„Wir sind ein Volk!“ – stand auf den Transparenten der Demonstranten während der rauschhaften Tage von 1989, als Ostdeutsche in immer größeren Mengen auf die Straße gingen, um Freiheit zu fordern. Als der Bundestag nach der Wiedervereinigung schließlich in den renovierten Reichstag einzog, der seit dem Brand von 1933 nicht mehr parlamentarisch genutzt worden war, tagten die Abgeordneten in einem Gebäude, über dessen von neoklassizistischen Säulen getragenem Portikus immer noch deutlich die Worte standen „Dem deutschen Volke“. Es war, als wäre das Wort „Volk“ aus einer Quarantäne entlassen worden, in der es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als heikler Begriff ausgeharrt hatte, den nur wenige Deutsche gern im Munde führten.
Der Schlussstein für das Reichstagsgebäude wurde 1894 gesetzt, auf dem Höhepunkt der wilhelminischen Ära. Schwer und überladen, wie der Bau stilistisch war, repräsentierte er den Willen einer neuen Nation, ihre europäischen Nachbarn zu überflügeln. Der Reichstag war das Zeichen einer Behauptung. Damals verbanden viele Deutsche, darunter auch führende Persönlichkeiten, mit dem Begriff „Volk“ die Bedeutung einer Überlegenheit, die indes die Nation in den Abgrund reißen sollte. Heute, über ein Jahrhundert später, hat der Begriff all jene „völkischen“* Konnotationen verloren – ja, schon die Verwendung des Wortes wirft, eine Generation nach der Wiedervereinigung, für das neue Deutschland in einem neuen Europa die Frage auf, was das ist – ein „Volk“*. Der Ruf von 1989 nach Wiedervereinigung – „Wir sind ein Volk!“ – und die Inschrift auf dem Reichstagsgebäude – „Dem deutschen Volke“ – sind nunmehr von allen Konnotationen befreit, mit denen das Wort „Volk“ im Kaiserreich und im Nationalsozialismus befrachtet worden war, womit wir am Ende einer Jahrhunderte währenden Suche nach Selbstfindung sind.
Zur Zeit von Friedrich Barbarossa gab es kein deutsches Volk. Das Wort „deutsch“ bezog sich lediglich auf eine Sprache (die, um genau zu sein, eine Anzahl von Dialekten war, nicht aber eine verbindliche Standardsprache). Erst allmählich bezeichnete „deutsch“ eine Bevölkerung mit einer Identität, die über die Tatsache hinausging, dass die Angehörigen dieser Bevölkerung sich des Deutschen als Sprache bedienten. Die Sprache besaß ein geografisch identifizierbares Terrain: Mit der Zeit wurden jene Gebiete, in der diese Sprache gesprochen wurde, als ‚die deutschen Lande‘ identifiziert. Die Sprache verlieh Geschichten und Liedern eine Stimme, woraus ein gemeinschaftliches Erbe hervorging. Nach und nach wurden diejenigen, die sich dieses Erbe angeeignet hatten, als Volk betrachtet, und sie sahen sich selbst auch so. Sie verstanden sich, um einen Begriff zu verwenden, der im 19. Jahrhundert Mode wurde, als eine „Rasse“. Dieser damals in Europa weitverbreitete Begriff wurde unter dem Einfluss vulgärdarwinistischer Theoretiker zunehmend biologisiert. Doch sollte man darauf hinweisen, dass „Rasse“ seinen Ursprung im Selbstverständnis der Spanier als „la raza“ besitzt. Dieser Terminus bezeichnete eine exklusive Reinheit als Abgrenzung zu den Mauren und später den indigenen Bewohnern Süd- und Mittelamerikas. Zweifellos verkörperte sich darin die Idee einer Vorrangstellung. (Noch in den späten 1950er-Jahren trug der spanische Nationalfeiertag den Titel „Dia de la raza“, bis er in das unproblematischere „Dia de la Hispanidad“ umbenannt wurde.)
Für Deutschland war die Suche nach Selbstfindung eine Reise mit vielen Windungen und Wendungen und einigen gefährlichen Umwegen, auf deren einem es schließlich in das Todesschattental geriet. Der Reisebeginn hat kein eindeutiges Datum – der erste bekannte Hinweis findet sich 1474, als das „Heilige Römische Reich“ mit dem Zusatz „deutscher Nation“ versehen wurde: Ab 1512 sollte es der offizielle Name sein. Dann kam Luther, dessen Schriften einen großen Einfluss haben sollten und die Entwicklung der deutschen Identität ebenso förderten wie behinderten. Im 18. Jahrhundert entdeckten die Deutschen – unter Anleitung von Johann Gottfried Herder – die in Sprache, Tradition und Geschichte der deutschen Territorien präsente kulturelle Identität. Damals begann man auch mit den modernen historischen Forschungen und fing an, sich nach politischer Identität und Freiheit zu sehnen – vor allem Schiller hat dem Freiheitsdrang in seinen Werken Ausdruck verliehen.
Dann kam die Französische Revolution. Viele junge Denker und Dichter in Deutschland reagierten begeistert auf dieses Ereignis, ganz wie ihre englischen Zeitgenossen (bliss was it in that dawn to be alive […] – „gesegnet, wer in jenem Morgenrot gelebt“, wie Wordsworth in The Prelude schrieb). Andere waren vorsichtiger, wie etwa Schiller, der spätestens nach seiner 1786 verfassten Ode an die Freude als leidenschaftlicher Verfechter der Freiheit bekannt war. Der ältere Goethe dagegen war antirevolutionär gestimmt, während Kant, der große Philosoph des Zeitalters, die Begeisterung der jungen Generation guthieß, zugleich aber einer gewaltsamen Revolution die moralische Angemessenheit absprach.
Doch selbst unter den Parteigängern der Revolution machte sich bald Enttäuschung breit. Beethoven tilgte die Widmung seiner „Eroica“, als er vernahm, dass Napoleon sich in Paris selbst zum Kaiser gekrönt hatte. Und als die napoleonischen Heere sich daranmachten, deutsche Gebiete zu erobern und zu besetzen, fachte das die Flammen einer neuen Bewegung des deutschen Geistes an, einer Volksbewegung*, die den Deutschen ein neues Identitätsgefühl als Volk bescherte.
In diesem neuen Bewusstsein fand ein Stolz auf die Geschichte, Tradition und nationale Bestimmung des deutschen Volks seinen Ausdruck. Wie wir gesehen haben, kam dieser Stolz nicht aus dem Nichts. Ab dem 16. Jahrhundert wurden zunehmend Stimmen laut – auch die von Luther –, die betonten, dass die deutsche kulturelle Identität (zumindest die des protestantischen Deutschlands) in der deutschen Sprache wurzele. Dieses neue Bewusstsein verfiel im 19. Jahrhundert dann zunehmend in einen Tonfall nationaler Überlegenheit. Und so entstand die „völkische“* Bewegung. Sollte man für diese Tendenz im Ausdruck deutschen Selbstbewusstseins zumindest aus späterer Sicht einen Ausgangspunkt benennen – einen Punkt, an dem das neue Selbstbewusstsein in einer politisch sensiblen Zeit von einem führenden Denker in Worte gefasst wurde –, dann wäre es jenes Jahr 1807, in dem der Philosoph Johann Gottlieb Fichte im französisch besetzten Berlin seine Reden an die deutsche Nation vortrug. Für Fichte war die deutsche Sprache Trägerin einer Kultur, die ihre Ursprünge in der Zeit der Hermannsschlacht fand. Sie war die Errungenschaft eines Volks, das die Freiheit allem, was das Römische Reich an Genüssen und Vorteilen zu bieten hatte, vorzog. Diese Kultur war auf einzigartige Weise geeignet, um eine völlig freie Gesellschaft und Nation zu schaffen, eine nationale Bestimmung, der Fichte in fast mystischen Wendungen Ausdruck verlieh.
Fichte plädierte für einen kulturell verwurzelten Nationalstolz – und für eine Bildung*, die in dieser Kultur ein nationales Selbstbewusstsein entstehen lassen konnte. Nach 1945 galten Fichtes Reden an die deutsche Nation häufig als bedrohlicher erster Schritt auf einem Weg, der in den Nationalsozialismus führte. Doch machte sich ein Gefühl oder Bewusstsein nationaler Bestimmung auch in Großbritannien und Frankreich zunehmend bemerkbar. Es kann also nicht verwundern, dass auch Deutschland in dieser Zeit den Patriotismus entdeckte, insbesondere, wenn man bedenkt, dass die politische Situation den Deutschen die nationale Identität verwehrte und deutsche Territorien von Napoleons Armeen besetzt waren.
Von nun an nahmen dieses Bewusstsein und diese Bewegung an Fahrt auf: Jeder Rückschlag beseelte, jeder Triumph nährte sie. Besonders zehrten die Deutschen vom Gefühl, Opfer der Geschichte zu sein – ein Gefühl, das durch die wachsende Hinwendung zur deutschen Geschichte verstärkt wurde. So entstand ein Narrativ, in dem der „Gang nach Canossa“ zum Urmoment der Erniedrigung wurde, während die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts zu Deutschlands großer Tragödie gerieten und die Bestrebungen der Franzosen eine fortwährende existenzielle Bedrohung darstellten. Auch geriet dieses Nationalbewusstsein in die Gefahr, abstoßende Wandlungen zu vollziehen. Von Beginn an war es gemeinschaftlich und zugleich exklusiv orientiert.
Die Aufklärung hatte sich auf das autonome Subjekt konzentriert, nicht auf das gemeinschaftliche Ganze, geschweige denn auf einen kollektiven oder „absoluten“ Geist. Nun aber wurde aus dem „Ich“ ein „Wir“. Das war zunächst die Menschheit selbst – wie in den Werken von Schiller und Beethoven. Doch dann fand das „Wir“ seinen Gegensatz in: „und daher nicht ihr!“ Das betraf insbesondere die Juden. Das „Wir“ wurde sehr exklusiv. Es beförderte nicht nur die Heiligsprechung der germanischen Vergangenheit, sondern wurde auch, unter dem Einfluss von Niederlage und Besatzung, aggressiv und abwehrend im Ton.
1803 besuchte Madame de Staël – die lebhafte und hochintelligente Tochter von Jacques Necker, dem Finanzminister Ludwigs XVI. – zunächst das Weimar von Goethe und Schiller, sodann das Berlin von Fichte und August Wilhelm Schlegel. Hier wie dort nahm sie die Vielfalt deutschen Geisteslebens war – eine Erfahrung, die in ihr den Entschluss reifen ließ, ein Buch zu schreiben, um den Franzosen die Augen für eine Kultur zu öffnen, die ihrer Auffassung nach stärker im Volk und im Land verankert, dazu reiner, lebendiger und dem Geist der Menschheit näher war als die oberflächliche, urbane, klischeeverliebte literarische Welt von Paris.
Das Buch, das zuerst 1810 in Paris erschien, trug den Titel De l’Allemagne – „Über Deutschland“. Es zeigt mit beträchtlicher Scharfsichtigkeit, ganz ohne naive Lobsängerei, die deutsche Kreativität in den turbulenten und aufregenden Jahren um die Jahrhundertwende. Es ist eine vergleichende Analyse zweier Kulturen, die sich unter sehr verschiedenen sozialen und politischen Bedingungen herausgebildet haben. Auch war die implizite politische Botschaft nicht zu überhören: Während der Despotismus in Frankreich das geistige Leben zum Erliegen brachte, ließ die politische Fragmentierung Deutschlands in Mitteleuropa einen Leerraum entstehen, der das nationale Bewusstsein erstickte. Goethe, der das Werk 1814 las, nachdem sich die napoleonischen Truppen aus den deutschen Territorien zurückgezogen hatten, bemerkte, dass das Buch, wäre es schon 1810 erhältlich gewesen, einen bedeutenden Einfluss auf die Befreiungsbewegung genommen hätte.
Aber es war nicht erhältlich, weil die französische Zensur es gleich nach Erscheinen verbot und sogar die Druckstöcke vernichten ließ (was den Verleger in den Bankrott trieb). Zwar fand sich im Buch nichts explizit Kritisches über den Kaiser oder die Regierung, doch verstanden die Zensoren, zwischen den Zeilen zu lesen. Schließlich konnte es 1813 in London veröffentlicht werden und war dann von großem Einfluss auf die romantische Bewegung in Frankreich.
Was Madame de Staël in ihrer Begeisterung für die deutsche Geistigkeit nicht sah, waren die dieser Geistigkeit inhärenten Gefahren. Sie regten sich schon, während sie noch an ihrem Werk schrieb und Deutschland von Napoleon gedemütigt wurde. Damals kursierten patriotische Lieder, deren Texte auch von Gewalt redeten. Ein berühmt-berüchtigtes Beispiel sind die Gedichte von Ernst Moritz Arndt, einem glühenden Franzosenfeind, der, wie so viele andere Deutsche, die Französische Revolution zunächst begrüßt hatte, sich dann aber radikal von ihr abwandte, als sich die terreur in Frankreich ausbreitete und später Napoleons Armeen deutsche Territorien besetzten. Sein überaus populäres Gedicht von 1813 mit dem Titel „Was ist des Deutschen Vaterland?“* schlägt ganz neue Töne an:
Was ist des Deutschen Vaterland?
Ist’s Preußenland? Ist’s Schwabenland?
Ist’s, wo am Rhein die Rebe blüht?
Ist’s, wo am Belt die Möve zieht?
O nein, nein, nein!
Sein Vaterland muss größer sein!18
Die folgenden Strophen zählen anhand derselben Frage weitere Länder auf, darunter auch Österreich, Tirol und sogar die Schweiz. Aber Arndts deutsches Vaterland reicht noch über diese geografischen Bestimmungen hinaus. In den Schlussstrophen singt Arndt das Loblied der deutschen Kultur – der Sprache, der Treue, des Muts und der gottgebenen Bestimmung:
Was ist des Deutschen Vaterland?
So nenne mir das große Land!
So weit die deutsche Zunge klingt,
Und Gott im Himmel Lieder singt,
Das soll es sein!
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!
Das ist des Deutschen Vaterland,
Wo Eide schwört der Druck der Hand,
Wo Treue hell vom Auge blitzt
Und Liebe warm im Herzen sitzt –
Das soll es sein!
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!
Das ist des Deutschen Vaterland,
Wo Zorn vertilgt den wälschen Tand,
Wo jeder Franzmann heißet Feind,
Wo jeder Deutsche heißet Freund –
Das soll es sein!
Das ganze Deutschland soll es sein!
Das ganze Deutschland soll es sein!
O Gott vom Himmel sieh darein,
Und gieb uns rechten deutschen Muth,
Daß wir es lieben treu und gut!
Das soll es sein!
Das ganze Deutschland soll es sein!
Arndt reicherte seine Frankophobie mit einem tüchtigen Schuss Antisemitismus an, der in der deutschen Öffentlichkeit in direktem Verhältnis zum Anschwellen dieses aggressiven Patriotismus heranwuchs. Waren die Franzosen der äußere Feind, so die Juden das Fremde im Inneren – und damit zumindest potenziell der Feind. (Auch für die Polen hatte Arndt nur Verachtung übrig.) In seinem langen Leben – er starb im Alter von 90 Jahren – wurde Arndt vom deutschen Establishment mit Lob und Ehrungen überhäuft. Die (zumindest partielle) Verwirklichung seiner Hoffnungen durch die Reichseinigung erlebte er nicht mehr.
Arndt stand mit seinem Patriotismus keineswegs allein da. Friedrich Ludwig Jahn zum Beispiel sah in der von ihm nach der Niederlage gegen Napoleon begründeten Turnerbewegung den Weg zu einem gesunden und selbstbewussten nationalen Geist, der an den alten germanischen Tugenden geschult war. So entstand in der deutschen Öffentlichkeit eine Atmosphäre des Patriotismus, der sehr männlich und von seiner Überlegenheit gegenüber den verweichlicht-verweiblichten Nachbarvölkern überzeugt war, und somit von seiner Bestimmung, auf der europäischen Bühne eine herausragende Rolle spielen zu können. Genährt von vergangener Misshandlung war dieser Patriotismus sicher, dass Deutschlands Zeit nunmehr gekommen sei.
Doch ein zeitgenössischer Dichter sah die Gefahren dieses Patriotismus sehr genau. Heinrich Heine, dieser so scharfsinnige wie boshafte Beobachter der deutschen Kultur, schrieb ein Gegenstück zu Germaine de Staëls Buch, das er, unter dem nämlichen Titel – De l’Allemagne – zuerst auf Französisch (1833) und kurz darauf auf Deutsch publizierte. Wo Madame de Staël sich für deutsche Mystik, Romantik und Folklore begeisterte, sah Heine Obskurantismus, Engstirnigkeit und Gegnerschaft zu aufklärerischer Freiheit. Doch fürchtete er nicht nur das Zurückweichen vor der Moderne – ein Fluchtmoment, das den deutschen Fürstentümern gut zupasskam. Mit Worten, die wie eine unheimliche Prophezeiung der Schrecken des 20. Jahrhunderts wirken, sah er die Gewalt voraus, die die Wendung des deutschen Geistes ins Völkische von der Leine lassen würde:
[…] so wird der [deutsche] Naturphilosoph dadurch furchtbar sein, dass er mit den ursprünglichen Gewalten der Natur in Verbindung tritt, dass er die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören kann, und dass in ihm jene Kampflust erwacht, die wir bei den alten Deutschen finden, und die nicht kämpft, um zu zerstören, noch um zu siegen, sondern bloß, um zu kämpfen […] Der Gedanke geht der Tat voraus wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig, und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wisst: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen, und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die Französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.
Diese Worte wurden genau 100 Jahre vor der Geburt des „Dritten Reichs“ geschrieben.19
Aber Heine schrieb in Paris, wo er von 1831 bis zu seinem Tod im Jahre 1856 lebte. Er gehörte zunächst zu den politisch radikalen Kräften: Er war mit Karl Marx bekannt und schätzte, wie dieser, bürgerliche Normen und Einstellungen gering. Den völkisch-patriotischen Bestrebungen, der Sehnsucht nach einer politischen Einheit, die die deutsche kulturelle Identität nähren und stärken könnte, stand er kritisch gegenüber. Aber die Sehnsucht war real, und es stellte sich nur die Frage, wer oder was die geistige Führung übernehmen, welche Form also die völkische Bewegung annehmen würde.
Es musste nicht unbedingt der von Arndt vorgezeichnete Weg sein. Schauen wir uns (und nicht durch das Prisma des 20. Jahrhunderts) eine populäre poetische Manifestation dieser Sehnsucht an. Sie stammt aus der Zeit vor der Reichseinigung von 1870 und hat – zumindest in Teilen – alle Umwälzungen und Tragödien der folgenden eineinhalb Jahrhunderte überlebt. 1841, zu einer Zeit, da die Hoffnung auf ein vereintes und freies Deutschland ihren Höhepunkt erreicht hatte, schrieb Heinrich Hoffmann von Fallersleben, seines Zeichens Bibliothekar, Germanistikprofessor und Poet, ein Gedicht mit dem Titel Lied der Deutschen, das später den Text für die deutsche Nationalhymne lieferte:
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt –
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt!
Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang
Sollen in der Welt behalten
Ihren alten, schönen Klang,
Uns zu edler Tat begeistern
Unser ganzes Leben lang –
Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand –
Blüh’ im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland!
Hoffmann von Fallerslebens Gedicht wird häufig als Ausdruck deutschen Expansionsbestrebens missverstanden, dabei ist es nur ein leidenschaftliches Plädoyer für die Einheit, dafür, dass – mit Willy Brandts berühmtem Diktum zur Wiedervereinigung – zusammenwächst, was zusammengehört. Der berühmte Eingangsvers ist keine Aufforderung, zu den Waffen zu greifen und den Krieg zu beginnen. Es ist vielmehr ein Aufruf an die deutschen Staaten, die Hoffnungen und Bedürfnisse eines gesamten Deutschlands über ihre je eigenen engstirnig-begrenzten Interessen zu stellen. Die geografischen Angaben in der ersten Strophe bezeichnen ungefähr das Gebiet, in dem die Bevölkerung Deutsch oder einen deutschen Dialekt sprach; mit den heutigen Grenzen haben sie nichts zu tun. Die etwas patriarchalische Einstellung zu den Frauen in der zweiten Strophe klingt uns Modernen dagegen sicher unangenehm im Ohr. Aber nichts in diesem Gedicht könnte zu dem Schluss führen, dass es sich um eine Feier des Expansionismus handelt, und auch von Rassismus oder Fremdenhass findet sich keine Spur.
Das Lied der Deutschen war eine Manifestation dessen, was man die akzeptable – oder zumindest verständliche – Version des völkischen Gefühlslebens nennen könnte. Es wurde in der Weimarer Republik zur Nationalhymne und behielt diesen Status auch in der westdeutschen Bundesrepublik ab 1949, allerdings unter Streichung der ersten beiden Strophen. Die letzte Strophe ist seit der Wiedervereinigung auch die offizielle Nationalhymne des neuen Deutschlands. Die Melodie stammt übrigens von Joseph Haydn; er hatte sie für die alte österreichische Kaiserhymne – Gott erhalte unsern Kaiser! – komponiert und auf wunderbar lyrische Weise im zweiten Satz seines Streichquartetts op. 76,3 verarbeitet. So ist die deutsche Nationalhymne musikalisch sicherlich die schönste der Welt.
Als jedoch das Bewusstsein nationaler Bestimmung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Mächtigkeit gewann, nahm die völkische Tendenz traurigerweise ein anderes, eher düsteres Aussehen an. Was als Suche nach einer auf Sprache und somit Geografie beruhenden Identität begonnen hatte, wurde mehr und mehr zu einer Identität der „Rasse“. Nation war die Verbindung von Land und Rasse, was dann im 20. Jahrhundert als Ideologie von „Blut und Boden“ seinen Ausdruck fand. Der Archetypus dieser Ideologie war der Bauer, dessen ganzes Sein unauflösbar mit dem Land, auf dem er lebt und das er bearbeitet, verbunden ist. Diese generationenalte Verbundenheit sei der Grund für die Reinheit des Blutes.
Die Historiker haben ihren Teil zu dieser Entwicklung beigetragen. Insbesondere war Heinrich von Treitschke, in der wilhelminischen Epoche auch als Politiker tätig (und berühmt), ein energischer Befürworter der kolonialen Bestrebungen des Kaiserreichs und interpretierte die internationalen Beziehungen als Zusammenstoß der Kulturen, verstanden als Auseinandersetzung zwischen Rassen. Seine Einstellung zum deutschen Kolonialismus verband er mit einer strikt antibritischen Haltung. Zudem war er Antisemit; seine Abneigung gegen die Juden verkündete er ganz offen. Treitschke beeinflusste eine ganze Generation nationalistisch orientierter Historiker, darunter General Friedrich von Bernhardi, einen Militärhistoriker, dessen populäres und kriegsbegeistertes Buch von 1912 Deutschland und der nächste Krieg im Kampf eine „sittliche Forderung“ und eine „biologische Notwendigkeit“ sah, die mit den Naturgesetzen im Einklang stand. Auch Friedrich Meinecke, auf dessen abwiegelnde Beurteilung des „Dritten Reichs“ wir bereits hingewiesen haben, hatte bei Treitschke studiert.
Zur Zeit des Ersten Weltkriegs befand sich der Rassendiskurs in Theorie und Praxis in vielen Ländern Europas im Aufwind. Vielfach sahen seine Vertreter die jeweilige Rasse mit ihrer Reinheit unvermeidlich im Überlebenskampf mit anderen Rassen. Letztlich war es ein – vulgärdarwinistisch interpretierter – welthistorischer Kampf. Diese Auffassungen wurden bald zum Rüstzeug für nationalistische Zirkel in ganz Europa, insbesondere in Deutschland und Russland. In Deutschland waren es Schriftsteller wie Paul de Lagarde und Julius Langbehn, die derlei verbreiteten und, während sie heute so gut wie unbekannt sind, in der wilhelminischen Epoche höchst einflussreich waren.
Lagarde war Professor für Orientalistik und glaubte mit Leidenschaft an die Überlegenheit der deutschen Kultur und ihre welthistorische Bestimmung. Noch viel nachdrücklicher als Hegel trat er für die allumfassende Identität des Staats mit dem von ihm repräsentierten Deutschtum* ein. Am Kaiserreich bedauerte er zutiefst, dass mit der Vereinigung die Deutschen in Österreich verraten und verkauft worden seien. Ferner meinte er, Deutschland solle den Osten germanisieren und zu diesem Zweck die Slawen vertreiben. Dem offiziellen Protestantismus warf er (nicht ganz zu Unrecht) Versagen vor: Er habe es nicht geschafft, für das Deutschtum ein einigendes religiöskulturelles Band zu erwirken. Insofern plädierte er für die Schaffung einer neuen, germanischen Religion, die auf einem seiner Sanftmütigkeit entkleideten Christentum beruhen sollte. Und selbstverständlich war in seiner Definition von „Volk“ kein Platz für all jene, die – wie insbesondere die Juden – ethnisch nicht dazugehörten. Sein Antisemitismus war nicht nur die scheinrationale Ausweitung eines Diskurses, der die nationale Identität in die Reinheit des Bluts verlegte, sondern auch biologistisch, indem er die Juden mit Bazillen verglich, die vernichtet werden müssten.
Julius Langbehn, ein intelligenter Außenseiter aus armer Familie, der nie irgendwo heimisch wurde oder dauerhafte persönliche Beziehungen pflegte, war Schüler von Lagarde. Langbehn wurde zum Vertreter eines antiintellektuellen und antimodernen Populismus, der das Volk – die wahren Deutschen – gegen den Staat stellte, von dem es so häufig betrogen worden war. Ferner stellte er die populäre (deutsche) Kunst in all ihren Ausdrucksformen gegen den wissenschaftlichen Rationalismus der urbanen Moderne. Antisemitisch war er auch (wenngleich, anders als Lagarde, nicht aus biologischen Gründen, sondern weil er die Juden mit der von ihm verachteten städtischen Moderne identifizierte). Seine Schriften trafen den Nerv der unzufriedenen Jugend der 1890er-Jahre und erlangten weite Verbreitung. Unbestritten ist sein Einfluss auf die Wandervogelbewegung. Übrigens fand der Nationalsozialismus – der in mancher Hinsicht auch eine Jugendbewegung war – Ideen und Ethos solcher Bewegungen wie „Wandervogel“ und „Jungdeutscher Orden“ (die während der Weimarer Republik ähnliche Rollen spielten) so kongenial, dass er sie verbot und ihre Mitglieder in die Hitlerjugend übernahm.
Diese und andere Stimmen nutzten die Unsicherheit aus, die unter dem oberflächlichen Selbstvertrauen des Kaiserreichs lag. Immer lauter erscholl die Stimme des Völkischen nach den Siegen Bismarcks über Dänemark, Österreich und Frankreich über die Anfangserfolge von 1914 bis zum Zusammenbruch von 1918 und zu den Demütigungen und Verwerfungen der Weimarer Zeit, die wiederum das schmerzhafte Opfergefühl verstärkten. Am Ende setzte sich eine besonders bösartige Version des Völkischen durch und verlangte von der deutschen Kultur die Preisgabe jeglicher geistiger Autonomie.
Doch war dieses Resultat nicht unvermeidlich; in der späten wilhelminischen Epoche gab es zahlreiche andere Stimmen, die Aufmerksamkeit forderten. Ohne die politischen Fehlurteile und -entscheidungen vor dem Ersten Weltkrieg und währenddessen, ohne das soziale Trauma in der Weimarer Republik und die Katastrophe der Weltwirtschaftskrise wäre die völkische Phrasendrescherei nur eine unerfreuliche Fußnote in der deutschen (und europäischen) Geschichte gewesen und Hitlers Mein Kampf wäre als das erkannt worden, was es tatsächlich war: das recht umständliche Glaubensbekenntnis eines Gossenpolitikers. So aber wurde es zur Bibel einer diesem Politiker verfallenen Gesellschaft. Von marxistischer Seite ist häufig die Ansicht vorgetragen worden, dass die NS-Herrschaft das notwendige Ergebnis einer unvermeidlichen Krise des Kapitalismus sei. Für einige waren Aufstieg und Fall des „Dritten Reichs“ sogar identisch mit dem von Marx vorhergesagten endgültigen Zusammenbruch des Kapitalismus. Heute aber, da wir den Glauben an den wissenschaftlichen Sozialismus verloren haben, können wir damit nichts mehr anfangen. Die Wahrheit ist viel deprimierender: Die schrecklichen Ereignisse waren alles andere als unvermeidlich.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im Vorfeld von 1914 bestand die deutsche Geistesnahrung gewiss nicht nur aus völkischer Literatur und Kunst, die nur einen geringen Bestandteil der Kultur ausmachten. Absurd ist auch die Annahme, die Ideologie des „Dritten Reichs“ sei damals schon in den einflussreichen künstlerischen Werken präsent gewesen oder habe dort zumindest ihre Vorläufer gehabt. Fälschlich ist sogar behauptet worden, Brahms habe durch sein überaus erfolgreiches Deutsches Requiem zum völkischen Klima beigetragen, allein schon durch den Titel und die vom Komponisten verwendeten Texte aus der Lutherbibel. Ebenso unhaltbar ist die Auffassung, Anton Bruckners Sinfonien hätten einen bedrohlichen Unterton, nur weil sie bei NS-Ideologen wie Alfred Rosenberg beliebt waren.
Vielmehr gewann zu dieser Zeit der bürgerliche Geschmack an Einfluss: Es war die Epoche der romantischen Lieder, der Texte von großen Dichtern, vertont von bedeutenden Komponisten wie Schubert, Schumann, Brahms und Wolf, und der melodienreichen Instrumentalwerke von der Kammermusik bis zur Sinfonie – Liszt, Brahms, Mahler und Bruckner sind nur einige Beispiele. Konzertbesuche waren an der Tagesordnung und Komponisten wurden zu Berühmtheiten; Brahms, der Norddeutsche aus Hamburg, wurde in Wien gefeiert und wohlhabend (und erinnert daran, dass die deutsche Identität umfassender war als die neu erworbene politische Identität. Wien gehörte immer noch zu den wichtigsten Zentren des deutschen Kulturlebens). Gustav Mahler war allen antisemitischen Anfeindungen zum Trotz ein höchst erfolgreicher Komponist und Dirigent.
Es war wohl vor allem Beethoven, der die Musik zum machtvollen Mittel für den Ausdruck individueller Geistigkeit gestaltete. Bei ihm wird die Musik zum – oft gequälten – Laut des Geistes, sei es der des Komponisten, des Interpreten oder des Hörers. Als Klangteppich im Hintergrund taugt sie nicht. Beethovens Werk warf einen langen Schatten: Alle nachfolgenden Komponisten mussten sich mit ihm auseinandersetzen, und selbst einige der größten verharrten ihr ganzes schöpferisches Leben in Ehrfurcht vor ihm. Die Beziehung der Individuen zur Musik gewann eine Intensität, die – besonders in Deutschland (und in Russland, dessen Kultur bei aller Unterschiedlichkeit manche Parallele zur deutschen aufweist) – die geistige Atmosphäre bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beeinflusste.
Vom späten 18. Jahrhundert an schrieben deutsche Komponisten, Musikschriftsteller und -wissenschaftler der deutschen Musik eine geistige Berufung zu. Sicher war die Musik beim Bürgertum beliebt, doch auf eine umfassendere Weise sprach sie, so wurde behauptet, zum Geist: Es war ihre Berufung, nicht einfach nur schön, sondern darüber hinaus bedeutungsvoll und insofern universell zu sein. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert trat der Musikschriftsteller Johann Karl Friedrich Triest für den Vorrang der deutschen Musik, insbesondere der von Bach, ein – ein nationaler, aber nicht nationalistischer Ansatz. Die deutsche Musik war charakteristischerweise „rein“ und „absolut“, konnte später jedoch einiges von der Sinnlichkeit der italienischen Musik übernehmen und so eine Synthese schaffen, die dem Bedürfnis der Menschen nach einem Gleichgewicht von Sinnlichkeit und Strukturiertheit Genüge tat. Das 19. Jahrhundert dann sah in Bachs Musik die Repräsentation gotischer Architektur – E. T. A. Hoffmann machte hier den Anfang, danach kamen Carl Maria von Weber und andere. Für Schumann verwirklichte sich die Macht dieser Musik in einer Art Einheit von Bach und Beethoven, und der Musikwissenschaftler Franz Brendel sah den Höhepunkt in der Musik von Wolfgang Amadeus Mozart. All dies ist ein Widerhall von Hölderlins und der romantischen Dichter Vision: Triest und Schumann sahen diese Musik als Transformation von Poesie, wenn nicht gar als diese selbst, und schrieben ihr, wie schon Hölderlin in seiner Hymne „Germanien“, religiöse Bedeutung zu. Allerdings erreichte die Musik, im Gegensatz zur Poesie, ein breites Publikum.
Auch die Literatur öffnete sich zunehmend dem Geschmack des Bürgertums. Deutsche Autoren schrieben realistische Romane, in denen sich bürgerliche Werte und Aspirationen spiegelten, oder sie boten eskapistische Literatur, die Spannung bot. Vieles davon war gut, sogar treffsicher beobachtet, wie etwa in den Romanen eines der bedeutendsten Autoren: Theodor Fontanes subtil-scharfsinnige Porträts des Lebens im bürgerlichen Berlin und in seiner Heimat Brandenburg vereinen, ähnlich vielleicht wie Jane Austen, das Universelle mit dem Alltäglichen. Andere Beispiele sind der Österreicher Adalbert Stifter oder der Schweizer Gottfried Keller. Beide beschrieben mit lyrischer Raffinesse die innere Entwicklung eines sensiblen jungen Mannes, der heranreift und sich schließlich mit der Welt aussöhnt.
Keiner von diesen Autoren konnte als Fahnenträger für ein völkisches Deutschland Verwendung finden. Fontane stand, wiewohl Preuße, den Anmaßungen und dem Militarismus der Berliner Gesellschaft, insbesondere nach Bismarcks Abgang, ambivalent gegenüber; Stifter starb noch vor Österreichs Ausschluss aus dem neuen Kaiserreich, hätte sich aber keinesfalls einem wie immer gearteten völkischen Nationalismus hingegeben; Keller schließlich war, als Schweizer, Bürger eines Landes, das schon Jahrhunderte zuvor einen eigenen Weg eingeschlagen und dabei eine starke politische Identität entwickelt hatte.
Doch auf ihre je unterschiedliche Weise sprachen sie den deutschen bürgerlichen Geist – mit ihrer feinfühligen und persönlichen Tonart – an, indem sie einerseits die natürliche Ordnung der Dinge betonten und diese andererseits vorsichtig sondierten und auf ihre Belastbarkeit prüften. Fontane schrieb über die kleinen und großen Tragödien des Alltagslebens in Meisterstücken der Beobachtung wie Effi Briest und Irrungen, Wirrungen, Stifter – Der Nachsommer – und Keller – Der grüne Heinrich – verfassten literarisch hochrangige Bildungsromane in der Tradition von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre.
Aber das Bürgertum konnte sich auch an den überaus populären eskapistischen Abenteuerromanen von Karl May erfreuen, der ihm An- und Aussichten vom und auf den Wilden Westen und den Orient seiner Fantasie bot, den die Leser so kennenlernen konnten, ohne jemals dorthin reisen zu müssen und seiner Wirklichkeit zu begegnen. Oder sie konnten, bequem im Ohrensessel sitzend, die geisterhafte Natur von Storms Novelle Der Schimmelreiter genießen. Sozialkritisch war kaum etwas davon. Nachdem Heine 1844 sein Gedicht Die schlesischen Weber über den Weberaufstand in Schlesien geschrieben hatte (das dann von Karl Marx veröffentlicht wurde), gab es keinen bedeutenden Autor, der sich des mühseligen Lebens der ausgebeuteten Klassen angenommen hätte. Verglichen mit den Romanen von Charles Dickens in England oder Emile Zola in Frankreich gab es in Deutschland vergleichsweise wenig realistische Beschreibungen über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der urbanen Industriearbeiterschaft. Georg Büchner war bereits 1837 im Alter von 23 Jahren gestorben und hatte in seinem unvollendeten Drama Woyzeck nur eine Andeutung dessen hinterlassen, was von ihm noch zu erwarten gewesen wäre. Erst gegen Ende des Jahrhunderts füllte Gerhart Hauptmann diese Lücke mit Stücken wie dem äußerst erfolgreichen Vor Sonnenaufgang, in dem er die zerstörerischen Folgen des Alkoholismus in einer Bauernfamilie darstellt, die durch Kohlefunde auf ihrem Land plötzlich reich geworden ist. In Die Weber geht es, wie bei Heines Gedicht ein halbes Jahrhundert zuvor, um den schlesischen Weberaufstand.
So fand das Bürgertum in der von ihm bevorzugten Literatur zu seiner Beruhigung eine Sichtweise vor, die mit der bürgerlichen Ordnung der Dinge weitgehend übereinstimmte. Allerdings gab es dabei auch bedrohlich wirkende Anzeichen. Ein Bestseller in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Gustav Freytags Roman Soll und Haben. Er erzählt die Geschichte einer im Abstieg begriffenen Aristokratenfamilie, von erfolgreichen jüdischen Unternehmern und – in Gestalt des Protagonisten – vom guten Bürger, der am Ende zu sich selbst und zu einer ehrenwerten Karriere in einem soliden Geschäft findet. Nicht alle Charaktere in diesem Roman, aber doch die meisten, sind an Klischees orientiert. Sicher lassen sich solche auch in der Literatur anderer europäischer Länder finden: Der Verfall der Aristokratie spielt u.a. bei Anton Tschechow, Anthony Trollope und Giuseppe Tomasi di Lampedusa eine Rolle, während der gewinnsüchtige, verschlagene Jude in der europäischen Literatur einen langen Stammbaum aufweist. Aber der Kontrast zwischen Soll und Haben und, sagen wir, Anthony Trollopes The Way We Live Now ist augenfällig: Bei Trollope handelt es sich um die satirisch-kritische Darstellung einer ganzen Gesellschaft, während Freytag einen Bildungsroman für das Bürgertum geschrieben hat. Insgesamt bestätigt Freytag ein Bild von den Juden, demzufolge sie sich nur schwer, wenn überhaupt, in das bürgerliche Leben, das für das Wohlergehen des Volks* so entscheidend war, integrieren lassen. Damit wird auch Freytags Auffassung bestätigt, dass „die freie Arbeit allein das Leben der Völker groß und sicher und dauerhaft macht“. Aus heutiger Sicht muss uns das fast zwangsläufig an das zynische Arbeit macht frei über dem Eingangstor von Auschwitz erinnern.
Gehörte Soll und Haben zu den erfolgreichsten Romanen der Kaiserzeit (wenn er nicht gar der erfolgreichste war), so erschien der bedeutendste am Vorabend des neuen Jahrhunderts – Thomas Manns Buddenbrooks. Mann verfolgte den über mehrere Generationen sich hinziehenden Abstieg einer hanseatischen Kaufmannsfamilie und verleiht, indem er die innere Hohlheit des Geisteslebens im Kaiserreich schildert, der wachsenden Unsicherheit eine Stimme. Das bürgerliche Selbstvertrauen, das noch aus Freytags Werk sprach, ist verschwunden, und nun nagte an Thomas Mann, der viel zu gebildet war, um dem Unsinn à la Langbehn auf den Leim zu gehen, die Frage: Womit wird die Leere gefüllt? Am Ende des Romans scheint so etwas wie religiöse Hoffnung auf (ähnlich wie bei Tschechows Stück Onkel Wanja). Dies aber ist wohl genauso wenig wirklich wie für Tschechow.
Thomas Mann trieb die Frage um, ob die Kunst eine Antwort zu liefern imstande sei. Mann stand dabei unter dem Einfluss des nach Kant und Hegel wirkungsmächtigsten Philosophen, dessen Werk das deutsche Kulturleben im Kaiserreich entscheidend prägte: Arthur Schopenhauer. Mit den in seinem opus magnum Die Welt als Wille und Vorstellung entfalteten Ideen schlug er nicht nur Mann, sondern zuvor auch Richard Wagner und Friedrich Nietzsche in seinen Bann. Zwar hatte Schopenhauer dieses Hauptwerk bereits 1818 veröffentlicht, doch entfaltete es erst nach und nach in den folgenden Jahrzehnten seine Wirkung. Für Schopenhauer ist der Wille des Individuums unvermeidlicherweise eine Quelle von Leiden und Enttäuschung. Wer den Weg aus diesem existenziellen Dilemma sucht, findet ihn in der ästhetischen Kontemplation, mit deren Hilfe das Individuum die Grenzen von Autonomie und Wahrnehmung auflösen und sich gewissermaßen in dem blinden Willen verlieren kann, der den Kosmos belebt und lenkt. Kunst – vor allem die Musik, und ganz besonders die rein instrumentelle – ist der Weg zu dieser Erlösung vom Willen. Schopenhauers Sublimierung des individuellen Selbst ist Kant völlig fremd, und sein an buddhistisches Denken angelehnter Begriff von Erfahrung steht antagonistisch zu Hegels Fortschrittsoptimismus.
Aber Schopenhauers Philosophie taugte nicht als Grundlage für eine umfassendere kulturelle Identität, schon gar nicht im politischen Klima des Kaiserreichs. Am Ende konnte Mann mit der von Schopenhauers Ontologie nahegelegten Loslösung von der Wirklichkeit nicht leben – die Welt ließ sich nicht fortdenken. Schopenhauers berühmter Satz, mit dem er sein Hauptwerk beginnt – „die Welt ist meine Vorstellung“ –, führte, wie Mann bald erkannte, in eine geistige Sackgasse.
Thomas Mann war nicht der Erste, der unter den Einfluss Schopenhauers geriet. Auch Richard Wagner fühlte sich durch ihn zur Kunst be- und gerufen, um die unvermeidliche Unvollkommenheit menschlichen Liebens und Begehrens in der Musik zu sublimieren (und zu feiern). Schopenhauers Einfluss auf Wagner ist besonders offensichtlich in Tristan und Isolde, wo die Nacht der Raum ist, in dem die beiden Liebenden gemeinsam in einer Seligkeit sich verlieren, die ihren Höhepunkt im Tod findet. Deutlich spürbar ist sie auch in Die Meistersinger von Nürnberg. Hier erkennt Hans Sachs, dass der Gesang (die Kunst) die Macht besitzt, die Illusion und Flüchtigkeit der Erfahrung zu überwinden.
Aber für Wagner war seine eigene Kunst weitaus mehr als ästhetische Kontemplation. Sie drehte sich um große Themen, die nicht immer mit Schopenhauers Lebensverneinung in Einklang standen. Es ging um Erfüllung in fleischlicher Liebe, um Erlösung durch Aufopferung, um den einfachen, naiven, vertrauensvollen und doch zugleich charismatischen Helden, um die Verderbnis der Macht und ihren unvermeidlichen Untergang. Überdies sah Wagner, ein Deutscher aus Leidenschaft, sein Werk fast als eine Liturgie oder ein Sakrament deutschen Geistes.
Von all den großen deutschen Künstlern des 19. Jahrhunderts war Wagner die wichtigste Quelle völkischer Inspiration im 20. Jahrhundert, was keinesfalls ausschließt, dass er auch missverstanden wurde. In den Meistersingern lobt Hans Sachs die Kunst als Bewahrerin deutscher Kultur vor Bedrohungen von außen:
Ehrt eure deutschen Meister!
Dann bannt ihr gute Geister;
und gebt ihr ihrem Wirken Gunst,
das heil’ge röm’sche Reich,
uns bliebe gleich
die heil’ge deutsche Kunst!
Allerdings war Richard Wagner ein rabiater Antisemit, sodass einige – ohne wirkliche Begründung – in Gestalten wie Alberich, Beckmesser, Klingsor und Kundry von Wagner mit Vorbedacht gezeichnete Vertreter jüdischer Verderbnis für die reine deutsche Rasse gesehen haben. Auch Hitler begeisterte sich für Wagners Opern – insbesondere für Lohengrin, den er während seiner armseligen Existenz im Wien der Vorkriegszeit überaus häufig sah. Obwohl in den Thematiken von Wagners Opern ironischerweise nichts zu finden ist, was dem Programm der Nationalsozialisten entsprochen hätte, schuf der sinnliche und emotionale Gesamteindruck die perfekte Stimmung und Atmosphäre für das Deutschland des „Dritten Reichs“. In den Opern Tannhäuser, Lohengrin und Die Meistersinger von Nürnberg beschwört Wagner eine weitgehend legendäre deutsche Vergangenheit, die implizite reiner und wahrer ist als die mechanisierte, kontaminierte und misslungene Gegenwart. Insofern war diese Vergangenheit à la Wagner bestens geeignet für die Ziele des „Dritten Reichs“, insbesondere für eine kompromisslose völkische Rekonstruktion der deutschen Kultur im Hinblick auf die geostrategischen Vorhaben des NS-Regimes.
Wagners Beziehung zu der traurig-romantischen Gestalt des bayerischen Königs Ludwig II. ist der Beginn einer von Wagner selbst betriebenen Legendenwebung um seine Person, die mit der Eröffnung der Bühnenspiele 1876 in Bayreuth ihren Höhepunkt erreichte. Damals wie heute war und ist das Opernhaus der Ort, den die Reichen und Mächtigen aufsuchen, um zu sehen und gesehen zu werden. Wagner sah Bayreuth als Zentrum für die Erneuerung deutschen Geisteslebens – es sollte Opernhaus und zugleich Pilgerstätte sein. Aber das war eine unrealistische Erwartung – selbst angesichts der Weihe, die es später durch Hitler persönlich erhielt. Wagner suchte religiöse Adepten für seine Kunst, doch waren solche damals und auch später nur schwer zu finden. Dafür fühlten sich Hitler und Alfred Rosenberg von seiner Musik angezogen – eine Vorliebe, die nicht von allen NS-Größen geteilt wurde.
Auch Friedrich Nietzsche geriet in Schopenhauers Bann, machte dann aber aus dem blinden, kosmischen Willen etwas ganz anderes, was auf den ersten Blick dem völkischen* Ethos des Nationalsozialismus direkt in die Karten zu spielen schien. Für Nietzsche führte nicht ästhetische Kontemplation, sondern der „Wille zur Macht“ ins Freie. Seine individuell-existenzielle Antwort unterscheidet sich grundlegend von Schopenhauers Resignation oder Wagners Sakralisierung des deutschen Geistes. Zwar war Nietzsche anfänglich von Wagner fasziniert, trennte sich dann aber von ihm und lehnte ihn später leidenschaftlich ab. Nietzsches „Übermensch“* ist ein Außenseiter, der nicht in die bestehende Ordnung (oder überhaupt eine Ordnung) eingefügt werden kann. Er steht durchaus im Kontrast zu Wagner, der seinen Erfolg in Bayreuth genoss. Und anders als Wagner ist Nietzsche weder völkisch noch antisemitisch eingestellt. Seine Philosophie ist nicht daran interessiert, Deutschland zu sakralisieren, als habe es eine nationale und historische Bestimmung. Für Nietzsche steht der Prozess der Selbstentdeckung des Menschen in einer zunehmend urbanisierten, entsakralisierten und vernetzten Welt im Vordergrund. Aber es kann nicht überraschen, dass seine Ideen von NSIdeologen in einem Deutschland, das sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterdrückt und an den Rand gedrängt fühlte, aufgegriffen wurden.
Allerdings hätte Nietzsche Leni Riefenstahls Film Triumph des Willens ebenso abstoßend gefunden wie Kleist die Verwendung seiner Hermannsschlacht durch die Nazis, während Heine sich über die Verbrennung seiner Bücher vielleicht nicht gewundert hätte. Grundsätzlich ist es unfair, aus späterer Perspektive die NS-Katastrophe in den Werken der großen Denker und Künstler des 19. Jahrhunderts vorbereitet zu sehen. Dagegen finden wir bei Schriftstellern wie Lagarde und Langbehn eine Perversion der romantischen Weltsicht, die unumwunden völkisch und antisemitisch war. Sie befürworteten das Führerprinzip und Deutschlands Drang nach Osten. Hitler trägt in Mein Kampf* alle diese Ideen vor, von denen keine seiner eigenen Denkweise entsprungen ist.
Und wie hat sich das Christentum in einer angeblich christlichen Kultur bemerkbar gemacht? War es von der Aufklärung zum Verstummen gebracht worden? Wer repräsentierte die authentische Interpretation der christlichen Glaubensverkündigung in der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Realität des Kaiserreichs? Wie reagierte das institutionalisierte Christentum auf die spirituellen Sehnsüchte jener Epoche?
Zweifellos war die Aufklärung eine grundlegende Herausforderung für das Christentum gewesen. Kant hatte einer ernsthaften theologischen wie ethischen Theorie und Praxis die Grenzen aufgezeigt. 1835 veröffentlichte der Theologe und Philosoph David Friedrich Strauß sein Werk Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, in dem er die Wunderberichte der Evangelien als Mythenbildung bezeichnete. Das Buch machte in Europa, ganz besonders aber in Deutschland selbst, Furore – es schien die historischen Fundamente des Christentums so radikal zu beseitigen, wie Kant es mit den Gottesbeweisen gemacht hatte. 1859 dann sprach Darwin in seinem Origin of Species (in Deutschland 1860 unter dem Titel Die Entstehung der Arten erschienen) dem Menschen eine Sonderstellung ab. Konnte eine Berufung auf die Offenbarung diese Angriffe überleben?
Tatsächlich waren im Deutschland des 19. Jahrhunderts die intellektuellen Angriffe auf die orthodoxe christliche Lehre sehr viel heftiger als in anderen Ländern Europas, nicht jedoch, weil sich hier die Aufklärung auf dem Kampfplatz des Denkens behauptet hätte. Doch machten weder die Romantiker in ihrer Suche nach der Einheit mit dem Absoluten noch Hegel, der das Absolute in der Geschichte sich verwirklichen sah, das traditionelle Christentum zur Grundlage ihrer Philosophie. Zwar mochte Friedrich Schleiermacher als Verteidiger des religiösen Glaubens erscheinen, tatsächlich jedoch fasste er das religiöse Gefühl „schlechthiniger Abhängigkeit“ in christliche Terminologie, ohne für eine objektive Wahrheit der christlichen Lehre einzutreten; insofern stand er den Romantikern nahe.
Zudem gab es in Deutschland eine Reihe von Autoren, die einer expliziten Feindschaft gegenüber dem Christentum Ausdruck verliehen. Für sie war die von Christus verkörperte Ethik ein schwaches, veruntüchtigendes Prinzip, das mit der wirklichen Stoßrichtung menschlichen Unternehmungsgeistes nicht zu vereinbaren war. Sechs Jahre nach Strauß’ Leben Jesu trug Ludwig Feuerbach diese neue Angriffsstrategie vor, und zwar in Das Wesen des Christentums, das 1841 in erster Auflage erschien und ebenfalls großes Aufsehen erregte. Feuerbachs Grundthese läuft, vereinfacht gesprochen, darauf hinaus, dass die Menschen Gott geschaffen haben, nicht umgekehrt. Mithin konnten die Menschen Gott gemäß ihren Ideen und Vorstellungen formen und hatten das auch getan – das jedenfalls war dann Nietzsches Argument, vorgetragen mit einer Verve, die auch heute noch zu erstaunen vermag. Das Christentum war nicht einfach nur unwahr und korrupt, sondern tatsächlich gefährlich, weil es eine Ethik der Schwäche vertrat. Ideologen wie Lagarde entwickelten diese Gedanken auf spezifisch völkische* Weise weiter: Das Christentum war mit Deutschlands Bestimmung zu Stärke und Vorherrschaft nicht vereinbar. (Ironischerweise, aber vielleicht nicht überraschend, kamen viele der Denker, die den traditionellen christlichen Glauben in jener Zeit unterminierten, aus protestantischen Eltern-, wenn nicht gar Pfarrhäusern oder hatten Theologie studiert: Hölderlin, Hegel, Schleiermacher, Strauß, Feuerbach, Lagarde und Nietzsche.)
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts machten sich die Stimmen der institutionalisierten Kirchen auf höchst unterschiedliche Weise bemerkbar. Da war zum einen die markige Unterstützung der völkischen Tendenz (das gilt ganz besonders für die protestantische Kirche in Preußen, wo der Hofprediger Wilhelms II. offen antisemitisch war und für ein vom modernen Kapitalismus samt damit verbundener sozialer Präsenz der Juden befreites Deutschland eintrat), da war zum anderen die mehr nach innen orientierte reformierte Kirche und da war schließlich die katholische Kirche mit ihrem universalistischen Ansatz und ihren Riten. Die später virulent werdenden Gefahren waren damit schon gegeben: einerseits das Ende in der NS-Verstrickung der „Deutschen Christen“, andererseits ein Quietismus, der stillhielt, statt laut zu protestieren.
Je stärker völkische Ideen im Aufwind begriffen waren, desto weniger konnten Kunst und Religion neutral bleiben, wie einige ihrer Vertreter bald entdeckten. Thomas Manns geistig-politische Entwicklung zeigt, dass es keinen bequemen mittleren Weg gab – keine Möglichkeit, sich auf die Innerlichkeit zurückzuziehen, um die Wahl zwischen Kompromiss und Gegnerschaft zu vermeiden. Manns Roman Die Buddenbrooks reflektiert mit der Schilderung des Niedergangs einer hanseatischen Kaufmannsfamilie seine Erfahrungen in Lübeck: Die tradierte Lebensenergie ging mit dem Verlust jener äußeren und inneren Überzeugungen dahin, die einstmals den Erfolg der Familie in einer von Luthers Zwei-Reiche-Lehre bestimmten Welt garantiert hatten.
Es kann kaum überraschen, dass Mann nie wieder etwas Vergleichbares schreiben sollte. Seine Betrachtungen eines Unpolitischen wurden während des Ersten Weltkriegs verfasst. Sie zeigen, wie selbst ein künstlerisch versierter Intellektueller von der romantischen Illusion eines Deutschlands in der Stunde seiner Prüfung verführt werden konnte. Die Betrachtungen bieten höchst interessante Einsichten in das deutsche Bewusstsein zu jener schweren Zeit: Sie sind voller von Opfergefühlen genährter Ressentiments (und von Kämpfen mit Thomas Manns Bruder Heinrich, dessen realistische Romane mit ihrer Konzentration auf den Antihelden Thomas Mann als „Zivilisationsliteratur“* abtat). Die in den Betrachtungen vermittelten Ideen sind alles andere als zeitgebunden: Sie lassen sich z.B. im Russland oder China des 21. Jahrhunderts ebenso finden.
Thomas Mann bedauerte es bald, die Betrachtungen verfasst zu haben. In der Nachkriegszeit – im kalten Licht von Niederlage und Erniedrigung – schrieb er den Roman Der Zauberberg. Hier erfährt der Protagonist, Hans Castorp, zunächst eine kaleidoskopähnliche Bildung*, um schließlich eingezogen zu werden und im „Flachland“, der unromantischen Welt des Krieges, möglicherweise im Schützengraben zu sterben. Der Berg ist zugleich Symbol der Reinheit der Kunst und – am Vorabend der eindringlichen Wirklichkeit des Krieges – Symbol einer Trennung von Kunst und Wirklichkeit, die nicht mehr akzeptiert werden kann. So verliert der künstlerische Intellektuelle seine Unschuld.
Den Roman Doktor Faustus wiederum schrieb Thomas Mann im Exil während des Zweiten Weltkriegs. Der Protagonist, Adrian Leverkühn, ist ein Komponist, der die Schranken der tradierten musikalischen Regeln überwinden will. In vollem Bewusstsein zieht er sich die Syphilis zu (die Krankheit, an der Nietzsche zugrunde ging) und schließt so den Pakt mit dem Teufel – künstlerische Inspiration um den Preis des Wahnsinns. Sein Freund – die Kontrastfigur des treuen, biederen Serenus Zeitblom – ist im Grunde eine Art Apollo gegen Leverkühns Dionysos. Der Roman ist die komplexe Metapher für den moralischen Zusammenbruch Deutschlands und für die Rolle, die die unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Themen auf dem Weg in das „Dritte Reich“ gespielt hatten. Darüber hinaus aber ist Doktor Faustus das Eingeständnis der Wirklichkeit des Bösen in den menschlichen Angelegenheiten und der fortwährenden und universellen Bedeutung des Mythos vom Teufelspakt in einer entsakralisierten Welt. Und schließlich manifestiert er die Erkenntnis, dass weder Kunst noch Religion Erlösung gewähren oder garantieren können. Es kann nicht überraschen, dass Thomas Mann in der Gestalt des Komponisten Leverkühn die Musik zum Medium für seine Parabel über das Fehlschlagen der Erlösung durch Kunst macht. Wie wir noch sehen werden, war die einzige Kunst, die in der dunklen Nacht des „Dritten Reichs“ zur deutschen Seele hätte sprechen können, die Musik als deutscheste aller Künste. Aber das Innenleben war nach Luther und Kant zur Ausweglosigkeit verdammt. Eines der beiden Reiche Luthers lag verlassen da.
Oder vielleicht nicht verlassen, sondern unsicher, von Gefühlen zerrissen, zornig über die moderne Welt und ihre spirituelle Entfremdung. Der deutsche Expressionismus in Kunst und Film vor und nach dem Ersten Weltkrieg war zusammen mit der schroffen Musik der frühen Opern von Richard Strauss (Salome und Elektra) Bestandteil eines europaweiten Phänomens: eine dissonante Reaktion auf die Industriegesellschaft. Sie war vergleichbar der romantischen Reaktion auf die Moderne ein Jahrhundert zuvor. Doch während die Romantiker den rationalistischen Individualismus der Aufklärung kritisierten, wandten sich die Expressionisten gegen Maschinengesellschaft und völkischen Nationalismus. Kein Wunder, dass im NS-Reich diese Kunst als „entartet“* denunziert wurde.
Andere Intellektuelle und Künstler wandten ihre Aufmerksamkeit stärker dem anderen der beiden Reiche Luthers zu: Klassenstruktur und Kapitalismus waren die Feinde, nicht Ausländer und Außenseiter. Für Künstler und Dichter wie Weill und Brecht war das Individuum vom System unterjocht worden. Es gab keinen deutschen Sonderweg, keine nationale historische Bestimmung – außer vielleicht in der Avantgarde, deren unvermeidliche Revolution das System zerstören würde. Aber diese Revolution hatte bereits in einem Land stattgefunden, das der wissenschaftliche Sozialismus für viel ungeeigneter gehalten hätte als Deutschland. Abgesehen davon, war Stalin nicht daran interessiert, die Revolution nach außen zu tragen.
Brecht war einer der einflussreichsten Dichter und Stückeschreiber des 20. Jahrhunderts; seine Größe ist unbestritten, doch lebte er nicht lang genug, um den endgültigen Zerfall des Sozialismus in der DDR noch zu erleben (geschweige denn das moralische Vakuum im postkommunistischen Russland). Dass der Sozialismus, sei er „wissenschaftlich“ oder einfach nur revolutionär, es nicht vermag, den Geist zu nähren und die Fragen „Wer bin ich?“ beziehungsweise „Wer sind wir?“ zu beantworten, wurde in Deutschland erst in den 1980er-Jahren deutlich (obwohl es eigentlich schon in der Sowjetunion der 1930er-Jahre offenkundig war). Als mögliche Alternative zum völkischen Weg in der Weimarer Republik war der Sozialismus bereits durch die zynische Manipulation der KPD seitens der sowjetischen Kommunisten korrumpiert worden.
1933 war endlich das erreicht, was Joseph Goebbels „das völkische Zeitalter“ nannte. „Das Einzelindividuum wird ersetzt durch die Gemeinschaft des Volkes“, betonte er. Die kulturellen Aktivitäten sollten, wie alles andere auch, in den Dienst dessen treten, was er in so schlauer wie perverser Verdrehung eines kantischen Begriffs das „Volk als Ding an sich“ nannte.20
Angesichts der Realität der NS-Herrschaft schlugen die Repräsentanten der deutschen Kultur unterschiedliche Wege ein. Da gab es diejenigen, die sich mit den neuen Machthabern arrangierten: die Deutschen Christen, Leni Riefenstahl, der Bildhauer Arno Breker. Andere spielten bestimmte Rollen im öffentlichen Leben oder im akademischen Bereich, fühlten sich dabei aber mehr oder weniger unwohl: Martin Heidegger, Wilhelm Furtwängler, Werner Heisenberg. (Furtwängler und Heisenberg wurden zu Protagonisten in Stücken der 1980er-Jahre, die die Zweideutigkeit solchen Verhaltens und die damit verbundene Selbsttäuschung erkundeten.) Wieder andere gingen ins Exil, verließen Deutschland, wie Bertolt Brecht und Kurt Weill, Heinrich und Thomas Mann, oder flüchteten sich in das, was später das „innere Exil“ genannt wurde, sie duckten sich also weg, wie Ernst Jünger, Gerhart Hauptmann und, nach anfänglichem Zögern, Richard Strauss. Und schließlich gab es jene wenigen, die ihr Leben riskierten, indem sie Widerstand leisteten: Dietrich Bonhoeffer, die Geschwister Scholl, der Kreisauer Kreis, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Mitverschwörer. Am Abend vor seinem Freitod nach dem Fehlschlag des Attentats auf Hitler zitierte Henning von Tresckow die biblische Erzählung von Abraham, der mit Gott über das Schicksal von Sodom verhandelte: Würde Jahwe die Stadt verschonen, wenn er wenigstens ein paar Gerechte dort fände?
Zu dieser Zeit hatten sich, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, die Erinnerungen und Träume, die den deutschen Geist auf seinem Weg ins „völkische Zeitalter“ nährten, bereits in schreckliche Albträume verwandelt.