Je mehr sich die Sehnsucht nach Identität und das Bewusstsein nationaler Bestimmung verstärkten, desto mehr besann man sich in Deutschland auf Erinnerungen und Träume zurück – Erinnerungen mit Goldrändern und Träume von altgermanischen Zeiten.
Die Erinnerungen, die sich im Kaiserreich ausbreiteten, waren durch die von Herder initiierte Wiederaneignung der Geschichte und Überlieferung der deutschen Territorien zu neuem Leben erweckt worden. Insbesondere zwei Gestalten aus der fernen Vergangenheit spielten dabei eine gewichtige Rolle: Arminus beziehungsweise Hermann der Cherusker und Friedrich Barbarossa. Ihnen wurden physische wie poetische Denkmäler errichtet, und der Tribut, der diesen beiden Gestalten mit mittlerweile fast mythischem Status gezollt wurde, zeigt in aller Deutlichkeit, welche symbolische Macht sie für das neue Deutschland auf seiner Suche nach einem Platz an der Sonne der Weltgeschichte besaßen.
Arminius wurde während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zum Nationalhelden befördert, während Kleist sein Drama Die Hermannsschlacht bereits zur Zeit der napoleonischen Kriege und deutschen Niederlagen geschrieben hatte. Er wollte es als Aufruf zum Widerstand verstanden wissen, doch wurde es zu seinen Lebzeiten weder veröffentlicht noch aufgeführt. Als es endlich 1821 publiziert wurde, war die napoleonische Bedrohung Geschichte. Auf die Bühne kam es erst 1860, hatte aber keinen Erfolg. Doch nach der Reichseinigung wurde es rasch populär und die Aufführungen häuften sich. Während des Ersten Weltkriegs fanden Inszenierungen im Beisein der kaiserlichen Familie statt, und es gab Unterbrechungen für Nachrichten von der Front. Noch mehr Verbreitung fand es, wenig überraschend, im „Dritten Reich“. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es dann nur noch wenige Aufführungen, in denen Beziehungen zur jüngsten Vergangenheit möglichst ausgeblendet wurden, oder politisch korrekte Neuinterpretationen, die dezidiert den Bruch mit der jüngsten deutschen Vergangenheit suchten.
In Kleists Drama ist Hermann eine Anführerfigur, die erst dazu überredet werden muss, gegen die militärisch überlegenen Römer zu den Waffen zu greifen. Diese spielen ein doppeltes Spiel, indem sie einerseits Hermanns Stammesrivalen unterstützen und andererseits, in Gestalt des römischen Legaten Ventidius, Hermanns Frau Thusnelda umgarnen – der Römer stiehlt heimlich eine Locke von Thusneldas Blondhaar. Dieses verräterische Tun führt schließlich zur Vereinigung der germanischen Stämme und zum Sieg über die Römer in der Schlacht im Teutoburger Wald.
Es ist kein literarisch bedeutendes Stück, aber die zeitgenössischen Bezüge – der antifranzösische Impetus – treten deutlich genug hervor. Die streitenden Stämme sind die uneinigen deutschen Staaten, und die verräterischen Römer stehen für die Franzosen. Vor wie auch nach dem Preußisch-Französischen Krieg stand die ressentimentgeladene Feindschaft gegen Frankreich ganz oben auf der Tagesordnung.
Südwestlich von Detmold steht im Teutoburger Wald das Hermannsdenkmal, gekrönt von der riesigen Hermannsstatue. Von der Sockelbasis bis zur Schwertspitze misst es über 53 Meter.21 Es verdankt sich der Vision eines engagierten Bildhauers namens Ernst von Bandel, der über 30 Jahre daran arbeitete und zeitweise an der Baustelle wohnte. 1875 fand die feierliche Einweihung statt. Sinnigerweise blickt Hermann nicht nach Süden zum römischen Italien, sondern nach Südwesten – in Richtung Frankreich. Auf einer Tafel am Fuß der Statue wird Frankreich als „Erzfeind“ bezeichnet.
Die nationale Glorifizierung der Schlacht im Teutoburger Wald blieb nicht unwidersprochen. Im Gegensatz zu Kleist war für Heinrich Heine in seinem Versepos Deutschland – ein Wintermärchen das Ereignis Gegenstand satirischer Betrachtung. Wie Kleist war auch Heine ein Außenseiter der Gesellschaft, aber aus völlig anderen Gründen. Kleist entstammte einer distinguierten preußischen Familie mit berühmten Militärs als Mitgliedern, während Heine jüdischer Herkunft war und zudem, als Radikaler, guthieß, was Napoleon den von ihm besetzten deutschen Territorien an politischem Fortschritt bescherte. Heine verbrachte fast die Hälfte seines Lebens in Paris. Seine satirische Reise durch ein politisch reaktionäres Deutschland von 1844 – vier Jahre vor der Revolution, die dann scheitern sollte – führt ihn auch zu der Baustelle, wo das Hermannsdenkmal entsteht:
Das ist der Teutoburger Wald,
Den Tacitus beschrieben,
Das ist der klassische Morast,
Wo Varus steckengeblieben.
Hier schlug ihn der Cheruskerfürst,
Der Hermann, der edle Recke;
Die deutsche Nationalität,
Die siegte in diesem Drecke.
Wenn Hermann nicht die Schlacht gewann
Mit seinen blonden Horden,
So gäb’ es deutsche Freiheit nicht mehr,
Wir wären römisch geworden!
[…]
Wir hätten Einen Nero jetzt,
Statt Landesväter drei Dutzend,
Wir schnitten uns die Adern auf,
Den Schergen der Knechtschaft trutzend.
[…]
Gottlob! Der Hermann gewann die Schlacht,
Die Römer wurden vertrieben,
Varus mit seinen Legionen erlag,
Und wir sind Deutsche geblieben.
[…]
O Hermann, dir verdanken wir das!
Drum wird dir, wie sich gebühret,
Zu Detmold ein Monument gesetzt;
Hab selber subskribieret.
Heines satirische Strophen änderten nichts daran, dass Hermann im späten 19. Jahrhundert zum Volkshelden wurde. Im deutschen Pantheon erhielt er Gesellschaft durch Friedrich Barbarossa, den letzten der deutschen Kaiser des Mittelalters, der noch mit Macht die deutschen Lande regierte. Nun aber schlief er in einer Höhle tief im Kyffhäuser. Eines Tages aber würde er auferstehen, um all jene zu bestraffen, die für das Unglück des deutschen Volkes verantwortlich waren. Im 19. Jahrhundert war die Legende durch das faszinierte Interesse am deutschen Mittelalter zu neuem Leben erwacht. Zwar gibt es Parallelen in der englischen Literatur – Ossian, die Romane von Walter Scott, die Legende von König Arthur – und auch in Frankreich weckte Victor Hugos Roman Der Glöckner von Notre Dame das Interesse am Mittelalter. Doch im deutschen Kaiserreich wurde die Barbarossa-Legende zum Mythos, der die neue Identität entscheidend beeinflusste.
Noch vor der Reichseinigung hatten die Romantiker ihre Hoffnungen auf ein vereintes und gestärktes Deutschland mit der Barbarossa-Legende in Verbindung gebracht. Friedrich Rückert, ein Dichter, dessen anmutig fließende Verse deutsche Komponisten von Schubert bis Mahler zu Vertonungen angeregt haben, schrieb jenes Gedicht, das die Barbarossa-Legende für das 19. Jahrhundert festschrieb:
Der alte Barbarossa,
Der Kaiser Friederich,
Im unterird’schen Schlosse
Hält er verzaubert sich.
Er ist niemals gestorben,
Er lebt darin noch jetzt;
Er hat im Schloss verborgen
Zum Schlaf sich hingesetzt.
Des Reiches Herrlichkeit,
Und wird einst wiederkommen
Mit ihr, zu seiner Zeit.
Gefühlsmäßig aufgeladener war das Stück Kaiser Friedrich Barbarossa (1829) des jungen Dramatikers Christian Dietrich Grabbe, das die vielschichtige Beziehung des Kaisers zu seinem politischen Hauptrivalen Heinrich dem Löwen zum Gegenstand hat. Häufig kreisten Grabbes Stücke um Themen im Bannkreis des neuen deutschen Nationalismus – er schrieb wie Kleist eine Hermannsschlacht, ebenso wie ein Stück über Napoleons berühmte 100 Tage nach der Flucht von Elba. Stilistisch war er stark von Shakespeare und dem „Sturm und Drang“ des späteren 18. Jahrhunderts beeinflusst. Seine Stücke sind bisweilen von einer Grandiosität, die eine Aufführung nahezu unmöglich macht (obwohl andererseits der schnelle Wechsel von kurzen Szenen gewisse Techniken des modernen Dramas vorwegnimmt). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Grabbes Barbarossa häufiger aufgeführt. Seine Themen wie auch sein Antisemitismus kamen den NS-Ideologen gut zupass.
Im Kaiserreich wurde Barbarossa zu einer Art Wächter oder Schutzengel. Er taucht an der Berliner Siegessäule auf, mit deren Bau nach dem Sieg über Dänemark 1864 im Krieg um Schleswig-Holstein begonnen wurde. Die Säule wurde 1873 vollendet, nachdem die Franzosen geschlagen und das Kaiserreich gegründet worden war. Barbarossa ist auch in den Mosaiken des alten Turms der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu finden, die zu Beginn der 1890er-Jahre errichtet wurde. Natürlich war es willkürlich, eine Verbindung vom Kaiser des mittelalterlichen Reichs zu den Herrschern des Kaiserreichs von 1870 zu ziehen. Aber einige patriotische Schriftsteller waren kühn genug, zu behaupten, dass die neuen – und entschieden unromantischen – Gestalten ein lebender Beweis für die Wahrheit der Legende seien, Barbarossa also tatsächlich erwacht sei, um Deutschland in schwerer Stunde beizustehen. Der alte Kaiser Wilhelm I. wurde sogar liebe- und bedeutungsvoll Barbablanca – Weißbart – genannt. Der Mythos „Barbarossa“ hatte im Vorfeld des Ersten Weltkriegs auf ein patriotisches Deutschland sicherlich den nämlichen Effekt wie Lawrence Olivier in seiner Rolle als Heinrich V. in der Schlacht von Agincourt für Großbritannien im Zweiten Weltkrieg.
Zur selben Zeit, da die Gedächtniskirche in Berlin fertiggestellt wurde, errichtete man bei den Überresten der alten Reichsburg Kyffhausen in Thüringen ein riesiges Barbarossa-Denkmal. Dort sitzt der Kaiser, schwer vor sich hinbrütend, gerade aus langem Schlaf erwacht, und elf Meter über ihm das Reiterstandbild Wilhelms I. Darüber ein 57 Meter hoher Turm mit einer Kaiserkrone als Spitze. Der Turm überragt die bergige Umgebung und ist schon aus weiter Entfernung sichtbar. Dieses so monumentale wie unschöne Ensemble wies überdeutlich darauf hin, dass der alte Kaiser Wilhelm der Vater des neuen Kaiserreichs ist, das so ruhmvoll werden würde, wie das Alte Reich zu Barbarossas Zeit gewesen war.
Bezeichnenderweise blickt Barbarossa auf dem Kyffhäuser nach Osten, nicht nach Süden. Während die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, darunter auch Barbarossa, sich nach Italien orientierten, hatte sich das deutsche Streben im wilhelminischen Deutschland nach Osten gewandt. Darin zeigte sich die Dominanz Preußens, das immer noch vom Drang der Deutschordensritter beeinflusst war. Der Osten war das Kernland des Königreichs Preußen; seine östlichen Gebiete waren die Bastion einer konservativen Gesellschaft, die nach dem Scheitern der Revolution von 1848 fast einhundert Jahre lang das öffentliche Leben in Deutschland bestimmen sollte. Diese Gesellschaft pflegte das Bewusstsein, jahrhundertelang in einem von Feinden umgebenen Land zu leben – lange, bevor das Kaiserreich dieses Bewusstsein für sich übernahm. In den 1870er-Jahren wurden rund um Königsberg nicht weniger als 15 Festungen zur Verteidigung angelegt; das Geld dafür stammte aus französischen Reparationszahlungen. Und im 20. Jahrhundert erhielt die NSDAP nirgendwo mehr Stimmen als in Ostpreußen.
Der Verlust der Ostgebiete nach 1945 hat über den 700 Jahre währenden Drang nach Osten einen Schleier der Nostalgie gelegt. Dieser Drang war eine seltsame Mischung aus zivilisatorischer Mission, Furcht vor „asiatischen Horden“ und der Sehnsucht nach weiten Räumen, die man kultivieren konnte. Gerade hier – und gerade weil es um Land ging, das in blutigen Kämpfen erobert werden musste – besaß die Ideologie von „Blut und Boden“ wirkliche Macht über die deutsche Vorstellungskraft, hier mehr als anderswo in Deutschland. Den Osten malte man sich in Gestalt von hübschen Städtchen, bewohnt von Deutschen, umgeben von Feldern, fruchtbar gemacht durch Kulturarbeit (ein nahezu unübersetzbares Wort, das die ganze disziplinierte, pflichtbewusste Wissenskraft, die in die Arbeitsleistung eingeht, umfasst), inmitten von sanft gewellten Landschaften mit Wäldern und Seen – nicht zu vergessen die epischen Schlachten, die gegen die Slawen mal gewonnen und mal verloren wurden. Symbol dieses deutschen Drangs nach Osten war die Marienburg – die große Festung der Ordensritter vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Sie wurde im 19. Jahrhundert aufwendig restauriert – Deutschland versicherte sich seiner Wurzeln. 1903 konnte Kaiser Wilhelm II. mit allem Pomp die Fertigstellung feiern. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Marienburg schwer beschädigt, als die SS den Vormarsch der Roten Armee aufzuhalten suchte. Danach wurde sie wieder restauriert – diesmal von den Polen, in deren Land sie jetzt steht.
Aus Mein Kampf geht hervor, dass Hitler diese strategische Ausrichtung nach Osten voll und ganz befürwortete. Die Deutschen brauchten, so die Begründung, Lebensraum*; hinzu trat ein ethnisch ausgerichteter Darwinismus (beide waren, wie wir noch sehen werden, nicht Hitlers eigene Ideen):
Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewusst einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft.
Hitler unterstrich diesen Strategiewechsel, als er seinem militärischen Großvorhaben – dem Überfall auf die Sowjetunion – den Codenamen „Unternehmen Barbarossa“ gab. Das ostwärts orientierte Barbarossa-Denkmal zeigt, dass Hitler diese Strategie nicht aus dem Hut zauberte, sondern an eine Neuausrichtung deutscher Identität anknüpfte, die allerdings vor Jahrhunderten in Ostpreußen gegründet worden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten manche das Kyffhäuser-Denkmal in die Luft sprengen, seltsamerweise jedoch verbot es der damalige russische Kommandant vor Ort. Immerhin vertrieb der grauenhafte Fehlschlag des „Unternehmens Barbarossa“ diesen Mythos ein für alle Mal aus dem deutschen Bewusstsein.
Im Hintergrund der Mythen von Barbarossa und Hermann/Arminius stand der deutsche Wald. Die Identität eines Landes hängt eng mit seiner Geografie zusammen, auch wenn das Land stark urbanisiert ist. Für die Briten ist immer noch das Meer eine bestimmende Macht in der folkloristisch gefärbten Erinnerungskultur; für Russland sind es die Steppen, für China die großen Ströme. Die gleichermaßen starken Erinnerungen und Vorstellungsbilder der Deutschen ranken sich vor allem um die Wälder. Sie haben das Bewusstsein in langen Jahrhunderten auf die eine oder andere Weise geprägt und ihre Spuren in der Seele, Kultur und Geschichte der Deutschen hinterlassen. Heine hat einmal gesagt, die geheime Religion der Deutschen sei der Pantheismus – ein Kommentar, der, so sehr er auch zu Missverständnissen Anlass geben mag, doch eine bedeutsame Wahrheit über die deutsche Seele enthüllt.
Noch heute ist Deutschland ein Land voller Wälder. Obwohl die Bevölkerungsdichte so hoch ist wie in Großbritannien und doppelt so hoch wie in Frankreich, ist der Waldbestand höher als in Frankreich und dreimal so hoch wie in Großbritannien. Die Wälder haben im Gedächtnis der Bevölkerung immer eine doppelte Rolle gespielt – sie dienten (und dienen) den Deutschen zur Erholung und sie sind Orte, an denen düstere und gewalttätige Dinge sich ereignen.
Seit Arminius sind die Wälder in der deutschen Geschichte, in den Geschichten, die über die Deutschen erzählt werden, präsent. Für Tacitus, der über die Niederlage des Varus schreibt, sind sie endlos, undurchdringlich und verräterisch, während sie für die Deutschen Schutz und Sicherheit bedeuteten. Als Luther auf Befehl des sächsischen Kurfürsten zu seiner eigenen Sicherheit in der Wartburg an der Bibelübersetzung sitzt, kann er aus dem Fenster die bewaldeten Berge und Hügel der Landschaft Thüringens überblicken. Auch dienten die Wälder lustvollen Betätigungen. Gemälde deutscher Künstler seit Lukas Cranach zeigen häufig Jagdszenen; und ab dem späten 19. Jahrhundert wird in ihnen gewandert. Das war der Sport der neuen Zivilisation – in diesem Sinn betätigte sich die Wandervogelbewegung, mit der große Gruppen von jungen Menschen aus den Städten in die Wälder zogen, um die Nähe der Natur zu suchen und sich dadurch geistig und seelisch zu erneuern.
Wälder aber waren auch die Stätte von bedrohlichen und unheimlichen Phänomenen. Die Bewohner dörflicher Gemeinschaften hielten die Wälder für von Geistern bewohnt, deren Verhalten unvorhersehbar und bösartig sein konnte. Und für die Romantiker des 19. Jahrhunderts, die ein starkes Gespür der Ehrfurcht vor den Geheimnissen der Natur hatten, waren die Wälder jener Ort, an dem die Begegnung mit der so verstandenen Natur möglich wurde – davon zeugen, um ein Beispiel zu nennen, einige der tiefsinnigsten Bilder von Caspar David Friedrich. Der Blick fällt auf bewaldete Berge, eingehüllt in Nebelschwaden oder in Mondlicht, bisweilen taucht eine gotische Ruine auf, die mit ihrer natürlichen Umgebung verwachsen scheint: Diese Bilder waren Darstellungen einer deutschen Seelenlandschaft (und so können wir sie auch heute noch verstehen), wie andererseits die Landschaftsbilder von John Constable (eines Zeitgenossen Friedrichs) mit ihren zumeist alltäglichen Szenen und tageslichtnahen Farben die englische Seele spiegeln.
Wälder konnten auch die Szenerie für alle möglichen seltsamen Begegnungen in Volkserzählungen abgeben, ein Schatz, den vor allem die Brüder Grimm hoben. Jacob und Wilhelm Grimm waren hauptsächlich als Universitätslehrer tätig. Noch als Studenten an der Universität Marburg lernten sie durch einen ihrer Professoren Achim von Arnim und Clemens Brentano mit ihrer Sammlung von Volksliedern namens Des Knaben Wunderhorn kennen und durch sie die Forschungen Johann Gottfried Herders. Die Beschäftigung mit deutscher Volkskultur ließ sie nie wieder los. 1812 veröffentlichten sie den ersten Band der Kinder- und Hausmärchen, deren Bestand in folgenden Ausgaben überarbeitet und erweitert wurde. Mit der Verbreitung der Hausmärchen wuchs auch der Ruhm der Grimms. Viele der Märchen sind in das kulturelle Erbe der Welt eingegangen: Rotkäppchen, Hänsel und Gretel, Schneewittchen und die sieben Zwerge, Aschenputtel, Der Froschkönig, Dornröschen und viele andere. Der Einfluss auf die deutsche Kultur war beträchtlich: Die Kinder- und Hausmärchen wurden in den preußischen Lehrplan für Schulen aufgenommen, und später forderten NS-Kulturideologen, dass jeder deutsche Haushalt ein Exemplar besitzen solle. Seit dem Kaiserreich war es in vielen Familien das beliebteste Buch nach der Bibel.
In vielen dieser Märchen spielt Gewalt eine große Rolle; in ihrer originären Form können sie – jedenfalls unter Berücksichtigung heutiger Empfindlichkeiten – für Kinder, die doch ihr eigentliches Zielpublikum sind, als ungeeignet erscheinen. So gibt es z.B. in „Rotkäppchen“ wie auch in „Hänsel und Gretel“ Elemente von Grausamkeit und Gewalt, und die Versionen von „Schneewittchen“ und „Der Froschkönig“ sind in der uns heute vertrauten Form sorgfältig von allen möglichen Anstößigkeiten gesäubert worden (vor allem in den Disney-Filmen).
Die Wälder tauchen in so vielen dieser Märchen auf, weil sich in ihnen die Lebensform einer ländlichen Gesellschaft spiegelt. Mit ihren Lichtungen und dann wieder dichten Baumbeständen, wo Geister und wilde Tiere lauern und Menschen sich ausweglos verirren können, stellten sie eine fortwährende existenzielle Bedrohung dar. Im 19. Jahrhundert waren diese atavistischen Ängste zwar auf dem Rückzug, doch konnten die Märchen immer noch ein Kind erschauern lassen. Und vielleicht spürten sogar aufgeklärte Stadtbewohner, dass sie hier auf tief im Gedächtnis begrabene Überlieferungen stießen, die immer noch Albträume verursachen konnten.
Es gibt noch weitere Beispiele für den Einfluss des Waldes auf deutsche Kulturschöpfungen im 19. Jahrhundert. Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz, uraufgeführt 1821, war sofort ein Riesenerfolg in Deutschland, später auch im übrigen Europa. Das Libretto beruht auf einer deutschen Volkssage und erzählt von den Bemühungen des Jägerburschen Max, die Hand seiner geliebten Agathe, der Tochter des Erbförsters Kuno, zu gewinnen. Nachdem er zunächst bei einem Schützenfest als Schütze versagt hat, lässt er sich auf eine gefährliche Liaison mit dem finsteren Kaspar, dem ersten Jägerburschen, ein. Kaspar hat mit dem Teufel eine Art faustischen Pakt geschlossen und bietet Max an, ihn in die Wolfsschlucht zu führen, wo ein böser Geist ihm zauberkräftige „Freikugeln“ gießen wird. Die siebte und letzte Kugel tötet scheinbar seine Geliebte, wird aber wundersamerweise umgelenkt und trifft stattdessen Kaspar, der dem Teufel verfallen ist. Max soll Buße tun und ein Jahr warten, bis er Agathe mit Erlaubnis von Fürst Ottokar heiraten darf.
Dank Webers kompositorischen Könnens wird aus der eher trivialen Vorlage ein hochemotionales Meisterwerk, ein natürlicher wie übernatürlicher Kampf zwischen Gut und Böse. Weber bedient sich mancher Motive, die tief in die deutsche Seele mit ihren Erinnerungen an die Wälder (und an den faustischen Pakt) eingelassen sind. Die Wolfsschluchtszene gehört zu den in ihrer Schaurigkeit überzeugendsten musikalischen Porträts des Übernatürlich-Bösen, die je komponiert worden sind.
Düster sind auch die mit einem anderen Waldversteck verbundenen Umstände: Hitler verbrachte die meisten Kriegstage weder in Berlin noch in seinen geliebten Berchtesgadener Bergen, sondern in der „Wolfsschanze“ tief in den Wäldern Ostpreußens. Die Assoziation mit der „Wolfsschlucht“ drängt sich geradezu auf.
So wachsen die Wälder in das Historische, das Legendäre oder das ganz und gar Imaginäre hinein: Hermann im Teutoburger Wald, Barbarossa in seiner Höhle, Webers Freischütz, schließlich der emotional so berührende erste Akt von Richard Wagners Die Walküre. Der Einfluss von Webers Oper auf den jungen Richard Wagner ist deutlich erkennbar. Und Wagner widmete wie kein Zweiter seine Musik der anderen großen landschaftlichen Prägeform, die für die Entwicklung der deutschen Identität im 19. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung war: dem Rhein. Dieser Fluss bildet den Hintergrund für Wagners großen Opernzyklus Der Ring des Nibelungen. Die bemerkenswerten 137 Eingangstakte des ersten Teils dieses Zyklus, Das Rheingold, beschwören den ewig rollenden Strom, der den Strebungen und Zielen von Göttern und Menschen so gleichgültig davonströmt wie nichts sonst auf der Welt.
Im Reich Karls des Großen war der Rhein der große zentrale Verkehrsweg. Nach der Spaltung des Frankenreichs wurde er zum Gegenstand von Konflikten – war er Deutschlands Strom oder eine von den Franzosen kontrollierte Grenzzone? Das deutsche Bewusstsein kannte die Antwort. Die strategische Bedeutung des Rheins zeigt sich schon in den vielen märchenhaft aussehenden Burgen und Schlössern an seinen Ufern und im Umkreis. Dazu gehört die spektakuläre Hohkönigsburg, die jetzt im französischen Elsass liegt. Kaiser Wilhelm II. ließ sie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sorgfältig restaurieren, als das Elsass ein Reichsland* war. Hohkönigsburg war im 12. Jahrhundert unter Barbarossas Vater erbaut worden, um die Westflanke der Reichsgebiete zu schützen. Im Dreißigjährigen Krieg hatten schwedische Truppen die Burg belagert, erstürmt und niedergebrannt. Als sie Ende des 19. Jahrhunderts Wilhelm II. von der Stadt Schlettstadt geschenkt wurde, war sie nur eine Ruine. Ihre Wiederherstellung war, wie die der Marienburg, ein Zeichen für die sorgsame Pflege des Mythos vom mittelalterlichen Kaiserreich durch das neue Reich.
Mehr als jeder andere große europäische Strom zog der Rhein die Aufmerksamkeit der Romantiker auf sich. Deutsche Dichter widmeten ihm im 19. Jahrhundert eine Unzahl von Gedichten. Die meisten waren nichts Außergewöhnliches und einige sind von jener Art idyllischer Volkstümlichkeit wie etwa „Old Father Thames“ im englischen Kontext. Aber einige Gedichte ragen heraus. Zwei von ihnen verdanken wir zwei der bedeutendsten literarischen Gestalten Deutschlands.
Hölderlins Hymne „Der Rhein“ (entstanden 1801) ist in seiner Aura mit „Germanien“ vergleichbar. Der Rhein entspringt in den Bergen, stürzt durch Wälder und über gefährliche Fälle, bis er ruhig durch bebautes Land fließt, vorbei an „Städten, die er gegründet“. Hölderlin spricht aber durch den „Vater Rhein“ vom Verlust der Götter und einem dennoch gebliebenen Sehnen nach dem Aufstieg in geistige Höhen, das sich niemals mit der Häuslichkeit alltäglichen Lebens bescheiden kann. Er zeichnet den Fluss als Halbgott, der, den Turbulenzen seiner frühen Zeit entronnen, seinen Frieden in der Fruchtbarkeit und Schöpferkraft der Regionen findet, die er durchfließt. Doch kann er seinen Ursprung nicht vergessen und nicht vermeiden das Streben nach Unsterblichkeit. Der Preis seiner Sehnsucht aber ist die Zerstörung all dessen, was er kennt und liebt.
Es haben aber an eigner
Unsterblichkeit die Götter genug, und bedürfen
Die Himmlischen eines Dings,
So sind’s Heroen und Menschen
Und Sterbliche sonst. Denn weil
Die Seligsten nichts fühlen von selbst,
Muß wohl, wenn solches zu sagen
Erlaubt ist, in der Götter Namen
Teilnehmend fühlen ein andrer,
Den brauchen sie; jedoch ihr Gericht
Ist, daß sein eigenes Haus
Zerbreche der und das Liebste
Wie den Feind schelt und sich Vater und Kind
Begrabe unter den Trümmern,
Wenn einer, wie sie, sein will und nicht
Ungleiches dulden, der Schwärmer.
Wie sonst, sind auch hier Hölderlins Gedanken kaum in einfachen Worten auszudrücken. Aber in dieser so sehr deutschen Vision des Rheins macht sich das Verlangen nach einem Absoluten, Ungeteilten, Ewigen bemerkbar – doch gibt es auch ein Bewusstsein davon, dass das Streben nach Gleichheit mit den Göttern einen schrecklich hohen Preis kosten und letztlich nicht einzulösen sein wird. Eine drohende deutsche Tragödie wirft ihren Schatten voraus, und das erscheint aus späterer Perspektive umso scharfsichtiger.
Zwei Jahrzehnte später entstand Heines Gedicht über die „Lore-Lei“, das dann im Buch der Lieder veröffentlicht wurde und sich an eine Ballade von Clemens Brentano anlehnt. Bei Heine wird die Loreley zu einer Art von Sirene, die an der engsten und gefährlichsten Stelle des Rheins die Männer mit ihrem Gesang in den Tod lockt. Wo Hölderlin die Möglichkeit des Absoluten erspäht – und der Tragödie für diejenigen, die versuchen, es zu ergreifen –, zeigt Heine die Bedrohlichkeit des Schönen. In beiden Gedichten schwingt ein Unterton von Verhängnis und Melancholie mit, der sein Echo in der deutschen Seele findet. Während aber Hölderlins Hymne die Komplexität moderner Dichtung aufweist, bevorzugt Heine die (täuschende) Einfachheit des von einem Meister geschriebenen Volkslieds:
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar,
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme,
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore-Lei getan.
Deutet Hölderlin den Rhein als Metapher für das gefährliche Streben der Menschen nach Unsterblichkeit, so ist er bei Heine eine Metapher für das im Schönen lauernde Bedrohliche. Aus späterer Sicht wirken beide, als beschwörten sie – unabsichtlich – das Unheil.
Doch schon bald wurde der Rhein für die Deutschen zum Symbol einer sehr greifbareren Bedrohung ihrer fragilen Identität – befürchtet wurde ein Angriff des Erzfeindes. Im späten 19. Jahrhundert zeugte das überaus populäre Lied „Die Wacht am Rhein“ vom Gefühl der Verwundbarkeit und dem Bewusstsein nationaler Bestimmung in Deutschland. Der Text war 1840 von einem schwäbischen Kaufmann namens Max Schneckenburger verfasst worden. Zu dieser Zeit betonte die französische Regierung, dass der Rhein Frankreichs natürliche Grenze sein solle. Vor diesem Hintergrund war das Gedicht Ausdruck eines machtvollen neuen Geistes in Deutschland – eines Geistes, der gleichermaßen vom Groll über die lange Geschichte französischer Übergriffe auf das Rheinland wie von der leidenschaftlichen Sehnsucht nach politischer Einheit geprägt wurde. Dieser Geist befeuerte Ehrgeiz und Hoffnung der Deutschen in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg.
1854 wurde das Gedicht von Karl Wilhelm, seines Zeichens Chorleiter in Krefeld, vertont und geriet bald zu einer Art inoffizieller Nationalhymne. Die Verse finden sich auf dem Niederwalddenkmal bei Rüdesheim am Rhein, das 1883 zur Feier der Reichseinigung von 1871 errichtet worden war. Hier hält die Statue der Germania Kaiserkrone und Schwert, und im Hauptrelief unterhalb des Sockels ist Kaiser Wilhelm I., begleitet von den führenden Fürsten und Militärs des Kaiserreichs, in Lebensgröße dargestellt. Und unter dem Hauptrelief ist der Text der „Wacht am Rhein“ eingemeißelt:
Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall,
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein,
Wer will des Stromes Hüter sein?
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein,
Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein!
Von Hölderlins mysteriös-komplexer Rheinhymne über die unheimliche Einfachheit von Heines „Lore-Lei“ bis zur „Wacht am Rhein“ – wir werden noch sehen, wie der völkische Geist sich von grellen Trivialitäten wie diesem Lied nährte, das logischerweise auch im „Dritten Reich“ überaus beliebt war. Zudem gibt es eine ironische Variante: In dem Filmklassiker Casablanca aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs findet sich die berühmte Szene, in der deutsche Offiziere die „Wacht am Rhein“ anstimmen, dann aber mit Billigung des Cafébesitzers Rick Blaine (wunderbar gespielt von Humphrey Bogart) durch die „Marseillaise“, mit patriotischer Inbrunst gesungen von den Franzosen, übertönt werden. (Die Marseillaise war, wie wir gesehen haben, ursprünglich das Kriegslied der französischen Invasionsarmeen im Rheinland.)
Diese Landschaften mit ihren Mythen und Erinnerungen – die Wälder und der Rhein – waren von prägender Bedeutung für die deutsche Seele, auch aufgrund ihres tragischen Untertons. Sie bilden Szenerie und Hintergrund für eine mythische Gestalt, die für das deutsche Selbstverständnis eine wichtige Rolle spielen sollte (und deren Geschichte weltweite Resonanz erfuhr, weil sie in eine künstlerische Schöpfung allerersten Ranges Eingang fand): Siegfried.
Das Nibelungenlied, ein vielschichtiges, auf altgermanischen und nordischen Sagen beruhendes, in mittelhochdeutscher Sprache verfasstes Epos ohne erkennbaren historischen Kern rückte seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts immer stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Auch Hegel äußerte sich bereits dazu, meinte aber, es sei von geringerer kulturuniverseller Bedeutung als die Ilias – ein zweifellos richtiges Urteil. Das Lied erzählt von der schwierigen Beziehung zwischen verschiedenen hochadligen Personen. Da ist Gunther, der König von Burgund, Siegfried, der Kronprinz von Xanten, Kriemhild, Gunthers Schwester, die später Siegfried heiratet, und Brünhild, eine isländische Königin, die mit Siegfrieds Unterstützung Gunther zuerst im Wettkampf besiegt und dann heiratet. Eifersucht und Misstrauen führen zu Siegfrieds Tod durch Hagens Hand. Hagen, ein Gefolgsmann von Gunther, vollbringt die Tat mit Wissen Gunthers und der unabsichtlichen Hilfe Kriemhilds. Siegfried ist, wie Achilles, unverwundbar bis auf eine Stelle, die Hagen zielgerecht mit dem Speer durchbohrt – das wird zu einem der bedeutendsten Ereignisse im deutschen Mythos. Hagen bemächtigt sich des Schatzes, der eigentlich Siegfried gehört, und versenkt ihn im Rhein, um zu verhindern, dass er gegen Hagen oder Gunther verwendet wird. Kriemhild wälzt Rachepläne und fordert ihren Bruder auf, Hagen auszuliefern. Der aber und die anderen Brüder verweigern dies, weil sie die Pflicht zu völliger Loyalität gegenüber Hagen als Vasallen des Königs haben – das ist die Nibelungentreue. Jahre später lädt Kriemhild, nunmehr Gattin von König Etzel, ihre Brüder und Hagen mit deren Heer zu sich ein. Es kommt zum Kampf auf Leben und Tod; Gunther und Hagen sterben in der Festhalle, in die sie geladen wurden, und schließlich wird auch Kriemhild umgebracht, weil sie ihre Pflicht gegenüber den Gästen wie auch ihren Blutsverwandten verletzt hat.
Richard Wagner machte daraus den Ring der Nibelungen, wobei er die Geschichte substanziell verändert und universalisierend erweitert. Er greift auf nordische Sagen zurück, um die Götter ins Spiel zu bringen; zudem sind die Rheintöchter, die am Anfang und am Ende des Zyklus auftreten, Wagners eigene Erfindung. Gunther und Kriemhild (die bei Wagner „Gutrune“ heißt) spielen eher Nebenrollen, und das Ende ist nicht einfach die blutige Niederlage der Nibelungen, sondern die Götterdämmerung, die „ragnarök“, das Schicksal der Götter – ein bestimmendes Element der nordischen Mythologie: die vollständige Vernichtung der Welt mitsamt den Göttern im Feuer als Vorspiel zu einer neuen Ära von Frieden und Überfluss.
Nur allzu leicht ließe sich Wagners außergewöhnliches und einzigartiges Werk als Quelle der Energie für die Bestrebungen des Kaiserreichs und dann des „Dritten Reichs“ verstehen. Aber das hieße, den tief gehenden Pessimismus zu übersehen, mit dem Wagner die Frage der Macht behandelt: Siegfried stirbt, Hagen wird besiegt, und schließlich sterben auch die Götter im alles vernichtenden Feuer. Wotan ist im Ring des Nibelungen eine eher zwielichtige Gestalt, deren Machtgelüste schließlich zur Weltkatastrophe führen. Nur der Rhein strömt, unberührt von den Zeitläuften, weiter, und das blutige Schlachten endet erst, als der Ring in die Tiefe des Stroms zurücksinkt. Mögen die letzten Takte der Götterdämmerung auch von Erlösung künden, so ist das doch nicht mehr als eine vage Hoffnung, die nur möglich wird, weil Brünnhilde in einem letzten Opfergang in die Flammen geritten ist. Diese Version von „ragnarök“ ist von der Großspurigkeit des Kaiserreichs ebenso weit entfernt wie von dem verheerenden Ehrgeiz des „Dritten Reichs“, der im Mai 1945 zu dessen Vernichtung führte. In Hitlers „politischem Testament“ steht kein Wort von der Korrumpierbarkeit der Macht, geschweige denn vom Bösen oder irgendeiner Möglichkeit erlösender Hoffnung.
Allerdings versorgten sowohl das Nibelungenlied als auch Wagners Ringzyklus die politische Kultur Deutschlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Denkbildern, die benötigt wurden, um angesichts der zunehmend gefährlicher und blutiger werden internationalen Verstrickungen Begeisterung zu wecken und die Kampfmoral aufrechtzuerhalten. Besonders die „Nibelungentreue“* wurde für die Außenpolitik der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg fast zum Leitmotiv. 1909 berief sich der damalige Reichskanzler Bernhard von Bülow explizit darauf, um während einer der zahlreichen Balkankrisen, die schließlich zum Krieg führten, Deutschlands Unterstützung für Österreich-Ungarn zu rechtfertigen. Und im Geiste eben dieser Nibelungentreue* versprach Wilhelm II. am 5. Juli fatalerweise den Österreichern unbedingte Unterstützung, nachdem sein Freund, Erzherzog Franz Ferdinand, in Sarajewo erschossen worden war. Später erhielt die im Winter 1916/17 an der Westfront errichtete Verteidigungslinie den Namen „Siegfried“.
Nach der Niederlage wird der Stoß in den Rücken zum Leitmotiv der Zwischenkriegspolitik. Hitler ist nicht der Erste, der diese Metapher mit Begeisterung in Mein Kampf verwendet. Geprägt wurde sie zuerst von Erich Ludendorff. Demnach waren die deutschen Armeen nicht besiegt, sondern heimtückisch von hinten (durch die bürgerlichen Politiker) ‚ermordet‘ worden. Zunehmend gewann die Dolchstoßlegende* in rechtsgerichteten und militärischen Kreisen an Zustimmung, und allmählich breitete sich die Verbindung zur Nibelungensage und zu Siegfried auch in der Bevölkerung aus. Dass aus dem Speer ein Dolch wurde, macht die Untat noch heimtückischer, denn der Speer ist für alle sichtbar, während der Dolch aus dem Verborgenen aufblitzt – die ideale Waffe für doppelzüngige zivile Politiker. Die Wiener Universität errichtete für ihre Kriegsgefallenen ein Denkmal in Form einer Büste des toten Siegfrieds – ein wenig subtiler Hinweis auf die Dolchstoßlegende.
Im Zweiten Weltkrieg wurden Nibelungentreue und Siegfrieds Loyalität und Heldentum rücksichtslos zu Vorbildern stilisiert – am zynischsten während der grauenhaften letzten Wochen der Schlacht um Stalingrad, als Göring explizit die Entschlossenheit des Nibelungenheers, bis zum Ende zu kämpfen, ins Feld führte:
Auch sie standen in einer Halle von Feuer und Brand und löschten den Durst mit dem eigenen Blut – aber kämpften und kämpften bis zum Letzten.22
Im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung war der Siegfried-Mythos so mächtig, dass er sogar von Widerstandskämpfern verwendet wurde. Nicht zufällig griffen die Verschwörer vom 20. Juli auf die Bilderwelt von Wagners Ring zurück, als sie ihren Plan zur Tötung Hitlers den Codenamen „Operation Walküre“ gaben – in Anspielung auf Brünnhilde, deren Selbstaufopferung die Erlösung möglich macht. Nach dem Krieg hieß es in der Todesanzeige einer Opferorganisation (1947), die Verschwörer
… starben den Heldentod im freien, ehrenvollen Kampfe für Wahrheit und Recht, für des Deutschen Volkes Freiheit, für der Deutschen Waffen Reinheit und Ehre, als bewusste Sühne für das vor Gott verübte Unrecht unseres Volkes …
Für Hitler hätten die Angehörigen der Sechsten Armee bei Stalingrad wie das Heer der Nibelungen bis zum Ende kämpfen und sich lieber selbst das Leben nehmen als sich ergeben sollen. Und mehr noch: Solches wäre auch die Pflicht des gesamten deutschen Volkes. Die Alliierten hatten die bedingungslose Kapitulation gefordert – auch um jegliche Wiederholung der Dolchstoßlegende zu vermeiden. Doch für Hitler konnte es keine Kapitulation geben. Das Resultat war dann tatsächlich eine Art von Götterdämmerung* – die Opferung von Deutschland.
Immerhin starb, wie zuvor schon der Mythos von Barbarossa, nun auch in der Stunde Null der Siegfried-Mythos. Zwar lebt der Mythos an sich noch fort – und trotz Hegels abschätzigem Urteil lebenskräftiger vielleicht als die Ilias –, aber nicht als politische Kraft, sondern aufgrund von Wagners unübertrefflicher Musik.
Nicht alle Mythen wurzeln in uralten Zeiten. Deutschlands führende Herrscherpersönlichkeit des 18. Jahrhunderts, Friedrich der Große, wurde schon zu Lebzeiten Gegenstand von Heldenverehrung, mehr aber noch nach seinem Tod. Zweifellos war er ein für das Kaiser- wie für das „Dritte Reich“ passendes Idol. Immerhin war er eine Gestalt der frühen Moderne, nicht des Mittelalters oder der Legende, und er konnte selbst für die Darstellung seiner Person in der Öffentlichkeit sorgen, so, wie es Hitler später auf brillante Weise gelang. Friedrich II. war Alleinherrscher und zugleich der „erste Diener des Staates“; er regierte absolutistisch, war aber an der Philosophie der Aufklärung interessiert, war ein Atheist, der an Luthers Forderung, der Fürst habe die Pflicht, zu herrschen, nichts auszusetzen gehabt hätte. Er war ein begabter Flötenspieler und Komponist, ein tapferer Soldat, der mit seinen Leuten in die Schlacht zog, ein Landesherr, der unermüdlich seine Gebiete bereiste, um mit den gewöhnlichen Leuten über ihre Nöte und Bedürfnisse zu sprechen, schließlich der Alte, der mit seinen geliebten Windhunden allein im Schloss Sanssouci bei Potsdam wohnte.
Nach seinem Tod wurde die Aura, die ihn umgab, sogar noch heller. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Er war der Held, den der kleine, mit Zinnsoldaten spielende Junge ebenso verehren konnte wie die Elite, die das neue Deutschland auf seinem Sonderweg ins 20. Jahrhundert sah: stark, gut organisiert, entschlossen und ehrgeizig, aber auch kultiviert und zivilisiert. 1851 wurde auf dem Berliner Prachtboulevard Unter den Linden eine Reiterstatue Friedrichs des Großen errichtet, die nach Osten zum preußischen Kernland seines Herrschaftsgebiets blickte. Bei Beginn des Ersten Weltkriegs galt Friedrich unwidersprochen als größter Führer, den Deutschland bis dahin gekannt hatte. Er hätte gewiss dem Land die Erniedrigung durch Napoleon erspart, hätte er zu der Zeit noch gelebt. Kein Wunder, dass Hitler den Mythos Friedrich nutzte, um sich selbst in Szene zu setzen. So inszenierte er sorgfältig die erste Zusammenkunft des Reichstags nach dem Brand des Reichstagsgebäudes im Februar 1933 in der Garnisonkirche von Potsdam, wo Friedrich begraben liegt. Das Reiterstandbild überstand den Zweiten Weltkrieg unbeschädigt, wurde aber von den ostdeutschen Behörden entfernt. So wurde Friedrich zunächst „verehrt, verklärt“* und dann – nach der Stunde Null – „verdammt“*.
Aber mit der Zeit wich die Entschlossenheit, sich der Vergangenheit zu entledigen, anderen Einstellungen. 1980 ließ die ostdeutsche Regierung die Statue wieder an ihrem alten Platz auf dem Boulevard Unter den Linden aufstellen – sogar in der ursprünglichen Position mit dem ostwärts gerichteten Blick. Und so lebt – anders als Arminius, Barbarossa und Siegfried – „der alte Fritz“ bis heute als Denkbild fort: mit der Macht, zu faszinieren, als Schöpfer der Schönheit von Potsdam, als Archetyp des aufgeklärten Despoten und als erster Diener des Staates – mithin als eine Gestalt, die in diesem demokratischen Zeitalter viele Menschen gern als Vorbild für ihre Politiker sähen, auch wenn Friedrich dem schönen Bild, das man sich von ihm macht, nicht ganz entspricht.
Es gibt noch einen weiteren einflussreichen deutschen Mythos, dessen Ausgangspunkt weder der Wald ist noch der Rhein oder der lockende Osten, und ebenso wenig ein glänzender historischer Erfolg. Am Anfang steht vielmehr ein wurzelloser Quacksalber aus einer kleinen Ortschaft. Aber der Mythos wurde zur Metapher für die Art und Weise, in der diese deutschen Erinnerungen und Träume zum Albtraum wurden. Faust war möglicherweise ein Alchemist und Magier, der 1480 in der (auch heute noch) unbedeutenden Stadt Knittlingen bei Stuttgart geboren wurde. Er mag intelligent und unternehmungslustig gewesen sein – jedenfalls bereiste er Stadt und Land und verdiente sich seinen Lebensunterhalt auf Jahrmärkten. In jenem abergläubischen und leichtgläubigen Zeitalter gab es viele wie ihn, nicht nur in Deutschland. Der einzige Grund, aus dem er Aufmerksamkeit erregte, ist die Legende, der zufolge er für alle Freuden und Zauberkräfte dieser Welt seine Seele dem Teufel verkaufte.
Was hinter dieser Legende steckt, ist unbekannt, für ihre weitere Entwicklung jedoch bedeutungslos. Schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts war Faust der Protagonist eines der ersten deutschen Romane. In England erschien er als Übersetzung 1592. Christopher Marlowe machte aus der Legende als Erster ein bedeutendes Theaterstück. Doch ist „Faust“ ein wesentlich deutsches Thema, das in einer metaphysikbesessenen Kultur, für die diese Gestalt zu so etwas wie einem finsteren Alter Ego wird, leitmotivisch wiederkehrt. Vor allem steht Faust natürlich für Goethes Meisterwerk, in dem die Figur eine Art prometheischer Jedermann wird und eine endlose Diskussion über die unerschöpfliche Vieldeutigkeit seiner Errungenschaften und seines Schicksals hervorruft. Doch auch der Teufel ist präsent, und ebenso Gretchen (die, wie die Faustlegende selbst, auf einer historisch verbürgten Person beruht). Gretchens Schicksal gemahnt uns daran, dass die Tragödie des Bösen nicht einfach in eine metaphysische und politische Spekulation darüber, welcher Zweck welche Mittel heilige, aufgelöst werden kann. Das Böse hat Folgen: in menschlichem Leid.
Mithin ist Goethes bedeutendstes Werk – und sicherlich das bedeutendste Werk der deutschen Literatur – so vielgestaltig, dass niemand es für seine Zwecke nutzbar machen kann, schon gar nicht die Nazis, die sich nicht in der Lage sahen, Goethes Faust ideologisch zu verwerten. In einer Hinsicht gehört Faust, wie Hamlet, keiner Kultur ausschließlich. In anderer Hinsicht jedoch sollte Deutschland diesen deutschesten aller Mythen ausleben – bis zu seiner augenscheinlich letzten Wendung, und vielleicht noch darüber hinaus.
Goethes Faust verwirft Religion und Philosophie und findet im Streben nach dem Schönheitsideal keine Befriedigung. Erst am Ende (des zweiten Teils) findet er eine moralisch fragwürdige Erfüllung in einem Projekt der Landgewinnung. Es ist moralisch fragwürdig, weil seine Verwirklichung die Tötung eines alten Ehepaars voraussetzt, das dem Projekt im Wege ist. Und wie lässt sich die zweideutige Apotheose verstehen, in der Faust in einen Himmel ohne Gott emporgehoben wird, wo er eine neue Art von Erlösung findet und wo das Weibliche die führende Rolle spielt? (Wir werden darauf im letzten Kapitel zurückkommen.) Einstweilen wollen wir darauf hinweisen, dass der Schluss die stereotype männliche Vorherrschaft in der deutschen Kultur infrage stellt (und eben dadurch die Aufmerksamkeit darauf lenkt). Diese Vorherrschaft ist in der traditionellen deutschen Ikonografie tief verwurzelt und sie war ein herausragendes Element der völkischen Bildwelt. Die Betonung des Männlichen spiegelt sich in der aggressiven Sozialpsychologie eines unsicheren Deutschland, als es im Kaiserreich volljährig wurde, und dann schließlich im „Dritten Reich“, als es Amok lief.
Diese männliche Vorherrschaft hat es natürlich in allen Kulturen (auch außerhalb Europas) gegeben. Wird sie in der deutschen Bildund Vorstellungswelt stärker und aggressiver betont als in anderen europäischen (oder in den asiatischen) Kulturen? Einerseits gibt es offensichtliche Parallelen in anderen Literaturen und Kulturen, so etwa den seelischen Verfall der Lady Macbeth oder die Überwindung der Eiseskälte von Prinzessin Turandot (Stoff einer Pekingoper, lange bevor sich Puccini des Themas annahm; man vergleiche auch Effi Briest mit Madame Bovary). Doch gibt es ein augenfälliges Ausmaß von Gewalt in der deutschen Bildwelt. Im Nibelungenlied wird Brünhild von Siegfried praktisch vergewaltigt, um sie gefügig zu machen. Und Wagner zähmt Brünnhilde auf seine Weise – bei ihm ist sie eine Gestalt von angemessen heldenmütiger weiblicher Treue gegenüber einem geistig nicht allzu hellen Mann, den zu verachten sie allen Grund hat. In Goethes Drama geschieht jedoch etwas anderes: Gretchen gebühren die letzten verwandelnden Worte und der Chorus mysticus singt: „Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan.“ Was immer das heißen mag, es ist jedenfalls nicht mit der männlich dominierten Bilderwelt vereinbar, an der der deutsche Geist sich in den tragischen Jahrzehnten des Kaiserreichs und des Nationalsozialismus berauschte.
Weil die von Faust gestellten geistigen und moralischen Fragen von universeller Bedeutung sind, kann es nicht erstaunen, dass seine Geschichte im menschlichen Bewusstsein auf ganz andere Weise fortlebt, als Barbarossa und Siegfried dies tun. Die fortwährende Faszination an dem Mann, der seine Seele verkauft – der Macht oder Lust den Segnungen der Ewigkeit vorzieht, dessen Erfahrungshunger nie gesättigt werden kann, für den Tun viel wichtiger ist als Sein, für den dieses Leben das einzige ist, was es gibt und was zählt –, dieser Mann hat von Marlowe bis heute unzählige Dichter und Komponisten inspiriert. Goethes Werk wurde mehrfach zu einer Oper verarbeitet (von Berlioz, Gounod, Boito und Busoni), von Friedrich Wilhelm Murnau 1926 verfilmt und von Thomas Mann in dem Roman Doktor Faustus gestaltet. Das Adjektiv „faustisch“ ist ins Wörterbuch eingegangen. Das Faust-Drama ist eines der reichsten und dauerhaftesten Geschenke der deutschen Kultur an die Menschheit.
Die Bedeutung des Werks und der Gestalt für das Deutschland des 20. Jahrhunderts ist augenfällig. Die deutschen Erinnerungen und die durch sie genährten Träume verwandelten sich in einen höllischen Albtraum. Barbarossa und Siegfried wurden von der unsicheren Führung einer neu gebildeten und unsicheren Nation in aggressiver Weise benutzt, um das Selbstvertrauen im Umgang mit wirklichen wie eingebildeten Feinden zu stärken. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg gab dem tief sitzenden Opfergefühl neue Nahrung. Entkommen wollte man dem durch den faustischen Pakt mit dem Teufel – der dann das ihm Gebührende forderte.