Diejenigen, deren Erinnerung weit genug reicht, werden die doppelte Anspielung meines Titels sicher verstehen. Zum einen bezieht er sich auf einen Text, der zwar nach historischen Maßstäben noch nicht sonderlich alt, aber doch bereits veraltet ist – wenn auch vielleicht noch nicht in einem solchen Maße, dass er jene »revolutionären Energien« angenommen hätte, die André Breton (und nach ihm Walter Benjamin) in derartigen Gegenständen gesucht hat: Jean-François Lyotards Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Die Erstveröffentlichung jenes »scheinbar neutralen Überblicks über ein riesiges Materialcorpus zur zeitgenössischen Wissenschaft und Problemen des Wissens oder der Information«, der sich (in Fredric Jamesons Worten) als »eine Art Wegscheide«[2]  herausgestellt hat, ist nun mehr als vierzig Jahre her. Allerdings mussten all jene, die wie Jameson den »Postmoderne« genannten Weg gewählt hatten, seitdem (mehr oder weniger verstohlen) den Rückweg antreten oder sich an das Leben in einer historischen und intellektuellen Sackgasse gewöhnen. Die postmoderne Episode, wie man sie nennen könnte, eine Episode in der Geschichte der Kritik, hat die intellektuellen Debatten etwas mehr als zwanzig Jahre lang (1979-1999) befeuert, wobei ihr Schicksal als historische Kategorie 486rückblickend bereits mit dem Fall des Staatskommunismus zehn Jahre zuvor (»1989«) und dem folgenden Siegeszug von Theorien der Globalisierung besiegelt war – bevor Jamesons Opus magnum Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism (die zweite Anspielung meines Titels) überhaupt erschienen war.[3] 

Den Kapitalismus periodisieren (gegen Jameson)

Von heute aus gesehen, erscheint es reichlich spät, den Kapitalismus noch 1991, im Moment seiner größten Erneuerung, als »spät« zu apostrophieren. In seiner Rede vom Late Capitalism bezog Jameson sich zum Teil auf Adornos Verwendung dieses Begriffs, die man vor allem aus dessen Vortrag auf dem Deutschen Soziologentag 1968 (»Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?«) kennt, wo die Betonung eher auf dem Festhalten am Begriff des Kapitalismus als auf seiner inneren Periodisierung lag. In der Zwischenzeit hatte Ernest Mandels Spätkapitalismus von 1972 (dt. 1973) für ein nachhaltigeres Revival des ursprünglich bereits 1902 von Werner Sombart in seinem Der moderne Kapitalismus geprägten Begriffs gesorgt. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass der Kapitalismus bereits vor so langer Zeit zum ersten Mal für »spät« erklärt wurde – auch wenn hier die Neuauflage von Sombarts Buch von 1916 einflussreicher war, in der er den Anfang des Ersten Weltkriegs als periodisierenden Bruch annahm: vom Hoch- zum Spätkapitalismus. Mandel sollte diesen Bruch noch einmal weiter nach vorne verlegen, auf das Ende des Zweiten Weltkriegs. In den späten 1990er Jahren wird Jameson in der Auseinandersetzung mit der Literatur zur Globalisierung deren Beginn auf 1945 zurückdatieren, damit seine Periodisierung derjenigen Mandels entspricht. Sein tatsächliches Vorgehen 487würde allerdings nahelegen, den »Spätkapitalismus« ein weiteres Mal nach vorne zu verlegen, um der postkommunistischen kapitalistischen »Globalisierung« Rechnung zu tragen, die sich in den späten 1980er Jahren abzeichnete. Um dies anzuerkennen, hätte er allerdings das Ende der Postmoderne, wie er sie zuvor konzipiert hatte, anerkennen müssen.[4] 

Jameson hatte sein Buch über Adorno im Jahr zuvor Spätmarxismus genannt, wobei ihm die Ironie vielleicht nicht ganz bewusst war. Aber selbst ein so liberaler Marxist wie Jürgen Habermas hatte in den 1970er Jahren von »Spätkapitalismus« gesprochen, etwa im Titel des Buches Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus von 1973 – die englische Übersetzung drei Jahre später tilgte den Begriff wieder, vermutlich um die soziologischen Pferde nicht scheu zu 488machen, in deren Stall Habermas’ Arbeiten damals gesteckt wurden.[5]  Heute ist Sombarts periodisierendes Schema vor allem noch im Titel einer Sammlung von Benjamins Texten über Baudelaire (»Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus«) im Umlauf, was die Assoziation des europäischen »Hochkapitalismus« mit seiner bürgerlichen Form im 19.Jahrhundert noch verstärkt.[6] 

Allerdings passen Baudelaires Schriften ebenso gut zum Leben in Hongkong oder Schanghai heute wie zu dem in Paris in den 1850er Jahren. Tatsächlich gibt es gute Gründe dafür, den Begriff des »Hochkapitalismus« zur Beschreibung der Gegenwart wiederzubeleben, in der der Kapitalismus weit von einer Phase entfernt zu sein scheint, die man sinnvollerweise als »spät« bezeichnen kann – geschweige denn, dass er sich von allein in eine Art Kommunismus verwandeln könnte, den sogenannten Kommunismus des Kapitals, von dem manche heute träumen. Die Charakterisierung als »Hoch-« hat den zusätzlichen Vorteil, auf die Hybris eines Höhepunktes und damit auf einen bevorstehenden Sturz (wie im Falle des spekulativen Höhepunkts auf den Finanzmärkten) hinzuweisen, wenn auch einen zyklisch wiederkehrenden, während »Spätkapitalismus« mit der progressivistischen Illusion eines sich nähernden natürlichen Todes und der gediegenen ästhetischen Konnotation des »Spätstils« zu kämpfen hat – wo im Übrigen seine Herkunft als historischer Begriff liegt, die bis auf Winckelmann zurückgeht. Im englischen Sprachgebrauch wird dies noch verschärft, wo der Begriff late style sowohl Spätstil als auch Altersstil umfasst.[7]  Jameson hat in seinem Buch über Adorno mit diesen Assoziationen gespielt, vor allem mit Bezug auf dessen bekannte Interpretation des späten Beethoven, dabei aber die Implikationen für seine eigene Periodisierung des Kapitalismus und dessen angeblich längst eingetretene »Spätzeit« übersehen – eine Periodisierung, die Benjamins 489Erkenntnis aus den 1930er Jahren, dass »der Kapitalismus keines natürlichen Todes sterben wird«,[8]  diametral entgegensteht.

Es ist interessant zu sehen, wie die Vorstellung des Spätkapitalismus (mit ihrer Annahme eines nahen Endes) in den vergangenen zehn Jahren durch Debatten über das Entstehen eines »reinen« (Balibar) oder »absoluten« (Berardi, Rancière) Kapitalismus durch globalisierte Finanzialisierung verdrängt worden ist, eines Kapitalismus, »der sich nicht ständig mit heterogenen gesellschaftlichen Kräften auseinandersetzen muss, die er sich entweder einverleiben oder unterdrücken oder mit denen er eine Form von Kompromiss eingehen muss«, sondern der »frei ist, sich nur mit den Folgen seiner eigenen Logik der Akkumulation und dem zu beschäftigen, was notwendig für seine eigene Reproduktion ist«.[9]  Man sollte allerdings nicht davon ausgehen, dass »seine eigene Logik der Akkumulation« und das, »was notwendig für seine eigene Reproduktion ist«, heterogene gesellschaftliche Kräfte ausschließt, und zwar weder in seinem europäischen noch erst recht seinem außereuropäischen Herrschaftsbereich.[10] 

Die naturalistischen Konnotationen des »Spätkapitalismus« ließen das Präfix von Jamesons »Postmoderne« als heimliche Vorwegnahme eines Postkapitalismus (der nicht kommen würde) erscheinen und funktionierten gleichzeitig als kulturelle Markierung des Endes des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats und der angeblichen Ankunft einer »ganz neuen Welle amerikanischer militärischer und wirtschaftlicher Herrschaft in der ganzen Welt« in den 1980er Jahren – vielleicht das kurze letzte Aufbäumen des US-Imperialismus. Letztlich lag in dieser Andeutung eines nahen Endes ein versöhnlicher, ins Utopische spielender Zug: jenes kleine Restchen Utopie, das im Überbau eines dystopischen Kapitalismus von »Blut, Folter, Tod und Schrecken« versteckt ist. Jameson würde 490es schließlich zum Anlass nehmen, die Postmoderne in Richtung einer relativ orthodoxen Form der Utopiestudien zu verlassen.[11] 

Eine Wiederbelebung, Vertiefung, Vervielfältigung und Verwicklung der Modernediskurse – mit »multiplen«, »alternativen« und »postkolonialen« Modernen an vorderster Front – begleitete den Niedergang der Kategorie der Postmoderne und folgte ihm ab Mitte der 1990er Jahre.[12]  Wie erfrischend und erhellend dieser Prozess, der den Begriff der Postmoderne durch den einer einzigen, auf komplexe Weise intern differenzierten Moderne ersetzt hat,[13]  aber auch in vielerlei Hinsicht gewesen ist, eine Erneuerung von Modernediskursen reicht allein nicht aus, um die wichtigsten kulturellen Züge (das heißt die erlebte Neuartigkeit) der/unserer historischen Gegenwart zu begreifen. Die Mehrdeutigkeit ist hier entscheidend: die/unsere, zwei Begriffe, die sich der narrativen Logik zufolge auf dasselbe beziehen, deren Bedeutung aber keinesfalls identisch ist. 491Tatsächlich ist es hier, in der Bewegung der Differenz zwischen diesen beiden Begriffen (dem »die« und dem »unsere«) – der objektiven und der subjektiven Seite des Begriffs der Geschichte oder, mit Benveniste gesprochen, Narrativ und Diskurs –, wo das Problem der Geschichte als Kategorie der Moderne liegt. »Geschichte«, könnte man sagen, ist geradezu die Bewegung dieser Differenz.[14] 

Wie lässt sich also, nachdem sich die postmoderne Illusion zerstreut hat, die kulturelle Form dieser Situation, die/unsere historische Gegenwart oder die kulturelle Logik des Hochkapitalismus heute am besten beschreiben?

Vom Wissen zur Kunst (vom Postmodernen zum Zeitgenössischen)

Ich schlage hier eine doppelte Verschiebung von Lyotards Postmodernem Wissen vor: vom »Postmodernen« zum »Zeitgenössischen« und vom »Wissen« zur »Kunst« – zusammengenommen vom postmodernen Wissen zur zeitgenössischen Kunst –, um die Verschiebung von Jamesons periodisierender Perspektive vom »Spät-« zurück zu einem »Hochkapitalismus« zu komplementieren, in dem wir vielleicht gerade erst anfangen zu begreifen, wie tief die Veränderungen des sozialen Seins reichen, die der Kapitalismus als gesellschaftliche Form mit sich bringt. Mit dieser Fokusverlagerung vom Wissen zur Kunst ist keine allgemeine Behauptung in Bezug auf die relative kulturelle Bedeutung von Kunst und Wissen oder die Transformationen ihrer Beziehungen und Praktiken verbunden – auch wenn die sogenannte Wissensökonomie ohne Zweifel solche Veränderungen mit sich bringt. Die transzendentale Konstitution von »Kunst« und »Wissen« als getrennte Wertsphären, wie sie exemplarisch von Habermas’ weberianischer Soziologisierung Kants verkörpert wird, erscheint historisch zunehmend naiv. Eher geht es um die Frage des Standpunktes, von dem aus das Ganze betrachtet werden kann. Es besteht eine größere begriffliche Nähe zwischen der »Kunst« im modernen europäischen philosophischen und institutionellen Sinne (seit dem 18.Jahrhundert) und den 492Problemen der historischen Zeitlichkeit, der historischen Periodisierung und der historischen Diagnose – letztlich allesamt »kulturelle« Probleme, insofern sie zeitliche Strukturen der Subjektivität einschließen – als zwischen diesen und dem »Wissen« in seinen institutionellen, wissenschaftlichen und pädagogischen Hauptformen mit ihrer Tendenz, vielleicht nicht die Geschichte selbst, wohl aber den Fortschritt der Erkenntnis zu naturalisieren. Diese Nähe ergibt sich aus der Stellung der Kunst in der historischen Kultur der Aufklärung, ihrer historisch-philosophischen Assoziation mit den affektiven Strukturen der Subjektivität (dem »Ästhetischen«) und der reflexiven Erfahrung der reinen zeitlichen Form (»Moderne« in der Baudelaire’schen Deutung).

Es war stets die Funktion literarischer und kunstgeschichtlicher Periodisierungen, auf die die Intelligibilität von Kunstwerken angewiesen ist, Modelle – antik und modern, klassisch und romantisch (naiv und sentimentalisch), neoklassisch und avantgardistisch – für die theoretische Durchdringung umfassenderer historischer Prozesse des Geistes, gesellschaftlicher Formen oder der Subjektbildung bereitzustellen, von denen die Kunst nur ein kleiner, aber emblematischer Teil ist. Eine solche Verallgemeinerung transformiert jene periodisierenden Begriffe, was auf ihre engere kunsthistorische Bedeutung zurückwirkt und wiederum diese verändert. In dieser Hinsicht haben postmodern und zeitgenössisch ähnliche kritische Quellen und könnten versuchsweise auf ähnliche Weise einander gegenübergestellt werden:

antik

modern

klassisch

romantisch

neoklassisch

avantgardistisch

postmodern

zeitgenössisch

Man muss die Kategorien nur auf diese (grobe und tendenziöse) Weise ordnen, damit die politischen Bedeutungen der zeitlichen Rolle, die sie in der Geschichtsphilosophie spielen, als »konservativ« und »progressiv« (jeweils von links nach rechts gelesen) hervortreten. Das bedeutet nicht, dass diese Begriffspaare in keinem Fall dialektisch miteinander verschränkt sind oder dass die historischen Beziehungen der kritisch-zeitlichen Bedeutungen jedes Begriffs nicht um einiges komplizierter sind, als diese Aufreihung suggeriert, wenn man sie von oben nach unten, von der Vergangenheit 493zur Gegenwart liest. Historisch könnten die Entwicklungslinien vielleicht besser folgendermaßen dargestellt werden:

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Die semantische Breite dieser Begriffe weist darauf hin, dass die Verbindungen zwischen der Kunst als historisch-kultureller Form und historischen Temporalisierungen der Gegenwart in einem allgemeineren Sinne weder historisch noch begrifflich beliebig sind; das gilt auch für die vorgeschlagene kritische Ersetzung des Postmodernen durch das Zeitgenössische als periodisierende Kategorie und, grundlegender, als Form historischer Zeit.[15]  Was »das Zeitge494nössische« nämlich in seiner fundamentalsten Form bezeichnet, ist ein neue Form historischer Zeit. Ein »Bericht über die Kunst« (um Lyotards Anmaßung fortzusetzen) könnte uns also mehr über die sich verändernde Struktur historischer Erfahrung zu sagen haben, als man annehmen sollte.

Die Verdrängung des Postmodernen als Grundkategorie der historischen Gegenwart durch das Zeitgenössische folgt nicht lediglich daraus, dass es als zeitlicher und kritischer Begriff unhaltbar ist – und eine begriffliche Leere hinterlässt, die es zu füllen gilt –, sondern, was wichtiger ist, aus der Globalisierung des wiederbelebten Begriffs der Moderne in Reaktion auf den tatsächlichen historischen Prozess, der mit dem kritischen Niedergang der Postmoderne einherging: den weltweiten Kapitalismus seit 1989. In aller Kürze: Wenn die Moderne die zeitliche Logik des Kapitals ist (wie Jameson erkannt hat), ist in seiner gegenwärtigen Form das Zeitgenössische die zeitliche Struktur, die die Einheit der globalen Moderne artikuliert.[16]  Ich werde diese spekulative Idee hier in der verdichteten Form einer Reihe von kurzen Abrissen (1) der Globalisierung als Bewegung der Differenz zwischen Globus und Welt, (2) des Zeitgenössischen als der historischen Zeitlichkeit einer Verweltlichung des Globalen und (3) des Postkonzeptuellen als kulturell symptomatische Bedingung der zeitgenössischen Kunst ausführen.

Globus und Welt

Was man »Globalisierung« nennt, ist in erster Linie die Wirkung der relativen globalen Deregulierung der Kapitalmärkte beziehungsweise, genauer, der relativen Denationalisierung der Regulierung der Finanzkapitalmärkte (die im Moment, wie es scheint, bedeutsamer als die Mobilität des variablen Kapitals – Migration – ist, die die Nachkriegsakkumulation angetrieben hat) nach dem Dahinscheiden des historischen Kommunismus. Diesem Prozess 495liegt die Zerstörung der geopolitischen Bedingungen zugrunde, auf die sich frühere Vorstellungen der welthistorischen Gegenwart (jene des Kalten Krieges) gegründet haben. Der Begriff der »Globalisierung« ist zum Zentrum der Debatten um die Bedeutung geworden, die die historische Gegenwart stattdessen haben könnte. »Globalisierung« nimmt so einen begrifflichen Ort ein, der von keiner gesellschaftlichen Instanz besetzt wird, insofern die Subjektposition, die den Prozess der Globalisierung zusammenhält (die des weltweit mobilen Kapitals), nicht diejenige eines möglichen gesellschaftlichen Handlungssubjekts ist.[17]  Daher der ernüchternd negative Ton, den Gayatri Spivak kürzlich angeschlagen hat, wenn sie festhält: »Globalisierung findet nur für Kapital und Daten statt. Alles andere ist Schadensbegrenzung.«[18] 

Es gibt zahlreiche sehr ergiebige Aufarbeitungen der Globalisierung, die sich auf verschiedene Aspekte dieses Prozesses – ökonomische, technologische, kulturelle, politische, rechtliche, geografische etc. – beziehen und deren Deutungen miteinander konkurrieren. Dennoch steht, wie etwa Giacomo Marramao festgehalten hat, das Wort »Globalisierung« noch nicht für einen auch nur entfernt angemessen theoretisch durchdrungenen Begriff, der die Gegenstände der verschiedenen Diskurse zusammenhalten könnte, in denen es sich findet.[19]  Dieser Mangel an begrifflicher Einheit wird in Jamesons Versuch überdeutlich, in »Globalization and Political Strategy« den »letztlichen Zusammenhang« von »fünf« Ebenen der Globalisierung zu demonstrieren. Dieser nimmt die einfache Form einer postulierten »Entdifferenzierung« der Ebenen an, die, wie er behauptet, »die Postmoderne charakterisiert und der Globalisierung ihre Grundstruktur gibt«. Man darf bezweifeln, dass die vage Ver496allgemeinerung einer Entdifferenzierung eine »Grundstruktur«[20]  in irgendeinem haltbaren Sinne hergeben kann. Hier ist grundlegendere theoretische Arbeit nötig. Seinen weitreichendsten wie tiefgreifendsten diagnostischen Sinn hat der Begriff der Globalisierung im Bereich des Begriffs der historischen Gegenwart (im Singular) als Aspekt des Begriffs der »Geschichte« (im kollektiven Singular), der in Europa um das Ende des 18.Jahrhunderts erscheint. Als solche stellt Globalisierung eine neue Form der Verräumlichung historischer Zeitlichkeit dar: eine Projektion der planetaren Ganzheit als »Globus« auf den irreduzibel phänomenologischen Begriff der »Welt«, der im Zuge des europäischen Kolonialismus entstanden ist, um dem Begriff der Geschichte einen geografischen Raum zu liefern.[21] 

Dieser Begriff der Welt findet seinen grundlegenden philosophischen Ausdruck bei Kant: »Ich nenne alle transzendentalen Ideen, sofern sie die absolute Totalität in der Synthesis der Erscheinungen betreffen, Weltbegriffe […]«.[22]  In diesem Sinne ist Globalisierung eine transzendentale Idee. Seine existenzialontologische Ausarbeitung findet dies bei Heidegger in der berühmten schlechten Lyrik der Formel »die Welt weltet«: »Welt ist nicht die bloße Ansammlung der vorhandenen abzählbaren oder unabzählbaren, bekannten und unbekannten Dinge. Welt ist aber auch nicht ein nur eingebildeter, zur Summe des Vorhandenen hinzu vorgestellter Rahmen. Welt weltet und ist seiender als das Greifbare und Vernehmbare, worin wir uns heimisch glauben.«[23] 

Die begriffliche Unabhängigkeit der Vorstellung des Planeten als Globus, die sich in den von Marramao aufgearbeiteten getrennten semantischen Entwicklungen von mundus und globus niederschlägt, deutet darauf hin, dass »Globalisierung« keinesfalls die bloße räumliche Erweiterung der einst kolonial begrenzten geografischen Vorstellung der Welt auf den ganzen Planeten ist – wie oft angenommen wird –, sondern stattdessen als projizierte »Weltung« des Globus verstanden werden muss. Wenn Jean-Luc Nancy das 497französische mondialisation der »Globalisierung« vorzieht, trägt er diesem begrifflichen Unterschied terminologisch Rechnung.[24]  Aufgrund der philosophischen Geschichte dieser Begriffe haben wir es mit subtilen Fragen von Endlichkeit und Unendlichkeit zu tun. Mundus/Welt ist mit Endlichkeit und Sterblichkeit assoziiert – im Gegensatz zum außerweltlichen Göttlichen –, während globus Assoziationen geometrischer Unendlichkeit und Perfektion mit sich bringt.[25]  Worum es mir hier geht, ist allerdings, dass es die Differenz zwischen Globus und Welt ist, die der Globalisierung als Prozess der »Weltung« des Planeten als Globus zugrunde liegt. Dieser Prozess basiert rein räumlich auf einer multidimensionalen »globalen« Expansion von Formen gesellschaftlicher Abhängigkeiten und gesellschaftlicher Zusammenhänge, die häufig aufgezwungen, bisweilen aber auch in manchen Formen freiwillig angenommen wurden. Er ist aber nicht darauf reduzierbar, denn er hängt von multiplen, intensiven, kommunikativen Konstruktionen dieser Formen als »Welt« ab, also auf eine in unterschiedlichster Weise in Anspruch genommene gemeinsame Subjektposition. Dies ist das »unser« in »unsere historische Gegenwart«.[26] 

Es gibt also eine grundlegende, konstitutive Mehrdeutigkeit im Begriff der Globalisierung zwischen dem »objektiven« planetarischen Aspekt (der Integration einzelner geografisch lokalisierter gesellschaftlicher Orte in globale Netzwerke unterschiedlicher Art) und dem, was wir seinen (kollektiven) »subjektiven« weltlichen Aspekt nennen könnten, durch den diese Praktiken und Prozesse der »Integration« als Teil einer Transformation »der Welt« gelebt werden; auf existenzieller Ebene manifestiert sich dies in der notwendigen Pluralität miteinander verbundener »Welten«, von denen jede für alle zu sprechen scheint. Was in der Semantik der »Globalisierung« als »Mehrdeutigkeit« erscheint, manifestiert sich auf gesellschaftlicher Ebene als Spannung und Antagonismus und logisch als immanenter oder dialektischer Widerspruch zwischen 498zwei Hauptaspekten: funktionalem gesellschaftlichen Prozess und weltlicher Aneignung. Dieser Widerspruch drückt sich räumlich als Widerspruch zwischen der abstrakt idealen und buchstäblich unbewohnbaren »absoluten« oder unbegrenzten Subjektposition des Globus (eine Art romantisches Absolutes) und den notwendigerweise »lokalisierten« Subjektpositionen seiner Weltungen aus. In der Struktur der »Kunstwelt« – man beachte die phänomenologischen Konnotationen des Begriffs in diesem Kontext – zeigt sich dies vor allem im strukturellen Widerspruch zwischen den kulturökonomischen (oder »kulturindustriellen«) globalen Aspekten und ihren individualisierenden kulturell-künstlerischen Funktionen. Im Kunstwerk selbst erscheint dieser strukturelle räumliche Widerspruch als neue künstlerisch globale Form dessen, was der US-amerikanische Künstler Robert Smithson als Ort-Nichtort-Dialektik (site-nonsite dialectic) bezeichnet hat.[27] 

Heute, mehr als vierzig Jahre nach Smithsons Tod, erscheint diese Dialektik von Ort und Nichtort als kunstinstitutionelle Spezifizierung einer allgemeineren Dialektik von Orten und Nichtorten, die in ihrer Logik und Ausdehnung global geworden ist.[28]  Nummer neun auf Smithsons Liste von in Paaren geordneten Elementen der Ort-Nichtort-Dialektik in seinem »The Spiral Jetty« lautet: »Some Place (physical) – No Place (abstract)«.[29]  Smithsons ursprüngliche Verwendung von »non-site« als Bezeichnung der Verortung physischer Materialien, die von einem Ort an einen anderen Ort versetzt wurden, an dem ersterer dargestellt oder repräsentiert wird (eine Kunstinstitution), wird hier über den Mechanismus der Repräsentation transformiert, um die Funktion der Repräsentation selbst zu bezeichnen. Daher die daraus folgende Ableitung des Begriffs des »funktionalen Ortes« aus der räumlichen Allgemeinheit des Nichtortes,[30]  mit der Smithsons Dialektik eine weitere Achsendrehung 499vornimmt. Diese gesellschaftlich-räumliche Dialektik, die unter den ökonomischen und kommunikativen Bedingungen der Globalisierung dem Kunstwerk eigen ist, leitet ihre Zeitlichkeit aus der neuartigen historischen Zeitlichkeit des »Zeitgenössischen« ab.

Das Zeitgenössische als historische Zeit

Insofern die Globalisierung eine grundlegende Transformation der raumzeitlichen Matrix möglicher Erfahrung mit sich bringt, finden diese Veränderungen nicht einfach »in« der historischen Zeit als jener »leeren, homogenen Zeit« statt, die bekanntlich von Heidegger, Benjamin und Althusser gleichermaßen als »Historismus« identifiziert wurde. Stattdessen stellen sie eine neue Form historischer Zeitlichkeit dar und eröffnen so die Möglichkeit neuer Verzeitlichungen (neuer zeitlicher Strukturen) von »Geschichte«. Diese neue Form der Zeitlichkeit, die von der Globalisierung der gesellschaftlichen Prozesse hervorgebracht wird, die die Zeitlichkeit der Moderne gründen, sollte nicht als schlichte räumliche Erweiterung der Zeitlichkeit der Moderne (der Logik des Neuen) gedacht werden, als die oben genannte »globale Moderne«, sondern mit dem Begriff des »Zeitgenössischen«: als neue, innerlich disjunkte globale Form historischer Zeit, als totalisierendes (aber damit nicht einheitliches, da jede Vereinheitlichung distributiv bleiben muss), radikal disjunktes Zeitgenössisches (contemporaneity). Zwischen dem »die« und dem »unsere« zerbricht die Identität durch die Vervielfältigung der »Wirs«, die nicht ich sind und die ich auch nicht werden kann – um die Terminologie von Hegels berühmtem Satz »Ich, das Wir, und Wir, das ich ist« zu verwenden, der den von aller Phänomenologie vorausgesetzten spekulativen politischen Horizont bildet. Die Konsequenz ist (wie Adorno festgehalten hat), dass Universalgeschichte »zu konstruieren und zu leugnen«[31]  ist. Was sich seit Adornos Zeit verändert hat, ist, dass der Prozess von Konstruktion und Leugnung nicht länger eine rein spekulative geistige Aufgabe ist (die Aufgabe des*der Philosoph*in – Kants Personifizierung des »Weltbegriffs« der Philosophie),[32]  sondern zunehmend 500als Form oder Rhythmus des historischen Prozesses der Kapitalakkumulation selbst erkennbar wird.

Kurz gesagt, ist das Zeitgenössische im historischen Sinne die Zeitlichkeit der Globalisierung: eine neue Art der vereinheitlichenden, aber von inneren Brüchen durchzogenen Konstellation zeitlicher Relationen. Das Wechselverhältnis zwischen dieser neuen historischen Zeitlichkeit und der Zeitlichkeit der Moderne – der differenziellen Zeitlichkeit des Neuen – ist höllisch kompliziert. Es ist nicht so, als würde die eine die andere ablösen, als würde die Logik des Modernen durch die des Zeitgenössischen ersetzt – das ist der Irrtum einer historistischen Periodisierung nach Stufen, die wir sowohl in der etablierten Geschichtsschreibung als auch in der Kunstgeschichte finden. Vielmehr begleitet das Zeitgenössische im globalen Sinne als historische Zeitlichkeit die abstraktere Zeitlichkeit der Moderne und folgt aus ihrer räumlichen Ausbreitung. Seiner Struktur – verbindend im Trennenden – kann man sich über die moderne philosophische Konzeption der Zeitlichkeit als Prozess der Verzeitlichung nähern, durch den lebendige Zeit als selbstdifferenzierende Menge von vereinheitlichenden Beziehungen konstituiert wird.

Die englischen und französischen umgangssprachlichen Wörter contemporary und contemporain (abgeleitet vom mittellateinischen contemporarius und dem spätlateinischen contemporalis) erscheinen um die Mitte des 17.Jahrhunderts, aber ein philosophisches Denken des Zeitgenössischen, das den durch das Präfix ausgedrückten Sinn von Zusammengehörigkeit aufgreift (der in den Entsprechungen in den germanischen Sprachen fehlt), ist unverkennbar ein nachhegelianisches Phänomen.[33]  Es ist anfänglich mit dem Denken der »Gleichzeitigkeit« (samtidighed auf Dänisch) in Kierkegaards existenzieller Theologie der 1840er Jahre verbunden. Als kritischer, gesellschaftlicher und historischer Begriff taucht das Zeitgenössische erst im Laufe der 1990er Jahre auf.

Die Struktur des Zeitgenössischen als Ergebnis einer Zusammenfügung erscheint in Kierkegaards Verwendung von »Gleichzeitigkeit« in seinen Philosophischen Brocken im Gegensatz zur alltägli501chen, historistischen Bedeutung des Zeitgenössischen als dem, was gemeinsam in derselben chronologischen Zeit lebt, existiert oder geschieht.[34]  Der Begriff wird verwendet, um den Akt zu bezeichnen, mit dem Zeiten zusammengefügt werden, um eine unmittelbare (und auf paradoxe Weise ent-zeitlichte) zeitliche Einheit zu produzieren. In Gadamers Worten: »›Gleichzeitigkeit‹ heißt bei Kierkegaard nicht Zugleichsein«, sie »ist also nicht eine Gegebenheitsweise im Bewußtsein, sondern eine Aufgabe für das Bewußtsein und eine Leistung, die von ihm verlangt wird«. Genauer gesagt »formuliert« Gleichzeitigkeit für Kierkegaard Gadamer zufolge »die Aufgabe, die an den Glaubenden gestellt ist, das, was nicht zugleich ist, die eigene Gegenwart und die Heilstat Christi, so total miteinander zu vermitteln, daß diese dennoch wie ein Gegenwärtiges (statt im Abstand des Damals) erfahren und ernst genommen wird«. Es geht also darum, »sich so an die Sache zu halten, daß diese ›gleichzeitig‹ wird, d.h. aber, daß alle Vermittlung in totaler Gegenwärtigkeit aufgehoben ist«. Oberflächlich betrachtet scheint dies der Simultaneität des ästhetischen Bewusstseins zu ähneln. Tatsächlich aber, fährt er fort, »beruht die Simultaneität des ästhetischen Bewußtseins auf der Verdeckung der mit der Gleichzeitigkeit gestellten Aufgabe«, während die Kierkegaard’sche Gleichzeitigkeit trotz ihrer existenziellen Unmittelbarkeit dennoch philosophisch als Leistung und nicht als Gegebenes verstanden werden muss – also, wie ein*e Hegelianer*in sagen würde, gerade als Vermittlung.[35] 

Dieser philosophische Begriff von Gleichzeitigkeit als Aufgabe und Leistung zeitlicher Verknüpfung (einer spezifischen Vergangenheit und Gegenwart, und zwar in der Gegenwart selbst) blieb an einen religiösen Existenzialismus gebunden, bis er zuerst im Benjamin’schen Begriff der Jetztzeit aufgegriffen wurde – wo er seine jenseitige Unmittelbarkeit behielt – und in jüngerer Zeit mit 502der Semantik des Zeitgenössischen verbunden wurde. Der Begriff »zeitgenössisch« erhielt zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg eine historische Bedeutung, wo er im Kontext der Kunst und (vor allem) des Designs als Bezeichnung einer neuen Periodisierung in Abgrenzung vom »Modernen« verwendet wurde. (Der Ausdruck l’art contemporain war in Paris zur Zeit des Ersten Weltkriegs geläufig, damals aber ohne besondere begriffliche Bedeutung.) Tatsächlich diente er in den 1950er und 1960er Jahren hauptsächlich als Modifikation eines erweiterten Begriffs des Modernen (statt ihm ausdrücklich entgegengesetzt zu werden): Das Zeitgenössische war der jüngste Teil der Moderne, einer Moderne freilich im Sinne einer gemäßigten, weniger die Form eines Bruchs annehmenden Vorstellung von Zukunft als diejenige, die mit der Avantgarde assoziiert ist.

In dieser Hinsicht war »zeitgenössisch« noch in den 1970er Jahren kein kritischer Begriff eigenen Rechts, der etwa in Raymond Williams’ Keywords: A Vocabulary of Culture and Society von 1976 aufgenommen werden konnte.[36]  Erst mit der endgültigen Verabschiedung der Postmoderne als kohärentem kritischen Begriff Ende der 1990er Jahre hatte sich das »Zeitgenössische« aus seiner Alltagsfunktion als Bezeichnung für das, was gerade aktuell ist, ans kritische Tageslicht gearbeitet. Bis dahin hatte es sich in der kunstgeschichtlichen Periodisierung endgültig vom Modernen getrennt, mit der Erfindung einer neuen disziplinären Spezialisierung: der Geschichte der zeitgenössischen Kunst. Gleichzeitig veränderte sich die Struktur des Zeitgenössischen selbst. Tatsächlich ist die Vorstellung des Zeitgenössischen als einer spezifischen historischen Situation und Bedingung neu.

Das Zusammenkommen verschiedener, aber gleichermaßen »gegenwärtiger« Zeitlichkeiten in temporär totalisierten, aber innerlich disjunkten Einheiten, die das historisch Zeitgenössische heute kennzeichnet, ist nicht die individuelle Kombination existenzieller Gegenwarten mit bestimmten Vergangenheiten (religiöse oder andere), die Kierkegaards Begriff der Gleichzeitigkeit und selbst Benjamins Jetztzeit ausmachen, auch wenn der angeblich kollektive Charakter des Erfahrungssubjekts für Benjamin immer ein Thema war, so wenig er auch eine Lösung dafür hatte. Statt503dessen beinhalten diese Zusammenführungen geopolitisch diffuse multiple Zeitlichkeiten (von denen jede ihre eigene Geschichte mit sich bringt), die ihren Ort in gesellschaftlichen Strukturen haben, die konstitutiv problematische, geopolitisch totalisierte Gegenwarten produzieren: einheitlich nur in Bildern idealer, spekulativer oder fiktionaler »Subjekte«, die angeblich den gleichen historischen Raum besetzen wie die entfremdete Idealität der Wertform des Kapitals in ihrer sich scheinbar selbst bestimmenden Bewegung.[37] 

Die Globalisierung unterwirft uns (subjects us) diesen neuen Formen des Zeitgenössischen in all den vielfältigen und widersprüchlichen Bedeutungen, die dieser Ausdruck in der französischen Philosophie seit Foucault angenommen hat. Diese auf problematische Weise trennenden Verknüpfungen werden von der alltäglichen, historistischen Verwendung von »zeitgenössisch« als Periodenbegriff verdeckt, wie er sich von der etablierten Kunstgeschichte mit ihrer schlichten Entgegensetzung zur modernen Kunst ableiten lässt. Wir finden aber in jenem Diskurs als eine Art verdrängter Kenntnisnahme der historischen Turbulenzen der Gegenwart einander überschneidende Genealogien oder historische Schichten und unterschiedlich ausgedehnte Bedeutungen von Gegenwart innerhalb des größeren Zeitraums eines westlichen Begriffs moderner Kunst. Jede von ihnen wird aus der Perspektive der Gegenwart als historische Gleichzeitigkeit im Hinblick auf den Bruch eines bestimmten historischen Ereignisses konstruiert, und jede von ihnen stellt ein bestimmtes geopolitisches Gebiet in den Mittelpunkt.[38]  Die Konkurrenz zwischen diesen Konzeptionen verzeichnet ihren sowohl politisch als auch epistemologisch konstruktiven Charakter und trägt so zur diskursiven Produktion »der Gegenwart« als kultureller Form bei.

504Die postkonzeptuelle Situation der zeitgenössischen Kunst

Eine kritische philosophische Periodisierung der Kunst operiert auf der Ebene der historischen Ontologie des Kunstwerks und in eins damit auf derjenigen der, wie man mit einem etwas eigenartigen Ausdruck sagen könnte, zeitlichen Ontologie der grundlegenden gesellschaftlichen und kulturellen Formen, durch die sie bedingt ist: in unserem Fall die Verflechtung von Modernem und Zeitgenössischem als zeitlichen Formen. In einem kritischen Verständnis ist »zeitgenössische Kunst« heute postkonzeptuelle Kunst. Damit ist Folgendes gemeint: Wenn wir versuchen, einen kritischen Begriff zeitgenössischer Kunst aus der doppelten Perspektive der historisch-politischen Konzeption des Zeitgenössischen und einer Relektüre der Geschichte der Kunst des 20.Jahrhunderts – im etablierten Sinne einer Kunst, die in den Kunstinstitutionen des globalen Netzwerks kapitalistischer Gesellschaften produziert, verbreitet, getauscht, konsumiert und bewahrt wird – zu konstruieren, ist die Idee postkonzeptueller Kunst gegenwärtig die klarste und kohärenteste Form, dieses Feld im historischen Sinne kritisch auf den Begriff zu bringen.

In Bezug auf die Verwendung des Begriffs »postkonzeptuell« sind drei klärende Bemerkungen nötig: Erstens soll der Begriff nicht in einem lediglich chronologischen Sinne oder auch nur ausschließlich im Sinne zeitlicher Kontinuität verstanden werden, auch wenn seine Gegenstände chronologisch erfasst werden können. (In dieser Hinsicht unterscheidet sich seine Semantik von der des Begriffs »postmodern«. Da »modern« selbst ein zeitlicher Begriff ist, der die Zeitlichkeit des »post-« beziehungsweise »nach-« begrifflich einbezieht, wird die paradoxe Selbstbezüglichkeit dieser Beziehung sofort zum Problem, was im Falle einer »Post«-Bestimmung des Konzeptuellen nicht der Fall ist.) Dieser Konstruktion zufolge ist postkonzeptuelle Kunst kein traditionelles kunsthistorisches oder kunstkritisches Konzept, das auf der Ebene von Medium, ästhetischer Form, Stil oder Bewegung angesiedelt wäre. Der Begriff bezeichnet eine Kunst, die die komplexe historische Erfahrung und das kritische Erbe der konzeptuellen Kunst voraussetzt, und zwar in einem weiten Verständnis, das sich auf die mit diesem Erbe verbundene grundlegende Veränderung der Ontologie des Kunst505werks bezieht. Als historische Ontologie ist eine solche künstlerische Ontologie nicht rein philosophisch in einem disziplinären Sinne von »Philosophie«. Es handelt sich um eine transdisziplinäre Ontologie, die so gebaut ist, dass sie die Vielzahl der disziplinären und institutionellen Diskurse und Praktiken durchquert, in denen ein angemessener Begriff der Kunst gegründet sein muss. »Kunst« ist ein transdisziplinärer Begriff, und gerade daraus leiten sich die tiefgreifenden Probleme und Paradoxe ab, in die wir geraten, wenn wir die Autonomie der Kunst zu denken versuchen.[39] 

Zweitens wird der Begriff »postkonzeptuell« hier verwendet, um die Bedingungen einer solchen Kunst im doppelten Sinne zu benennen, die die Alltagsverwendung des Worts »Bedingung« (condition) beinhaltet, mit der sowohl auf das hingewiesen werden kann, durch das etwas bedingt wird – und das damit logisch gesprochen außerhalb seiner steht –, als auch auf den inneren Zustand des so Bedingten. Diese Mehrdeutigkeit verweist uns dialektisch darauf, dass die Bedingtheit dem Bedingten immanent ist (oder das eine durch das andere »verinnerlicht« wird), so dass wir, wenn wir von den »Bedingungen der Kunst« sprechen, gleichzeitig von dem sprechen, was die Kunst jeweils ist, und von der Gesamtheit der Bedingungen, die sie als »Kunst« bestimmen. Daher ist die Idee des Postkonzeptuellen doppelt codiert. Sie ist gleichzeitig als künstlerische Situation und als das bestimmt, was diese bedingt – in erster Linie das Zusammenspiel von Kommunikationstechnologien und neuen Formen der räumlichen Beziehungen, die das kulturelle und politische Medium der ökonomischen Prozesse der Globalisierung bilden, deren Erfahrung sie (wenn sie erfolgreich ist) künstlerisch verdichtet, reflektiert und ausdrückt. Solche Bedingungen sind historisch, wirken aber aus der Perspektive der Interpretation transzendental (als »Bedingung der Möglichkeit«), als Bedingungen bestimmter unvorhersehbarer Möglichkeiten, die einer bestimmten historischen Wirklichkeit eingelagert sind, deren konstruktiver Ausdruck sie werden können.

Die Einheit eines solchen Begriffs von Kunst ist notwendigerweise das retrospektive Ergebnis seiner Konstruktion in der Gegenwart. Sie ist also genealogisch. Es handelt sich um eine Einheit, die 506daher »nicht abstrakt« ist, sondern, in Adornos Worten, »als ihre eigene Bedingung, nicht als Beleg und Beispiel konkrete Analysen voraus[setzt]«.[40]  Die Idee der Kunst ist in jedem Werk gegeben, aber kein individuelles Werk ist ihr adäquat, was für einen »Vorrang« es auch haben mag. Diese andauernde retrospektive und reflexive Totalisierung ist notwendig offen, gebrochen, unvollständig und daher inhärent spekulativ:

Die Definition dessen, was Kunst sei, ist allemal von dem vorgezeichnet, was sie einmal war, legitimiert sich aber nur an dem, wozu sie geworden ist, offen zu dem, was sie werden will und vielleicht werden kann. […] Das Gewordensein von Kunst verweist ihren Begriff auf das, was sie nicht enthält. […] Deutbar ist Kunst nur an ihrem Bewegungsgesetz, nicht durch Invarianten. Sie bestimmt sich im Verhältnis zu dem, was sie nicht ist. […] Sie spezifiziert sich an dem, wodurch sie von dem sich scheidet, woraus sie wurde; ihr Bewegungsgesetz ist ihr eigenes Formgesetz.[41] 

Aus diesem Grund ist der Satz »Zeitgenössische Kunst ist postkonzeptuelle Kunst« ein spekulativer Satz in Hegels technischem Sinne. Seine künstlerische Bedeutung bestimmt sich letztlich durch die reflexive Totalität all seiner Anwendungen auf die Interpretationen individueller Werke. Dies ist die spezifische nachhegelianische Vermittlung von Nominalismus und Realismus, die wir bei Adorno finden.[42] 

Drittens steht die postkonzeptuelle Kunst in dieser Hinsicht nicht zur konzeptuellen Kunst, wie die postmoderne Kunst zur modernen stehen sollte, sondern eher, wie man das Verhältnis von Poststrukturalismus zum Strukturalismus verstehen könnte: nämlich als sein philosophisches Begreifen und die Ausarbeitung seiner Konsequenzen. In Hegel’schen Begriffen ist die postkonzeptuelle Kunst die »Wahrheit« der konzeptuellen. Ich habe das kritische 507Erbe der konzeptuellen Kunst, auf dem die postkonzeptuelle Kunst ruht, an anderer Stelle als Kombination von sechs Eigenschaften zusammengefasst, die damit als Elemente oder Aspekte ihrer postkonzeptuellen Bedingtheit erscheinen.[43]  Die letzten drei jener sechs Eigenschaften, nämlich

  •  dass die grundlegende Konzeptualität jener Kunst ihre möglichen materiellen Mittel ins Unendliche erweitert;

  •  die radikal distributive – das heißt irreduzibel relationale – Einheit des einzelnen Kunstwerks über die Gesamtheit seiner multiplen materiellen Instanziierungen zu jeder bestimmten Zeit; und

  •  die offenen und historisch formbaren Grenzen dieser Einheit,

weisen darauf hin, inwiefern die Ontologie postkonzeptueller Werke transkategorial ist. Genauer gesagt, handelt es sich um eine transkategoriale Ontologie von (transmedialen) Vermittlungen. So verstanden, durchquert das erfolgreiche postkonzeptuelle Werk die inneren zeitlichen Disjunktionen, die das Zeitgenössische konstituieren, es bildet ihren konstruktiven Ausdruck auf der Ebene der immanenten Dualität – konzeptuell und ästhetisch –, die für seine postkonzeptuelle Form konstitutiv und seiner bildlichen Struktur[44]  inhärent ist. Ein jedes von ihnen ein verdichtetes Fragment, ein Welten des Globus.

Aus dem Englischen von Christian Grüny