7. Der Pakt mit dem Teufel

Wir leben in einem neuen Jahrtausend, zu einer Zeit, da keiner unter 80 noch eine deutliche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg haben kann. Bald wird keiner mehr leben, der sich überhaupt noch daran erinnert, und nur wenige werden sich noch ihrer Eltern erinnern, die den Weltkrieg in irgendeiner Weise noch erlebt haben. Was werden die Leute dann über diese Episode in der Menschheitsgeschichte denken? Die Tatsachen sprechen natürlich weiterhin für sich – sowohl die schreckenerregenden Statistiken über Tod und Zerstörung als auch die Berichte über individuelle grauenhafte Erlebnisse. Und bisweilen werden Historiker fragen: War das einzigartig? Die endgültige Antwort wird bejahend sein.

Bejahend, auch wenn im 20. Jahrhundert (und davor, wiewohl in kleinerem Maßstab und weniger gut dokumentiert) viele grausame Untaten begangen wurden. Wäre das Kriterium lediglich die Anzahl der von Menschen begangenen Tötungen, stünde die Sowjetunion unter Stalin genauso in der Verantwortung wie Deutschland unter Hitler, und auch die chinesische Geschichte der letzten zweihundert Jahre bis zu Maos Tod verzeichnet Millionen Tote – Opfer des Taiping-Aufstands, des Boxeraufstands, der japanischen Besatzung und des „Großen Sprungs nach vorn“, um die wichtigsten Ereignisse zu nennen. Wäre das Kriterium eine Kombination aus zahlenmäßigem Umfang und der zielgerichteten Vernichtung bestimmter Gruppen, wäre wiederum die Sowjetunion Anwärter auf den ersten Platz. Des Weiteren ist Kambodscha ein neueres und ebenso schreckliches Beispiel, ebenso Ruanda. In beiden Fällen war der Prozentsatz der von Gewalt und Tod betroffenen Bevölkerung ähnlich hoch wie bei einigen der schlimmsten Ereignisse in Europa während des Zweiten Weltkriegs. Hinzu kommt der Völkermord an den Armeniern, zu dem der Nachfolgestaat auf dem Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reichs, die Türkei, sich bis heute nicht bekennt.

Worin also besteht die Einmaligkeit? Liegt sie vielleicht nur im Auge des Betrachters? Nein: Wohl fast jeder (und ganz sicher fast jeder Deutsche) würde die Einmaligkeit dieser außergewöhnlichen Epoche anerkennen, und wir sollten hoffen, dass unsere Nachfahren in 50 Jahren keinen Grund haben, dieses Urteil zu revidieren. Aber wenn sie auf mehr als ein Jahrhundert alte Ereignisse zurückblicken, dürften sie das mit ebenso viel Verwirrung wie Erschrecken tun. Auch wir kennen dieses Gefühl bereits: Wenn wir alte Nazi-Wochenschauen ansehen, fällt es uns schwer, uns an die Stelle derer zu versetzen, die damals gejubelt haben, können wir ihre Emotionen kaum nachvollziehen. Hitlers mit rauer Stimme vorgetragene Phrasendrescherei ist ermüdend bis komisch, Göring wirkt in seinen Prachtuniformen lächerlich. Doch ein junges Mädchen bricht in Tränen aus, als Hitler an ihr vorübergeht, und er tätschelt auf väterliche Weise ihre Wange. Jungen salutieren feierlich, bevor sie vor den Parteigrößen ihr sportliches Können demonstrieren. Ungeachtet der Intelligenz und Propagandakünste von Goebbels, war Hitlers Charisma nicht nur eine Sache von Kameraaufnahmen. Trotzdem aber ist heute kaum noch zu spüren, wo die Macht seiner Persönlichkeit gelegen haben mag.

Die Verwirrung späterer Generationen aber wird sicherlich schnell einem ganz anderen Gefühl Platz machen – so wie es uns heute noch ergeht, über siebzig Jahre nach der Stunde Null. Egal wie vertraut man mit dem Geschehenen zu sein meint, muss man angesichts des schieren Umfangs und Wesens der expansionistischen Ambitionen von Nazideutschland ebenso ein zutiefst spirituelles Erschrecken empfinden wie angesichts der Möglichkeit einer erfolgreichen Etablierung ihres „Tausendjährigen Reichs“, angesichts der Brutalität und Effizienz ihrer Aggression, angesichts des Holocausts, angesichts dessen, wie vergeblich der Widerstand der wenigen Tapferen war, angesichts der Götterdämmerung am Ende und schließlich angesichts der völligen Leere all dessen – der vollständigen Abwesenheit irgendeiner Hinterlassenschaft von auch nur geringstem Wert.

Die brutale Aggression, mit der die Nazis ihre ehrgeizigen Ziele verfolgten, war sicherlich einzigartig: anders – wenn nicht der Art, so sicherlich dem Umfang nach – als alles, was zuvor in der Geschichte sich ereignete. Weder der preußische Staat noch das Kaiserreich hatten sich auf diese Weise verhalten. Zwar waren sie in Europa keine friedlichen Nachbarn gewesen, doch Deutschlands Ziele und Taktiken im 19. Jahrhundert und im Ersten Weltkrieg unterschieden sich erheblich von denen des „Dritten Reichs“. Vorboten gab es allerdings: so das Vorgehen in den deutschen Afrikakolonien und in Belgien, als man in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn 1914 den Schlieffen-Plan in die Tat umsetzte. Aber diese Episoden waren kein Sonderfall in der Geschichte menschlicher Aggression, und ihr Ausmaß war nichts im Vergleich zu dem, was kommen sollte.

Schon zuvor hatte es Zeiten gegeben, als sich Völkerschaften zu einer so plötzlichen wie aggressiven und schnellen Expansion entschlossen: die muslimischen Araber im 7. Jahrhundert, die Mongolen im 13. Jahrhundert, in jüngerer Zeit die Franzosen unter Napoleon. Die Araber betrieben eine von religiösem Eifer befeuerte missionarische Eroberung, die Mongolen verfolgten kein klares Ziel außer Beutemacherei und Tributerpressung, die Franzosen hatten unterschiedliche Motive, waren aber sichtlich vom Geist und der Energie der Revolution inspiriert. Die internationalen Ambitionen des Sowjetkommunismus waren, anfänglich jedenfalls, ähnlich umfassend wie die der Franzosen unter Napoleon: Auch dort wohnte der Ideologie die Überzeugung inne, dass es für die Kommunisten den Auftrag gab, alte Strukturen aufzubrechen und den Fortschritt der Menschheit voranzutreiben.

Dann gab es noch die japanische Expansion im 20. Jahrhundert. Doch ihre Besetzung Chinas folgte weder missionarischem Eifer noch ideologischen Triebkräften. Sie waren auf ein Imperium aus, das sie politisch und ökonomisch beherrschen konnten. Die von ihnen angestrebte „großostasiatische Wohlstandssphäre“ hatte mit der nationalsozialistischen Suche nach „Lebensraum“* nichts zu tun.

All dies unterschied sich von den Zielen, die Nazideutschland verfolgte. Hitler und den Seinen ging es nicht nur darum, Europa zu beherrschen. Vielmehr wollten sie sich im Osten große Gebiete aneignen und sie durch den Einsatz von brutaler Gewalt und Umsiedlungsaktionen germanisieren. Selbst da ließe sich noch anführen, dass es in bestimmten Verhaltensweisen von Europäern gegenüber indigenen Völkern in der Neuen Welt Vorläufer gegeben habe, doch waren die deutschen Vorhaben in ihrem brutalen ethnischen Darwinismus und den expliziten Absichten der Regierung völlig anders geartet.

Hätten die Nazis Erfolg haben können? Die Annahme, das „Unternehmen Barbarossa“ sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, ist sicherlich zu einfach. Unvermeidlicherweise werden Parallelen zwischen Napoleons Grande Armée und dem Schicksal der deutschen Wehrmacht gezogen. Beide wurden von Russlands berühmtem „General Winter“ katastrophal geschwächt. Hinzu kamen Planungs- und Strategiefehler der Deutschen sowie der Erfolg der Sowjetunion bei der Verlagerung der Kriegsproduktion in den Osten und der unnachgiebig-zielstrebigen Mobilisierung massiver Reserven, sodass Ende 1942 die deutschen Anstrengungen wohl zum Scheitern verurteilt waren. Doch lassen sich auch andere Szenarien ausmalen, z.B. die Möglichkeit eines japanischen Angriffs im Norden der Sowjetunion Ende 1941; seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatten einflussreiche Persönlichkeiten in Japan darauf gedrängt. Am Ende konnten sie sich nicht durchsetzen, was auch an schlechten Erfahrungen im Grenzkrieg mit der Sowjetunion 1939 lag. Aber wenn sie sich nun behauptet hätten? Hätte die Sowjetunion dann einen Zweifrontenkrieg durchstehen können? Wären die USA in den Krieg eingetreten, ohne vorher angegriffen worden zu sein? Und was wäre in diesem Fall aus Großbritanniens einsamem Widerstand am westlichen Rand Europas geworden?

All dies geschah nicht. Stattdessen begab sich Japan auf einen blitzartigen Feldzug durch die Kolonialreiche Großbritanniens und der Niederlande und setzte schließlich mit dem Angriff auf Pearl Harbor alles auf eine Karte. Das führte zum Eintritt der USA in den Krieg und machte den Ausgang unvermeidlich. Dennoch lässt sich fragen, was gewesen wäre, wenn Hitler den USA nicht den Krieg erklärt hätte? Doch auch das hätte deren Eintritt bestenfalls hinausgezögert. Immerhin lässt die kontrafaktische Annahme erkennen, dass zumindest bis zum Winter 1942/43 der Krieg gegen das „Dritte Reich“ im Sinne von Wellingtons berühmtem Ausspruch über Waterloo auf Messers Schneide stand. Selbst dann noch, als der Krieg aus späterer Perspektive schon als verloren gelten musste, kämpfte die Wehrmacht mit erschreckender Entschlossenheit und Disziplin, sodass bei fast allen Auseinandersetzungen an praktisch allen Fronten die Verluste der Gegner höher waren als die der Wehrmacht selbst.

Zu Beginn der 1940er-Jahre wurde der berüchtigte Generalplan Ost entwickelt, der das Ziel verfolgte, Osteuropa zu kolonisieren und ethnisch zu säubern. Er entwirft das Schreckensszenario, das die Nazis für die Zeit nach dem militärischen Erfolg planten. Seine pseudowissenschaftliche Einteilung der Rassen gemäß ihrer größeren oder geringeren Verwendbarkeit für die Germanisierung (mit Esten, Letten und Tschechen an einem Ende des Spektrums sowie Polen – und natürlich den Juden – am anderen Ende) lässt einen erschauern. Die expliziten Zielvorgaben für die jeweiligen prozentualen Anteile von Bevölkerungen, die umgesiedelt oder vernichtet werden sollten, sind beispiellos. (Selbst die von Stalin in verschiedenen Stadien vor, während und nach dem Krieg angeordneten Deportationen waren zwar erschreckend, erreichten jedoch nicht den vom Generalplan Ost vorgesehenen Umfang.) Die finstere Arroganz des Vorhabens nimmt einem den Atem.

Hätte der Plan überhaupt umgesetzt werden können? Wahrscheinlich nicht. Zum einen hätte es wohl nie Deutsche in ausreichender Zahl gegeben, um die riesigen von der Wehrmacht eroberten Gebiete zu besiedeln. Und ganz allgemein hätten die Germanisierungs- und Umsiedlungspläne nur mit einer – von der Wehrmacht und mehr noch den SS-Einsatzgruppen regelmäßig gezeigten – unnachgiebigen Effektivität in die Tat umgesetzt werden können, einer Effektivität, die von der Bürokratie der lokalen Regierungen über Jahrzehnte hätte aufrechterhalten werden müssen (wobei diese Regierungen unter der Herrschaft des „Dritten Reichs“ häufig ebenso ineffizient oder korrupt waren wie in vielen anderen okkupierten Ländern vorher oder seitdem). Allerdings fingen die Deutschen in Polen mit der Umsetzung des Plans an: Was das Land im Westen und im kolonial verwalteten Rumpfgebiet um Warschau erleiden musste, lässt sich kaum in Worte fassen. Die brutale Denkweise bestimmte das Verhalten an der Front, hinter den Linien sowie in den zahllosen Kriegsgefangenen- und Konzentrationslagern. Das Muster ist deutlich – es zieht sich eine Linie von den Entwürfen des Generalplans Ost über die Aktionen der Einsatzgruppen bis zur einverständigen Willfährigkeit der Wehrmacht.

Eine zentrale Komponente des Generalplans Ost wäre beinahe vollständig in die Tat umgesetzt worden: die methodisch betriebene Vernichtung des europäischen Judentums. Der Antisemitismus war, wie wir sahen, keine rein deutsche Angelegenheit, er war dort nicht einmal ungewöhnlich bösartig. Der Antisemitismus gehörte zur kommunikativen Ausstattung der bürgerlichen und aristokratischen Gesellschaft – so war es in Großbritannien und ganz sicher in Frankreich. Doch immer mehr Menschen identifizierten die Juden mit Kapitalismus einerseits und Bolschewismus andererseits. Der Kapitalismus wurde für die völkische* Bewegung in den späteren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zur bête noire, wie der Bolschwismus für die Rechte in der Weimarer Republik. Jedenfalls wurden die Juden auf die eine wie die andere Weise zum leicht erkennbaren Ziel von Aggressionen. Hitler machte aus ihnen Monster, und die Nazis wurden in ihren Feldzügen zur Marginalisierung und späteren Auslöschung des europäischen Judentums immer radikaler.

Steht man in dem Salon, in dem im Januar 1942 die Wannseekonferenz abgehalten wurde, spürt man immer noch ein inneres Frösteln. Vor dem Haus befindet sich eine Terrasse und dahinter ein Rasenstück, das sanft zum Seeufer hin abfällt. Ein schönes Ambiente, heute würde man dort vielleicht geschäftliche Treffen abhalten. Am Abend wurde Champagner gereicht, und am nächsten Tag setzte man sich an den Konferenztisch, um zu arbeiten. Was haben sich diese Leute dabei gedacht? Nicht so sehr Reinhard Heydrich und die anderen beteiligten Naziführer (die ihren Teufelspakt wahrscheinlich ohne große Bedenken und Gewissensbisse geschlossen hatten), sondern die Beamten, die sich um die Ausrichtung der Konferenz kümmerten und Sekretariatsdienste leisteten. Was glaubten sie zu tun? Wozu diese überaus sorgfältige Klassifizierung – Kategorien für gemischte Ehen von Juden und Nichtjuden, für die Kinder und Enkelkinder solcher Ehen? Hat einer von den Subalternen das Böse oder wenigstens das Absurde dieser Veranstaltung erfasst? Oder waren sie so mit dem reibungslosen Ablauf der Veranstaltung beschäftigt, dass nur noch diese selbst zählte und sonst nichts?

Das eigentlich Schreckliche lässt sich statistisch nur unzureichend erfassen. Es liegt in den Geschichten der Einzelnen – oder selbst nur in den Namen der Menschen, deren Geschichten wir gar nicht kennen (aus Yad Vashem), oder in Kinderzeichnungen, die das Leben in den Lagern wiedergeben (aus der Synagoge in Prag) –, die die Aufmerksamkeit erregen. Anfänglich taten sich die Einsatzgruppen schwer, was auch an der räumlichen Nähe zu den Opfern lag. Das Töten ging zu langsam voran und war bisweilen schwer zu verarbeiten. In ihren bemerkenswerten Erinnerungen gibt Christabel Bielenberg, eine mit einem Deutschen verheiratete britisch-irische Frau, das Gespräch mit einem lettischen SS-Mann wieder, den sie im Winter 1944/45 zufällig in einem Zug traf. Er hatte in Polen Juden zusammengetrieben und erschossen.

Was sagen Sie, wenn ich Ihnen erzähle, dass dort ein kleiner Junge, nicht älter als mein jüngster Bruder, in Habachtstellung stand und mich fragte: ‚Stehe ich aufrecht genug, Onkel?‘ Ja, das fragte er mich; und einmal trat ein alter Mann nach vorne, er trug langes Haar und einen Bart, er war irgendein Priester, glaube ich. Jedenfalls kam er langsam, Schritt für Schritt, über das Gras zu uns herüber und blieb kurz vor den Gewehren stehen und sah uns an, einen nach dem anderen, mit direktem, tiefen, düsteren, schrecklichen Blick. ‚Meine Kinder‘, sagte er, ‚Gott sieht, was ihr tut.‘ Dann wandte er sich ab, und jemand schoss ihn in den Rücken, nachdem er einige Schritte gegangen war.23

Seine Erfahrungen richteten den Letten allmählich zugrunde, und wir wissen, dass es anderen auch so ging.

Somit wurde der Vernichtungsprozess industrialisiert, um die Effizienz zu erhöhen und die Distanz zwischen Mördern und Opfern im Augenblick des Tötens zu vergrößern. Daher die Gaskammern. Die Vernichtung ging bis zum Winter und Frühling 1944/45 weiter, auch als schon längst klar war, dass Deutschland sich an allen Fronten auf dem Rückzug befand und alle noch verfügbaren Ressourcen zur Verteidigung benötigte. Von Bahnsteig 17 des in den waldumgebenen Vororten Westberlins gelegenen Bahnhofs Grunewald fuhren die Transportzüge mit den deportierten Juden ab – jetzt sind dort Tafeln angebracht, die angeben, wie viele es Woche für Woche in den Kriegsjahren waren. Die letzten Opfer wurden am 27. März 1945 in die Waggons gestoßen, als die Rote Armee schon dicht vor Berlin stand!

Bahnsteig 17 gehörte zu einem stark frequentierten Umsteigebahnhof, der nur einen Steinwurf von Wohnhäusern entfernt lag – Vorstadtvillen, die vor dem Krieg zum nicht geringen Teil von wohlhabenden Juden bewohnt gewesen waren. Es gibt keinen Hinweis auf irgendwelche Proteste. Überhaupt regte sich in Deutschland nur wenig Protest. Berühmt wurde der Widerstand einer Gruppe nichtjüdischer Frauen, die die Gestapo zwangen, ihre für die Deportation vorgesehenen jüdischen Ehemänner freizulassen. Die Männer wurden in einem Haus in der Rosenstraße gefangen gehalten und die Frauen protestierten vor diesem Haus so lautstark wie beharrlich. Aber das war eine Ausnahme. Es gibt noch Geschichten von einzelnen Familien, die ihr Leben riskierten, indem sie verfolgte Juden versteckten. Aber warum waren es so wenige? Christabel Bielenberg erzählt von einer Gelegenheit, als man sie bat, einem jüdischen Ehepaar Unterschlupf zu gewähren: Sie nimmt die beiden für zwei Nächte auf, kann es aber, im Interesse der Sicherheit ihrer eigenen Familie, nicht länger riskieren. Sie hat nie erfahren, was aus dem Paar geworden ist, doch ihre Erinnerungen lassen durchblicken, dass sie ihr weiteres Leben schwer an dieser Entscheidung zu tragen hatte.

Warum aber gab es so wenig Widerstand gegen das Regime – selbst als eine wachsende Zahl annahm, dass Hitler Deutschland in die Katastrophe führen würde (auch wenn sie nicht alles für seinem Wesen nach böse hielten)? Bei einer Beantwortung ist zu berücksichtigen, dass das Regime für seine anfänglichen Erfolge und zumindest einige seiner proklamierten Ziele großen Rückhalt in der Bevölkerung genoss. Wäre Hitler nach dem Sieg über Frankreich im Sommer 1940 gestorben, hätte er in der Erinnerung der Deutschen als Nationalheld weiterleben können – als genialer Führer, der sogar Bismarck überstrahlte. Später, als der Himmel sich verdunkelte, wurde dieser Rückhalt immer mehr zu einem geduckten Gehorsam, und der Horizont der Deutschen verengte sich auf die Sorge ums tägliche Überleben wie auch, als die Bomben fielen und die Russen vorrückten, auf die Angst vor der Zukunft. Die Kultur des pflichtbewussten Gehorsams, die dabei eine Rolle spielte, haben wir bereits kennengelernt. Aber die Deutschen lebten auch in einem Polizeistaat, in dem jeder Protest gnadenlos verfolgt und unterdrückt wurde: In dieser Hinsicht unterschied sich Nazideutschland kaum von anderen Staaten, in denen totalitäre Regierungen mit Terror herrschen – von der Sowjetunion unter Stalin über Saddam Husseins Irak bis zu Nordkorea.

Umso bemerkenswerter sind mithin die wenigen Geschichten über Widerstandsaktionen, die sich von dem grauen Hintergrund der Passivität abheben. Am berühmtesten wurde die kleine Gruppe namens „Weiße Rose“: Studenten mit ihrem Philosophieprofessor an der Universität München. Sie verteilten Flugblätter, in denen sie zum Sturz eines Regimes aufriefen, dessen furchtbares Vorgehen einige als Medizinstudenten an der Ostfront Ende 1942 erlebt hatten. Ihre Aktionen währten nicht lange: Hans und Sophie Scholl wurden verhaftet, als sie das sechste von der Gruppe verfasste Flugblatt verteilten. Sie kamen vor den Volksgerichtshof, wo der berüchtigte Nazirichter Roland Freisler sie zum Tode verurteilte. Die meisten Mitglieder der Weißen Rose wurden wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ hingerichtet.

Es gab noch weitere, weniger bekannte Widerständler, z.B. Otto und Elise Hampel, ein Ehepaar aus der Arbeiterklasse, deren tapferer Protest wohl weitgehend unbekannt geblieben wäre, hätte Hans Fallada nicht 1947 den Roman Jeder stirbt für sich allein veröffentlicht (der auf Englisch unter dem enttäuschend nichtssagenden Titel Alone in Berlin erschien). Sie schrieben (natürlich unsigniert) Postkarten, auf denen sie zum Sturz des Regimes aufforderten. Sie ließen diese Karten an öffentlich zugänglichen Orten in Berlin liegen: Die meisten Postkarten wurden pflichtschuldigst der Polizei übergeben, die dann genaue Ermittlungen einleitete. Schließlich wurden die Hampels festgenommen, gefangen gesetzt und zum Tode verurteilt, ohne zu wissen, ob ihre Aktionen überhaupt etwas bewirkt hatten. Wir wissen heute, dass das nicht der Fall war, aber das Ehepaar hat in der moralischen Nacht des „Dritten Reichs“ eine kleine Kerze der Menschlichkeit entzündet.

Das Verhalten der Kirchen war nicht eindeutig. Im Protestantismus bildeten die nazitreuen „Deutschen Christen“ eine kleine, lautstarke Minderheit; ebenfalls nicht groß war die nazifeindliche „Bekennende Kirche“. Zwar zeigten ihre führenden Persönlichkeiten bemerkenswerte Tapferkeit, die einige von ihnen das Leben kostete, doch hielten sich Pastoren und Kongregationen mehrheitlich bedeckt. Viel zu wenige wandten sich öffentlich gegen die Menschenrechtsverletzungen, die jeden Tag vor ihren Augen begangen wurden. Auch in der katholischen Kirche gab es einige, die sich heldenhaft zur Wehr setzen: so etwa Bischof Galen in Münster und Bischof Preysing in Berlin. Die päpstliche Enzyklika „Mit brennender Sorge“ wurde am Palmsonntag 1937 in allen katholischen Kirchen verlesen. Es war ein deutlicher Angriff auf all jene Rassenideologen, die eine Rasse über alle anderen erhoben. Aber unter den Millionen von protestantischen oder katholischen Kirchgängern gab es nur wenige, die für ihre jüdischen Nachbarn auch nur einen Finger rührten. Noch weniger bekundeten ihren Protest. Aber die Geschichte der Weißen Rose zeigt, dass es Widerstand in den Kirchen gab: Unter den Mitgliedern der Gruppe waren überzeugte Protestanten und Katholiken sowie ein (konvertierter) Orthodoxer. Und auch Dietrich Bonhoeffer war, wie wir gleich sehen werden, leidenschaftlicher Christ.

In der Gesellschaft selbst gab es ebenfalls Widerstand. Er kam nicht aus einer homogenen Gruppe: Viele gehörten, wie Stauffenberg und seine Mitverschwörer, der traditionellen sozialen und militärischen Elite an, andere, wie Julius Leber und Wilhelm Leuschner, waren Sozialdemokraten. Auch Kommunisten bildeten Widerstandsgruppen. Carl Goerdeler war Beamter und entstammte einer Beamtenfamilie. Ihre Auffassungen vom Regime und darüber, wodurch es ersetzt werden sollte, waren so verschieden wie ihre Herkunft und ihr soziales Umfeld: Viele wollten die geschichtliche Uhr lieber bis zur wilhelminischen Zeit als bis zur Weimarer Republik zurückdrehen. Nicht wenige hatten anfänglich das „Dritte Reich“ unterstützt und einige pflegten antisemitische Vorurteile. Einige wenige waren den Sirenentönen Hitlers gar nicht erst gefolgt und arbeiteten aus tiefer christlicher Überzeugung oder unerschütterlichem Glauben an das Recht Deutschlands auf eine demokratische (oder sozialistische oder kommunistische) Zukunft insgeheim für eine grundlegende Veränderung.

Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts (und im Zusammenhang mit einigen Fragen zur Identität, mit denen sich das moderne Deutschland konfrontiert sieht) ist eine der interessantesten (und profiliertesten) Gruppen die später als „Kreisauer Kreis“ bekannte Widerstandsorganisation. Ihren Namen erhielt sie von der Gestapo nach dem Landsitz eines ihrer Anführer, Helmuth James Graf von Moltke. Den Mittelpunkt bildeten von Moltke selbst und Peter Graf Yorck von Wartenburg, Nachfahren alteingesessener preußischer Junkerfamilien, die schon im 19. Jahrhundert Geschichte geschrieben hatten. Moltke gehörte zu den wenigen, die Frankreichs Niederlage von 1940 nicht als Grund zur Freude, sondern als unzweideutiges Übel betrachteten. Manche ihrer Vorstellungen über eine Neuordnung nach dem „Dritten Reich“ dürfen als überholt gelten (vor allem, weil sie von der damals weitverbreiteten Auffassung genährt wurden, dass an Deutschlands sozialem und moralischem Zusammenbruch und dem Aufstieg der Nazis auch das parlamentarische System der Weimarer Republik schuld gewesen sei). Bemerkenswert ist jedoch zweierlei. Zum einen bekannten sie sich zu einer Neuordnung, die Selbstbestimmung und öffentliche Verantwortung vorsah – sie wollten, mit anderen Worten, dem Konzept der Staatsbürgerschaft mehr moralischen Inhalt geben und folgten so eher einer kantischen als einer hegelschen Gesellschaftstheorie. Und zum anderen traten sie für ein politisch geeintes Europa ein, in dem regionale Entitäten mit jeweils einheitlicher kultureller und historischer Identität friedlich und in gegenseitigem Vertrauen zusammenleben könnten. Diese Vorstellungen sind auch für das moderne Deutschland und Europa von Bedeutung: Der Kreisauer Kreis ist sehr viel mehr als nur eine historische Kuriosität oder eine Fußnote in der Geschichte des „Dritten Reichs“.

Von all den Versuchen solcher zum adlig-militärischen Establishment gehörenden Gruppen, noch eben rechtzeitig eine grundsätzliche Veränderung herbeizuführen, ist die Verschwörung vom 20. Juli 1944 wohl am bekanntesten. Die Folgen eines Fehlschlags waren natürlich auch den Verschwörern bekannt, die mit unbeugsamer Tapferkeit in den Tod gingen. Hunderte verloren ihr Leben, als die Gestapo in immer größerer Zahl auch jene verhaftete, die nur am Rand in die Verschwörung einbezogen waren. Die Episode ist in der Nachkriegszeit sehr häufig analysiert worden, wobei die amateurhafte Durchführung des Attentats ebenso diskutiert wurde wie die Motive der Hauptverschwörer oder die Chancen für einen ihnen vernünftig erscheinenden Friedensschluss mit den Alliierten. Jedenfalls erfuhren sie gleichermaßen Zustimmung wie Kritik. Doch bleibt die Tatsache, dass sie um Deutschlands Weg in die Katastrophe wussten, etwas dagegen tun wollten und sich über das große persönliche Risiko des Unternehmens vollkommen im Klaren waren. Bezeichnend ist, dass unmittelbar nach dem Anschlag die Unterstützung für Hitler anwuchs; noch für zwei Jahrzehnte nach Kriegsende hielt ein beträchtlicher Teil der öffentlichen Meinung in Deutschland die Verschwörer für Verräter, die ihren Hitler geschworenen Treueeid gebrochen hatten.

Insgesamt waren es zu wenige, die Widerstand leisteten. Zu wenige aus der Jugend, zu wenige gewöhnliche Bürger, zu wenige Kirchenmitglieder, zu wenige aus dem Establishment. Immerhin gab es überhaupt welche. Zwar schien Tresckows Gebet unerhört zu bleiben, doch konnte Deutschland wenigstens eine neue Art von Heldentum ehren, das vielleicht nicht vollkommen war, sich aber grundlegend von den falschen völkischen Helden des Nationalsozialismus unterschied: In der Walhalla, dem Tempel für die Helden des Deutschtums*, der sich, in neoklassischem Glanz erstrahlend, über den Ufern der Donau östlich von Regensburg erhebt, steht nun neben den Köpfen all der deutschen Geschichtsgrößen eine Büste von Sophie Scholl.

Unter den nachgelassenen Schriften Dietrich Bonhoeffers findet sich ein Meisterwerk, das sicher nicht vergehen wird, solange noch an christlicher Tradition festgehalten werden kann: Nachfolge (englisch als The Cost of Discipleship) ist immer noch eine der herausforderndsten Meditationen über das, was es heißt, sich christlich zu engagieren, die je geschrieben wurden. Seine Bedeutung für die Lebensumstände im „Dritten Reich“ liegt auf der Hand. In dieser 1937 erstveröffentlichten Schrift verwirft Bonhoeffer Luthers Lehre von den zwei Reichen, die, wie wir sahen, deutsches Denken und Handeln über vier Jahrhunderte lang maßgeblich beeinflusst hat:

Jesus aber ist diese Unterscheidung zwischen mir als Privatperson und als Träger des Amtes als maßgeblich für mein Handeln fremd. Er sagt uns darüber kein Wort. Er redet seine Nachfolger an als solche, die alles verlassen hatten, um ihm nachzufolgen. ‚Privates‘ und ‚Amtliches‘ sollte ganz und gar dem Gebot Jesu unterworfen sein. Jesu Wort hatte sie ungeteilt in Anspruch genommen.24

Daraus zieht Bonhoeffer den Schluss, dass die von Christus vorgelebte Liebe mit Patriotismus oder Freundschaft oder beruflicher Verantwortung weder in eins gesetzt noch darauf reduziert werden oder darin aufgehen kann. Kein Christ sollte wem auch immer einen unbedingten Treueeid schwören – unverkennbar bezieht er sich damit auf den Eid der Wehrmachtsangehörigen. Während des Zweiten Weltkriegs war Bonhoeffer als Widerstandskämpfer im Untergrund tätig und zahlte schließlich den Preis für sein Verhalten: Im April 1945 wurde er im KZ Flossenbürg hingerichtet. Das Regime verfuhr bis zum Ende gnadenlos mit seinen Gegnern.

Die Nationalsozialisten betrieben die Germanisierung des Ostens und die Vernichtung (nicht nur) der Juden im Namen eines ethnisch interpretierten Darwinismus, der besagte, dass die deutsche Identität sich in einem Kampf auf Leben und Tod bewähren musste. Wenn Deutschland den historischen Kampf gegen die Slawen verlor, hatte es den Untergang verdient – das ist ein weiterer Aspekt seiner Einzigartigkeit. Immer expliziter bekundete Adolf Hitler, dass das Schicksal Deutschlands direkt mit dem des Nationalsozialismus und letztlich mit seinem eigenen zusammenhing – eine neue und äußerst zugespitzte Version des arroganten „Après moi le déluge“. Auch andere mochten den Tod der Kapitulation vorgezogen haben, doch gibt es keine Parallelen zu diesem Führer, der die Zukunft eines ganzen Volkes – einer ganzen Kultur – einem Kampf auf Leben und Tod mit dem von ihm selbst auserwählten Feind anheimstellte, der, wenn der Feind die Übermacht gewann, seine außerordentlichen Fähigkeiten einsetzte, um die gehorsam vollzogene Verteidigung bis zum letzten Mann zu befehlen, und der schließlich, als auch die Verteidigung sinnlos geworden war, immer noch die Kapitulation verweigerte. Doch entging er dem für alle anderen angeordneten Heldentod, indem er sich auf seine Weise aus dem Leben stahl.

Das war wirklich die Götterdämmerung, die alte nordische „ragnarök“, die Deutschland bis zum Ende im Feuerbrand erlebte. Können wir uns vorstellen, dass Hitler auf den Abwurf einer Atombombe auf eine deutsche Stadt so reagiert hätte, wie es der Kaiser von Japan tat? Wohl kaum. Für Hitler war nichts und niemand es wert, die Niederlage zu überleben, vielmehr wurde, als Nazideutschland sich dem Ende näherte, seine Gewalt noch intensiver. Ab dem Sommer 1944 wurde die Bombardierung deutscher Städte verstärkt und ausgeweitet. Anfang 1945 starben pro Monat mehr deutsche Soldaten als in jedem anderen Kriegsmonat (Stalingrad eingeschlossen). Obwohl sich die Niederlage deutlich abzeichnete, gab es kein Ende der Gewalt. Selbst nach dem 8. Mai ging der Todeskampf noch weiter. Durch Vergeltungsaktionen sowie durch die Deportationen von Deutschen aus den nunmehr verlorenen Ostgebieten starben noch über zwei Millionen Menschen nach Kriegsende. Dies war ein ganz und gar beispielloser moralischer und physischer Zusammenbruch.

Gab es etwas aus diesen zwölf Jahren, das als Errungenschaft überdauerte? Gab es irgendetwas von positivem Wert, dass das „Dritte Reich“ außer massenhaftem Mord und Zerstörung der Menschheit hinterlassen hätte?

Es mag uns heutzutage beleidigend und unmoralisch vorkommen, nach positiven Resultaten, die aus solch unsagbar Schlechtem hervorgehen könnten, auch nur zu fragen. Doch wenn diese Frage tatsächlich gestellt wird, muss die Antwort – was einen erschauern lässt – negativ ausfallen. Was ist übrig geblieben? Ein paar Autobahnen? Der Volkswagen? Einige Gebäude von architektonischem Wert – das Olympiastadion in Berlin, das heutige Finanzministerium (früher Görings Luftfahrtministerium), ebenfalls in Berlin, das „Haus der Kunst“ in München? Allein die Idee, dass diese Dinge alles sind, was an Positivem in die Waagschale geworfen werden könnte, lässt den moralischen Bankrott des Unternehmens nur umso stärker hervortreten. Wie kann es sein, dass ein paar Straßen, ein Pkw-Entwurf und einige Gebäude alles sind, was von zwölf Jahren außerordentlicher Umbrüche im Leben einer der einstmals größten Kulturen der Welt übrig bleibt?

Überhaupt – wie erging es der Kultur unter dem Gewicht des „Dritten Reichs“? Antwort: Sie schrumpfte gewaltig, als das Regime sie durch die Gründung der Reichskulturkammer (Präsident: Joseph Goebbels) der Kontrolle ihrer Ideologie unterstellte. Vergeblich wäre der Verweis auf den zweifellos glänzend gemachten Film Triumph des Willens, dessen Kunstanspruch durch seinen Zweck irreparabel beschädigt wird. Vergeblich ist auch der Verweis auf ausgezeichnete musikalische Einspielungen der Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler. Das lässt lediglich die Frage offen, die ihm bei seinem Verhör in Nürnberg gestellt wurde: Wie konnte er von der Wirklichkeit des „Dritten Reichs“ eine innere Welt der Ästhetik abgrenzen? In seinem Stück Taking Sides von 1995 lässt Ronald Harwood den Dirigenten von einem amerikanischen Armeeoffizier, der über dessen musikalische Welt wenig weiß, verhören und enthüllt so die tiefe Zweideutigkeit von Furtwänglers Haltung.25 Grundsätzlich wird damit jede Behauptung, die Kultur könne verhärtete Geister humanisieren und dadurch von ihren ideologischen Fesseln erlösen, infrage gestellt.

Natürlich brachte das „Dritte Reich“ Kunst hervor, Kunst, die in seinem Rahmen politisch akzeptabel war und in einigen Beispielen dem in der Sowjetunion gepflegten sogenannten Sozialistischen Realismus ähnelte. Aber diese Werke waren oberflächlich, langweilig und konformistisch. Der Expressionismus mit seiner Energie und Spannung war Geschichte. Auch gab es keine große Dichtung oder Literatur – hier ist der Kontrast zur Sowjetunion unter Stalin augenfällig. Wo waren die deutschen Pendants zu Anna Achmatowa, Alexander Block, Michail Bulgakow, Ossip Mandelstam, Boris Pasternak, Marina Zwetajewa und anderen? Alle diese Autoren schrieben unter den schwierigen bis widerwärtigen Bedingungen, die in der Sowjetunion herrschten. Ihr Geheimnis bestand darin, dass sie geistig frei und damit schöpferisch blieben, bisweilen unter großen persönlichen Kosten. Verglichen damit war Nazideutschland praktisch stumm.

Es kann vielleicht nicht überraschen, dass es in jenem Bereich, den die Deutschen so lange Zeit für absolut und universell gehalten und dem sie poetische, wo nicht gar religiöse Bedeutung zugesprochen hatten, mehr vorzuweisen gab – in der Musik. Tatsächlich hatte Furtwängler hart gearbeitet, um der Musik ihre humanisierende Macht zu bewahren (und jüdische Musiker zu schützen). Aber unvermeidlicherweise wurde auch die Musik von einem Regime, das den Jazz für entartet hielt und von der Musik die Förderung der vorgeschriebenen völkischen Stimmung verlangte, in Dienst genommen. Trotzdem lebten im „Dritten Reich“ etliche Komponisten von Bedeutung – vor allem Richard Strauss, Paul Hindemith und der Österreicher Anton Webern. In der deutschen Musikwelt der damaligen Zeit aber war Hindemith eine umstrittene Persönlichkeit. Einige Jahre lang kam ihm Furtwänglers Protektion zugute, doch 1938 emigrierte er. Weberns Musik galt als entartet und wurde verboten, allerdings verfasste er weiter höchst anspruchsvolle, von Schönberg beeinflusste Kompositionen. Er versuchte zwar, sich mit den Machthabern zu arrangieren, doch nützte ihm das nichts. Immerhin konnte er einige Werke in der Schweiz uraufführen lassen. Carl Orffs höchst erfolgreiches Chorwerk Carmina Burana feierte 1936 in Frankfurt am Main Premiere.

Aber der wirklich interessante Fall ist Deutschlands bedeutendster Komponist im 20. Jahrhundert, Richard Strauss. Nachdem er 1935 als Präsident der Reichsmusikkammer hatte zurücktreten müssen, konnte er als Privatmann – mittlerweile schon in seinen Siebzigern – einen späten Kreativitätsschub erleben. Zumindest eines seiner Werke, die 1938 uraufgeführte Oper Friedenstag, ist ein deutlicher, wenn auch indirekter Appell gegen den Krieg. Nach Kriegsbeginn wurde das Werk im „Dritten Reich“ nicht mehr aufgeführt. Strauss’ letzte Oper, Capriccio, ist ein heiterer Blick auf verschiedene Ausdrucksformen in Musik, Tanz und Dichtung – komponiert und uraufgeführt 1942 in München in sich verdunkelnden Zeitläuften.

Vielleicht ist Strauss die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Oder besser: Er verweist auf die Ausnahme, die die Musik darstellt. Schließlich ging der Konzertbetrieb weiter. Die Regierung investierte beträchtliche Summen in musikalische Aufführungen, und Bayreuth genoss mehr Zuwendung als je zuvor, was auch mit Hitlers Wertschätzung der Opern Richard Wagners zusammenhing. Dass die „deutscheste aller Künste“ auch im „Dritten Reich“ gepflegt wurde, sagt einiges über die Kontinuität im deutschen Geistesleben – und vielleicht auch über die Universalität der deutschen Musik –, die wir später noch bedenken müssen, wenn wir die deutsche Suche nach Identität im 21. Jahrhundert erörtern.

Allerdings fand wahre Kreativität im „Dritten Reich“ nicht genug Luft zum Atmen. Weder der Literatur noch den bildenden Künsten gelang irgendetwas von wirklichem Wert, und das gilt auch für die grundlegenden Naturwissenschaften: Die ruhmreiche Ära hervorragender Leistungen entdeckerischer und erfinderischer Provenienz war im Wesentlichen vorüber, ganz grundsätzlich auch, weil es die im universitären Wissenschaftsbetrieb so zahlreich tätigen Juden nicht mehr gab. Die Wahrheit dürfte sein, dass der Niedergang von Kunst und Wissenschaft in jenen Jahren das sicherste Zeichen für die Leere jenes Bösen ist, das Deutschland erfasste. Und das Schweigen wirkt umso lauter eingedenk der Blüte vorangegangener Jahre.

Das Böse: Selbst heute verwenden wir das Wort nicht leichtfertig. Erstaunlicherweise hat es selbst in diesem säkularisierten Zeitalter der Entmystifizierung seine Kraft nicht verloren. Nennt man eine Handlung oder Person böse, bedient man sich eines starken und beunruhigenden sprachlichen Ausdrucks. Es ist ein Urteil mit Absolutheitswert, folglich sollten wir darüber nachdenken. Was ist das Böse? Was dient ihm? Vielleicht finden wir die Antwort, wenn wir erkennen, dass es unauflöslich mit dem Selbst verbunden ist. Ihrer selbst bewusste Wesen sind in der Lage, andere Menschen als Zweck an sich zu respektieren (um es mit Kant zu sagen), oder vermögen, Liebe zu empfangen und zu geben (in den Worten von Bonhoeffers Nachfolge*, die eine stärkere und innigere Herausforderung darstellen). Aber das Selbst ist auch fähig zu Eigenliebe und Egozentrik, die andere Menschen nur als Hindernisse oder Instrumente betrachtet. Tatsache ist, dass wir als Menschen beides vermögen: zu respektieren und zu manipulieren, Liebe und Eigenliebe zu pflegen. Wir wissen, was es heißt, Kants kategorischen Imperativ zu akzeptieren, und was es heißt, ihn zu verwerfen.

Und diese explizite Verwerfung ist das Wesen des Bösen. Ihr Resultat ist, um mit Bonhoeffer zu sprechen, das Gegenteil von Liebe. Wo Liebe gibt, nimmt das Böse. Wo Liebe Mitgefühl zeigt, demonstriert das Böse stumpfe Gleichgültigkeit oder Schlimmeres. Wo Liebe vergibt, sinnt das Böse auf Rache. Wo Liebe zum Opfer bereit ist, wappnet sich die Verwerfung gegen alle, die sich nahen. Wenn Liebe das Gute hervorbringt, dann bringt die Egozentrik als Abwesenheit von Liebe das Böse hervor. Wir alle sind auch egozentrisch veranlagt. Insofern kennen wir alle – in uns selbst – das Böse, obwohl wir uns die meiste Zeit über diese Einsicht hinwegtäuschen. Darum ist das Urteil über das „Dritte Reich“ so beunruhigend. Egozentrik war das Wesen des „Dritten Reichs“: In seinem Selbstverständnis lag die explizite Verneinung des Werts der anderen. Die völlige Verwerfung von Respekt und Liebe lag seinem Bösen zugrunde. Wenn uns das beunruhigt, dann auch, weil wir erkennen, dass das „Dritte Reich“ am Ende eines Spektrums lag, auf dem wir alle uns irgendwo befinden. Beurteilen wir das „Dritte Reich“ als böse, so beurteilen wir uns damit selbst.

Anders gesagt: Das „Dritte Reich“ gehörte keiner eigenen Klasse an. Seine Führer waren keine Automaten, sondern menschliche Wesen. Wir wissen wenig genug über das Innenleben von normalen Freunden und Bekannten. Wir wissen sehr wenig – wohl praktisch nichts – über das Innenleben einer Person wie Hitler. Aber er war ein Mensch. Er ließ sich von Wagners Musik verzaubern – so viel zumindest hatte er mit uns gemein. Von ihm selbst und von denen, die ihn kannten, als seine Mutter noch lebte, wissen wir, dass er sie liebte. Sie starb an Brustkrebs, als er 18 Jahre alt war, und ihr Tod erschütterte ihn. Für viele Menschen ist das eine vertraute Erfahrung. Sein Leben lang stand ein Bild der Mutter auf seinem Nachttisch, selbst noch im Bunker in Berlin. Aus Dankbarkeit schickte er dem (jüdischen) Familienarzt, der sich bis zu ihrem Ende um sie gekümmert hatte, eines seiner Aquarelle von Wien. Diese menschlichen Züge verleihen dem Bösen sein quälendes Geheimnis. Es gibt da etwas, was wir mit ihm teilen. Wir kennen Egozentrik, auch wenn unsere eigene begrenzt und wenig prägnant ist und häufig durch bessere Instinkte wie Fürsorge und Liebe ausgeglichen wird. Solch extreme, größenwahnsinnige Egozentrik setzt uns in Bestürzung – eine Egozentrik, die sich im Bewusstsein ihre eigene Welt schafft, eine Welt, bewohnt von eigens dafür geschaffenen Teufeln und Feinden, eine Welt, die alle Tatsachen und Erfahrungen ausschließt oder verdreht, die mit ihrer inneren Wirklichkeit in Konflikt geraten könnten. Aber wir sind so bestürzt, weil wir uns mit dem egozentrisch Bösen im selben Spektrum befinden, auch wenn der Abstand beträchtlich ist. Genau darum wird die Geschichte des „Dritten Reichs“ auch in fernerer Zukunft keine Angelegenheit von rein akademischem Interesse sein.

Und was gibt nun Anlass zu dieser Egozentrik? Zum Teil natürlich die Geschichte: Geschichten vom Unrecht, das uns, wie wir glauben, angetan wurde – Geschichten, an die wir uns nicht erinnern oder die entstellt und tief im Unterbewusstsein vergraben sind. Wie wir gesehen haben, gehört das Opfer, das selbst zum Täter wird, zu den ältesten Mustern der menschlichen Erfahrung. Das gilt für persönliche wie für gemeinschaftliche Zusammenhänge. In den Gemeinschaften, denen wir angehören, kursieren häufig Erinnerungen an erlittenes Unrecht oder verweigertes Recht. Seit alters und bis in die heutige Zeit sind diese Geschichten Anlass gewesen, Gewalt, Rache und Krieg zu rechtfertigen. Das „Dritte Reich“ war die Inkarnation dieses omnipräsenten menschlichen Instinkts. Die Menschen ließen sich davon fortreißen und eine ganze Kultur wurde dadurch pervertiert: Der Führer* selbst schien diesen Instinkt zu verkörpern. Hitler bleibt ein extremes – und immer noch erstaunliches – Beispiel dafür, wie weit größenwahnsinnige Egozentrik gehen kann, wenn er am Ende, nach all den Schrecken, die die Deutschen (zu schweigen vom übrigen Europa) ertragen haben, sein Volk verurteilt, weil es sich seiner als unwürdig erwiesen hat. Das war das Böse in Reinkultur.

Doch führt nichts an der Frage vorbei, wo die Schuld liegt. Ist sie einem einzigen Menschen zuzuschreiben? Immerhin hatte er die Macht, innezuhalten – oder weiterzumachen. Der Bannstrahl der Pflicht „bis in den Tod“ wirkte bis zum Ende. Doch beginnt und endet die Schuld nicht mit einem einzigen und einzelnen Menschen. Es gab die Nazigrößen, es gab die Tausenden von SS-Leuten, die Parteifunktionäre der mittleren Ebene, die KZ-Wächter usw. Der Kreis wird, wie bei menschlichen Angelegenheiten üblich, immer größer.

Wann fängt das alles an? Und wer ist daran beteiligt? Sicher beginnt es nicht erst im Januar 1933, als eine kleine Gruppe von Angehörigen der aristokratischen und militärischen Elite meinte, sie könne Hitler in ihre Mitte nehmen und kontrollieren; und beteiligt waren mehr Personen als nur die relativ kleine Gruppe, die bis zum Mai 1945 die Führung stellte. Wie ein Baum, dessen Äste sich ausbreiten und dessen Wurzeln tief in die Erde reichen, breitete sich die Schuld am Geschehen auf viele Personen aus, und der Beginn reicht tief in die Vergangenheit zurück.

Vollkommen klar ist, dass die Anführer viel zu viele willige Gefolgsleute hatten, und viel zu viele waren stillschweigende Komplizen, weil sie vom Unrecht wussten, aber nichts taten, und es gab zu viele, die nichts wussten, aber unsicher waren und auch nichts taten. Zu viele wechselten einfach die Straßenseite und schauten weg. Max Frischs Drama Biedermann und die Brandstifter ist eine düstere Komödie über Leute, die Feuer legen, während ihre Opfer in Gutgläubigkeit verharren. Es ist eine Parabel über die Bereitschaft der ehrenwerten Bürger des „Dritten Reichs“, denen zur Hand zu gehen, die ihre Welt schließlich in Flammen aufgehen ließen.

Ist das vergleichbar der Kollektivschuld einer ganzen Gesellschaft, eines ganzen Volkes? Sicher waren nach dem Krieg in beiden Teilen Deutschlands allzu viele bereit, die Schuld auf andere zu schieben. Besonders im Westen war der Prozess der Vergangenheitsbewältigung* mit der schmerzhaften Entdeckung verbunden, dass sehr viele Personen auf aktive oder passive Weise an den Taten und Untaten des „Dritten Reichs“ beteiligt gewesen waren.

Aber das lässt sich nicht zu einer Kollektivschuld in dem Sinne ausweiten, dass jeder schuldig war (und ist), nur weil er in diese Kultur hineingeboren wurde. Und umgekehrt dürfen wir auch nicht blind sein gegenüber den Sünden all jener, die zur Katastrophe das Ihre beigetragen haben, sowohl im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs als auch währenddessen.

Das führt zu der ungemütlichen Überlegung, dass es auf allen Seiten Opfer gibt, selbst in einem Krieg, der zweifellos gegen ein unbestreitbar Böses geführt werden musste. Es gibt die unabweisliche Frage nach den Sünden anderer in der ferneren und näheren Vergangenheit: Das Gefühl, Opfer zu sein, wurde nicht aus dem Hut gezaubert. Insbesondere hätten die Sieger in Versailles die allzu rüde Verurteilung Deutschlands vermeiden können. Auch Stalin trägt Mitschuld: Der von Molotow und Ribbentrop 1939 geschlossene Nichtangriffspakt gab Hitler wie gewünscht freie Hand im Westen wie auch in Polen (und die Russen standen den Deutschen dort an Brutalität in nichts nach). Und warum war Papst Pius XII. mit seinem Einfluss auf das katholische Deutschland so vorsichtig in seinen öffentlichen Äußerungen? Er, der so stark am Entwurf der von seinem Vorgänger veröffentlichten Enzyklika Mit brennender Sorge* beteiligt gewesen war, verurteilte niemals coram publico und explizit die Behandlung der Juden durch die Nazis, obwohl er des Öfteren von den Amerikanern dazu aufgefordert wurde.

Ferner: Was ist mit den Kriegsgeschehnissen? Wahrscheinlich gibt es so etwas wie einen moralisch sauberen Krieg niemals – und der Zweite Weltkrieg war es ganz und gar nicht. Aus der Perspektive eines neuen Jahrtausends und derer, die nicht persönlich involviert waren, können wir unbefangener die Frage nach den Opfern stellen – nach der Kriegführung gegen die Zivilbevölkerung, nach Vergeltungsmaßnahmen und Deportationen.

Betrachten wir zuerst den Bombenkrieg der Alliierten. Die Nationalsozialisten entwickelten diese Strategie, die Terror verbreiten und den Zusammenbruch der jeweiligen Gesellschaft herbeiführen sollte, bei ihren Angriffen auf Guernica, Warschau, Rotterdam, Coventry, London oder Stalingrad. Die Alliierten zahlten dann mit gleicher Münze heim, mit zunehmender Macht und Heftigkeit – besonders rücksichtslos ab Juli 1943 (dem ersten großen Angriff, der in Hamburg zu einem Feuersturm führte). Der Bombeneinsatz weder der Deutschen noch der Alliierten kann auch nur im entferntesten durch das legitime Vorgehen gegen Produktionsstandorte und die entsprechende Infrastruktur gerechtfertigt werden. In Großbritannien gab es Unbehagen und sogar Gegnerschaft gegen diese Strategie (was ausreichte, um dem Bomber Command – im Gegensatz zum Fighter Command – eine militärische Auszeichnung vorzuenthalten, obwohl die Piloten große Tapferkeit gezeigt und hohe Verluste zu beklagen hatten). Doch die Bombardierung wurde bis zum April 1945 mit besessener und unnachgiebiger Entschlossenheit durch „Bomber-Harris“ weitergeführt und nahm an Intensität sogar noch zu, als es schon längst keine vernünftige militärische Rechtfertigung mehr gab. Infam ist der Angriff auf Dresden (Februar 1945), und auch die Angriffe auf Pforzheim (ebenfalls Februar 1945 – fast 20 Prozent der Einwohner kamen dabei zu Tode, die höchste Rate überhaupt), Würzburg und Magdeburg (März 1945), oder Halberstadt und Potsdam (April 1945) sind nur weitere und spätere Beispiele dessen, was heute wohl als Kriegsverbrechen gewertet würde.

Wie beurteilen wir das heute? Ein Brite, der alt genug war, um sich der Geschehnisse zu erinnern, meinte: „Sie hätten doch nur kapitulieren müssen.“26 Vielleicht unterschätzen wir den Hass und Abscheu, die im Osten von den unsagbaren Grausamkeiten der Deutschen und im Westen von den entsetzlichen Kämpfen nach dem D-Day und der Entdeckung der KZ-Verbrechen genährt wurden. Wie auch immer – fast bis zum Ende war die Situation uneindeutig und ungewiss; nur wenige wären bereit gewesen, jegliches Risiko auf sich zu nehmen, um die Zahl der zivilen Opfer zu verringern oder gar schöne Barockbauten vor der Zerstörung zu bewahren, wenn es gegen einen Feind ging, der zu allem entschlossen war.

Oder müssen wir einräumen, dass Unrechttun nicht dadurch gerechtfertigt werden kann, dass es sich gegen das Böse richtet? Bei den Luftangriffen auf Stalingrad gab es mehr Tote als bei der Bombardierung von Dresden, doch ist das sicher keine Rechtfertigung. Als 1992 in London für Bomber-Harris eine Statue vor der Kirche St Clement Danes – der Kirche der Royal Air Force – errichtet wurde, gab es umfassende Proteste. Als 2012 an der Hyde Park Corner ein sehr viel auffälligeres Denkmal für die jungen Männer des Bomber Command erbaut wurde, gab es ruhige und respektvolle Akzeptanz: eine überfällige Katharsis?

Und dann: Wie ist das Verhalten der Alliierten bei ihrem Einmarsch in die deutschen Gebiete ab 1944 zu bewerten? In den letzten Jahren hat das bei deutschen Autoren für vielleicht mehr Aufmerksamkeit gesorgt als die Bombardierungen. Die Vergewaltigung Hunderttausender Frauen durch die Rote Armee war ein atavistisches Wüten, gegen das die Befehlshaber kaum einschritten. Und das Verhalten der Franzosen in Freudenstadt war kaum besser. Beide Länder waren von Deutschland besetzt worden, in beiden hatte sich beträchtlicher Hass angestaut. Aber was war das für eine Rache? Es gibt, wie gesagt, kein Schuldmonopol.

Und schließlich gab es die Deportationen und Vertreibungen. An die sechzehneinhalb Millionen Deutsche wurden aus den Ostgebieten vertrieben, zumeist unter schrecklichen Bedingungen. Mehr als zwei Millionen starben an Groll und Hass, die sich in Osteuropa über die Jahre aufgebaut hatten. Ein besonderes Ereignis, der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ im Januar 1945 durch Torpedobeschuss, hat für das Bewusstsein der Deutschen ikonische Bedeutung gewonnen. Das Schiff war nach dem Gründer des Schweizer Ablegers der NSDAP benannt, der 1936 ermordet worden war und dem „Dritten Reich“ als Held und Märtyrer galt. Das Schiff wurde von einem sowjetischen U-Boot versenkt, als es mit Tausenden Flüchtlingen an Bord den Hafen von Königsberg verließ. Es ist bis heute die schwerste Katastrophe der Seefahrt. (Ein junges Mädchen verpasste das Schiff, weil ihre Schwester krank geworden war; sie sah es gleich außerhalb des Hafens versinken – und bestieg dann das nächste Schiff, um zu fliehen.27)

All diese Toten müssen nicht nur den Russen, sondern auch den Polen, Tschechen und anderen zur Last gelegt werden. Sicher können die von den Deutschen an ihnen verübten Verbrechen diese Reaktionen erklären, aber nicht rechtfertigen. Es gibt – noch einmal sei es gesagt – kein Schuldmonopol. Die Schwierigkeit mit dem Vergeltungsrecht – „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – besteht darin, dass die Angelegenheit damit nicht erledigt ist. Die Menschheitsgeschichte schreit es heraus, dass Vergeltung immer Vergeltung provoziert. Hitler lebte das Vergeltungsprinzip, es war sein Elixier: Er ließ es die Juden in der „Kristallnacht“ und im Warschauer Ghetto erleiden; er sah vor, dass Widerstandskämpfer („Werwölfe“) im Untergrund nach dem Fall von Berlin den Kampf weiterführen sollten und dass Deutschland Rache an den Slawen nehmen würde, auch wenn dies noch ein paar Generationen dauern sollte.

Doch es geschah etwas seltsam anderes: Zumindest in diesem Sinne – dass ein Gesetz der menschlichen Natur außer Kraft gesetzt wurde – war die Stunde Null von wirklicher Bedeutung, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden.