für neue Aufgaben aus. Auf diese Weise können Künstler*innen neue Spielarten von Kunst erfinden, einschließlich dessen, was wir als »digitale Kunst« bezeichnen wollen. Eine Frage, die es zu beantworten gilt, ist, was charakteristisch für digitale Kunstmedien ist. Theoretiker*innen schlagen typischerweise vor, dass digitale Kunst in zwei Hinsichten neuartig ist, wobei sich die erste aus Virtual-Reality-Technologien und die zweite aus der Fähigkeit von Computern zur Unterstützung von Interaktivität ableitet. Es muss etwas darüber gesagt werden, was Virtual Reality und Interaktivität sind, und es wird hilfreich sein, einige künstlerische Anwendungen von beiden zu beschreiben. Aber da es unser Ziel ist, eine Theorie der digitalen Kunst zu entwickeln, ist es klug, zunächst darüber nachzudenken, wie eine angemessene Theorie eines jeden Kunstmediums aussehen sollte.

Kunstmedien sind Arten einer Gattung, die alle Kunstwerke, und nur diese, umfasst. Diese Gattung kann entweder bewertend oder beschreibend bestimmt werden. Folgt man der bewertenden Bestimmung, sind Kunstwerke als solche notwendigerweise gut, und »Kunst« ist im Wesentlichen ein ehrender Begriff. Einige Theoretiker*innen, die über digitale Kunst schreiben (insbesondere ihre Kritiker*innen), haben diese Bestimmung im Sinn. Brian Reffin Smith, selbst Computerkünstler, verwirft vieles von dem, was unter dem Titel der digitalen Kunst geführt wird, als »Grafikdesign, das ein bisschen wie Kunst aussieht«.[4]  Er lässt nicht zu, dass es sich bei 404den fraglichen Werken um schlechte Kunst handelt, denn Kunst, so nimmt er an, ist als Kunst notwendigerweise gut. Beschreibende Auffassungen von Kunst erlauben, dass einige Werke als Kunstwerke missglückt sein können und dennoch den Namen verdienen, so dass etwas als »Kunst« zu bezeichnen nicht unbedingt bedeutet, es zu loben, sondern lediglich seine Zugehörigkeit zur Klasse der Kunstwerke, der guten und der schlechten, anzuerkennen. Es ist Gegenstand beachtlicher Kontroversen, wie die Bedingungen für die Zugehörigkeit zu dieser Klasse zu charakterisieren sind.[5]  Glücklicherweise ist ein Konsens nicht notwendig, wenn es unser Ziel ist, digitale Kunst zu charakterisieren. Wir können davon ausgehen, dass digitale Kunst eine Art von Kunst ist, und unsere Bemühungen darauf konzentrieren, was sie von anderen Künsten unterscheidet. Und obwohl wir entweder mit einer bewertenden oder beschreibenden Charakterisierung von Kunst fortfahren können, ist es klüger, digitale Kunst als Kunst im beschreibenden Sinn zu charakterisieren, um keine Fragen über ihre Qualität aufzuwerfen.

Die Annahme, dass digitale Kunst als Kunst angesehen werden sollte, auch wenn Kunst beschreibend bestimmt ist, ist nicht unumstritten. Ein Theoretiker stellt in Bezug auf digitale Grafikkunst die Frage,

ob wir sie überhaupt als »Kunst« bezeichnen sollten. Indem wir sie als Kunst behandeln, neigen wir dazu, sie mit der Last der klassischen Kunstgeschichte und Kunstkritik zu belasten. Ist es selbst jetzt – da wir wissen, dass der Einsatz von Computern zu Entwicklungen führen wird, die so weit von der klassischen Kunst entfernt sind wie Computer vom Abakus – für uns nicht zu spät, »Computerkunst« als etwas anderes als »Kunst« zu betrachten? Als etwas, das vielleicht in vergleichbarer Weise ästhetisch und emotional aufgeladen ist, zugleich aber andere und angemessenere Ziele, Zwecke sowie anderes kulturelles Gepäck hat?[6] 

Es gibt jedoch zwei Gründe dafür, dass dieser Einwand uns nicht befriedigen sollte. Selbst wenn man einräumt, dass das, was wir als Kunst betrachten, von einer Fülle sozialer Praktiken und Institu405tionen abhängt, ist der Status von Kunst keine Angelegenheit für eine bewusste Regelung (deliberate legislation). Noch wichtiger ist, dass der Einwand eine wichtige Tatsache von Kunst übersieht. Wir beurteilen oder sehen ein Kunstwerk niemals nur als Kunst, sondern immer als eine Art von Kunstwerk – als einem Kunstmedium angehörig. Wenn digitale Kunst Kunst ist, bleibt die Frage offen, ob es sich um ein Kunstmedium handelt, das die Geschichte, die Zwecke, die Standards der Kritik und das »kulturelle Gepäck« anderer Kunstformen erbt.

In seinem klassischen Artikel »Categories of Art« behauptet Kendall Walton, dass wir jedes Kunstwerk als zu einer bestimmten Kunstkategorie gehörend wahrnehmen, wobei Kunstkategorien durch drei Arten von Eigenschaften definiert werden: Standardeigenschaften, variable Eigenschaften und Kontrastandardeigenschaften.[7]  Standardeigenschaften von Werken in einer Kategorie sind solche, aufgrund derer sie der Kategorie angehören; das Fehlen eines Standardmerkmals für eine Kategorie würde wohl dazu führen, dass es sich für diese Kategorie disqualifiziert (»ein unglückliches Ende haben« ist eine Standardeigenschaft von Tragödien). Wir unterscheiden zwischen den Werken innerhalb einer Kategorie anhand ihrer variablen Eigenschaften (»einen unentschlossenen Fürsten haben« ist eine variable Eigenschaft von Werken in der Kategorie der Tragödien). Kontrastandardeigenschaften von Werken hinsichtlich einer Kategorie sind das Fehlen von Standardmerkmalen hinsichtlich der Kategorie. Eine Tragödie kann das Kontrastandardmerkmal haben, ein Ende zu haben, das nicht unglücklich ist. Aber warum ein Werk als zugehörig zu einer Kategorie auffassen, wenn es Eigenschaften aufweist, die hinsichtlich dieser Kategorie konträr sind? Für Walton bestimmen mindestens vier Faktoren, in welche Kategorie ein Werk eingestuft werden sollte: Das Werk hat eine relativ große Anzahl von Eigenschaften, die Standardeigenschaften für die Kategorie sind, die Absicht oder Erwartung des*der Künstler*in, dass das Werk in diese Kategorie gehört, die Existenz sozialer Praktiken, die es in die Kategorie einordnen, und der ästhetische Mehrwert, der sich daraus ergibt, dass das Werk als zu der Kategorie gehörend betrachtet wird – ein Drama mit einem 406glücklichen Ende, das innovativ, ja sogar überraschend ist, wenn es als Tragödie angesehen wird, könnte wie ein alter Hut wirken, wenn es als Komödie angesehen wird.

Kunstkategorien stellen einen Kontext bereit, innerhalb dessen wir Kunstwerke angemessen interpretieren und bewerten. Um ein Kunstwerk wertschätzen zu können, muss man wissen, inwiefern es anderen Kunstwerken ähnelt und sich von ihnen unterscheidet, aber nicht jede Ähnlichkeit oder jeder Unterschied ist ästhetisch signifikant. Es ist nur dann sinnvoll, Unterschiede zwischen Werken, die zu einer Art gehören, und Ähnlichkeiten zwischen Werken festzustellen, wenn die Ähnlichkeit nicht von allen Werken ihrer Art geteilt wird. Acid Jazz unterscheidet sich von der Oper, aber um John Scofields »Green Tea« als ein Werk des Acid Jazz zu verstehen, reicht es nicht aus, zu hören, wie es sich von Rigoletto unterscheidet – man muss erkennen, wie es sich von anderen Werken des Acid Jazz unterscheidet.

Darüber hinaus unterliegt es Veränderungen, welche Eigenschaften in Bezug auf eine Kategorie als Standardeigenschaften, Kontrastandardeigenschaften und variable Eigenschaften gelten. Angenommen, es ist eine Standardeigenschaft der Fotografie, dass Fotografien sichtbare Begebenheiten exakt darstellen. Sobald die Verwendung von Bildbearbeitungssoftware zunimmt, kann dies zu einer variablen Eigenschaft der Kategorie werden. Die digitale Bildbearbeitung könnte dadurch die Art und Weise verändern, wie wir alle Fotografien sehen.[8]  Die Lehre daraus ist, dass die Kontexte, in denen wir Kunstwerke wertschätzen und bewerten, fließend sind und durch technologische Kräfte geformt werden können.

Wie die angeführten Beispiele zeigen, gibt es mehrere Schemata von Kategorien, in die Kunstwerke eingeteilt werden können. Ein Schema umfasst die Kunstmedien – Musik, Malerei, Literatur, Theater und dergleichen. Ein anderes Schema umfasst die Genres wie Tragödie und Melodrama; Werke in diesen Kategorien können verschiedenen Kunstmedien angehören. Ein drittes Schema, das der Stile, ist ebenfalls formen- und genreübergreifend. Es gibt postmoderne Parodien und postmoderne Komödien; einige der 407ersteren sind Musik, während andere architektonisch sind, und einige der letzteren sind literarisch, während andere bildlich sind. Wie sollten wir also das Schema der Kunstkategorien charakterisieren, das die Kunstmedien umfasst? In diesem Schema könnten wir nämlich erwarten, Platz für eine Kategorie der digitalen Kunst zu schaffen.

Eine Möglichkeit, die Kunstmedien zu charakterisieren, besteht im Bezugnehmen auf ihre materiellen Grundlagen. Musikstücke sind Klänge; Bilder sind flache, farbige Flächen; und Theateraufführungen bestehen aus menschlichen Körpern, ihren Gesten und ihrer Sprache sowie den Räumen, in denen sie sich befinden. In der Tat verwenden wir den Begriff »Medium« mehrdeutig, um eine Kunstform und ihre materielle Verkörperung zu benennen. Das »Medium der Bilder« kann die bildliche Kunstform bezeichnen oder es kann den Stoff bezeichnen, aus dem Bilder gemacht sind – Ölfarbe, Acryl, Enkaustik, Tinte und dergleichen. Nichtsdestotrotz sollten wir, ungeachtet des gewöhnlichen Gebrauchs, die Kunstmedien von dem unterscheiden, was ich in Anlehnung an Jerrold Levinson ihre »materiellen Dimensionen« nennen werde.[9]  Der Grund dafür ist, dass Werke in verschiedenen Kunstmedien die gleiche materielle Dimension miteinander teilen und Werke in demselben Kunstmedium unterschiedliche materielle Dimensionen haben können. Das Beispiel der Literatur ist dafür aufschlussreich. Literarische Werke können viele materielle Dimensionen haben, denn sie können sowohl aus dem Gedächtnis rezitiert als auch auf Papier gedruckt werden. Darüber hinaus haben Romane, wenn sie auf Papier gedruckt werden, die gleiche materielle Dimension wie viele Bilder, aber obwohl einige Kunstwerke sowohl literarisch als auch bildlich sind (zum Beispiel visuelle Gedichte), sind gedruckte Bände von Lady Chatterleys Liebhaber keine Bilder.

Das Medium der Literatur ist unabhängig von einer bestimmten materiellen Dimension, weil sich Werke der Literatur aus sprachlichen Bestandteilen zusammensetzen und Sprache unabhängig von einer bestimmten materiellen Dimension ist. In einem weit gefassten Sinn besteht jedes Kunstmedium aus einer »Sprache«, wenn man sie so versteht, dass sie in einer Reihe von Praktiken verkörpert ist, die vorgeben, wie die Materialien des Mediums bearbeitet 408werden. Das ist alles, was wir brauchen, um die Kunstmedien zu charakterisieren. Kunstwerke gehören in der Regel dann, und nur dann, zum selben Kunstmedium, wenn sie gemäß einer Reihe von Praktiken für das Arbeiten mit bestimmten Materialien hergestellt werden, sei es materiell, wie in der Skulptur, oder symbolisch, wie in der Literatur. Diese Materialien zusammen mit den Praktiken ihrer Gestaltung bestimmen, welche Werke in einem Kunstmedium möglich sind. Nennen wir die Materialien und die Praktiken, die vorgeben, wie sie bearbeitet werden können, die »Palette« des Kunstmediums.

Die digitale Palette umfasst eine Folge von Techniken und Anwendungsmöglichkeiten, die bestimmen, welche Eigenschaften digitale Kunstwerke besitzen können, einschließlich jener Eigenschaften, die hinsichtlich der Kategorie der digitalen Kunst Standardeigenschaften und variable Eigenschaften sind. Da Computer so programmiert werden können, dass sie unbegrenzt viele Aufgaben erfüllen, ist die digitale Palette grenzenlos. Aber wir können, wenn auch nur in groben Zügen, einen Teil des Potenzials der digitalen Palette erkennen, indem wir einige typische Beispiele von innovativer digitaler Kunst untersuchen. Wir sollten uns stets vor Augen halten, dass der Sinn des Nachdenkens über digitale Kunstwerke als zu einem digitalen Kunstmedium gehörend darin besteht, dass wir digitale Kunstwerke nur dann angemessen würdigen und bewerten, wenn wir sie innerhalb der Kategorie oder des Mediums der digitalen Kunst betrachten, wie sie durch die digitale Palette charakterisiert ist.

Eine digitale Technologie, die in den letzten Jahren unter Medientheoretiker*innen viel diskutiert wird und von der man annimmt, dass sie eine neue digitale Kunstform hervorbringt, ist Virtual Reality. Diese wird standardmäßig definiert als »eine synthetische Technologie, die dreidimensionale Video-, Audio- und andere sensorische Komponenten kombiniert, um ein Gefühl der Immersion in eine interaktive, computergenerierte Umgebung zu erreichen«.[10]  Die Unschärfe dieser Definition spiegelt das breite Spektrum der Technologien, die als Virtual Reality bezeichnet werden, genau wider. »Dreidimensionales Video« kann die Verwen409dung von perspektivischen Animationen zur Darstellung dreidimensionaler Szenen auf zweidimensionalen Computermonitoren bezeichnen, oft mit übertriebener Verkürzung (wie in den meisten Computerspielen), oder es kann die Verwendung von stereoskopischen Animationen bezeichnen, die durch Virtual-Reality-Brillen betrachtet werden. Die Frage, die es zu stellen gilt, ist, ob Virtual Reality ein Kunstmedium mit charakteristischen Eigenschaften ermöglicht.

Einige behaupten, dass Virtual Reality auf einzigartige Weise eine Illusion erzeugt, nach der der*die Benutzer*in sich in der computergenerierten Umgebung befindet und diese wahrnimmt. Aber was ist mit »Illusion« gemeint? Einerseits scheint es normalerweise selbst bei den ausgeklügeltsten Virtual-Reality-Installationen nicht so zu sein, dass ihre Benutzer*innen fälschlicherweise glauben, Teil einer computer-generierten Umwelt zu sein bzw. diese wahrzunehmen. Auf der anderen Seite ruft jede imaginative Darstellung eine Erfahrung wie die der Wahrnehmung der dargestellten Szene hervor, selbst Bilder (zum Beispiel Umrisszeichnungen), die weit von der Realität entfernt sind. Man könnte Virtual Reality verlustfrei als »realistische Darstellung« beschreiben und mit anderen realistischen Darstellungen wie dem Kino oder dem dreidimensionalen (stereoskopischen) Kino gemeinsam klassifizieren. Wenn Virtual Reality etwas Neues bietet, dann ist es die Möglichkeit zur Interaktion mit den Bewohner*innen und der Ausstattung der computergenerierten Umgebung. Wie Derek Stanovsky es ausdrückt, »sind Computerdarstellungen anders, weil die Menschen in der Lage sind, mit ihnen auf eine Weise zu interagieren, die ihrer Interaktion mit den realen Gegenständen gleichkommt«.[11]  Virtual Reality als realistische Darstellung sollte nicht mit Interaktivität verwechselt werden.

Die Interaktivität von Computern macht sich ihre Fähigkeit, komplexe Kontrollstrukturen zu implementieren, sowie Algorithmen zunutze, die es erlauben, dass Ausgaben als Antwort auf unterschiedliche Eingabehistorien fein abgestimmt sind. Welche Eigenschaften ein Werk der interaktiven digitalen Kunst besitzt, hängt von den Handlungen seiner Benutzer*innen ab. Es geht nicht da410rum, dass jede*r Benutzer*in eine andere Erfahrung macht, wenn er oder sie sich mit einem Kunstwerk auseinandersetzt – das trifft wohl auf unsere Erfahrungen mit allen Kunstwerken zu. Es geht vielmehr darum, dass die strukturellen Eigenschaften des Werkes selbst und nicht nur die Art und Weise, wie unsere Erfahrung das Werk darstellt, davon abhängen, wie wir mit ihm interagieren.[12]  So definiert, ist digitale interaktive Kunst etwas Neues, und sie existiert gerade wegen der besonderen Fähigkeiten der Computertechnologie.

Eine Hypertexterzählung, wie zum Beispiel Michael Joyces vielgelesene Erzählung afternoon, a story von 1987, ist interaktiv, weil sie den Leser*innen erlaubt, mehreren Erzählpfaden zu folgen, so dass die Erzählung bei jeder Lektüre anders verläuft. Es gibt jedoch keinen Grund dafür, dass Hypertext mit Hyperlinks versehenen Text enthalten muss, den die Benutzer*innen auswählen. Simon Biggs Great Wall of China von 1999 transformiert eine Darstellung des Textes von Kafkas Erzählung entsprechend den Mausbewegungen der Benutzer*innen. Die Leser*innen von Jeffrey Shaws Legible City von 1989 sitzen auf einem feststehenden Fahrrad, mit dem sie durch eine aus Wörtern gebaute Landschaft steuern, wobei jede Route durch die Landschaft eine Geschichte über eine Stadt erzählt. In der Tat kann die Eingabe der Benutzer*innen in interaktive Kunstwerke eine Vielzahl von Formen annehmen: Gestik, Bewegung, Geräusche, Zeichnungen, Schriften und bloße physische Präsenz wurden alle verwendet. Interaktive Kunst folgt auch nicht immer einer narrativen Form. Avatar-Technologien und synchrones ferngesteuertes Puppenspiel ermöglichen es den Benutzer*innen, in dargestellten Aufführungsräumen zu schauspielern. Peter Gabriels Xplora 1-CD-ROM von 1993 ermöglicht es seinem*r Besitzer*in, Gabriels Musik so zu mixen, dass sie von einer Interaktionsphase zur nächsten unterschiedliche Klangeigenschaften aufweist. Robert Rowes Cypher und George Lewis’ Voyager sind Computerprogramme, die in Echtzeit Musik als Teil eines Ensembles improvisieren, dem menschliche Musiker*innen angehören. Da die Musik, die der Computer macht, davon abhängt, was die anderen Spieler*innen im Ensemble tun, ist der Computer so interaktiv wie Musiker*innen, die miteinander jammen.

411Eine Möglichkeit, zu erkennen, was das Besondere an den soeben beschriebenen Werken ist, ist die Betrachtung ihrer Ontologie. Kunstwerke können, allgemein gesprochen, eine von zwei Ontologien haben. Einige Kunstwerke, paradigmatischerweise Gemälde, haben eine einfache Ontologie: Das Werk ist nur das Gemälde, ein räumlich-zeitlich begrenztes Einzelstück. Kunstwerke mit mehreren Instanziierungen, paradigmatischerweise Werke der Musik und der Literatur, haben eine zweifache Ontologie: Sie sind Types, deren Instanziierungen Token sind. Die meisten Musikaufführungen sind zum Beispiel Token von Types, die Musikstücke sind. Der Werk-Type bestimmt die Eigenschaften, die etwas besitzen muss, um als Instanziierung davon zu zählen, und doch erfassen wir das Werk durch seine Instanziierungen. Im Fall von Musik betrachten wir typischerweise das Musikstück, indem wir von dessen Aufführungen dadurch abstrahieren, dass wir Eigenschaften dieser Aufführungen ausblenden. Dies erklärt, wie es möglich ist, dass ein Werk und seine Instanziierungen sowohl unterschiedliche als auch gemeinsame Eigenschaften haben, insbesondere unterschiedliche ästhetische Eigenschaften. Wir bewerten Aufführungen als eigenständige ästhetische Objekte, und doch bewerten wir ein aufgeführtes Stück, ohne dabei eine Aufführung von ihm zu bewerten. Ein gutes Stück kann schlecht aufgeführt werden, und ein schlechtes Stück kann so aufgeführt werden, dass die Aufführungen qua Aufführungen gut sind, das Stück aber nicht rehabilitieren.

Timothy Binkley zufolge sind die ästhetisch relevanten Merkmale eines prädigitalen Kunstwerks Merkmale seiner materiellen Verkörperung.[13]  Ein Kunstwerk herzustellen, bedeutet traditionell, eine materielle Substanz zu »beflecken« (maculate), sie zu dem Werk zu formen. Doch digitale Kunstwerke sind keine materiellen Objekte, denn der Computer »berechnet abstrakte Zahlen mit mathematischen Algorithmen, anstatt Materie mit manuellen Hilfsmitteln zu bearbeiten«.[14]  Anstatt Dinge herzustellen, manipulieren digitale Künstler*innen Datenstrukturen; sie »vermessen« Symbole, anstatt materielles Material zu »beflecken« (maculating). Binkley 412ist sich natürlich im Klaren darüber, dass die Datenstrukturen, aus denen digitale Kunstwerke bestehen, immer irgendeine materielle, gewöhnlich elektronische Verkörperung brauchen; sein Gedanke ist, dass die Daten und ihre Struktur von einer bestimmten materiellen Verkörperung unabhängig sind. Aus diesem Grund trägt digitale Kunst »keine verräterischen Spuren des Magnetismus, der Elektrizität oder des Kartons, die ihre abstrakten Symbole beinhalten könnten«.[15]  Digitale Kunstwerke sind daher Types. Ihre ästhetisch relevanten Merkmale sind keine Merkmale von materiellen Objekten. Sie sind unbegrenzt wiederverwendbar und können mit perfekter Genauigkeit kopiert werden (denken Sie an ein digitales Bild, das per E-Mail von einer Person an viele andere geschickt wird). Binkley kommt zu dem Schluss, dass digitale Kunst die Bedeutung der materiellen Dimension der Kunst mindert.[16]  Sie ist, so schreibt er, »eine Kunstform, die sich eher dem Prozess als dem Produkt verschrieben hat«.[17] 

Die These, dass digitale Kunstwerke Types sind, ist aufschlussreich, ebenso wie die Beobachtung, dass sie aus diesem Grund unbegrenzt wiederverwendbar und perfekt reproduzierbar sind. Aufschlussreich sind jedoch auch zwei Fehler in Binkleys Ansatz, die miteinander zusammenhängen. Binkleys erster Fehler besteht darin, die Ontologie der Malerei als paradigmatisch für die ganze Kunst zu betrachten – das heißt, er geht davon aus, dass alle nichtdigitalen Kunstwerke materielle Objekte sind. Die Literatur ist, wie wir gesehen haben, ein klares Gegenbeispiel. Musikstücke sind, wenn es sich um Types handelt, die in einzelnen Aufführungen realisiert sind (tokened), ein weiteres Gegenbeispiel. Wenn ich mir eine Aufführung von »Summertime« anhöre, dann höre ich zwei Dinge. Das eine ist die Aufführung, die ein materielles Ereignis ist, und das zweite ist das Lied selbst, das nicht mit der Aufführung identisch ist, obwohl ich seine Merkmale beim Hören der Aufführung wahrnehme. Das Beispiel der Musik weist auf Binkleys zweiten Fehler hin. Aus der Tatsache, dass Types digitaler Kunstwerke nicht materiell sind, folgt nicht, dass ihre Token nicht materiell sind. Aufführungen von »Summertime« sind materielle Ereignisse, und unser 413ästhetisches Interesse an ihnen ist zum Teil ein Interesse an ihren materiellen Eigenschaften. Binkley denkt an einen Computer als eine central processing unit und an ein digitales Kunstwerk als die Datenstruktur, die eine CPU verarbeitet. Dabei werden jedoch zwei zusätzliche und wesentliche Komponenten des Computers außer Acht gelassen, die Signalwandler für Eingabe und Ausgabe. Ein digitales Bild ist eine Datenstruktur, die aber nur dadurch realisiert (tokened) ist, dass sie auf einem geeigneten Gerät, in der Regel einem Drucker oder Monitor, angezeigt wird. In der Tat ist unser ästhetisches Interesse an dem Bild hauptsächlich ein Interesse an den Eigenschaften der materiellen Verkörperung seiner Token.

David Saltz identifiziert drei Gestaltungsprinzipien, die für die digitale Interaktivität wesentlich sind: Einen Sensor (wie eine Tastatur oder Maus), der Benutzeraktionen in Eingaben umwandelt, einen Rechenprozess, der Eingaben und Ausgaben systematisch verknüpft, und einen Anzeigemechanismus, der Ausgaben in etwas vom Menschen Wahrnehmbares umwandelt.[18]  Alle drei Elemente müssen vorhanden sein, damit sich ein interaktives Werk mit der menschlichen Interaktion in seinem Inhalt oder Aussehen verändern kann. Aus diesem Grund modelliert Saltz die Ontologie der interaktiven Kunst nach der der Performancekunst. Eine Interaktion ist performativ, so Saltz, »wenn die Interaktion selbst zu einem ästhetischen Objekt wird […]; Interaktionen sind in dem Maße performativ, wie es um ihre eigenen Interaktionen geht«.[19]  Die ästhetisch relevanten Eigenschaften von performativen Interaktionen sind Eigenschaften der Interakteur*in im Werk, die bei der Entfaltung der Interaktion eine Rolle spielen. Es gibt jedoch keinen Werk-Type, dessen einzelne Interaktionen Token sind, da die Interaktionen nicht festgeschrieben sind, und in den darstellenden Künsten ist es das Skript (oder die Partitur oder die Choreografie), das einzelne Aufführungen als Token eines Werk-Types identifiziert. Saltz schlussfolgert, dass »die Interaktion mit einem Computerkunstwerk keinen Token des Werks erzeugt, in der Weise, wie es das Aufführen eines dramatischen oder musikalischen Werkes tut«.[20] 

414Weder Binkleys noch Saltz’ Sichtweise beschreibt die Ontologie von interaktiver digitaler Kunst angemessen. Binkley zufolge sind nur digitale Werk-Types Objekte der ästhetischen Aufmerksamkeit; Saltz zufolge sind interaktive Werke keine Token von ästhetisch interessanten Types. Die Stärke der Anwendung der Type-Token-Unterscheidung auf die Kunst besteht jedoch darin, dass sie zwei Gegenstände der ästhetischen Aufmerksamkeit zulässt. Wir schenken in der Regel gleichzeitig den Eigenschaften einer Aufführung qua Aufführung und den Eigenschaften des aufgeführten Werkes Beachtung. Die Tatsache, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf interaktive Prozesse oder auf unsere eigenen Handlungen als Interakteur*innen richten, zeigt nicht, dass wir nicht gleichzeitig auf Eigenschaften eines Werk-Types, mit dem wir interagieren, achten oder achten können. Saltz hat recht, dass es keinen interaktiven Werk-Type gibt, verstanden als das, was durch ein Skript oder eine Partitur angegeben wird. Aber daraus folgt nicht, dass wir die Eigenschaften eines interaktiven Werk-Types nicht durch Instanziierungen der Interaktion mit ihm ausfindig machen können. Die Konturen des Werk-Types werden dadurch vorgezeichnet, welche Interaktionen er ermöglicht. Afternoon ist viele Geschichten, aber es ist wichtig zu wissen, welche Zusammenstellung von Geschichten es erzählt und wie: Diese geben Einblick in die Eigenschaften von Afternoon selbst, nicht die einzelnen Geschichten, die unsere Interaktionen mit ihm erzeugen. Darüber hinaus übersehen wir etwas Wichtiges, wenn wir die Interaktionsinstanziierungen nicht als Instanziierungen eines Werk-Types betrachten, denn um eine Interaktion als Interaktion voll und ganz zu würdigen, muss man sie als Mittel betrachten, um die Eigenschaften des Werks zu erkennen. Eine Kommentatorin formuliert dies so: »Die interaktive Kunsterfahrung ist eine, die zwei vereinzelte Erzählungen miteinander verflicht. Die erste ist die Geschichte der Beherrschung des Interface und die zweite handelt davon, den Inhalt aufzudecken, den der*die Künstler*in in das Werk legt«.[21] 

Interaktive Instanziierungen eines Werks werden nicht durch Aufführung oder Spielen (wie bei Live- und aufgezeichneter Musik) und auch nicht durch Rezitation oder Druck (wie in der Lite415ratur) realisiert (tokened); sie werden durch unsere Interaktion mit ihnen realisiert (tokened). Die Art und Weise, wie Instanziierungen eines interaktiven Werks realisiert werden, kann nicht danach modelliert werden, wie musikalische oder literarische Werke realisiert werden. An die Stelle der Partitur, des Skripts und des Textes tritt die Interaktion des*der einzelnen Benutzer*in.[22]  Dies ist eine Möglichkeit, zu verstehen, was an interaktiver digitaler Kunst neu ist. Sie weist ihren Benutzer*innen nicht nur beim Interpretieren und Erfahren des Werks, sondern auch bei der Erzeugung von dessen Instanziierungen eine Rolle zu, in deren Genuss Benutzer*innen anderer Kunstmedien nicht kommen. Interakteur*innen realisieren ein interaktives Kunstwerk auf eine Weise, die es bei Leser*innen oder Betrachter*innen eines nicht interaktiven Kunstwerks nicht gibt.

Interaktivität ist, im Gegensatz zu Virtual Reality, charakteristisch für die digitale Palette, aber nicht jede digitale Kunst ist interaktiv. Es gibt viele eher banale Funktionen, die Computer ausführen und die die Ressourcen für die digitale Palette bilden. Wortprozessoren überprüfen routinemäßig die Rechtschreibung von Dokumenten: Brian Reffin Smith hat Kunstwerke geschaffen, indem er zunächst einen Text auf Englisch durch eine französische Rechtschreibprüfung laufen ließ, die orthografisch ähnliche französische Wörter durch die englischen Originale ersetzt und dann die französischen Wörter wieder ins Englische übersetzt.[23]  Sogenannte Interfacekunstwerke sind Anwendungen, die die Funktionsweise vertrauter grafischer Benutzeroberflächen verändern. Der Web Stalker von I/O/D zum Beispiel bietet eine alternative, explodierende Perspektive auf Websites.[24]  Wie viele Kunstwerke des letzten Jahrhunderts, die die technische Grundlage ihres eigenen Mediums zu einem ihrer Hauptgegenstände machen, verwendet manche digitale Kunst digitale Technologien, um Merkmale des digitalen Kunstmediums darzustellen oder unsere Aufmerksamkeit auf dessen Merkmale zu lenken.

Frühe Erprobungen eines neuen Mediums neigen dazu, die Medien zu imitieren, aus denen es hervorgegangen ist. Fotografie 416strebte zunächst danach, auszusehen wie Malerei, und es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis Fotograf*innen ungeniert fotografische Fotografien machten. Eine Erklärung dafür ist, dass ein neues Medium seinen Status als Kunst dadurch etablieren muss, dass es sich mit einem anerkannten Kunstmedium verbindet. Eine andere Erklärung dafür ist, dass es schwierig ist, das volle Potenzial der Palette eines Mediums zu erkennen, bevor es tatsächlich für die Kunst genutzt wird. Wie auch immer die Erklärung lauten mag, es wird einige Zeit dauern, bis wir erwarten können, dass digitale Kunst weniger wie andere Kunstarten aussieht und ihren eigenen Charakter erlangt. Dieser Prozess geht damit einher, dass wir uns ansehen, welche Standard- und variablen Eigenschaften das digitale Medium charakterisieren und wie sie von der digitalen Palette bestimmt werden. Er gipfelt darin, dass wir die digitale Kunst nach ihren eigenen Bedingungen bewerten, als digitale Kunst.

3. Kreativität berechnen

Kunst zu machen, ist eine kognitive sowie eine körperliche und soziale Aktivität. So wie Philosoph*innen und Verhaltensforscher*innen kognitive Prozesse wie das Sehen oder den Spracherwerb untersuchen, indem sie Computermodelle dieser Prozesse entwickeln, können sie durch den Bau von kunstproduzierenden Computern etwas über die kognitiven Grundlagen der Kunstproduktion lernen. Computer wurden als Werkzeuge programmiert, um etwas über Zeichnen, musikalische Komposition, poetisches Schreiben, Architekturstil und künstlerische Kreativität im Allgemeinen zu lernen.

Man kann sofort Einwände gegen die Durchführbarkeit dieses Unternehmens erheben. Kunstwerke sind notwendigerweise Artefakte, und Artefakte sind das Produkt einer intentionalen Handlung, aber wenn »Kunst« produzierende Computer keine Absichten haben, dann können sie keine Kunstwerke produzieren. Wenn sie keine Kunstwerke produzieren können, ist es sinnlos, sie zu benutzen, um den Prozess der Kunstproduktion zu untersuchen. Der Einwand geht nicht davon aus, dass Computer oder Roboter keine Intentionen haben können. Er geht nur davon aus, dass die Computer, die programmiert wurden, um »Kunst« zu produzieren, 417keine intentionalen Agent*innen sind – und das ist eine plausible Annahme. Das unten beschriebene Malprogramm kann aus dem Internet heruntergeladen und auf einem Computer installiert werden, der nichts weiter kann als E-Mails verschicken und Texte verarbeiten.

Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei Kunstwerken um intentional hergestellte Artefakte handelt, können auf diesen Einwand zwei Antworten gegeben werden. Die erste stellt den Einwand direkt in Frage, indem sie argumentiert, dass computergefertigte »Kunst« tatsächlich Kunst ist. Typische Akte der Kunstproduktion zeichnen sich durch zwei Intentionen aus: Ein*e Künstler*in beabsichtigt, ein Objekt herzustellen, das bestimmte intrinsische Eigenschaften hat (zum Beispiel eine festgelegte Anordnung von Farben, eine Bedeutung), und weiter beabsichtigt er oder sie, typischerweise durch die Verwirklichung der ersten Absicht, ein Kunstwerk zu schaffen. Zwischen diesen Intentionen zu unterscheiden, erklärt einige atypische Handlungen der Kunstproduktion. Ein*e Künstler*in wählt ein Stück Treibholz aus, stellt es auf und nennt es (in Anspielung auf Duchamps Schneeschaufel) Notes in Advance of a Broken Arm. Wenn Notes ein Kunstwerk ist, dann ist es ein Kunstwerk ohne eine Intention, ein Objekt mit den materiellen Merkmalen zu schaffen, die das Treibholz besitzt. Qua Treibholz ist das Objekt kein Artefakt, dennoch ist es ein Artefakt qua Kunstwerk, da es mit der Absicht auf- und ausgestellt wird, ein Kunstwerk zu sein. Wir können eine von einem Computer angefertigte Zeichnung, wie das Treibholz, als von einer Naturgewalt geformt betrachten und sie dennoch als Kunst betrachten, da wir beabsichtigen, sie als Kunst auszustellen. Bei der zweiten Antwort wird eingeräumt, dass computergemachte »Kunst« keine Kunst ist, aber nahegelegt, dass es sich stattdessen dabei um Quasikunst handelt. Die Computerzeichnung ist der menschlichen Zeichnung so ähnlich, dass wir die erstere zur Untersuchung der letzteren verwenden können. Wir können das, was ein Computer tut, nicht dazu benutzen, den Teil der Kunstproduktion zu untersuchen, der von Handlungsfähigkeit oder sozialen Institutionen abhängt, aber das ist keine Einschränkung, über die wir uns Sorgen machen müssen.

Frühe Experimente zur Computerkreativität führen eine ehrwürdige Tradition der automatischen Kunst fort. Windspiele oder Windharfen sind dafür konstruiert, Musik zu machen, aber die je418weilige Musik, die sie machen, ist nicht komponiert. Menschen können an der Herstellung automatischer Kunst beteiligt sein, wenn sie nichts weiter tun, als einen Algorithmus zu implementieren. Mozarts »Musikalisches Würfelspiel« verlangt von seinen Spieler*innen, Würfel zu werfen, die bestimmen, wie die Musik weitergeht. Im Spiel »Exquisite Corps« der Surrealist*innen zeichnet jede*r Spieler*in auf einen Teil einer Fläche, deren Rest verdeckt ist, und gestaltet so einen Teil eines Bildes, das als Gesamtbild von niemandem gezeichnet wurde. In den 1950er und 1960er Jahren, der Blütezeit der »Systemkunst«, schufen Komponist*innen wie Iannis Xénakis und John Cage Algorithmen zur Musikerzeugung, die auf Computern implementiert wurden. Eine derzeit verbreitete Form der automatischen Kunst ist die genetische Kunst, bei der ein Computer zufällig mehrere Varianten einer Form erzeugt, von denen Menschen eine auswählen, die das Material für eine weitere Runde von Mutation und Selektion liefert.[25] 

Offensichtlich erhellt nicht jede computergestützte automatische Kunst die Prozesse der menschlichen Kunstproduktion. Erforderlich ist erstens, dass die rechnerische Architektur des Computers so gestaltet ist, dass sie die des Menschen nachbildet, zumindest auf relativ hohen Abstraktionsebenen, und zweitens, dass die Wahl der Algorithmen so eingeschränkt wird, dass Werke produziert werden, die denen von Menschen ähneln. Während automatische Kunst wie automatische Kunst aussieht, klingt oder sich wie automatische Kunst liest, sollte Kunst, die von Computern zur Modellierung der menschlichen Kunstproduktion geschaffen wird, eine ästhetische Version des Turing Tests bestehen.

Harold Cohens AARON, von dem eine Version als Bildschirmschoner auf PCs installiert werden kann, zeichnet überzeugende Figuren – Figuren, die so charmant sind, dass sie schon in Kunstgalerien ausgestellt wurden.[26]  Die aus vier Komponenten bestehende Architektur des Systems spiegelt einiges von dem wider, was wir wissen müssten, um zu verstehen, wie wir Bilder anfertigen.[27]  AARON verfügt über eine Möglichkeit, physische Bilder zu erzeu419gen, entweder durch Einfärben von Pixeln auf einem Bildschirm oder durch Senden von Daten an einen Drucker oder Plotter. Es wurde zudem mit einer Reihe von »kognitiven Grundformen« ausgestattet – den Grundelementen des Linienmusters und der Farbgebung, die die universellen Bausteine von Bildern darstellen. Eine Reihe von Verhaltensregeln gibt vor, wie das System die kognitiven Grundformen als Reaktion auf Feedback aus der laufenden Arbeit einsetzt. Ein zweiter Satz von Verhaltensregeln schließlich steuert die Arbeit des Systems im Lichte des Wissens darüber, wie die Dinge in der Welt aussehen – zum Beispiel Wissen über die menschliche Anatomie. Während diese Regeln so konzipiert sein können, dass sie nur realistische Bilder in kanonischer Perspektive erzeugen, ist AARON in der Lage, Bilder zu erzeugen, die in eine Vielzahl von menschlichen Zeichensystemen passen, darunter auch solche, die bei Kindern unterschiedlichen Alters beliebt sind.

AARON bildet eine*n isolierte*n Künstler*in nach, eine*n, der*die außerhalb einer zeichnerischen Tradition arbeitet. David Copes EMI-Software ist daraufhin entworfen, Musik zu schreiben, die Musik im Stil historischer Komponisten auf der Grundlage des »Hörens« einer Auswahl ihrer Werke nachahmt.[28]  Der Top-Level-Algorithmus von EMI besteht aus sechs Schritten: Codierung der eingegebenen Werke eines*r Zielkomponist*in in ein von EMI manipulierbares Format, Ausführen einer Mustererkennung für die Eingabe, Auffinden der Muster, die die stilistische »Signatur« des*der Komponist*in ausmachen, Komponieren von Musik nach einem geeigneten Regelwerk, Überlagern der neu komponierten Musik mit der »Signatur« des*der Komponist*in und schließlich Hinzufügen von musikalischen Texturen, die dem Stil des*der Komponist*in entsprechen. Zu den eingesetzten Technologien gehören regelbasierte Expertensysteme, neuronale Netze zur Mustererkennung, LISP-Übergangsnetzwerke und ein Stilwörterbuch. Die Ergebnisse sind bemerkenswert: Das Fachpublikum ist nicht in der Lage, EMIs Versionen von Musik im Stil von Mozart und Rachmaninoff zuverlässig von den Originalen zu unterscheiden.

Spezialisierte Anwendungen dieser Technologie ermöglichen es Systemen, in Echtzeit mit oder ohne menschliche Musiker*innen Musik zu improvisieren. Diese Systeme umfassen Echtzeit-Hören, 420Musikanalyse und Klassifikation mit Echtzeit-Musikerzeugung. Da die zu einem bestimmten Zeitpunkt erzeugte Musik erkennbar mit früheren Elementen des Stückes in einem passenden Stil verbunden sein muss, wurden diese Systeme zudem in Zusammenarbeit mit computergestützten Improvisationstheorien entwickelt.[29]  Analoge Stilerkennungs- und Kunstproduktionssysteme wurden für Architektur[30]  und Poesie entwickelt. Hier ein Haiku, geschrieben von Ray Kurzweils Cybernetic Poet, den Stil von Wendy Dennis imitierend:[31] 

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Sashay down the pagethrough the lionessnestled in my soul

Angenommen, AARON, EMI und der Cybernetic Poet machen Kunst oder Quasikunst, dann folgt daraus nicht, dass ihre Arbeiten kreativ sind. Dies bedeutet, dass es möglich ist, zu untersuchen, was Kreativität ist, indem man die Möglichkeit kreativer Computer in Betracht zieht. Margaret Boden nähert sich dem Thema der Kreativität in der Wissenschaft und Kunst, indem sie fragt: Kann uns das computergestützte Rechnen helfen, Kreativität zu verstehen? Können Computer kreativ wirken? Können Computer so wirken, als erkennten sie Kreativität? Können Computer kreativ sein?[32]  Es geht nicht in erster Linie darum, diese Fragen zu beantworten, um die Fähigkeiten von Computern zu verstehen, sondern vielmehr darum, ein tieferes Verständnis der Kreativität selbst zu gewinnen.

Boden zum Beispiel unterscheidet zwischen historischer Kreativität, einer Eigenschaft einer wertvollen Idee, die noch nie zuvor 421jemand hatte, und psychologischer Kreativität, einer Eigenschaft einer wertvollen Idee, die zuvor nicht im Kopf des*der Denker*in, der*die die Idee hat, hätte entstehen können.[33]  Computer können eindeutig historisch kreative Ideen hervorbringen; es ist ihre Fähigkeit, psychologisch kreative Ideen hervorzubringen, die in Frage steht. Um diese Frage zu lösen, müssen wir wissen, was es bedeutet, zu sagen, dass eine Idee zuvor im Kopf eines*r Denker*in »nicht hätte entstehen können«. Eine kreative Idee ist nicht bloß eine neuartige Idee in dem Sinne, dass ein computergestütztes System neuen Output generieren kann. Ich habe den vorherigen Satz noch nie geschrieben, aber der Satz ist kaum kreativ, denn meine Fähigkeit, den Satz zu schreiben, ist eine rechnerische Fähigkeit, neuartige Sätze zu erzeugen. Boden schlägt vor, dass ein System nur dann kreativ ist, wenn es sich selbst so verändern kann, dass es den Raum der neuartigen Ideen, die es zu erzeugen vermag, erweitert. Um sich auf diese Weise zu verändern, muss es seine eigenen untergeordneten Prozesse der Ideenbildung darstellen, und es muss eine Methode haben, diese Prozesse zu optimieren. Genetische Algorithmen, die ein System in die Lage versetzen, seinen eigenen Code neu zu schreiben, scheinen diese Bedingungen zu erfüllen und zeigen damit einen Weg auf, wie Computer im eigentlichen Sinn kreativ gemacht werden können. Wichtig ist hier nicht die letztendliche Angemessenheit von Bodens Darstellung, sondern ihr Wert als Illustration der Aussichten für die Entwicklung einer Theorie der Kreativität durch ihre computergestützte Modellierung.

Es ist irreführend anzunehmen, dass die Spitzenanwendungen der digitalen Technologien ausschließlich wissenschaftlicher oder industrieller Natur sind. Künstler*innen haben das Potenzial von Computern seit ihrer Erfindung erforscht und sie manchmal auf überraschende Weise eingesetzt. Vielleicht lernen wir etwas über Computer aus ihrer Verwendung durch Künstler*innen. Und doch ist ein großer Teil der computergestützten Kunst reines Technospektakel, das uns nicht viel mehr zu bieten hat als die glänzende Neuheit seiner Technologie. Digitale Technologie ist genauso eine Herausforderung, wie sie eine Chance ist.

Aus dem US-Amerikanischen übersetzt von Friederike Allner