Die Anwendung der Traditionellen Medizin aus China hat sich im Abendland seit etwa 35 Jahren stark verbreitet. Es ist naheliegend, dass sich an den Berührungspunkten der beiden Welten neue Denkansätze entwickeln.
Die Bemühung, traditionelle Heilkräuter der westlichen Hemisphäre mit dem System der Chinesischen Medizin zu beleuchten und sie therapeutisch in der TCM-Praxis zu nutzen, gehört zu solchen neuen Ansätzen. Während Akupunktur, Qi Gong und Tuina nahezu vorbehaltlos im Westen angenommen und praktiziert werden können, entsteht in der TCM-Ernährungsberatung und -Kräuterheilkunde bei Patienten wie Behandlern das deutliche Bedürfnis, die bei uns bekannten und gebräuchlichen Pflanzen, Gewürze und Nahrungsmittel zu verwenden.
Dafür müssen sich Interessierte, die sich sowohl in der Chinesischen Medizin als auch mit den westlichen Heilpflanzen bzw. Nahrungsmitteln gut auskennen, an die Aufgabe machen, diese beiden Wissensgebiete sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Diese Arbeit hat vor ca. 25 Jahren an vielen Orten begonnen. Die guten Erfolge in der Praxis und das stetig wachsende Interesse an dieser Synthese hat die drei Autoren, die sich seit über 20 Jahren mit westlichen Heilkräutern in der Chinesischen Medizin beschäftigen, bewogen, diese kommentierte Materia medica der westlichen Kräuter für die TCM-Praxis zu erstellen.
Bei diesem Thema treffen sich zwei etwa gleich alte Traditionen der medizinischen Anwendung von Heilkräutern (vgl. PUN 2003: 94f.). Die beiden Traditionen entstanden an den zwei „Enden“ Eurasiens: im Morgenland (Orient), in dem die Sonne aufgeht, und im Abendland (Okzident), in dem die Sonne untergeht.
Als Grundlage für eine systematische Synthese im Bereich der Kräutertherapie eignet sich die Chinesische Medizin, deren Theorie und Praxis inzwischen weite Verbreitung in den Ländern der westlichen Welt gefunden hat. Einer der Gründe für die erfolgreiche Adaption von „woanders“ (Francois Jullien) ist die Pluralität (VSC 2002: 56) und gleichzeitige Einheit des kategorialen Systems der Chinesischen Medizin. Beides hat sich über zwei Jahrtausende in Theorie und Praxis lebendig erhalten können.
So wie sich die Theorie und Praxis der Chinesischen Medizin an die Gegebenheiten von Gesundheit und Krankheit im Westen anpasst, so können Heilkräuter auf der Grundlage von Beschreibungen und Indikationen, die seit über 2000 Jahren im Okzident dokumentiert wurden, in das System der Chinesischen Medizin eingepasst werden.
Die mit ihr von vielen Grundanschauungen her vergleichbare Medizintheorie der griechischrömischen Antike war im Westen in den letzten zwei Jahrhunderten von den naturwissenschaftlichen Anschauungen verdrängt und nur noch rudimentär weiterverfolgt und -entwickelt worden. Insofern eignet sich die Chinesische Medizin, deren Theorie und Praxis sich bis in die Gegenwart lebendig erhalten konnte, hervorragend, die zur Tradition des Okzidents zählenden Heilkräuter in ihrem Licht neu zu betrachten und anzuwenden. Möglich ist das vor allem, weil die Chinesische Medizin in der Vielfalt und Verschiedenartigkeit ihrer Ansätze offen ist für ein solches Unterfangen. (VSC 2002: 13)
Von Beginn an gehörten zum europäischen Heilkräuterschatz auch Kräuter, die ursprünglich aus Kleinasien, Asien und Afrika stammen. In der Neuzeit kamen Kräuter des amerikanischen Kontinents dazu. Mit „westlichen“ Kräutern sind solche Heilpflanzen gemeint, die im Westen traditionell zur Kräuterheilkunde zählen. Es handelt sich demnach nicht um „einheimische“ Kräuter im engen Sinn.
Es gibt eine relativ klare Abgrenzung der „westlichen“ von den „fernöstlichen“ bzw. chinesischen Kräutern, auch wenn in diesem Buch einige Kräuter der chinesischen Materia medica enthalten sind. „Westlich“ meint weniger die Geografie, sondern vielmehr die Kultur. Es geht um Kräuter, die traditionell innerhalb der westlichen Kultur sowohl in der Kräutermedizin als auch Volksheilkunde ihre Verwendung finden und die eine nachvollziehbar lange Anwendungstradition besitzen.
Es werden inzwischen viele im Handel befindliche Kräuter außerhalb Deutschlands angebaut, sodass der Ausdruck „einheimische Kräuter“ missverständlich ist. So wird die im Handel befindliche Kamille in Ägypten angebaut, handelsübliche Pfefferminze kommt schon seit Jahrzehnten aus Bulgarien, Lindenblüten und Lavendel stammen aus Frankreich.
Einen großen Teil der „westlichen“ Heilpflanzen finden wir nach wie vor „vor der Haustüre“, soweit man genau und fachkundig hinschaut. Es sind Pflanzen, mit denen wir unsere Umwelt teilen und die viele Menschen als Hausmittel bei Beschwerden und Krankheiten kennen, auch wenn sie zunehmend nicht mehr als Pflanzen, sondern als Pflanzen-Präparate angewendet werden.
Weil die Kräutermedizin auch ein national-kulturelles Erbe jedes Volkes darstellt, ist deren Tradition dementsprechend eine der Antworten der regionalen Bevölkerung auf die eigenen Gesundheitsprobleme. (KAZ 7)
Allerdings ist vom Sammeln zur Abgabe an Patienten abzuraten. Qualität durch korrekte Ernte, Trocknung, Aufbereitung und Lagerung, analytische Kontrollen und Pestizid- und Schwermetall-, Pflanzenwuchsstoff-Prüfung wird durch die professionelle Abgabe durch Apotheken gewährleistet. Selbstredend gehört zum tieferen Kennenlernen der Pflanzenheilkunde das praktische Botanisieren, Sammeln und Probieren unbedingt dazu.
Es gibt eine Reihe von Ähnlichkeiten bis hin zu Übereinstimmungen zwischen den beiden Medizintheorien von Okzident und Orient. Ohne die fundamentalen Unterschiede beider Denkrichtungen außer Acht zu lassen, lohnt sich gerade für die Kräuterheilkunde der Blick auf das, was beiden Richtungen gemeinsam ist, um daraus Nutzen für die Praxis zu ziehen.
Die zuerst zu nennende Ähnlichkeit ist die zwischen dem antiken europäischen Vier-Elemente-System und den Fünf Wandlungsphasen der alten Chinesen (BÖH 93f.). Hier wie dort handelt es sich um aus der Naturbeobachtung abgeleitete Zuordnungen und Entsprechungen. Sie stellen einen kategorialen Rahmen bereit und erlauben, klinische Beobachtungen, Prozesse und Beziehungen zu beschreiben und Rückschlüsse auf Entwicklungstendenzen zu ziehen. Die Vier Elemente bezogen sich auf die Zusammensetzung der Körpersäfte, während die Fünf Wandlungsphasen sich auf Yin und Yang und die fünf Geschmäcke und Aromen bezogen.
Beide Systeme unterlagen seit Beginn ihrer Entwicklung einer beständigen Veränderung und Kritik. Während die griechisch-römische Betrachtung sich zu „Naturgesetzen“ hin entwickelte, hat eine solche Vorstellung in das Gedankengut Chinas nie Eingang gefunden.
„Obwohl die Fünf-Phasen-Theorie dynamischer ist als das griechische oder indische System und auch das Potential kreativer Anwendung in der medizinischen Praxis in sich trägt, erwies sie sich doch als ein relativ starres System. Die Betonung des Wandels bzw. der ständigen Veränderung in der Yin-Yang-Theorie und die Wichtigkeit, die die daoistische Perspektive dem Ganzen zuweist, ließen dagegen ein großes Maß an Flexibilität und deshalb auch eine bessere Anpassung an die Notwendigkeiten der klinischen Praxis zu.“ (TKA 395) Auch J. Ross stellt fest, dass das Konzept der fünf Geschmäcke „über lange Zeit eher starr blieb“, und äußert dazu den Wunsch: „Vielleicht wäre es auch für die chinesischen Therapeuten an der Zeit, ihre Konzepte zum Geschmack aus dem Blickwinkel der westlichen Arzneipflanzentradition und der modernen Biochemie zu hinterfragen.“ (ROS 2006: 32)
Denn gerade die Verbreitung der TCM in vielen Teilen der Welt ist ein Beweis für ihre Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Kulturen (vgl. VSC 2011). Diese Adaptionsfähigkeit haben weder das griechische noch das indische System erreicht.
Das ist einer der ausschlaggebenden Gründe, warum sich viele TCM-Therapeuten entschließen, einheimische bzw. westliche Kräuter innerhalb des chinesischen Medizinsystems zu verwenden, statt sich auf die von der Naturwissenschaft verdrängte und nicht weiter geführte Humoralpathologie einzulassen.
Eine weitere Verwandtschaft zwischen Ost und West betrifft die Signaturenlehre, die bei uns vor allem mit dem Namen Paracelsus verbunden ist (s. u.).
„Sowohl in der westlichen als auch in der chinesischen Medizin schlussfolgerte man von der Form einer Droge auf deren Organbezug. […]In vielen anderen Fällen wird eine Verbindung von der Gestalt der Drogen zu analogen Körperstrukturen gezogen.“ (KAL 15)
Obwohl es im Chinesischen den Begriff „Signaturenlehre“ nicht gibt, lässt sich die mit diesem europäischen Begriff bezeichnete Theorie jedoch in der Chinesischen Medizin sehr wohl nachweisen. „Darin ist eine klare Entsprechung zur europäischen Signaturenlehre zu sehen. […] Doch sollte man diese Theorie nicht überstrapazieren. In vielen Fällen kann man zwar frappierende Rückschlüsse von den äußeren Merkmalen eines Krautes auf seine Eigenschaften ziehen, doch lassen sich über diese Theorie bei weitem nicht alle Eigenschaften und Wirkungen der Kräuter erklären und verstehen. […] Die Signaturenlehre ist lediglich ein Teilaspekt innerhalb der komplexen Welt der Heilpflanzen.“ (KAL 13).
Die dritte Ähnlichkeit bezieht sich auf die Primärqualitäten der Kräuter, die in der Humoralpathologie seit Galenus (2. Jh. n. Chr.) als kalt und warm und trocken und feucht (in jeweils vier Graden) charakterisiert wurden. Die Geschmäcke spielten keine so große Rolle wie in der chinesischen Kräutermedizin, in der das Temperaturverhalten als kalt, kühl, warm und heiß (später auch neutral) klassifiziert wird.
Auf dieser Ebene gibt es durchaus viele Übereinstimmungen in der Wirkbeschreibung zwischen beiden Systemen. „Nicht wenige Substanzen wurden in der europäischen und in der chinesischen Arzneikunde gleich bewertet und gegen identische Leiden eingesetzt.“ (PUN 2005: 25)
Unter Beachtung der unterschiedlichen und gemeinsamen Kriterien west-östlicher Betrachtungsweisen der Kräuter führt die Anwendung der chinesischen Medizintheorie auch dazu, die – oft kritisierte – unübersichtliche Fülle von Indikationen der westlichen Erfahrungs-Kräutermedizin im Licht der chinesischen Theorien (wie Zheng Qi und Xie Qi, Ben und Biao, Syndrom-Diagnostik, Pathophysiologie der Zang Fu sowie Rezepturenlehre) neu zu ordnen und damit das Wirkpotenzial der Kräuter effektiver einzusetzen.
Es bleibt die Frage, inwieweit es verantwortbar ist, eine Methode zu lehren und in der Praxis an Patienten anzuwenden, die noch jung ist im Vergleich zu den Jahrhunderte alten ausgefeilten Rezepturen, die die Perlen der chinesischen Arzneimittellehre darstellen.
Hier gilt sicher für jeden Therapeuten, die Grenzen des eigenen Wissens, der Erfahrung und natürlich der Wirkungsmöglichkeit der Kräuter im Auge zu behalten. Diese Grenzen sind für die TCM als komplementäre Medizin neben der „Schulmedizin“ aber sowieso da gesetzt, wo es sich um akute und/oder lebensbedrohliche Erkrankungen handelt, da Letztere dort häufig effektivere und lebensrettende Methoden zur Verfügung hat.
Die Möglichkeit, altbewährte westliche Kräuter bei vielen Erkrankungen sicher und effektiv anzuwenden, ist unbestritten und nachweislich groß. Diese Sicherheit und Wirksamkeit wird unter Anwendung des Denksystems der Chinesischen Medizin noch größer.
Die schriftlich überlieferten Anfänge der europäischen Heilkräutermedizin sind mit den Namen Hippokrates (460–370 v. Chr.) und Theophrast (371–287 v. Chr.) verbunden.
Im europäischen Raum liegt uns mit der Materia medica des griechischen Arztes Dioscurides (1. Jh. n. Chr.) das erste umfassende Arzneimittelbuch vor, das ca. 1000 Arzneimittel umfasst (813 pflanzlichen, 101 tierischen, 102 mineralischen Ursprungs) und 4740 medizinische Anwendungen bietet. Seine Methode der Pflanzenbeschreibung blieb bis in die Neuzeit hinein beispielhaft. Unter dem Namen des Heilmittels (einschl. der Synonyme) stellte er Herkunft, botanische Beschreibung, medizinische Eigenschaften, Zubereitung und Anwendung vor und machte Angaben zur Lagerung und vieles mehr. (DIO 1902)
Seit Dioscurides wurde die okzidentale Kräuterheilkunde fortgeschrieben. Die arabische Medizin fügte weitere Heilmittel und Zubereitungen hinzu. „Die medizinische Formelsammlung von al-Kindi (um 800–870) etwa enthielt viele persische, indische und orientalische Medikamente, die den Griechen noch völlig unbekannt waren, darunter Kampfer, Cassia, Sennesblätter, Muskatnuss und -blüten, Tamarinde und Manna. Diese fanden Aufnahme in die westliche Medizin.“ (RPO 140)
Sowohl die antiken Völker des Mittelmeerraums als auch die Chinesen vergrößerten ihren Arzneimittelschatz mit Pflanzen und Mineralien, die über den Handel in ihre jeweiligen Länder gelangten. So fanden z. B. ayurvedische Kräuter Eingang in die chinesische Materia medica.
Zur Zeit des Dioscurides gab es bereits einen regen Handelsaustausch zwischen Okzident und Orient. „Im 1. Jahrhundert n. Chr. umspannte dieses Handelsnetzwerk die Alte Welt, indem es die damaligen mächtigsten Reiche in Eurasien miteinander verknüpfte: das Römische Reich in Europa, das Patherreich in Mesopotamien, das Kuschana-Reich in Nordindien und die Han-Dynastie in China. Rom und China nahmen sogar diplomatische Kontakte zueinander auf. Dabei waren die Gewürze nur einige von den Dingen, die auf dem Land- und Seeweg durch dieses globale Netzwerk zirkulierten.“ (TST 89/90)
Im 14. Jh. verkauften muslimische Apotheken in Beijing (Dadu) und Shangdu Kräuter, die auf euro-asiatischen Arzneibüchern basierten (vgl. HIN).
Auf diesem Wege fand bereits früher – um ein kleines, aber dokumentiertes Beispiel zu nennen – der „Theriak“ Einzug in die chinesische Kräuterheilkunde. Theriak ließe sich vergleichen mit dem bekannten „Schwedenbitter“ und galt in der europäischen Antike als Universalmittel. In einem chinesischen Arzneimittelbuch wird es 659 erstmals als Diyejia 底野超 pharmakologisch beschrieben und findet sich dann in der berühmten Arznei-Enzyklopädie des Li Shizhen 李時珍, dem Bencao Gangmù 本草纲目 von 1578. (PUN 2005: 24)
„Es gibt eine lange Geschichte des medizinischen Ost-West-Austauschs, der zu einer Konstanten geworden ist. Große Kulturen entwickeln sich nur durch den Kontakt mit anderen Kulturen, und kein größeres medizinisches System bestand für längere Zeit isoliert von anderen. Dies trifft sicherlich auch auf die Beziehung zwischen ostasiatischer medizinischer Praxis und anderen Kulturen zu.“ (TKA 2012: VIII; übers. von den Autoren)
Die Entdeckung der „Neuen Welt“ durch Kolumbus 1492 brachte neben neuen Nahrungsmitteln wie Kartoffeln, Mais, Tomaten auch weitere Arzneien, z. B. Cinchona, Eschscholzia californica, Echinacea angustifolia, Passiflora incarnata, Lobelia inflata oder Turnera diffusa nach Europa.
Die Sicht der griechischen Antike beruhte auf dem von Empedokles (ca. 504–433 v. Chr.) formulierten System der vier Grundelemente Feuer, Erde, Wasser und Luft (vgl. RIP 1999). Diese galten als Grundbausteine der Materie, denen weitere Qualitäten wie Körpersäfte (Humores), Organe, Jahreszeiten, Emotionen, Konstitutionstypen, Planeten, Farben usw. als Analogien zugeordnet wurden. Die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen ergab sich aus den Mischungen der Qualitäten der vier Elemente. „Ähnlich wie in der ayurvedischen Medizin Indiens erklärte der (hippokratische) Corpus Gesundheit und Krankheit hauptsächlich anhand der Körpersäfte.“ (RPO 45) Gesundheit wurde als harmonische Mischung (Eukrasie), Krankheit als fehlerhafte Mischung der Körpersäfte (Dyskrasie) angesehen.
„Der Reiz des humoralen Denkens, das die klassische Medizin dominierte und ihr Erbe bildete, lag in dem umfassenden Erklärungsmodell, das auf starken archetypischen Kontrastpaaren basierte (heiß/kalt, feucht/trocken) und alles Natürliche und Menschliche, Physische und Geis tige sowie Gesunde und Kranke einschloss.“ (RPO 48)
„Kennzeichen der antiken Medizin ist ihre humoralpathologische Klassifizierung. […] Hieraus leitet sich dann die Primärqualität, sprich die thermische und hygrische Zuordnung eines Präparates, des Weiteren die Sekundärqualität, also die pharmakologische Wirkung am menschlichen Körper, ab.” (PSC 122)
Galenus von Pergamon (129–200 n. Chr.) klassifizierte Kräuter gemäß der Vier-Elemente-Lehre thermisch als „warm“ oder „kalt“ und hygroskopisch als „feucht“ oder „trocken“ in jeweils vier Intensitätsgraden. Neben diese Primärqualität stellte man die Sekundärqualität, also die pharmakologische Wirkung im menschlichen Organismus.
Die Primärqualitäten der Drogen wurden auch in den späteren arzneikundlichen Werken bis in die Neuzeit angegeben (▶ Tab. 1.1). Dass es nicht um die Beschaffenheit der Pflanze geht, sondern um die Wirkung der Heilpflanze auf einen anderen Organismus, zeigte der berühmte Canon medicinae des Ibn Sina, lat. Avicenna (980–1037): „Die Wirkung der Arzneimittel ist abhängig vom aufnehmenden Organismus. Dementsprechend gehen die Autoren der frühen Neuzeit dazu über, die Arzneimittel nicht mehr als warm und trocken, sondern als wärmend und trocknend zu bezeichnen. Entsprechend wird dann auch von kühlend und befeuchtend gesprochen.“ (MAY)
▶ Tab. 1.1 Primärqualitäten pflanzlicher Drogen.
Primärqualität | Bedeutung in der Humoralpathologie |
---|---|
wärmend | gegen kalte Mischungsstörungen (Übermaß an Phlegma, das als kalt und feucht qualifiziert wird) anregend, dynamisierend z. B. bei Schleimkrankheiten (Katarrhe), träger Verdauung, Erkältungskrankheiten, Antriebslosigkeit, Kreislaufschwäche, Hypotonie, Bindegewebsschwäche, lymphatische Konstitution mit Neigung zu Wassereinlagerungen |
trocknend | gegen feuchte Mischungsstörungen (feuchter Schleim) trocknend im Sinne von ausleitend, die Flüssigkeiten (Speichel, Magen-, Gallensaft, Harn oder Menstruationsblut) zum Fließen anregend z. B. bei Ödemen, Gelenkschwellungen, Rheuma, Lebererkrankungen |
kühlend | gegen warme Mischungsstörungen sedierend und zusammenziehend, konzentrierend z. B. bei fiebrigen Erkrankungen, Entzündungen v. a. Leberentzündung, Lungenentzündung, Hirnentzündung, lokalen Entzündungen, akuten Schmerzen, Wunden, sowie gegen Übererregtheit, Schlafstörungen |
befeuchtend | gegen trockene Mischungsstörungen (das weite Feld der schwarzgalligen Erkrankungen) z. B. bei trockenem Husten, Pleuritis, chronischen, schleichenden und progressiven Leiden, Auszehrung, Alterserkrankungen, Vergreisung, seniler Demenz, Sklerose, Melancholie Schleimdrogen und besonders safthaltige Pflanzen |
„Der Weg der traditionellen abendländischen Medizin beginnt im Ursprungsgebiet Griechenland (400 v. Chr.) und zieht über das griechische Byzanz (330–1453 n. Chr.), den arabischen Islam (632–1492 n. Chr.) und das lateinische Mittelalter (800–1453 n. Chr.). Die Wiedergewinnung der traditionellen Medizin in der westeuropäischen Renaissance (15./16. Jh. n. Chr.) führt dann zu ihrem Aufblühen im medizinischen Galenismus (17./18. Jh. n. Chr.), dessen Ende beziehungsweise Auflösung durch die moderne naturwissenschaftliche Ära erst um 1800 n. Chr. erfolgt. Die so genannte Moderne ist daher gerade erst zweihundert Jahre alt und nur auf dem Boden ihres über zweitausend Jahre mächtigen Fundaments zu verstehen.“ (PSC 122)
Im 16. und 17. Jahrhundert befindet sich die Pflanzenheilkunde auf ihrem Höhepunkt in Europa, der zugleich auch einen gewissen Niedergang der Phytotherapie einleitet. Die Gattung Kräuterbuch verflacht vom wissenschaftlichen Standardwerk zum Volksgesundheitsbuch.
„Bereits im 16. Jahrhundert wird die Phytotherapie durch die zunehmende Chemiatrie zurückgedrängt. Dieser Wissenszweig ist vor allem mit Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, verbunden.“ (PSC 125) Sein Arzneimittelbegriff ruht auf den drei fundamentalen, den Körper ausmachenden Grundsubstanzen: Schwefel (Sulphur), Quecksilber (Merkurius) und Salz (Sal). „Diese Dreiheit bestimmt dann die Form der Alchemie, aus der sich schrittweise die neuzeitliche Chemie entwickeln sollte.“ (BÖH 127)
Und doch vereinte Paracelsus (1493–1541) die drei Hauptstränge der Vier-Elemente-Lehre: Naturphilosophie (Naturwissenschaft), Medizin und symbolische Natursprache (Signaturenlehre). Heilung erfolgt durch die Wiederherstellung dieses Gleichgewichts, beispielsweise durch die Verabreichung der jeweiligen Mittel mit den benötigten Eigenschaften gemäß der Doktrin der spezifischen Mittel gegen spezifische Krankheiten. „Wo das Übel ist, wächst auch das Heilmittel dagegen.”
Neben der Inanspruchnahme und Verfeinerung überlieferter Heilmethoden bediente sich Paracelsus der Signaturenlehre zum Auffinden von Heilmittelträgern und alchemistischer Techniken zur Extraktion der darin enthaltenen Wirkstoffe.
Dabei greift Paracelsus auf ein grundlegendes Prinzip der wechselseitigen Übereinstimmungen zwischen Mensch (Mikrokosmos) und Welt (Makrokosmos) oder der verborgenen Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen der sichtbaren und unsichtbaren Welt zurück. So lassen bereits äußere Eigenschaften wie Form, Farbe, Geschmack, Rhythmik und Geruch von Pflanzen Rückschlüsse auf deren Wirkung zu. Beispielsweise sollen herzförmige Blüten eine heilende Wirkung gegen Herzkrankheiten anzeigen, höckrige Wurzeln gegen die Geschwülste und stachelige Disteln gegen Stechen in der Brust.
Die radikale Veränderung der bis dahin praktizierten humoralpathologischen Kräutermedizin markiert Virchow 1858, dessen Zellularpathologie den Beginn der Moderne und die Ablösung der Antike mit sich brachte. Von da ab richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Pflanzeninhaltsstoffe und deren Wirkmechanismen im Organismus.
Sicher wurden damit viele Annahmen der Erfahrungsmedizin mit Kräutern bestätigt, aber auch einige widerlegt oder in Frage gestellt. Die Forschung hat auf jeden Fall zur Sicherheit in der Anwendung beigetragen. Die damit verbundene analytische Betrachtungsweise ging jedoch zu Lasten des ganzheitlichen Blicks in der Kräutermedizin.
Bis zum Ende des 18. Jahrhundert waren Arznei- und Heilmittel aus Pflanzen in Europa die dominierende Form der Arzneimittelbehandlung. Seitdem hat ihre Bedeutung in der ärztlichen akademischen Medizin zu Gunsten der neuen Entwicklung synthetischer Heilmittel erheblich abgenommen.
Erstmals versuchte Michael Tierra in Planetary Herbology (1988) eine Symbiose okzidentaler und orientalischer Heilkräuter, indem er aus beiden Bereichen Kräuter vorstellte und in Rezepturen mischte. 1989 folgte Peter Holmes mit etwa 230 Kräuterprofilen der okzidentalen Tradition. Holmes schöpfte aus den Quellen der europäischen Antike, der persisch-arabischen, mittelalterlichen und Renaissance-Autoren.
Die drei Autoren des vorliegenden Buches haben die Chinesische Medizin (Akupunktur und Kräutermedizin) in den 80er Jahren erlernt und sich von Anbeginn mit den westlichen Kräutern beschäftigt. Zwischen 1992 und 2000 machte Andreas Noll die Leser in den von ihm und U. Lorenzen herausgegebenen fünf Bänden Die Wandlungsphasen der traditionellen chinesischen Medizin mit westlichen Kräutern bekannt, indem er ihre Wirkung den TCM-Syndromen zuordnete.
Einem breiteren Fachpublikum stellte Dr. Eva Mosheim-Heinrich westliche Kräuter in der TCM vor. Ihre „Kräuter-Steckbriefe“ erschienen auf Anregung Helmut Magels als damaligem Redakteur des TCM-Teils der Zeitschrift Volksheilkunde (heute Der Heilpraktiker) seit 1997 über einige Jahre hinweg. Magel lernte Mosheim-Heinrich auf einem Seminar François Ramakers in Berlin kennen. In Europa setzte sich Ramakers schon früh für die Einbindung westlicher Kräuter in die TCM ein. Seit 1998 gab Jeremy Ross, ein Schüler Tierras, auf Einladung der AGTCM und Magels, Seminare zu diesem Thema in Deutschland. Dort machte Mosheim-Heinrich ihn mit der umfangreichen deutschen Kräuterliteratur seit der Renaissance bekannt, die Ross bis dahin nicht kannte.
2000 erschienen zwei weitere Bücher von F. Ploberger und K. Bedrik zu diesem Thema. Drei Jahre später stellte Ross – zunächst in Englisch – sein Opus magnum Westliche Heilpflanzen und chinesische Medizin der Öffentlichkeit vor. In sehr ausführlichen Monografien, die sich sowohl auf traditionelle Veröffentlichungen als auch auf moderne Forschung stützen, stellt er 60 Kräuter und Kombinationen (an Syndromen orientierte Rezepturen) vor. Die Ausführlichkeit der Reflexion, der wissenschaftliche Nachweis von Inhaltsstoffen und Wirkweisen neben der begründeten traditionellen Anwendung setzte Maßstäbe. Diese Ausführlichkeit sucht selbst in der Darstellung chinesischer Kräuter ihresgleichen.
Das 2005 erschienene Buch TCM mit westlichen Pflanzen von R. Travesier u. a. (2. Aufl. 2012) beschreibt die Wirkungen der Pflanzen in den Monografien sehr breit gefächert und bezieht anthroposophische Gesichtspunkte mit ein. Im ersten Teil des Buches werden Rezepturen für wichtige Syndrome vorgestellt. Inzwischen gibt es weitere Bücher und Artikel zum Thema, Ausbildungsmöglichkeiten sowie Apotheken, die sich auf die Bereitstellung eines breit gefächerten Angebotes an westlichen Kräutern als getrocknete Drogen und Tinkturen spezialisiert haben. Mit großer Genugtuung stellen die Autoren dieses Buches fest, dass die westlichen Kräuter Teil der Chinesischen Medizin im Westen geworden sind. (MAG 2002, SKO) Längst interessieren sich auch die Chinesen für einige westliche Kräuter.
Den interessierten Therapeuten wird hiermit eine fundierte Materia medica zur Verfügung gestellt. Sie soll ausdrücklich ein Leitfaden für die Praxis sein und dazu einladen, sich an der weiteren Sammlung von Erfahrungen und Erkenntnissen über die westlichen Kräuter in der TCM mit Freude und Engagement zu beteiligen.
Die unterschiedlichen Erfahrungen und beruflichen Werdegänge der drei Autoren spiegeln sich durchaus in den Kräuterprofilen und Einleitungstexten zu den Kapiteln im Buch wider. Sie verstehen das als Indiz dafür, dass die theoretische und praktische Einordnung westlicher Kräuter in die Chinesische Medizin ein Prozess ist, der – gemessen an den vergangenen Jahrhunderten okzidentaler und orientalischer Kräuterheilkunde – eben erst begonnen hat. Er weist zugleich in eine Zukunft, die wesentlich von grenzüberschreitender integrativer und ganzheitlicher Herangehensweise geprägt sein wird.
Die in den Kräuterprofilen dieses Buches aufgeführten Wirkbeschreibungen und Indikationen können nur als Annäherung gelten und erheben nicht den Anspruch, fest stehende und endgültige Aussagen über die Heilpflanzen zu sein. Insbesondere in Verbindung mit der Syndromdiagnostik der Chinesischen Medizin versteht sich dieses Buch als „work in progress“ und verortet sich in einer erst einige Jahrzehnte alten Kräutertherapie, die sich als west-östliche Synthese versteht.
Jedes Kräuterprofil ist mit Quellenangaben versehen, deren Auswahl ebenso den Erfahrungen der jeweiligen Autoren geschuldet ist wie die Auswahl und Gewichtung der Wirkbeschreibungen.
In der chinesischen Phytotherapie ist es selbstverständlich, dass zur Wirkbeschreibung einer Arznei die Angabe von einem oder mehreren Geschmäcken gehört. Diese Angabe meint vor allem eine Wirkfunktion und nur nebenbei den sinnlich empfundenen Geschmack. So bedeutet z. B. „süß“, dass die Arznei eine tonisierende bzw. „scharf“, dass sie eine Oberfläche befreiende Wirkung hat. Es ist meistens so, dass die entsprechenden Kräuter wirklich süß bzw. scharf schmecken. Bei nicht wenigen Beispielen ist aber auch das nicht der Fall.
Die Einteilung der Wirkungen nach Geschmack kommt aus einer Zeit, in der es wenige Mittel zur Kategorisierung von Wirkgruppen innerhalb der Heilmittel gab. Die Einteilung in Funktionsgruppen nach Geschmack war neben der Signaturbetrachtung und den Erfahrungen durch „trial and error“ eine hervorragende Möglichkeit, das Wissen über Arzneien zu bündeln, was eine wichtige Grundlage zur Anwendung ist.
Heute haben wir die Möglichkeit, uns die Ergebnisse der chemischen Pharmakologie zu Nutze zu machen. Man kann das geschmackliche Testen als Vorstufe der chemischen Bestimmung bezeichnen – häufig lassen sich Kräuter schon aufgrund ihres Geschmacks einer Wirkgruppe zuordnen. So haben Gerbstoffdrogen einen zusammenziehenden, Saponindrogen einen scharfen Geschmack usw. Die Bitterstoffe sind die einzige Stoffgruppe, bei denen die westliche Phytopharmakologie eine Wirkung über das Schmecken explizit formuliert.
Die Frage, wie die westlichen Kräuter bezüglich der Kategorisierung des Geschmacks beschrieben werden sollten, um sie für Therapeuten innerhalb der Chinesischen Medizin nutzbar zu machen, wird nur von J. Ross diskutiert. „Das chinesische System der Geschmackseigenschaften von Arzneimitteln bietet uns ein Gerüst von klaren, einfachen Konzepten zur Einteilung von Pflanzen und zu ihrer Zuteilung zu bestimmten Mustern […] Die Grenze des chinesischen Systems liegt darin, dass es über lange Zeit eher starr blieb und seine Konzepte keiner weiteren Entwicklung zugeführt wurden. […] Das trifft besonders auf die aromatische, bittere und süße Eigenschaft zu.“ (ROS 2006: 32)
Ross gibt in seinen Kräuterprofilen einen Geschmack für jede Heilpflanze an, der eine „funktionelle“ Beschreibung ist, und zwar auch dann, wenn die Pflanze diesen Geschmack sensorisch nicht hat. Er beschränkt sich auf die fünf Geschmäcke bitter, süß, sauer, scharf und aromatisch. Den zusammenziehenden und den faden Geschmack benutzt er nicht.
Die Autoren dieses Buches haben sich entschieden, in den Kräuterprofilen unter Geschmack diejenigen zu nennen, die die Kräuter als Teezubereitung wirklich haben. Es gibt einige wenige Fälle, in denen dies wirklich einen Unterschied macht. Dazu ein Beispiel:
Die Holunderblüten (Sambucus nigra, flor.) schmecken als Tee eher unaufdringlich, ein wenig aromatisch und süß, evtl. noch leicht bitter. Da sie diaphoretisch sind und die Oberfläche befreien, werden sie von Ross, Tierra und Holmes als scharf bezeichnet. In diesem Buch sind sie als leicht aromatisch und süß bezeichnet, was der sinnlich wahrgenommene Geschmack ist.
Der Aufbau dieses Buches entspricht der in der chinesischen Arzneimittellehre üblichen Ordnung nach therapeutischen Strategien. Jede Heilpflanze ist einer Strategie zugeordnet, wobei viele auch Wirkungen anderer Strategien abdecken.
Dieser Aufbau spiegelt die Überzeugung der Autoren wider, dass eine fruchtbare Synthese aus Chinesischer Medizin und westlicher Phytotherapie unbedingt die Strategien der chinesischen Phytotherapie mit der guten Kenntnis der in unserer Kultur bekannten Heilpflanzen verbinden muss.
Die Wirkbeschreibungen und Indikationen in den Kräuterprofilen sind hierarchisch gegliedert, d. h. die Hauptwirkung ist als Erste genannt, die weitere Reihenfolge entspricht der Rangordnung der anderen Wirkungen. Ebenso sind in den Rezepturen von oben nach unten die Kräuter in der Reihenfolge der Wichtigkeit genannt.
Viele der hier vorgestellten Kräuter besitzen ein breites Wirkspektrum. Für die optimale Verwendung der Pflanze ist es wichtig, nicht nur die Hauptwirkung zu kennen, sondern ebenso die Nebenindikationen.
In der Praxis zeigt sich bei fast allen Patienten ein komplexes Beschwerdebild, das nach einer fein abgestimmten Diagnose des Pathomechanismus und der Analyse von Ben 本 (Ursache oder Wurzel) und Biao 表 (Manifestation oder Zweig) der Erkrankung verlangt. Die Therapiestrategie einer Kräuterrezeptur spiegelt diese Zusammenhänge wider.
In der chinesischen und westlichen Kräutertherapie werden die Heilkräuter meistens kombiniert angewendet. Bei sachgerecht zusammengestellten Arzneikombinationen werden unterschiedliche Wirkungen der Heilpflanzen im Sinne der Therapiestrategie genutzt, unerwünschte Wirkungen einzelner Heilpflanzen werden durch andere Kräuter aufgehoben. Die europäische Kräutermedizin kennt auch viele verschiedene Verfahren der Zubereitung, ähnlich den Paozhi-Verfahren, um die Wirkung der Kräuter den Notwendigkeiten anzupassen. Die großen Kräuterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts enthalten eine Vielfalt solcher Zubereitungsanweisungen.
Eine Gesamtrezeptur kann umfassender wirken als die einzelnen Bestandteile. Auf diese Weise kann therapeutisch auf individuelle Konstellationen genau eingegangen werden. Zur Anwendung kommen Rezepturen als Tees, Tinkturen oder auch Fertigarzneimittel.
Erste Grundlage für eine Rezeptur ist die exakte Differenzialdiagnose und die Gewichtung der Syndrome nach Ben (Wurzel) und Biao (Zweig). Daraus ergeben sich das Temperaturverhalten, die Geschmackseigenschaften und die Abstimmung der Wirkungen, die die Kräuterrezeptur im Hinblick auf die Indikationen entfalten soll.
Das Neijing Suwen aus der Han-Zeit kennt „drei proportional unterschiedliche Rezepte:
Ein großes Rezept wird bei schweren, komplexen Erkrankungen eingesetzt und umfasst ein Königsheilkraut, drei Ministerkräuter und neun Assistentenkräuter. Ein mittleres Rezept wird bei weniger komplexen Erkrankungen verwendet und besteht aus einem Königskraut, drei Ministerkräutern und fünf Assistentenkräutern. Ein kleines Rezept kommt in relativ leichten Fällen zur Anwendung und besteht aus einem Königskraut und zwei Ministerkräutern.“ (DGK 375/76)
Dieses Zitat stammt aus dem Kontext des reichen Schatzes an Rezepturen in der Chinesischen Medizin. Es wird hier von einer Hierarchie innerhalb der Komposition der Rezepturen gesprochen, die es auch in unserer Tradition gibt. Königskraut, Ministerkraut, Assistentenkraut und Meldekraut sind Begriffe, die auf eine funktionelle Rangordnung innerhalb der Kräuter deuten. Danach gibt es leitende (König) und assistierende (Minister) Aufgaben.
Die westliche Tradition unterscheidet „Remedium cardinale“, also Hauptarznei, und „Adjuvans“, also unterstützende und die Hauptarznei verstärkende Kräuter. Das dritte ist „Korrigens“, also ein Mittel, das in ähnliche Richtung wirkt, aber die Mischung verträglicher macht. Zuletzt sei noch das „Konstituens“, das die Mischung optisch verbessert, erwähnt.
Im vorliegenden Buch geht es vordringlich um Monografien, also Beschreibungen der Heilwirkung einzelner Kräuter, zusammengefasst nach Strategiegruppen. Am Ende der Kapitel sind beispielhaft Rezepturen aufgeführt, die sich in ihrem Aufbau grundsätzlich am hierarchischen Prinzip orientieren. Die Kräuter werden in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit im Sinne der therapeutischen Strategie genannt, d. h. das Remedium cardinale, die Königsarznei, steht an oberster Stelle usw.
Die Galenik oder pharmazeutische Technologie ist die Lehre von der Herstellung der Arzneiformen, die sich mit der Verarbeitung eines Wirkstoffs und der Formgebung in dosierfähige, gebrauchsfertig verpackte Arzneimittelzubereitungen beschäftigt. Dadurch wird der Arzneistoff mit den richtigen Hilfsstoffen verbunden, es wird ihm eine bestimmte Form oder Darreichungsform gegeben (z. B. Tablette, Zäpfchen oder Pulver).
Die übliche Zubereitungsart für „Drogen“ (also getrocknete Pflanzenteile) ist die Zubereitung eines Tees. Tees mit Arzneiwirkung fallen unter das Arzneimittelgesetz.
Der Wirkstoffgehalt eines Tees ist abhängig von folgenden Komponenten:
Nicht jede Droge darf jedoch gleichermaßen zubereitet werden; das geeignete Verfahren richtet sich nach den Inhaltsstoffen und der Beschaffenheit einer Droge. So kann je nach Zubereitung der eine oder andere Wirkstoff in den Vordergrund treten bzw. sich die energetische Wirkung verändern.
Grundsätzlich soll erreicht werden, dass die Inhaltsstoffe möglichst unbeschadet, aber in ausreichender Menge in die Lösung übergehen.
Die Teedroge wird mit kochendem Wasser übergossen, 5–15 Minuten bedeckt stehen gelassen („ziehen“) und dann abgeseiht.
Traditionell rechnet man ca. 1–2 EL je nach Droge oder Drogenmischung auf 250 ml kochendes Wasser, meist wird dreimal pro Tag ein großer Becher so zubereitet und getrunken.
Die Droge wird in kaltem Wasser in einem Kochtopf angesetzt, kurz aufgekocht, bei mäßiger Hitze 10–30 Minuten mit halb geschlossenem Deckel geköchelt, danach durch ein Sieb abgegossen. Der noch warme Kräuterrückstand wird so gut wie möglich ausgepresst.
Dieses Verfahren entspricht der üblichen Zubereitung der chinesischen Kräutermischungen. Es ist besonders bei harten, großen Wurzel- und Rindenteilen angezeigt, da die Inhaltsstoffe sonst nicht freigesetzt werden können.
Stark zerkleinerte Drogen müssen weniger lange kochen. Kieselsäure und Schleimstoffe werden bei diesem Verfahren besonders gut aufgeschlossen. Drogen, die ätherische Öle enthalten, dürfen jedoch nicht gekocht werden, da die ätherischen Öle mit dem Wasserdampf entweichen.
Dekoktdrogen werden meist für den ganzen Tag und mehrere Gaben im Voraus zubereitet.
Man gibt die Droge in ein Gefäß mit kaltem Wasser und lässt das Ganze bedeckt 8–12 Stunden (z. B. über Nacht) bei Zimmertemperatur ziehen. Vor dem Genuss einmal kurz aufkochen.
Dies ist ein besonders schonendes Auszugsverfahren, das jedoch nur bei wenigen Drogen angewandt werden kann, weil die Lösekraft kalten Wassers meist nicht ausreicht. Bei Schleimdrogen, z. B. bei der Eibischwurzel, wird der kalte Auszug bevorzugt. Dem Mazerat können nach dem Auszug auch weitere Kräuter zugefügt werden, um alles zusammen als Dekokt zuzubereiten.
Eine Möglichkeit, die Therapie preiswerter zu machen, besteht darin, die Kräuter sehr fein mahlen zu lassen, die benötigte Menge kann dann – je nach Pulverisierungsgrad – bei gleicher Wirkung auf ca. 20–30 % reduziert werden. Manche Bestandteile lassen sich auf Grund ihrer Härte oder Klebrigkeit nicht gleichermaßen fein mahlen.
Die pulverisierten Kräuter müssen in einem dunklen Schraubglas aufbewahrt werden, da sie bei Helligkeit schneller verderben, vor allem ätherische Öle verflüchtigen sich sehr bald.
Das Pulver wird wie beim Infus kochend übergossen und 10 Minuten zugedeckt ziehen gelassen. Der Tee wird warm getrunken.
Für Teemischungen aus Drogen, die unterschiedliche Zubereitungsarten erfordern, wird das in ▶ Tab. 1.2 dargestellte Verfahren vorgeschlagen, wobei je nach Rezeptur nur zwei oder drei Schritte notwendig sind.
▶ Tab. 1.2 Kombiniertes Verfahren.
Schritte des kombinierten Verfahrens | Vorgehensweise |
---|---|
Schritt 1: Mazerat | Man bereitet einen kalten Auszug mit den entsprechenden Drogen. |
Schritt 2: Dekokt | Man bringt die entstandene Flüssigkeit mit dem Kaltauszug zusammen mit den entsprechenden Dekokt-Kräuter zum Kochen und lässt das Ganze je nach Anweisung 10–30 Minuten köcheln. |
Schritt 3: Infus | Zum Schluss des Köchelns werden die entsprechenden Infus-Kräuter in die noch kochende Flüssigkeit gegeben und untergetaucht. Der Deckel wird zügig geschlossen und der Topf vom Feuer genommen. Die Mischung bleibt dann weitere 10–20 Minuten stehen. |
Bei diesem Verfahren werden sowohl die Inhaltsstoffe ausgezogen, die kochen müssen, als auch diejenigen geschont, die nicht kochen dürfen. Da das Ganze sehr aufwendig ist, wird die Menge für einen bis drei Tage im Voraus in einer geringeren Menge Wasser auf einmal zubereitet, abgeseiht und kühl aufbewahrt. Zum Trinken kann dieses Konzentrat dann mit kochendem Wasser verdünnt und aufgewärmt werden.
In der Verordnung an die Apotheke müssen dann die Kräuter so aufgeführt werden, dass sie getrennt verpackt und gekennzeichnet bei den Patienten ankommen (▶ Abb. 1.1, ▶ S. 13).
Teeaufgüsse mit Wasser als Lösungsmittel können naturgemäß nur die wasserlöslichen Bestandteile der verwendeten Drogen enthalten. Es gibt Wirkstoffe, die nur in sehr geringem Umfang in das Teegetränk übergehen (z. B. nur ca. 20 % der in den Drogen enthaltenen ätherischen Öle). Benutzt man Alkohol als Lösungsmittel, gehen vermehrt andere Inhaltsstoffe in die Lösung über. Gleichzeitig wirkt der Alkohol als Konservierungsmittel.
Die energetische Wirkung von Alkohol ist heiß und scharf. Vergleicht man die Gabe der gleichen Heilpflanze in Form von einem wässrigen Tee mit der in einem alkoholischen Auszug, so kann man annehmen, dass der Reiz über Alkohol schneller, aber kurzfristiger, wärmender und eher bewegender ist, also von stärkerer Yang-Qualität.
Die meisten Tinkturen werden im Verhältnis 1 : 5 angesetzt, d. h. auf einen Teil Droge kommen 5 Teile Lösungsmittel, z. B. auf 100 g Droge 500 ml Alkohol, vorzugsweise Ethanol, der auch wasserlöslich ist. Verwendet wird Alkohol mit 45–90 % Vol. Der Alkoholgehalt richtet sich nach den speziellen Anweisungen in den Arzneimittelbüchern bzw. danach, welche Stoffe als Hauptwirkstoffe der Pflanze angesehen werden. So können ätherische Öle z. B. erst mit sehr hochprozentigem Alkohol ausgezogen werden.
Auch hier sind Kombinationen möglich. So kann man ein Dekokt oder Infus nach der Fertigstellung mit einer Tinktur von Pflanzen ergänzen, die einen hohen Grad an ätherischen Ölen aufweisen.
Die Zubereitungsart für einen Heilkräutertee richtet sich nach der Art der Drogen, nach den Inhaltsstoffen, die besonders zur Wirkung kommen sollen, und nach der angestrebten energetischen Therapiestrategie.
Grundlegende Richtlinien sind in ▶ Tab. 1.3 dargestellt.
▶ Tab. 1.3 Energetik der Zubereitungsarten.
Zubereitungsart | energetische Wirkrichtung | dadurch besonders gut erhaltene Wirkstoffe | Pflanzenteile |
---|---|---|---|
Infus | Yang | (ätherische Öle) | zarte Drogen wie Blüten, Blätter |
Dekokt | kräftige Wirkung, viel Qi | Kieselsäure, Gerbstoffe | harte Wurzeln, Rinden oder Stängelteile |
Mazerat | kühlend, befeuchtend (Yin) | Schleimstoffe | Samen, Rinden |
Tinktur | wärmend, bewegend, schneller Wirkungseintritt (Yang) | ätherische Öle, Saponine |
Es lässt sich zwischen den Polen von Yin und Yang eine Einordnung der Zubereitungsarten bilden, wie sie in ▶ Abb. 1.2, ▶ S. 13 dargestellt ist.
Es gibt einen auffälligen Unterschied in den Dosierungsgewohnheiten der europäischen und der chinesischen Kräuterkundigen: die Dosierungen in China sind traditionell erheblich höher. Allerdings gibt es in beiden Traditionen große Spannbreiten.
Die Tagesmenge für eine Kräuterzubereitung nach der TCM variiert von 8–50 g. Bei uns sind Mengen von 5–12 g üblich. Diese Menge wird aber in manchen Therapierichtungen noch deutlich unterschritten.
Dosierungsangaben in diesem Buch beziehen sich auf die therapeutische Arbeit der Autoren.
Die „Tagesdosis“ in den tabellarischen Monografien dieses Buches gibt die Mindest- und Höchstdosis an, mit der das Kraut als getrocknete Teedroge üblicherweise verwendet wird. Dies kann eine größere Spannweite umfassen (Beispiel: 1–12 g).
Eine geringe Tagesdosis ist dadurch bedingt, dass das betreffende Kraut mit anderen Kräutern in einer Rezeptur gemischt wird oder entsprechend dem Beschwerdebild in geringer Dosis verordnet wird.
Eine Kräuter-Mischung kann zum Beispiel 12 g pro Tag umfassen, sodass die einzelnen Kräuter in einer geringeren Tagesmenge als ihre Höchstdosis in der Mischung vertreten sind.
Tagesmenge: 0,2–15(–20) g
(Diese Angaben beziehen sich auf getrocknete Pflanzenteile mit einer guten Wirkstoffqualität.)
Die Dosierungsangaben des vorliegenden Buches sind in Gramm angegeben und beziehen sich auf nicht pulverisierte oder gemahlene Heilpflanzen oder Pflanzenteile. Werden Kräuter fein gemahlen oder pulverisiert, vermindert sich die Grammzahl auf etwa ein Viertel der normalen Dosis. Es wird in den meisten Fällen ein gewisser Spielraum zwischen Minimal- und Maximaldosis angegeben, der sich je nach Schwere der Erkrankung und Konstitution des Patienten richtet.
Tagesmenge: 3-mal täglich 20–60 Tropfen, also 60–180 Tropfen am Tag (entspricht 3–9 ml pro Tag)
Diese Angaben beziehen sich auf die bei uns üblichen Tinkturen, im angloamerikanischen Raum sind schwächere Tinkturen mit entsprechend höherer Dosierung üblich.
Die Menge ist manchmal in Tropfen, manchmal in Milliliter angegeben, zur Umrechnung gilt: 20 Tropfen entsprechen 1 ml.
Bei vorsichtig zu dosierenden Kräutern wie Chelidonium, Ephedra und Piper nigrum ist die Angabe in Tropfen, da hier sehr genau die schon wirksame, aber noch verträgliche Dosis eruiert werden muss. Dafür empfiehlt sich die Rezeptierung der Tinktur in einer separaten Pipettenflasche.
Für die Dosierungen für Kinder siehe ▶ Tab. 1.4.
▶ Tab. 1.4 Dosierungen für Kinder.
Alter des Kindes (Gewicht und Größe berücksichtigen!) | Anteil der vollen Dosis | Tee | Tinktur (Alkohol bei Bedearf entweichen lassen) |
---|---|---|---|
½–1 Jahr | ca. ⅙–⅕ | 0,5–2(–3) g/Tag | 3 × 3–8 Tr./Tag |
1–5 Jahre | ca. ¼–⅓ | 1–2 g/Tag | 3 × 5–12 Tr./Tag |
5–8 Jahre | ca. ⅓–½ | 1,5–7 g/Tag | 3 × 6–30 Tr./Tag |
8–14 Jahre | ca. ½ | 2,5–8 g/Tag | 3 × 10–30 Tr./Tag |
ab 14 Jahren etwa | volle Dosis | 5–15 g/Tag | 3 × 20–60 Tr./Tag |
Nachdem die Zusammenstellung der Kräuterrezeptur entsprechend der Diagnose feststeht, muss die korrekte Verordnung für die Apotheke und eine Zubereitungsanweisung für den Patienten erstellt werden. Kräutermischung, individuelle Dosierung, Verabreichungsform und Einnahmerhythmus müssen vermerkt sein. Wenn das Rezept zur Erstattung bei einer Versicherung eingereicht werden soll, ist es empfehlenswert, es im klassischen „Apotheker-Latein“ abzufassen (▶ Abb. 1.1).
Es empfiehlt sich, eine Vereinbarung mit der Apotheke darüber zu treffen, dass die Patienten eine Kopie des Rezeptes erhalten und auf der Verpackung des Tees nochmals vermerkt ist, welche Menge Kräuter davon wie zubereitet werden sollen (z. B. Mischung 1: zwei gehäufte Esslöffel in 1 l Wasser 6 Stunden kalt einweichen).
Der aktuelle Platz der Kräuterheilkunde ist die Behandlung der funktionellen und chronischen Erkrankungen. Sie ist selten für die alleinige Behandlung von schweren Erkrankungen geeignet und keine Akut- oder Notfallmedizin.
Die Verordnung von Kräutern durch Ärzte und Heilpraktiker ist in folgenden Bereichen angezeigt:
Kräutermedizin beeinflusst sowohl das Befinden als auch die Befunde und wirkt im Sinne der therapeutischen Strategien der Ganzheitsmedizin. Ihr Einsatz kann symptomatisch und auch kausal wirken. Sie stellt weniger eine „alternative“ als vielmehr eine Form „integrativer“ Medizin dar.
Die Einnahme von Heilkräuterzubereitungen kann unerwünschte Reaktionen hervorrufen. Dazu zählen auf der Haut Dermatiden und Photodermatiden, auf den Schleimhäuten des Respirations- und Intestinaltraktes Reizungen und Entzündungen bis hin – im Extremfall – zum anaphylaktischen Schock. Allerdings muss nicht unbedingt bei einer Allergie auf eine Frischpflanze auch eine Allergie auf die entsprechende getrocknete Pflanze auftreten.
Das Problem der Kompatibilitäten, der Kreuzreaktionen und Nebenwirkungen von Kräutern in Kombination mit Chemotherapeutika betrifft sowohl die westlichen als auch die chinesischen Heilpflanzen. Dies ist ein wenig erforschtes Gebiet.
Die ganze Pflanze oder Pflanzenteile liegen meist in getrockneter Form als „Droge“ vor. Der Begriff geht auf das französische drogue zurück, das seinen Ursprung im Orient hat und in etwa „Heilmittel“ bedeutet. Arzneipflanzen bzw. ihre Zubereitungen werden vom Arzneimittelgesetz § 10 AMG formal als Wirkstoff betrachtet. Eine Pflanze besteht jedoch aus einer Vielzahl unterschiedlicher Stoffe. Insofern stellt sie als „Wirkstoff“ ein komplexes Vielstoffgemisch dar, das als Summe der Aktionen und Interaktionen seiner Inhaltsstoffe eine synergetische Wirkung entfaltet.
Bis vor 200 Jahren beruhten die Beschreibungen und der Einsatz der Heilkräuter vor allem auf Erfahrungen. Die neuzeitlich entwickelte Naturwissenschaft erreicht etwa um 1800 einen Höhepunkt, „als die Suche nach ‚dem Wirkstoff‘ (in Fortführung der Idee der ‚quinta essentia‘ von Paracelsus) zur Identifikation und Reindarstellung (und ggf. synthetischer Produktion, um die Herstellungskosten zu reduzieren) und dann oft zur klinischen Verwendung des isolierten Wirkstoffs führte. Nicht selten wurden solche Naturstoffe auch zum Ausgangspunkt chemischer Modifikationen, wobei die Verbesserung der pharmakologischen Eigenschaften und/oder der Wunsch nach exklusiver Verfügbarkeit und Patentierbarkeit die Triebfedern waren. Bekannte Beispiele sind Ephedrin, Atropin, Morphin, Salicin, Chinin, Reserpin, Scopolamin, Theophyllin, Colchicin, Curare, Artemisinin, Ergotamin und, in neuerer Zeit, Taxol oder Galantamin.“ (KRA 2006)
In diesem Buch geht es um pflanzliche Zubereitungen als Tee oder als Tinktur. In beiden Fällen werden Pflanzen oder Pflanzenteile verwendet, die jeweils eine Vielzahl von Inhaltsstoffen enthalten.
Einige dieser Inhaltsstoffe sind biochemisch als arzneilich wirksame Bestandteile (Pharmakon oder Wirkstoff) identifiziert. Sie stehen unter biochemischem Aspekt mit den in den Kräuterprofilen beschriebenen klinisch nutzbaren bzw. therapeutischen Wirkungen in Zusammenhang und werden in zwei Kapitel unterteilt:
Nichtsdestotrotz ist das Herausarbeiten der Gemeinsamkeit der Wirkrichtung verschiedener Heilpflanzen mit gleichen Hauptwirkstoffen genau so interessant wie die Betrachtung der grundlegenden Wirkung von Geschmacksrichtungen in der Chinesischen Medizin. Häufig ergeben sich hieraus sowohl für die Indikationsstellung als auch für die energetische Betrachtung der Kräuter vertiefende Erkenntnisse.
Allerdings gibt es etliche Heilpflanzen, deren wirksamkeitsbestimmende oder -mitbestimmende Wirkstoffe naturwissenschaftlich bislang noch nicht eindeutig bekannt sind. Bei diesen Kräutern stützen wir uns allein auf Erfahrungsberichte aus alter und neuer Zeit.
Diese Erfahrung kann sich auf vier verschiedenen Ebenen bewegen, wobei folgende „vier Ebenen der Erfahrung“ entweder nebeneinander stehen oder sich ergänzen können. Sie spiegeln eine zunehmende Spezifität und Sensibilität gegenüber den Erfahrungen mit Heilpflanzen wider.
Erhebungen in Europa zeigen, dass in Deutschland der Marktanteil der pflanzlichen Medikamente im Apothekenvertrieb mit rund 25 % europaweit führend ist, gefolgt von Frankreich mit 18 %. Das Vertrauen in pflanzliche Heilkräfte ist also ungebrochen. Selbst die Kostenübernahme durch die Patienten schmälert diese Entwicklung nicht. Gemessen am Gesamtmarkt ist der Anteil der pflanzlichen Produkte sicher noch höher, da sie nicht nur über Apotheken, sondern zum Teil auch über Onlineshops, Reformhäuser und Drogerien vertrieben werden.
Da die meisten der pflanzlichen Arzneimittel (99 %) nicht verschreibungspflichtig sind, werden sie von den Krankenkassen nicht erstattet. Nur bei speziell gelisteten Erkrankungen sind Ausnahmen möglich. Patienten, die auf herkömmliche chemische Medikamente verzichten wollen, haben die Kosten für Heilkräuterrezepturen oder bewährte pflanzliche Präparate selbst zu tragen. Einige Krankenkassen bieten inzwischen Wahltarife oder den Abschluss einer Zusatzversicherung für die Kostenübernahme von Phytopharmaka an.
Aus der Sicht des Arzneimittelrechts zählt die moderne Phytotherapie zu den „besonderen Therapierichtungen“ (§ 25 Abs. 7 AMG 76). Neben der Phytotherapie gehören Homöopathie und Anthroposophie zu den besonderen Therapierichtungen – da könnte die Chinesische Medizin ebenso hinzugezählt werden.
Die „moderne“ Phytotherapie versteht sich gegenüber den anderen „besonderen“ Therapierichtungen als naturwissenschaftliche, kausale und symptomatische Therapiemethode. Sie basiert auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und lässt in den Kräuterprofilen nur Wirkbeschreibungen zu, für die der wissenschaftliche Nachweis erbracht wurde.
Phytopharmaka werden einerseits als „rational“ bezeichnet, wenn sie auf Grund nachgewiesener wissenschaftlicher Arbeiten oder Studien beurteilt werden können, oder andererseits als „traditionell“, wenn ihre Wirksamkeit nur aus der Erfahrungsmedizin bekannt ist und noch keine wissenschaftlichen Nachweise existieren. Ein solcher Nachweis bezieht sich in erster Linie auf die Wirksamkeit eines bestimmten Wirkstoffes. Im Unterschied zur schulmedizinischen Pharmakologie verabreicht die Phytotherapie jedoch die ganze Pflanze oder Teile einer Pflanze, in der dieser Wirkstoff neben (sehr vielen) anderen enthalten ist.
Vor dem 30. April 2011 gab es eine breite Diskussion um die EU-Richtlinie 2004/24/EG (auch als THMPD – Traditional Herbal Medicinal Products Directive bekannt) aus dem Jahr 2004. Sie ist bereits seit 2005 deutsches Recht. Am 30. April 2011 lief eine Übergangsfrist von sieben Jahren aus. Diese EU-Richtlinie soll die Zulassung traditioneller pflanzlicher Arzneimittel in der EU nach einem vereinfachten Verfahren regeln.
Es ging nicht darum, dass einzelne Kräuter wegen ihrer bisher nicht bewiesenen Wirksamkeit aus dem Handel genommen werden sollten. Vielmehr ging es um Arzneimittel, die aus einzelnen oder mehreren Kräutern hergestellt werden und mit der Angabe einer bestimmten Heilwirkung versehen sind. Seit 1994 (5. AMG-Novelle) sind die pharmazeutischen Unternehmen gezwungen, die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit ihrer Präparate selbst nachzuweisen. Dadurch verschwanden viele Präparate kleinerer Hersteller vom Markt, die sich kostspielige Nachweise nicht leisten können und konnten.
Pflanzliche Arzneimittel im Sinne der Gesetzgebung sind Arzneimittel, die als wirksame Bestandteile ausschließlich Pflanzen, Pflanzenteile oder pflanzliche Materialien, auch in Kombination, im rohen oder verarbeiteten Zustand enthalten.
Demgegenüber werden chemisch isolierte Reinsubstanzen pflanzlichen Ursprungs (wie Menthol, Cineol oder Digitoxin) nicht als pflanzliche Arzneimittel eingestuft. Die meisten pflanzlichen Arzneimittel sind – auch im Rahmen der Selbstmedikation – ohne Rezept erhältlich.
§ 2 AMG Arzneimittelbegriff
(1) Arzneimittel sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen,
1. die zur Anwendung im oder am menschlichen oder tierischen Körper bestimmt sind und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind oder
2. die im oder am menschlichen oder tierischen Körper angewendet oder einem Menschen oder einem Tier verabreicht werden können, um entweder
a) die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder
b) eine medizinische Diagnose zu erstellen.
§ 3 AMG Stoffbegriff
Stoffe im Sinne dieses Gesetzes sind
1. chemische Elemente und chemische Verbindungen sowie deren natürlich vorkommende Gemische und Lösungen,
2. Pflanzen, Pflanzenteile, Pflanzenbestandteile, Algen, Pilze und Flechten in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand […]
§ 44 AMG Ausnahme von der Apothekenpflicht
(1) Arzneimittel, die von dem pharmazeutischen Unternehmer ausschließlich zu anderen Zwecken als zur Beseitigung oder Linderung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden zu dienen bestimmt sind, sind für den Verkehr außerhalb der Apotheken freigegeben.
(2) Ferner sind für den Verkehr außerhalb der Apotheken freigegeben:
1. a) natürliche Heilwässer sowie deren Salze, auch als Tabletten oder Pastillen,
b) künstliche Heilwässer sowie deren Salze, auch als Tabletten oder Pastillen, jedoch nur, wenn sie in ihrer Zusammensetzung natürlichen Heilwässern entsprechen,
2. Heilerde, Bademoore und andere Peloide, Zubereitungen zur Herstellung von Bädern, Seifen zum äußeren Gebrauch,
3. mit ihren verkehrsüblichen deutschen Namen bezeichnete
a) Pflanzen und Pflanzenteile, auch zerkleinert,
b) Mischungen aus ganzen oder geschnittenen Pflanzen oder Pflanzenteilen als Fertigarzneimittel,
c) Destillate aus Pflanzen und Pflanzenteilen,
d) Presssäfte aus frischen Pflanzen und Pflanzenteilen, sofern sie ohne Lösungsmittel mit Ausnahme von Wasser hergestellt sind,
4. Pflaster […]
Eigenherstellung von Arzneimitteln bezeichnet die Herstellung von Arzneimitteln in Apotheken.
Die in diesem Buch vorgestellten Heilpflanzen werden in der Regel als Rezepturarzneimittel verschrieben und von der Apotheke individuell zubereitet. Das können Heilpflanzenmischungen sein oder Tinkturen, jedoch auch Salben und Cremes, Zäpfchen und Kapseln sowie weitere flüssige Zubereitungen. Rezepturarzneimittel sind nach dem deutschen Arzneimittelgesetz nicht zulassungspflichtig. Das sich ebenfalls aus dem Arzneimittelgesetz ergebende Verbot der Abgabe von bedenklichen Arzneimitteln gilt jedoch auch für Arzneimittel aus Eigenherstellung.
Unter Beachtung der in diesem Buch empfohlenen Dosierung und Zubereitungsformen werden Heilpflanzen in individuellen Verschreibungen in der Regel kombiniert. Rezepturarzneimittel werden nur bei konkretem Bedarf und in Mengen zubereitet, die zum zeitnahen Verbrauch bestimmt sind.
Apotheker tragen bei der Herstellung ein hohes Maß an Verantwortung und prüfen vor dem Anfertigen einer Rezeptur, ob bei der Verordnung die zulässigen Höchstmengen eingehalten wurden. Möglicherweise lassen sich nicht alle Bestandteile miteinander verarbeiten. In solchen Fällen hält der Apotheker mit dem Verordner Rücksprache. So wird gewährleistet, dass der Patient ein wirksames Arzneimittel erhält, mit dem das vom Verordner festgelegte Therapieziel erreicht werden kann.
Um die Qualität der Rezepturen zu gewährleisten, müssen die Ausgangsstoffe streng überwacht werden. Vorschriften für die Zubereitungen ergeben sich aus dem Europäischen Arzneibuch (6. Ausgabe) und dem Deutschen Arzneibuch (DAB 2010). Das sind Sammlungen anerkannter pharmazeutischer Regeln über die Qualität, Prüfung und Lagerung, Abgabe und Bezeichnung von Arzneimitteln und den bei ihrer Herstellung verwendeten Stoffen. Sie richten sich an Apotheker und nicht an Verordner.
Die vom Bundesgesundheitsministerium gebildete Kommission E bewertete zwischen 1978 und 1995 insgesamt 378 Drogen und Drogenzubereitungen. Bewertet wurde das vorliegende wissenschaftliche Erkenntnismaterial in zwei Richtungen:
Dazu kommt als dritte Kategorie die Nullmonografie: in der Volksmedizin beschriebene Drogen, deren Wirkung noch nicht wissenschaftlich abgesichert ist, die jedoch keine schädlichen Nebenwirkungen haben, oder Kräuter, die von der Kommission gar nicht bearbeitet worden sind.
Was heißt das für die Verordner von Heilkräutern? Ihnen geben die (Positiv-)Monografien der Kommission E eine gewisse Sicherheit gegenüber den Patienten. Das heißt nicht, dass negativ bewertete Kräuter nicht mehr verordnet werden können oder dürfen, sondern dass diese Verordnung durch den Verordner begründet sein will und von ihm verantwortet werden muss.
Inzwischen werden die Monografien der Kommission E als Grundlage für die seit 1989 in Brüssel erstellten international gültigen ESCOP-Monografien (European Scientific Cooperative on Phytotherapy) genutzt und (zumindest von der Absicht her) unter Beachtung der Besonderheiten anderer Länder weitergeführt.
Seit 2008 werden ebenfalls die HMPC-Monografien durch die European Medicines Agency (EMEA) in London als „well-established use“- und „traditional use“-Drogen erstellt. Diese Monografien sollen von Mitgliedsstaaten bei der Beurteilung eines Zulassungs-/Registrierungsantrags berücksichtigt werden. Sie dienen vor allem dem Zugang zur wissenschaftlichen Bewertung von pflanzlichen Arzneimitteln in der EU.
Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist seit 1998 damit beschäftigt, WHO-Monografien im Rahmen ihres Programmes „Traditionelle Medizin“ zu erstellen. Hierbei geht es vor allem um die Nutzung weltweit überlieferten Wissens um Heilwirkungen und Anwendungen von Pflanzen. WHO-Monografien enthalten auch eine zunehmende Anzahl chinesischer Drogen.