Thema dieses Kapitels ist die ästhetische Relevanz künstlerischer Improvisation.[1]  Es werden die ästhetischen Kategorien untersucht, die die ästhetische Erfahrung der Improvisation in der Kunst auf spezifische Weise qualifizieren. Die Fragestellung lautet dabei, ob und wie eine bestimmte Modalität künstlerischer Produktion, die aus dem Zusammentreffen von Erfindung und Verwirklichung besteht,[2]  bedeutende spezifische ästhetische Wirkungen entwickeln kann.

1. Wozu Improvisation?

Die Frage ist die folgende: Wozu Improvisation? Eine erste Antwort könnte lauten: Improvisation kann aufgrund ihrer Nützlichkeit für eine bestimmte künstlerische Praxis geschätzt werden. Während einer liturgischen Veranstaltung spielt die Improvisation eine wichtige Rolle für den Kontext, in dem die Musik aufgeführt wird, da sie es dem*r Musiker*in – üblicherweise dem*der Organist*in – ermöglicht, sich an die Zeiten des religiösen Ritus anzupassen, die nicht im Voraus bestimmt werden können. Die Verwendung von Improvisation durch Tour-Theater-Kompanien (wie jene, die der Commedia dell’Arte gewidmet sind) hängt auch von ihrer Flexibilität und von der Fähigkeit ab, sich dank der Abschwächung der politischen Kontrolle der Zensur an verschiedene Bühnen und kulturelle und sprachliche Kontexte anzupassen.

443In anderen Fällen hilft Improvisation, das Scheitern eines künstlerischen Unternehmens zu vermeiden. Im Alltag improvisieren wir, um auf unerwartete Situationen zu reagieren und Lösungen zu finden. Genauso reagiert man im Kunstbereich auf das Unerwartete (das Zerbrechen eines Musikinstruments, das Fehlen eines Materials und so weiter), um das ästhetische Gelingen zu ermöglichen.[3] 

Improvisation ist in diesem Fall reaktiv: eine Ressource, die aufgrund der Fähigkeit, sich an Kontingenz anzupassen, das Gelingen eines Werks ermöglichen kann. Eine Art Improvisation, die nicht dem künstlerischen Bereich eigen, sondern für den Alltag typisch ist – erfinderisch und effektiv auf das Unerwartete zu reagieren –, ist also eine erste Kategorie des Mehrwerts der Improvisation im Bereich der Kunst: In diesem Fall geht es aber hauptsächlich um improvisierende Aufführende. Es gibt jedoch eine zweite Art von Improvisation, die demgegenüber vor allem das Publikum betrifft: intentionale künstlerische Improvisation. Sie besteht in der freiwilligen Exposition – sowohl der Künstler*innen als auch der Rezipierenden – zur Kontingenz als Praxis und in der Erforschung des Sinns für Abenteuer, der die Beteiligung der Menschen an ihren Interaktionen mit der Umwelt charakterisiert.

Beide Improvisationsarten sind von Kontingenz geprägt, die in der reaktiven Improvisation »erlitten« und in der intentionalen »gesucht« wird. In diesem zweiten Fall verpflichten sich diejenigen, die absichtlich künstlerische Improvisation praktizieren, zu einer kreativen Auseinandersetzung mit Kontingenz. Sie begrüßen das Unerwartete in ihrem Machen, ohne es passiv zu durchlaufen, aber auch ohne eine totale Kontrolle darüber zu erzwingen; Einstellungen, die beide das ästhetische Gelingen verhindern würden. Absichtliche Improvisation schließt das Unvorhersehbare, welches zu einem Bestandteil des Improvisationsprozesses wird, nicht aus.

Improvisation in der Kunst ist daher als die Ausarbeitung einer Grammatik der Kontingenz[4]  zu verstehen. Der Begriff »Grammatik« wird hier in Wittgensteins Sinne verstanden,[5]  das heißt als ein 444Netzwerk von Normen, die unseren Praktiken innerhalb der Praktiken selbst Bedeutung verleihen können. Komplexer ist der Begriff »Kontingenz«.

Kontingenz ist vor allem das Gegenteil von dem, was notwendigerweise ist, also das, was anders hätte sein können, im Sinne sowohl der willkürlichen Kontingenz als auch der bestimmten Kontingenz: Im ersten Fall hätte ein Ereignis anders sein können, wenn wir anders gewählt hätten; im zweiten Fall hätte das Ereignis wohl anders sein können: Wir hätten es aber nicht ändern können, weil es sich um etwas handelt, das von unseren Entscheidungen unabhängig ist (Krankheiten, Kriege, Geburt …) und sich auf Zufall und Faktizität zurückführen lässt. Angewandt auf die Kunst, betrifft der Begriff im ersten Sinne sowohl die nicht notwendigen Eigenschaften eines Kunstwerks, die nicht durch die konstitutiven Bedingungen eines künstlerischen Genres gerechtfertigt werden können (Eigenschaften, die künstlerisch normalerweise irrelevant sind, wie der Geruch von Farbe für ein Gemälde), als auch die von den Künstler*innen getroffenen Entscheidungen. Im zweiten Sinne geht es um die faktischen, nicht von Künstler*innen beeinflussbaren Bedingungen, mit denen sie sich befassen müssen, zum Beispiel das Sich-Befinden in einer bestimmten kulturellen oder natürlichen Umgebung.

Kontingent ist darüber hinaus ein Ereignis, das hinsichtlich Erwartungen, Normen oder Aktionsplänen exorbitant und daher unvorhersehbar ist. In diesem Sinne widerspricht Kontingenz auch den Absichten des*der Autor*in, den Normen eines Genres und der Form als Organisation eines Kunstwerks: Sie betrifft das Scheitern aufgrund der Inkompetenz der Künstler*innen oder wegen unerwarteter Faktoren, die die Gestaltung des Kunstwerks stören.[6]  Wie Adorno lehrt, schließt die künstlerische Form als gelungene Organisation eines Kunstwerks Unfälle und Eventualitäten nicht aus, die sich zum Beispiel auf die spezifischen Merkmale eines bestimmten Materials beziehen. Das authentische, gelungene Kunstwerk merzt die Kontingenz nicht aus, sondern bewahrt sie als Kontingenz.[7] 

445Adornos kontroverser Beziehung zur Improvisation zum Trotz[8]  verkörpert gerade Improvisation das Modell dieser prägenden Auseinandersetzung mit Kontingenz. In der Improvisation geht es um einen Gestaltungsprozess, der darauf abzielt, Kontingenz (was in einer künstlerischen Aufführung geschieht) auf ästhetisch sinnvolle Weise zu begegnen, das heißt eine Sinnmöglichkeit für diese Begegnung zu erzeugen. Durch Verwendung unterschiedlicher Materialien erzeugt Improvisation in den Künsten (wenn sie gelingt) einen Sinn für Kontingenz, von Kontingenz, dank Kontingenz. Es geht nicht ausschließlich darum, die Kontingenz der aufgetretenen Situation zu begrüßen, oder umgekehrt, sie nur zu beherrschen. Es geht darum, responsiv mit der Situation zu interagieren, indem man sich einerseits an die unvorhergesehenen Umstände anpasst, andererseits sie sozusagen ästhetisch adäquat macht: Kontingenz wird dann als Bedingung künstlerischer Produktion oder sogar als künstlerisches Material behandelt. Deswegen kann von einer »künstlerischen Grammatik der Kontingenz« die Rede sein.

Dies zeigt sich insbesondere in der sogenannten freien Improvisation, deren Entwicklung nicht an vorgegebene Pläne wie harmonische Gitter, strophische Strukturen, Choreografien, Aktionsschemata und zu interpretierende Charaktere gebunden ist. Der Schwerpunkt der Bewertung liegt hier auf der Grammatik der Kontingenz, die durch improvisiertes Handeln hic et nunc erarbeitet wird. Bei der gebundenen Improvisation wird ästhetisches Gelingen hingegen nicht nur bei der Auseinandersetzung mit der Kontingenz ermöglicht, sondern auch bei der Art und Weise, wie die Aufführung im Voraus festgelegte Pläne verwirklicht und auf ihre eigene Weise interpretiert: In diesem Fall kann die Bewertung der Aufführung ihre interpretative Dimension – die Art und Weise, wie ein Jazzstandard aufgeführt wird, die besondere Darstellung von Pulcinella oder Harlekin, die Qualität der Realisierung einer Choreografie – nicht ignorieren.

Dabei gilt für jede Improvisation Folgendes: Einerseits muss die Norm oder der Plan plastisch an die spezifische Situation angepasst werden, die nicht vorhersehbar ist, und diese Anpassung bringt eine (potenzielle) Transformation der Norm beziehungsweise des 446Plans mit sich. Andererseits ist Freiheit nicht Vorbedingung künstlerischer improvisierter Produktion, sondern immer eine Errungenschaft durch das wirkliche Handeln, das auf die Konkretheit der Wirklichkeit reagieren muss.[9] 

Zwar sind einige Kriterien der ästhetischen Wertschätzung künstlerischer Improvisation unabhängig von der Tatsache, dass es sich um Improvisation handelt.[10]  Formale Strukturen und expressive Züge – die strukturelle Kohärenz einer improvisierten Musik, die dramatische Kraft eines Dialogs zwischen Schauspieler*innen oder die Anmut der Bewegungen eines*r Tänzer*in – können Gründe dafür sein, das künstlerische Phänomen zu schätzen, unabhängig von seinem improvisatorischen Ursprung.

Doch sind die ästhetischen Kriterien künstlerischen Gelingens einerseits niemals Parameter, die dem zu bewertenden Kunstphänomen äußerlich sind. Wer ein Kunstwerk beurteilt, wendet kein abstraktes Kriterium auf einen konkreten Fall unabhängig von der spezifischen Verwirklichung des Werkes an. Der ästhetische Begriff, mit dem ein Kunstwerk oder eine Aufführung beurteilt werden, wird durch die Anwendung auf spezifische Werke (trans-)formiert. Wenn man einen von Raffael gemalten Kopf oder eine Skulptur von Donatello als anmutig und eine Symphonie von Beethoven als mächtig bezeichnet, beschränkt man sich nicht darauf, die allgemeinen Begriffe auf besondere Fälle anzuwenden, sondern man trägt kreativ zur (Trans-)Formation der ästhetischen Begriffe »Anmut« und »Macht« bei. Ästhetische Begriffe üben normative Kraft nur durch die Auseinandersetzung mit der Kontingenz des Einzelfalls aus. Zumindest für diesen Aspekt operiert das ästhetische Urteil genauso wie die Improvisation selbst, und die künstlerische Improvisation verdient philosophische Aufmerksamkeit, auch weil sie eine ästhetische Erfahrung hervorbringt, die die Funktionsweise des ästhetischen Urteils performativ zeigt:[11]  Es wird darauf geach447tet, wie ein Sinn durch die Auseinandersetzung mit Kontingenz entsteht.

Andererseits lädt die für Improvisation typische Grammatik der Kontingenz dazu ein, sowohl besondere Aufmerksamkeit auf die Art und Weise zu lenken, in der Werke und Aufführungen produziert werden, als auch den Künstler*innen in ihrer Interaktion miteinander, mit der Situation, mit Materialien, mit dem Publikum zu folgen. Aus semiotischer Sicht ist Improvisation ein Index der kontingenten Situation in der Aufführung selbst beziehungsweise ein Signal für künstlerische Produktion durch deren Produkt.[12]  Die künstlerische Produktion wird vom Produkt als Teil seines ästhetischen Inhalts thematisiert. Dies schreibt dem Produkt einer Improvisation eine spezifische künstlerische Bedeutung zu und lädt die Betrachter*innen ein, an der Artikulation der künstlerischen Grammatik der Kontingenz teilzunehmen, wodurch der ästhetische Sinn des künstlerischen Phänomens entsteht. Im folgenden Teil dieses Kapitels werden Grundaspekte dieser Grammatik diskutiert.

2. Ästhetische Kategorien des Unvorhersehbaren

Eine künstlerische Grammatik der Kontingenz zu artikulieren, bedeutet, sich konstruktiv mit Unfall und Chaos – relativ zu einem System von Erwartungen – auseinanderzusetzen[13]  und dadurch einen unerwarteten Sinn entstehen zu lassen. Dies beinhaltet das Erlernen von Gewohnheiten und Fähigkeiten, aufgrund derer Künstler*innen nicht immer die Kontrolle über ihre Handlungen lockern 448können, um responsiv auf das zu reagieren, was in der jeweiligen Situation geschieht. Responsives und situatives Handeln tragen wiederum zum Erlernen von Fähigkeiten und Gewohnheiten bei. Improvisation stellt somit die Idee in Frage, dass Künstler*innen der einzige Ursprung der Bedeutung des Werks sind: Vielmehr sind sie der »Ort«, an dem sich viele Bedeutungssysteme und -quellen überschneiden.[14]  Autorschaft wird daher in dem Moment in Frage gestellt, in dem sie ausgeübt wird: Angesichts der Tatsache, dass künstlerische Kreativität eine Art passive Aktivität ist, bei der Künstler*innen an der Interaktion mit Formen und Materialien beteiligt sind, über welche sie keine totale Kontrolle ausüben und auf dessen Antriebe sie reagieren müssen, ist die (Erfahrung der) Improvisation ein Paradigma (der Erfahrung) der Kunst als solches.

Obwohl künstlerische Produktion die Kontrolle spezifischer Techniken und Verfahren erfordert, um den eigenen Körper zu beherrschen, Materialien zu manipulieren, Werkzeuge zu verwenden, Geräte zu bedienen und so weiter, geht das Erlernen der Grammatik der Kontingenz ihrer konkreten Ausübung nicht voraus, kann nicht in einem System von abstrakten Vorschriften organisiert werden und besteht vor allem nicht darin, einer konkreten Situation vorgegebene Absichten aufzuerlegen. Vielmehr besteht sie in der Emergenz eines Sinnes durch die Interaktion mit der konkreten Situation. Das improvisierte Werk beziehungsweise die improvisierte Aufführung entsteht in der Interaktion mit der Kontingenz, und die spezifischen Kriterien der Gelungenheit dieser Interaktion werden im Zuge der künstlerischen Produktion und der ästhetischen Rezeption on the fly ausgehandelt.

2.1 Emergenz

Ein erster spezifischer Aspekt der ästhetischen Qualität künstlerischer Improvisation ist Sinnemergenz. Der ästhetische Sinn der Aufführung ist eine Funktion dessen, was in der Kontingenz des künstlerischen Unternehmens durch die Interaktion zwischen Performenden untereinander, zwischen den Künstler*innen und der Situation künstlerischer Produktion und zwischen dem Publikum und der ganzen Aufführung geschieht. Unter den Polen dieser Be449ziehungen werden spezifische Feedbackprozesse generiert, für die jeder Output zum neuen Input wird: Die Ergebnisse des Prozesses werden zu dessen neuen Bedingungen, zu denen man Stellung nimmt. Der ästhetische Sinn der Geste der Tänzerin A ist zum Beispiel eine Funktion des Beitrags der Reaktion des Tänzers B, zu dessen Sinn die nachfolgende Bewegung von A beiträgt, und so weiter. Die Konfigurationen dieser Bewegungen und deren Dynamik hängen dann von der besonderen Verteilung der Räume des Aufführungsraums ab, die wiederum dank des Geschehens einen bestimmten ästhetischen Wert erhalten. Der Sinn des Werkes beziehungsweise der Aufführung wird außerdem durch das affektiv konnotierte, bewertende und interpretative Wahrnehmen von Rezipierenden immer neu bestimmt.[15] 

Ästhetischer Sinn emergiert also aus der Interaktion von unterschiedlichen Elementen.[16]  Falls er emergiert. In der Tat entsteht ästhetischer Sinn, wenn die Aufführung gelingt; das Gelingen kann jedoch nicht durch die Anwendung abstrakter Kriterien festgestellt werden. Zudem ist die ästhetische Uneinigkeit über das Gelungensein der Improvisation sowie über die Kriterien für deren Beurteilung eine ständige Möglichkeit. Sie ist aber auch eine kreative Möglichkeit, ein Impuls, aus dem sich die künstlerische Praxis der Improvisation speisen kann. In der Tat beinhaltet Improvisation, da sie sich bewusst der Aushandlung des Sinnes des Geschehens im Vollzug widmet, das Risiko des Scheiterns als Bedingung für die (Un-)Möglichkeit der Grammatik der Kontingenz, das heißt als Voraussetzung für ihren Erfolg als Improvisation. Und wie wir später sehen werden, kann das Gelingen der Improvisation gerade als ihr Scheitern als Improvisation erscheinen.

2.2 Präsenz

Das ästhetische Gelingen der Improvisation hängt von der Situation der Improvisation ab. Die Situativität der Improvisation ist nicht nur eine ontologische, sondern auch und vor allem eine ästhetische Eigenschaft. Das Hier-und-Jetzt-Stattfinden der Improvisation ist ästhetisch bedeutsam: Improvisation thematisiert ihre 450Entstehung und Entwicklung im Hier und Jetzt. Pragmatische Selbstreferenz auf die gegenwärtige Situation der Aufführung informiert die Aufführung selbst und schreibt ihr Sinn zu. Beispielsweise gestalten improvisierende Schauspieler*innen ihre Improvisation unter Bezugnahme auf Umstände, die dem gegenwärtigen Publikum bekannt und bedeutsam sind. Nicht nur findet Improvisation in der Gegenwart statt, vielmehr sind die gegenwärtige Situation sowie die Anwesenheit des teilnehmenden Publikums konstitutiv für deren ästhetischen Sinn.

Präsenz bedeutet nicht bloß, dass Künstler*innen da sind und etwas vor einem Publikum tun. Präsenz hat in diesem Rahmen eher einen emphatischen Sinn als Bestätigung der Präsenz, als intensive Erfahrung der Gegenwart,[17]  sowohl als unwiederholbares, unkalkulierbares und überraschendes hic et nunc als auch als erweiterte und fließende Präsenz einer Situation.[18]  Künstler*innen nehmen zur Gegenwart Stellung: Sie zeigen ihre eigene zeitliche und körperliche Präsenz sowie die Präsenz dessen, was passiert. Sie bestätigen ihre eigene Präsenz als Teil der Präsenz dessen, was passiert: Dabei lenken sie die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Präsenz.

Präsenz ist als Prozess zu verstehen, der zwischen Subjekt und Objekt der ästhetischen Wahrnehmung stattfindet, welche auf das momentane und gleichzeitige Auftreten der Gegebenheit des ästhetischen Phänomens in der Fülle seiner Aspekte abzielt:[19]  In der Improvisation beinhaltet die Konzentration auf die ästhetische Präsenz der Aufführung daher auch die körperliche Koexistenz zwischen Künstler*innen und Publikum. Das Publikum ist zur Aufführung mitanwesend und beteiligt sich an der Artikulation der Grammatik der Kontingenz durch (körperliche) Signale (Sprachsignale, expressive Geste etc.), die durch autopoetische Rückkopplungsschleifen die Reaktion von Performer*innen hervorrufen.

Darüber hinaus verstärkt die ästhetische Bedeutung der Präsenz als deiktische Angabe der Produktionssituation durch die Aufführung einen Kernaspekt der ästhetischen Erfahrung als solcher. Diese erfordert eine direkte Begegnung zwischen den Erfahrenden 451und dem Erfahrungsobjekt. Das Zeugnis anderer reicht nicht aus, um die ästhetischen Eigenschaften eines Kunstwerks zu vermitteln, weil in der ästhetischen Erfahrung die subjektiven Erfahrungsarten wesentlicher Teil ihres Sinnes sind. Die Art und Weise, wie man das Objekt erlebt, ist Bestandteil der kognitiven und affektiven Bedeutung, die durch das Erlebnis des Objekts vermittelt wird. Die ästhetische Erfahrung beinhaltet also die gleichzeitige Anwesenheit von Rezipient*innen und Kunstwerk. In der Improvisation wird das direkte Erlebnis durch die konstruktive Rolle der Präsenz verstärkt: Zuschauer*innen sind in die Situation involviert, die Bestandteil des ästhetischen Geschehens ist; Produzierende sind ihrerseits nicht nur anwesend, sondern machen die Präsenz zu einer künstlerischen Ressource.

Die Echtzeit (realtime) ist daher nicht nur die gegenwärtige Zeit, in der Improvisation als Zusammenfallen von Plan und Aufführung sowie von Prozess und Produkt stattfindet. Ist Präsenz als Stellungnahme der Improvisationsteilnehmer*innen in Bezug auf die Gegenwart des Improvisationsereignisses Bestandteil des Gelingens künstlerischer Produktion und eine strukturierende ästhetische Qualität ästhetischer Rezeption, dann ist die konkrete Bestimmung der Echtzeit als Bestandteil jeweiliger Improvisation selbst im Aufführungsvollzug bestimmt. Dies ist ein Aspekt der Tatsache, dass Improvisation die Beziehung zum Kontext pragmatisch thematisiert und in die Aufführung einfügt.

2.3 Neugier

Verbunden mit der intensiven Aufmerksamkeit für die Gegenwart ist eine weitere ästhetisch konstituierende Qualität der Improvisation in all ihren Formen: Neugier. Die Aufmerksamkeit für die Gegenwart, die auf der Grundlage einer Expertise entsteht, die durch die vergangenen Erfahrungen aufgebaut wurde, zielt in der Tat darauf ab, sich neuen und unerwarteten Ergebnissen in Bezug auf ästhetische Bedeutungen und Werte zu öffnen. Sie ist vom Wunsch der Erfahrung des Neuen geleitet. Neugier ist hier nicht der Ausdruck eines Wunsches nach Kontrolle darüber, was durch schon verfügbare Strukturen geschieht,[20]  sondern eine reflexiv kritische 452Praxis, durch die die Voraussetzungen der künstlerischen Grammatik der Kontingenz in der Begegnung mit dem Unerwarteten (de-)konstruiert werden.[21]  Neugier belebt die Fähigkeit, sich mögliche Alternativen zum Status quo vorzustellen, indem sie intensiv darauf achtet, was hier und jetzt geschieht und sich um das Unerwartete kümmert, das als Unvorhergesehenes überrascht.[22]  Neugier ist daher eng mit der Suche nach Spannung (suspense) und dem Ungewöhnlichen verbunden, welches die ästhetische Erfahrung belebt, die durch viele künstlerische Praktiken hervorgerufen wird, in denen das Vergnügen von der Art und Weise herrührt, auf welche die prognostische Kraft des Geistes durch beispiellose Situationen herausgefordert wird.

In dieser Hinsicht gibt es zwei Besonderheiten der Improvisation. Erstens sind in der Atmosphäre der gespannten Ungesichertheit möglicherweise in erster Linie die Künstler*innen einbezogen, die der Spannung und dem Vergnügen des Unerwarteten ausgesetzt sind, das sie suchen. In dieser Atmosphäre der Unsicherheit, die zum Material der Kreativität wird, beziehen die Künstler*innen das Publikum mit ein. Zweitens besteht das sogenannte Suspense-Paradoxon im Kunstbereich normalerweise darin, zu verstehen, wie der Spannungseffekt der Überraschung bei einem Publikum, welches das Werk bereits kennt, ein zweites Mal hervorgerufen werden kann; in der Improvisation scheint sich dieses Paradoxon aber auf die Tatsache zu beziehen, dass Rezipierende die Überraschung erwarten, die deshalb gerade nicht länger unvorhersehbar ist. Das Unerwartete ist vorauszusehen und kann daher sogar »überraschend langweilig«[23]  erscheinen: Die Suche nach dem Beispiellosen und Überraschenden um jeden Preis kann nicht nur zu einem streng verbindlichen Dogma, sondern auch zu einem banalen Klischee werden. Dagegen spricht aber, dass das Wissen, dass man dabei 453ist, einen Thriller anzuschauen, die Betrachter*innen oft bereits zur Spannung veranlasst, ohne die Auswirkungen von wirklicher Spannung während der Filmvorführung notwendigerweise zu mildern. Analogerweise scheint die Erwartung des Unerwarteten weder unbedingt die Überraschungseffekte auszuschließen, welche die Erfahrung der Improvisation erregen kann, noch zu verhindern, dass man sich deren Erfahrung mit einer partizipativen Neugier nähert.

Künstlerische Improvisation ist neugierig (in dem Sinne, dass ihre Protagonist*innen neugierig sind und dass sie Neugierde ausdrückt und weckt), da sie ein Experimentieren, Erforschen und Initialisieren unerwarteter und unvorhersehbarer Bedeutungen und Werte ist, die als Reaktion auf eine spezifische beispiellose Situation entstehen. Improvisation ist daher Experiment und experimental. Als Experiment ist sie Versuch:[24]  Sie funktioniert (besser: sie spielt), indem sie Lösungen ausprobiert, glückliche Ergebnisse und zuvor fehlgeschlagene Tests unter vorgegebenen Bedingungen wiederholt. Experimental ist Improvisation darüber hinaus derart, dass sie nicht nur Offenheit für das Unerwartete meint, für das, was sich aus der spezifischen Situation ihrer Praxis ergibt, sondern auch, weil sie eine abenteuerliche, potenziell kreative und transformative Praxis ist. Wenn sie gelingt, ist sie Erfahrung in einem herausragenden Sinne, was bedeutet, dass sie diejenigen verändert, die sie machen.[25]  Als Kreativitätsübung ist Improvisation ein Labor für spielerisches Experimentieren der Bedingungen der ästhetischen Erfahrung und der ästhetischen Bedingungen der Erfahrung. Das experimentelle Abenteuer, das in der Praxis der Improvisation durchgeführt wird, beeinflusst die anfänglichen Vorbedingungen – Fähigkeiten, Gewohnheiten, Konventionen – der Praxis selbst: Die Reaktion auf unerwartete Bedeutungen und Werte, die sich aus einer bestimmten Situation ergeben, speist die Praxis zurück und (trans-)formiert deren Vorbedingungen.

4542.4 Authentizität

Mit Neugier, als ästhetisch prägender Ausübung der Offenheit für das Neue, ist eine weitere künstlerische Improvisation qualifizierende Kategorie verbunden: Authentizität. In ontologischer Hinsicht ist das Verhältnis zwischen Improvisation und Authentizität direkt. Eine nichtauthentische Improvisation, das heißt eine Kopie oder Nachahmung einer Improvisation, ist gar keine Improvisation,[26]  sondern eben eine Reproduktion. Improvisation schließt jedoch das Remake nicht aus. Es gibt keine absolute Improvisation, und die Authentizität der Improvisation ist eher eine Errungenschaft als eine bloße Tatsache. Die angemessene Wiederverwendung von vorgefertigten Elementen ist eine Ressource jeder künstlerischen Improvisation. Die Improvisationspraxis destabilisiert somit das Dogma des rigiden Kontrasts zwischen Original und Kopie, Innovation und Tradition. Diese Beziehung wird oft als Gegensatz verstanden, und Improvisation wird manchmal mit Tradition, Kontinuität und Wiederholung identifiziert, manchmal mit Neuheit, Erfindung und Unterbrechung. Improvisation darf jedoch nicht nur als Wiederholung einer Tradition oder als bloße Innovation verstanden werden. Die Thematisierung der Improvisation hilft vielmehr, Tradition als kontinuierliche (Trans-)Formation und Erfindung, als Imitation sowie als Ge- und Missbrauch traditioneller Gewohnheiten, Regeln, Stile und Techniken zu verstehen.[27]  In diesem Sinne sind auch kulturelle Praktiken und Objekte wie Variation, Version, Arrangement, Cover, Mashup, Zitat, Remix Improvisationsformen.[28]  Sie sind Ausdruck und Form der »distributed Creativity«,[29]  dank derer ein »altes« Objekt auf unerwartete Weise 455neu angeeignet, definiert und (trans-)formiert wird. Die Art und Weise, wie Broadwaysongs zu Jazzstandards wurden, ist paradigmatisch für diese Prozesse, die konkret zeigen, wie Kreativität in den Künsten wirkt: Die kreative Erfindung der Neuheit entsteht durch Aneignung und Anpassung von alten Materialien und Formen. Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie Künstler*innen die Werke der Vergangenheit reflektieren: durch Anpassung, Verzerrung, Rekombination, Dekonstruktion, Zitat und sogar Ablehnung.

Dies widerspricht nicht der Tatsache, dass Authentizität in einer anderen Bedeutung des Begriffs eine entscheidende ästhetische Qualität der Improvisation ist. Das improvisierte Werk ist der Abdruck seiner*ihrer Autor*in, der*die ihren eigenen künstlerischen Charakter gestaltet und zum Ausdruck bringt, indem er*sie das Werk herstellt – obwohl, wie bereits erwähnt, der mit der Entstehung von Kontingenz einhergehende Kontrollverlust die Autorschaft der Improvisation immer wieder in Frage stellt. Man hat argumentiert,[30]  Improvisation, insbesondere musikalische Improvisation, sei in Bezug auf die Emotionen der Künstler*innen, die sich direkt und unmittelbar darin ausdrücken, transparent. Improvisierende manifestieren keine Emotionen, die von jemand anderem künstlerisch artikuliert wurden, sondern ihre eigenen Emotionen. Daher ist eine erfolgreiche Improvisation expressiv authentisch. Nichts garantiert jedoch, dass eine »natürliche« Manifestation von Emotionen auch künstlerisch gelungen ist: Tatsächlich ist Expressivität in der Improvisation wie in anderen künstlerischen Praktiken nicht (nur) passiver und unmittelbarer Ausdruck von Gefühlen, sondern aktive Gestaltung, die durch ein künstlerisches Medium artikuliert wird. Expressiv authentische Improvisation ist nicht diejenige, die das (vermeintlich) wahre Innenleben des*der Künstler*in offenbart. Sie zeigt vielmehr die Bildung künstlerischer Persönlichkeiten im Zusammenspiel mit anderen Persönlichkeiten, mit der konkreten Situation künstlerischer Darbietung und mit der kulturellen Tradition der betreffenden Praxis. Eine authentische Persönlichkeit ist etwas, das eher ein Prozess als ein Zustand ist: Es ist nicht die einfache Ausdrucksoffenbarung eines festen Selbst, sondern der Ausdruck der kreativen Aufgabe, ein Selbst durch die 456durchgeführten Handlungen zu gestalten, für die man Verantwortung zeigen muss.

Künstlerische Kreativität ist das Paradigma für die expressive Bildung einer Persönlichkeit: Ein wesentlicher Teil der Aufgabe von Künstler*innen besteht darin, Verantwortung für ihre Werke zu übernehmen und glaubwürdige künstlerische Persönlichkeiten (Stile) zu formen. Wenn wir bedenken, dass »Persönlichkeit ein zentrales Produkt jeder Improvisation ist«,[31]  da improvisatorische Expressivität die Bildung des Selbst der Künstler*innen durch ihre Reaktionen auf Kontingenz ist, kann Improvisation als exemplarisch für die expressive Bildung künstlerischer Persönlichkeiten verstanden werden. In der Tat ist Improvisation authentisch, wenn sie die in Konstruktion beziehungsweise als laufende Konstruktion befindlichen Persönlichkeiten der Künstler*innen in kreativer Interaktion mit anderen Künstler*innen und in einer bestimmten Situation zum Ausdruck bringt.

Als solche ist und zeigt Improvisation die Praxis expressiver und ästhetischer Authentizität. Nicht nur deswegen, weil Improvisierende für ihre Entscheidungen und Handlungen formal verantwortlich sind, sondern weil sie zu dem werden, was sie sind, durch das, was sie künstlerisch tun und »sagen«, indem sie ihre eigene »Stimme« (er-)finden und in den Interaktionen des künstlerischen Produzierens ins Spiel bringen und riskieren.[32]  Improvisierende erschaffen »psycho-poetisch«,[33]  was sie sind: Was sie tun, entscheidet, was sie werden, in dem Sinne, dass ihr Selbst sich von sich selbst befreit (indem es ihre Erinnerungen, Gewohnheiten und Konventionen überrascht), gerade im Prozess, der das Selbst, in Bezug auf Erinnerungen, Gewohnheiten und Konventionen, rekursiv nährt: Die Norm, um zu sein, wer man ist, wird im Prozess erzeugt, indem das Selbst sich selbst gestaltet. Das Selbst ist ein Ideal, das durch die Aufführung exemplifiziert wird, die es als Individuum verkörpert, 457das von dynamischen intersubjektiven und zeitlichen Beziehungen durchzogen wird, und als Gruppe, die sich aus individuellen Unterschieden ergibt. In Übereinstimmung mit Nietzsches Idee von Authentizität[34]  »ist« das Selbst, soweit es »wird«. Dieses »Selbst-Sein als Selbst-Werden« wird im Improvisieren ausgedrückt. Dies sollte nicht als Individualismus missverstanden werden. Im Bereich der Kunst beinhaltet das Bekenntnis zur Authentizität die Auseinandersetzung mit Traditionen, Praktiken, Genres und Werken, die dadurch ihre normative Kraft ausüben, dass sie zu Elementen der Persönlichkeit der Künstler*innen werden. Wie Charles Taylor argumentierte, schließt die Treue zu sich selbst nicht die Verantwortung für die außersubjektiven Bedürfnisse von Gemeinschaften und Traditionen aus, sondern erfordert sie im Gegenteil.[35] 

Improvisatorische Authentizität besitzt außerdem einen auratischen Charakter, dank ihrer prägenden Beziehung zur einzigartigen Situation ihres Auftretens:[36]  Sie kann als Verantwortung und Loyalität gegenüber dem Moment und als Respekt vor der Kontingenz verstanden werden, da sie die kreativ angemessene Reaktion auf das beinhaltet, was hier und jetzt im Verlauf der Aufführung geschieht, und so Aspekte der Konstruktion künstlerischer Persönlichkeiten am Werk zeigt. Die Bewältigung der Herausforderungen, die der spezifische Moment des Improvisierens mit sich bringt, ist ein künstlerischer Wert, wenn er nicht nur im Hinblick auf die Lösung technischer Probleme (zum Beispiel Koordinationsprobleme zwischen Schauspieler*innen), sondern auch als eine Art künstlerische Authentizität verstanden werden kann: Treue zum Moment, zum Geschehen, zur Kontingenz.

Expressive Authentizität in der Improvisation ist daher kairologisch, wobei Kairós der richtige und günstige Moment ist, das heißt der Moment, in dem die richtige (gute) Wahl getroffen und/oder die entsprechende Maßnahme ergriffen wird, die der spezifischen 458Situation angemessen ist.[37]  Es geht jedoch nicht nur darum, das Richtige zu tun, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Es geht vielmehr darum, geeignete Möglichkeiten für das künstlerisch Richtige zu (er-)finden. Natürlich können Improvisierende nicht genau vorhersagen, ob das, was sie tun, richtig oder angemessen oder »dem Moment treu« ist. Was sie tun, kann nur im Nachhinein, wenn der Moment vergangen ist, als richtig oder falsch, das heißt als dem Moment treu oder nicht, bewertet werden. Denn eine solche Bewertung beruht erstens auf den Reaktionen der Künstler*innen und denen des Publikums und zweitens auf der spezifischen Normativität, die durch die Improvisation selbst (trans-)formiert wird.

Die Kunst der Improvisierenden besteht darin, eine feine Sensibilität für den Moment zu zeigen, sowohl im Sinne des genauen Momentes, in dem die Aufführung stattfindet, als auch im Sinne der konkreten Situation und der spezifischen Bedingungen der Aufführung, ohne sozusagen den Moment vorher erfassen zu können oder die Situation, an der sie teilnehmen, von außen zu dominieren. Diese Idee künstlerischer Authentizität entspricht dem existenzialistischen Begriff der Authentizität als Übernahme der Verantwortung gegenüber sich selbst und gegenüber der eigenen kontingenten Situation. Wenn Authentizität gemäß der Etymologie von »Eigentlichkeit« darin besteht, Existenz und Welt zu eigener Existenz und Welt zu machen, indem man Verantwortung dafür übernimmt, dann besteht die Authentizität eines Kunstwerks in der Verantwortung gegenüber der eigenen kontingenten Situation.[38]  Improvisation verkörpert künstlerische Authentizität, da für ihren Erfolg die Verantwortung für die spezifische Situation der Aufführung übernommen werden muss, wodurch die Kontingenz des Augenblicks zu einer kreativen Ressource wird.

4593. Das ästhetische (Miss-)Verständnis von Improvisation

Emergenz, Präsenz, Neugier und Authentizität sind Kategorien der künstlerischen Grammatik der Kontingenz, die die Ästhetik der Improvisation charakterisiert. Wie wirkt sich diese Grammatik auf die ästhetische Erfahrung einer Improvisation aus?

Der Hauptpunkt ist, dass das Publikum nicht nur an der erzählten oder rezitierten Fiktion und der Choreografie oder der Musik interessiert ist, sondern auch am improvisatorischen Charakter der Fiktion, der Musik, des Tanzes usw. Die Abenteuer der Künstler*innen, die das Scheitern riskieren, indem sie die Aufführung gestalten, sind Teil des ästhetischen Inhalts des künstlerischen Phänomens.[39]  Die Rezipierenden sind in diese Abenteuer involviert: Sie folgen den Künstler*innen in ihren Bewegungen; ihre Wahrnehmung der Aufführung wird durch die Imagination der Art und Weise gespeist, wie die Künstler*innen sie fortsetzen werden, und sie entwerfen einen vorläufigen Sinn für das, was geschieht, wobei ähnlich wie bei den Künstler*innen selbst (deren Einbildungskraft eine direktere performative Kraft besitzt) ihre Erwartungen bestätigt oder ignoriert werden können.[40] 

Im Allgemeinen wird das Publikum die Anstrengung oder das Können der Künstler*innen wahrnehmen: Es wird mit ihnen leiden, wenn sie in Schwierigkeiten geraten, es wird sich mit ihnen freuen, wenn das Ergebnis positiv ist. Kurz gesagt, das Publikum ist an der Artikulation der künstlerischen Grammatik der Kontingenz beteiligt. Die ästhetische Rezeption ist Teil des Gestaltungsprozesses der künstlerischen Produktion und beeinflusst ihn. Das Publikum weiß nicht, was passieren wird: Nicht so sehr, weil es nicht weiß, was ihm angeboten wird, sondern grundlegender, auch weil seine Anwesenheit beeinflusst, was ihm angeboten wird, da es Teil dessen ist, was geschieht.

Das ästhetische Gelingen der Improvisation entsteht daher als Funktion affektiv »gefärbter« pragmatischer und hermeneutischer Verhandlungen in der künstlerischen Praxis, und es ist eine Sache des Geschmacks – Geschmack, der im Verlauf einer Erfahrung 460geformt und entwickelt wird, die sich (trans-)formiert, »as we go along«, wie es in jeder Kunsterfahrung vorkommt. Geschmack (trans-)formiert sich auf improvisatorische Weise: Nicht nur durch Verfeinerung oder Verschlechterung nach vorher festgelegten Kriterien, sondern durch situative Generierung eigener Kriterien.

Improvisation ist aber dennoch etwas Besonderes. Das Gelingen, das Werden der Auseinandersetzung mit Kontingenz zu Kunst, kann zu einem Paradoxon in Form eines ästhetischen Unerwarteten führen.[41]  Je leichter Künstler*innen das Chaos beherrschen und das Werk Gestaltung annimmt, desto mehr wird das Publikum bezweifeln, dass es wirklich Zeuge einer Improvisation und nicht der Ausführung eines vorher festgelegten Programms ist. Da es weiß, dass Improvisation mit Kontingenz und dem Risiko des Scheiterns verbunden ist, und da es nicht die Unsicherheiten des Produzierens, sondern dessen Erfolg wahrnimmt, kann das Publikum den improvisatorischen Charakter der künstlerischen Produktion in Frage stellen (und umgekehrt wird eine Produktion, die nicht funktioniert, tendenziell als improvisiert wahrgenommen): »Wie kann es so gut funktionieren? Wie konnten sie diesen Schritt nicht studiert haben? Werden sie mich nicht täuschen?« Dieser Zweifel kann Teil der ästhetischen Erfahrung einer erfolgreichen Improvisation sein. Es geht in der Tat um eine empirische, wenn auch paradoxe Bestätigung des Gelingens der Improvisation.

Es ist eine Auswirkung der selbstreflexiven und systematischen Struktur der Improvisation. Improvisation ist selbstreflexiv, denn indem sie als das Andere von Vorbereitung, Nachahmung, Wiederholung und Planung inszeniert wird, enthüllt sie auch ihre normativen und faktischen Zwänge. Dabei integriert sie das Andere ihrer selbst als ihre eigene Möglichkeitsbedingung, während sie es ausschließt. Indem sie das Unerwartete als ihr Ziel anstrebt, sieht sie es einerseits voraus und leugnet es genau als das Unerwartete; andererseits macht sie durch das Wiederholen der bereits bekannten und geplanten Handlungsmöglichkeiten das Unvorhergesehene gerade als nicht vorhersehbar möglich:[42]  Die Regel wirkt durch ihre Variation, das Unerwartete entsteht als etwas anderes als erwartet. Die Struktur der Improvisation ist systematisch (im Sinne 461von Niklas Luhmann[43] ), da die Rekursivität des selbstregulierenden Prozesses, bei dem unerwartete Ergebnisse unter den Prozessbedingungen wieder integriert werden, auch den Standpunkt der Beobachter*innen einschließt: Der Zweifel der Rezipierenden am improvisierten Charakter des Prozesses, der das Gelingen der Improvisation als Improvisation leugnet, kann genau das Ergebnis des Gelingens der Improvisation sein. Das ästhetische Missverständnis ist ein Hinweis auf den künstlerischen Erfolg.

Es kann daher sein, dass die Improvisation ihre Authentizität als unvorbereitete Aktivität nicht erfolgreich erscheinen lässt. Wenn sie mangelnde Vorbereitung zeigt, ist sie für ihr Misslingen verantwortlich; wenn sie ihr Gelingen zeigt, verweigert sie sich als Improvisation. Dieser Effekt hängt davon ab, dass der Produktionsprozess der Improvisation Teil des ästhetischen Inhalts der künstlerischen Arbeit ist. Da dieser Prozess die (Trans-)Formation künstlerischer Normativität im Prozess selbst beinhaltet, ist der Prozess der Normativität (oder Normativität als Prozess) Teil des ästhetischen Themas der Improvisation: Improvisation ›macht‹ Sinn (makes sense) als Prozess der ›Bildung‹ von Sinn (sense making). Der Grund für das ästhetische Paradox der Improvisation ist daher folgender: Wenn Improvisation erfolgreich ist und Sinn ›hat‹, erscheint sie möglicherweise als nicht improvisiert (und ist daher als Improvisation gescheitert), weil ihr Sinn nicht in ihrem Machen zum ästhetischen Schein kommt, sondern als fertig gemacht (ready made). Kurz gesagt, da die Sinnbildung nicht auftritt, erscheint die Improvisation nicht als solche.

Damit die Improvisation als solche und als erfolgreich erscheint, müssen ihre Rezipierenden die Perspektive ändern, wobei sie diejenige der Teilnehmenden einnehmen: Durch das Umkippen des Umkippens des ästhetischen Erscheinens können sie dann das Unerwartete erleben, indem sie ästhetisch mit dem sich gestaltenden Werk der Aufführung interagieren. Dies erfordert die Ausübung einer auf Erfahrung bezogenen Praxis: Die Ausbildung von Wahrnehmung und Einbildungskraft auf dem Gebiet der verschiedenen Improvisationskünste.

4624. Abschluss: Improvisation und die Entgrenzung der Künste

Dies gilt auch allgemeiner im Sinne der Tendenz der Künste, ihre Grenzen und ihre Systematik kreativ in Frage zu stellen. Die Spezifität von Mitteln, Materialien und Verfahren, die Konfiguration der Genres sowie die Organisation der Arbeit der einzelnen künstlerischen und ästhetischen Praktiken werden durch die Entwicklung der Künste und ihre kontinuierliche Interaktion in der sich ständig verändernden Welt der Kunst neu gestaltet:[44]  eine Welt, welche ein wesentlicher Aspekt menschlicher Kultur ist und welche an ihren unvorhersehbaren Transformationen teilnimmt. Improvisation als Koinzidenz von Erfindung und Produktion, die die Situation, in der sie stattfindet, sowie das anwesende Publikum als integralen Bestandteil ihrer ästhetischen Bedeutung einbezieht, stellt nicht nur Kunst als Realität und Realität als Kunst dar. Sie belebt auch die künstlerische Kreativität und das Erleben von Kunst als solcher.[45]  Wie besonders in zeitgenössischen künstlerischen Praktiken deutlich wird, welche zum Beispiel die ästhetische Produktivität der Musikalität einer Geste oder einer Farbenkonstellation, der Theatralik einer Musik, der Piktorialität eines Films, des skulpturalen Charakters eines tanzenden Körpers, der biodynamischen Vitalität einer Skulptur, der Bildstärken einer Theaterszene usw. geltend machen, zeigt Improvisation nicht allein, sondern produziert auch die dynamische Porosität von Unterscheidungen innerhalb der Formen und der Materialien der Kunst. Auf diese Weise stellt Improvisation auf der Bühne auch die Art und Weise dar, wie Kunst – die sich dem Risiko des Scheiterns aussetzt, gerade um erfolgreich zu sein – sich selbst und ihre Voraussetzungen in Bezug auf die spezifische Situation, in der sie praktiziert und erlebt wird, immer wieder neu und ex improviso definieren muss, um authentisch das zu werden, was sie ist.[46]  Nicht nur die starre und 463ästhetisch asphyktische Trennung zwischen Kunst und Leben, sondern auch die rigide Unterscheidung zwischen den künstlerischen Bereichen kann durch das Engagement für die Improvisation als kreative Praxis überwunden werden: eine kreative Praxis, welche nicht nur ein spezifisches Kunstverfahren innerhalb der Künste, sondern auch die »Logik« kreativer Interaktion und Kontamination zwischen Kunstpraktiken meint.