Vorwort

Die Medizin erhält ihre Anstöße von Krankheiten, Verletzungen und Patienten. Den Anstoß zu diesem Buch gab eine sonderbare Verletzung, oder jedenfalls eine Verletzung mit sonderbaren Auswirkungen. Sie war die Folge eines Unfalls auf einem Berg in Norwegen. Als Arzt hatte ich mich noch nie zuvor in der Rolle des Patienten befunden, und jetzt war ich auf einmal beides zugleich. Ich hatte angenommen, mein Fall (eine schwere, aber unkomplizierte Verletzung der Muskeln und Nerven des einen Beines) sei unproblematisch und alltäglich, und war überrascht über die tiefgreifenden Auswirkungen, die diese Verletzung hatte: eine Art von Lähmung und Entfremdung des Beines, die es zu einem «Objekt» werden ließ, welches mit mir nichts zu tun zu haben schien. Es war ein Abgrund von bizarren, ja beängstigenden Auswirkungen. Ich wusste nicht, wie ich sie einschätzen sollte, und

Infolge dieser eigentümlichen Auswirkungen – der zentralen Resonanzen einer peripheren Verletzung sozusagen – und des Fehlens beruhigender Erklärungen meines behandelnden Arztes war ich äußerst besorgt und verwirrt und schrieb an den hervorragenden Neuropsychologen Alexander Romanowitsch Lurija in Moskau. Er antwortete mir unter anderem: «Solche Syndrome sind möglicherweise häufig, werden jedoch nur sehr selten beschrieben.» Als ich von meiner Verletzung genesen war und meine Tätigkeit als Arzt wiederaufgenommen hatte, stellte ich fest, dass es sich in der Tat so verhielt. Über Jahre hinweg untersuchte ich einige hundert Patienten mit eigentümlichen Störungen ihres Körper-Bildes und ihres Körper-Ichs, welche neurologischen Ursprungs waren und im Wesentlichen Ähnlichkeiten mit meinem eigenen Fall aufwiesen. Im letzten Kapitel dieses Buches werde ich diese Arbeit und ihre Bedeutung in groben Zügen skizzieren. Ich werde, so hoffe ich, zu einem späteren Zeitpunkt eine gründliche Monographie zu diesem Thema veröffentlichen. Im vorliegenden Buch sind also viele Themen miteinander verwoben: die mit meiner Verletzung und Genesung verknüpften spezifischen neuropsychologischen und existenziellen Phänomene; die Anforderungen, vor die man durch das Dasein als Patient und die spätere Rückkehr ins normale Leben gestellt ist; die Vielschichtigkeit der Beziehung zwischen Arzt und Patient und die Schwierigkeiten, mit denen der Dialog zwischen ihnen behaftet ist, besonders dort, wo es um Dinge geht, die für beide verwirrend sind; die Anwendung meiner Erkenntnisse auf

Dieser letzte Gedankengang kam erst einige Jahre später. Den Anstoß dazu gab mir die Lektüre von Henry Heads großartigen «Studies in Neurology» (1920) während einer langen Zugfahrt von Boston nach New York: Er beschreibt darin seinen, meinem eigenen so ähnlichen Weg von der Untersuchung der Auswirkungen, die die Durchtrennung eines Nervs bei ihm hatte, zu der Erarbeitung von weitestgehend allgemeingültigen Konzepten von Körper-Bild und Körper-Musik. Das letzte Kapitel meines Buches habe ich auf einem Berg in Costa Rica geschrieben und so die Odyssee vollendet, die auf jenem schicksalhaften Berg in Norwegen begonnen hatte.

Mit Ausnahme des letzten Kapitels ist das Material nicht systematisch geordnet. Man möge dieses Buch als eine Art von neurologischer Erzählung oder Kurzgeschichte lesen, als eine Geschichte jedoch, die auf persönlicher Erfahrung und neurologischen Fakten aufbaut, ganz wie die, die Lurija uns in «The Man with a Shattered World» und seinen anderen «Neurographien» erzählt hat.

Bei alldem hat mir Lurija, mit dem ich, was mir eine besondere Ehre war, von 1973 bis zu seinem Tod im Jahr 1977 in engem Briefkontakt stand, sehr geholfen und mich immer wieder ermuntert. Im Verlauf unserer Korrespondenz schrieb er: «Sie sind dabei, ein ganz neues Gebiet zu entdecken … Bitte veröffentlichen Sie Ihre Beobachtungen. Das wird dazu beitragen, den ‹veterinärmedizinischen› Umgang mit peripheren Störungen zu verändern und einer umfassenderen und menschlicheren Medizin den Weg zu bahnen.» In dankbarer Erinnerung widme ich dieses

 

London und New York

O.W. S.