Bei Kriegsende schien es nur allzu offensichtlich, dass „Stunde Null“ das Ende all dessen bedeutete, was gewesen war. Unwahrscheinlich, dass es der Beginn von etwas Neuem sein könnte. So umfassend war die Zerstörung, so tief das Trauma, so gewaltig die Herausforderung, eine funktionierende Gesellschaft wiedererstehen zu lassen, dass man leicht hätte verzweifeln können. Über 150 Städte lagen in Trümmern; Transport- und Versorgungssysteme – vor allem Wasser und Elektrizität – waren schwer beschädigt, die Währung wertlos, Nahrungsmittel in vielen städtischen Gebieten knapp, die Kindersterblichkeit stark ansteigend, Millionen Menschen heimatlos.
Erst in den letzten Jahrzehnten, insbesondere nach der Wiedervereinigung, ist damit begonnen worden, die Geschichte dieser Leiden umfassender aufzuarbeiten: die Brutalität der Vertreibung, der Vergewaltigungen und Morde (vor allem im Osten), der willkürlichen Verhaftungen und des unerklärten Verschwindens von Personen. Doch bereits in der Nachkriegszeit schufen Autoren wie Heinrich Böll und Wolfgang Borchert – bisweilen stoisch, bisweilen voller Verzweiflung – atmosphärisch dichte Darstellungen der Situation. Borcherts Drama Draußen vor der Tür handelt von einem Soldaten, der von der Ostfront zurückkehrt und seine Frau mit einem anderen Mann im Bett vorfindet. Seine Eltern sind tot, weil sie nach verweigerter Entnazifizierung aus der Wohnung geworfen wurden, und sein ehemaliger Kommandant, dem es jetzt gut geht, will nichts mit ihm zu tun haben. Im Roman Der Engel schwieg erzählt Heinrich Böll die Geschichte eines Soldaten, der in eine zerbombte Stadt zurückkehrt, um der Frau seines Kameraden die Nachricht von dessen Hinrichtung wegen Fahnenflucht zu überbringen. Die Frau leidet an Magenkrebs und ihr skrupelloser Schwager bringt das Testament ihres Mannes gewaltsam an sich, damit er und nicht eine karitative Organisation vom Nachlass profitiert. Der Soldat erfährt Hilfe von einer Frau, die ihr Kind verloren hat, und sie nehmen zusammen den Lebenskampf in den Ruinen auf. Böll zeichnet ein düsteres Bild, aufgehellt jedoch durch die Beziehung zwischen dem Soldaten und der Frau, die am Ende einander heiraten.
In Borcherts Stück wie in Bölls Roman spiegelt sich die Wirklichkeit all der Millionen Menschen, deren Energie und Aufmerksamkeit vom täglichen Kampf ums Überleben völlig in Anspruch genommen wurden. Allzu viele brauchten lange, um mit dem Geschehenen zurechtzukommen. Nicht nur die Traumata der heimkehrenden Soldaten brachten Verstörungen und Auseinandersetzungen mit sich. Es kam zu Spannungen zwischen den Vertriebenen, die alles verloren hatten, und denen, auf die sie nun im zerstörten Deutschland trafen. Und dann waren da noch die Schrecken der Konzentrationslager, mit denen man konfrontiert war. Sehr viele Menschen waren belastet durch Erinnerungen an das, was sie getan oder unterlassen hatten. Die Reaktionsmechanismen reichten von Selbstbetrug über Verteidigungshaltungen bis zu sorgfältiger Vertuschung und Verheimlichung. In vielen Fällen handelte es sich einfach um Passivität, um die Sünde der Untätigkeit (die aber, wie im Falle der Tätigkeit, auch Sünde ist). Etwa zwölf Millionen NSDAP-Mitglieder mussten in Verhören detaillierte Angaben über ihre Aktivitäten machen. Ein kleiner Prozentsatz von ihnen hatte klarerweise seine Seele dem Teufel verkauft, und von diesen wurden einige – allerdings nur sehr wenige – in Nürnberg angeklagt. Andere hatten sich in einer komplizierten und kompromittierten Lage befunden und – um es so zu sagen – beim Essen mit dem Teufel einen zu kurzen Löffel in der Hand gehabt. Beispielhaft ist die Geschichte von Werner Heisenberg: Der berühmte Physiker und Entdecker der Unschärferelation spielte im deutschen Atomwaffenprogramm eine höchst zweideutige Rolle. In Michael Frayns packendem Stück Copenhagen über Heisenbergs umstrittenes Treffen mit Niels Bohr in der besetzten Hauptstadt von Dänemark erzählt der Deutsche mit bildhafter Deutlichkeit von seinen Erfahrungen in den letzten Tagen des „Dritten Reichs“:
Drei Tage und drei Nächte bin ich gefahren. Von Württemberg über die schwäbische Alb bis zu den Vorläufern der Alpen. Durch meine zerstörte Heimat. Hatte ich mir das für mein Land ausgesucht? Diese endlosen Trümmer? Diesen Himmel, ewig voller Rauch? Diese von Hunger gezeichneten Gesichter? War das mein Tun? Und all die verzweifelten Menschen auf den Straßen […] Die zweite Nacht und dann ist sie plötzlich da – die furchtbare schwarze Uniform, die aus dem Zwielicht vor mir auftaucht. Auf den Lippen, als ich innehalte – das eine schrecklich vertraute Wort. „Deserteur“, sagt er. Er hört sich so erschöpft an, wie ich es bin. Ich gebe ihm den Reisebefehl, den ich für mich selbst ausgestellt habe. Doch ist das Licht so trübe, dass er das Dokument kaum lesen kann, und überdies ist er zu müde, um sich damit zu beschäftigen. Stattdessen öffnet er sein Holster […] da fällt mir das Päckchen amerikanischer Zigaretten in meiner Manteltasche ein. Und schon hab ich es in der Hand – halte es ihm hin. Der bislang wohl verzweifeltste Lösungsversuch für ein Problem […] Er schließt das Holster und nimmt stattdessen eine Zigarette […] Für 20 Zigaretten hat er mich am Leben gelassen. Und ich fuhr weiter. Drei Tage und drei Nächte. Vorbei an den weinenden Kindern, an den verlorenen und hungrigen Kindern, die in den Kampf geschickt und dann von ihren Anführern verlassen wurden. Vorbei an den ausgehungerten Zwangsarbeitern, die zurück wollten nach Frankreich, nach Polen, nach Estland. Durch Gammertingen und Biberach und Memmingen. Mindelheim, Kaufbeuren und Schöngau. Durch mein geliebtes Heimatland. Mein in Trümmern liegendes, entehrtes und geliebtes Heimatland.28
Unter diesen Umständen hatten nur wenige die Zeit oder Energie, Visionen für eine neue Zukunft zu entwickeln oder ein Bewusstsein dafür, wie eine Zukunft auf Werten, die in der Vergangenheit einmal Geltung gehabt hatten, aufzubauen sei. Interessiert fragte ein alter katholischer Priester den britischen Dichter Stephen Spender, ob er sich vorstellen könne, dass die britische Besatzungszone später ein Dominion des britischen Empire werde – eine Erneuerung der Verbindung von England mit dem Haus Hannover?
Auch die Sieger hatten keinen einheitlichen Plan. Stalin verfolgte die Interessen der Sowjetunion: Er war entschlossen, eine Einflusssphäre einzurichten – im Endeffekt einen die UdSSR umschließenden cordon sanitaire unter Moskauer Kontrolle, um sicherzugehen, dass Deutschland nie wieder eine Bedrohung darstellen würde. Das war allerdings keine gute Nachricht für die Anrainer der Sowjetunion, die später allesamt Marionettenstaaten mit von Stalin erzwungenen kommunistischen Regierungen wurden. Einige von ihnen verloren Gebiete, die sich die Sowjetunion einverleibte. Das betraf auch Polen, das auf diese Weise am meisten verlor – ein großes Territorium im Osten. Kompensiert wurde der Verlust durch den Zugewinn von etwa zwei Dritteln von Ostpreußen und den deutschen Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie. Damit sah die polnische Westgrenze wieder genau so aus wie eintausend Jahre zuvor.
Aber was all das für Deutschland wie auch für Österreich bedeuten würde, war nicht sofort klar. Österreich wurde zunächst, nach Aufhebung des „Anschlusses“, als unabhängiges Land wiederhergestellt und galt als „erstes Opfer“ der nationalsozialistischen Aggression.29 Die düstere Ironie dieses Anspruchs dürfte keinem, der die begeisterte Begrüßung der Wehrmacht 1938 erlebt hatte, entgangen sein, vor allem, wenn er das Schicksal Österreichs mit dem Polens und der Tschechoslowakei verglich. Deutschland und Österreich wurden in alliierte Besatzungszonen eingeteilt; wobei es auch für Österreich keine einheitliche Zukunftsplanung gab. Allerdings war das Land für Stalin nur ein kleiner und letztlich unwichtiger Nebenschauplatz; er hatte kein Interesse daran, den Export des kommunistischen Modells als eigenständiges Ziel zu betreiben. So war ein einheitliches und bündnismäßig neutrales Österreich für die Sowjets völlig akzeptabel, und die Republik Österreich erlangte 1955 ihre volle Souveränität.
Aber mit Deutschland war das etwas anderes. Selbst nach dem Verlust von 25 Prozent seines Staatsgebiets blieb das Land groß. Flächenmäßig war es nicht mehr das größte Land auf dem Kontinent, aber der Bevölkerungszahl nach – und weiterhin das, was es bisher gewesen war: die Mitte Europas. Stalin schien eine Weile geneigt, ein vereintes, doch neutrales (und jeglicher Macht beraubtes) Deutschland in Betracht zu ziehen, doch ließ sich das aufrechterhalten? Deutschland besaß wie Österreich keine gemeinsame Grenze mit der Sowjetunion. Könnte all dies aber ein eher sowjetgeneigtes Deutschland gewährleisten, ohne es sehr viel enger an sich zu binden, als dies bei authentischer Neutralität der Fall wäre? Und wenn dies gelänge – könnte die Sowjetunion den Behemoth gefesselt halten? Zudem hatte Stalin keine Gewissheit über die Einstellung der Westalliierten, insbesondere der Amerikaner. Würden sie ein vereintes, aber neutrales Deutschland befürworten? Wie würden sie auf Versuche reagieren, Deutschland enger an die Einflusssphäre der Sowjetunion zu binden?
Unterdessen wurde den Westalliierten, die sich über Deutschlands Zukunft noch nicht im Klaren waren, erst allmählich die wahre Bedeutung der sowjetischen Realpolitik* bewusst. Als die Amerikaner begriffen, wie wichtig es war, einem kapitalistischen Deutschland auf die Beine zu helfen, indem sie zuerst den Marshallplan und dann die Währungsreform lancierten, die die deutsche Wirtschaft vor dem drohenden Zusammenbruch bewahrte, unternahm die Sowjetunion in der von ihr besetzten Zone Schritte zur Etablierung eines eigenen Regierungs- und Wirtschaftssystems. Tatsächlich hatte keine Seite anfänglich die späteren Geschehnisse geplant, doch waren beide Seiten mit dem jeweiligen Resultat durchaus einverstanden. So lief es denn bei den Manövern der Westalliierten und der Sowjetunion in den ersten Nachkriegsjahren auf ein geteiltes Deutschland hinaus, dessen ideologische Verwerfungslinie das Land spaltete, wie es 400 Jahre zuvor von religiösen Verwerfungslinien gespalten worden war. Die Teilung wirkte nicht so, als würde sie in absehbarer Zeit aufgehoben werden; vielmehr boten sich dem Betrachter nunmehr zwei ganz unterschiedliche Visionen und Versionen eines wiedererstandenen Deutschlands dar. Dadurch stabilisierte sich ein Machtgleichgewicht, das schon bald in den Kalten Krieg überging. Wieder einmal verlief eine Frontlinie der europäischen Geschichte quer durch die deutschen Lande. Deshalb stand wieder einmal die Frage der deutschen Identität und ihrer Verortung im Nachkriegseuropa auf der Tagesordnung.
Die grundlegende Frage war, ob es einen klaren und vollständigen Bruch mit der Vergangenheit geben solle oder nicht – und falls nicht, welche Grundlagen der Vergangenheit stabil genug wären, um als Fundament für einen Neuaufbau dienen zu können. Die sowjetische Besatzungszone verfolgte gegenüber den drei Westzonen (die in zwei Schritten, 1947 und 1949, zu einer Zone verschmolzen wurden) eine gänzlich andere Strategie. Die Sowjets holten deutsche Kommunisten aus Moskau, um in ihrer Zone politische und sozioökonomische Reformen nach sowjetischem Muster einzuführen. In großer Zahl wurden ehemalige Nazis und andere mögliche Opponenten verhaftet und viele von ihnen in die Sowjetunion deportiert. Es wurde die vollständige Neugründung einer Gesellschaft vorbereitet. Auch im Westen gab es Entnazifizierungs- und Umerziehungsprogramme, doch keine so radikale Sozialtechnik oder umfangreichen Verhaftungen und Deportationen wie im Osten. Der Neuerungseifer der Westalliierten wich allmählich einem Pragmatismus, der auf die Schaffung einer eigenständigen, selbstverwalteten, offenen Gesellschaft hinauslief, die der US-amerikanischen Einflusssphäre angehören und mit dem übrigen Europa friedlich zusammenleben sollte.
Zumindest oberflächlich blieb so die Kontinuität mit der Vergangenheit im Westen sichtbarer als im Osten. So konnten viele Menschen aus einer vom „Dritten Reich“ geprägten Vergangenheit auftauchen und zu Bürgern mit neuer Acht- und Ehrbarkeit werden, die augenscheinlich mit der demokratischen Nachkriegswirklichkeit auf gutem Fuß standen. Unzählige Personen müssen eine derartige Wandlung vollzogen haben.
Die Geschichte von August Winnig, einer nicht ganz einflusslosen Gestalt im völkischen Denken der Vorkriegszeit, kennt wohl mehr Windungen und Wendungen als die meisten anderen Lebensgeschichten. Sie zeigt, dass die Stunde Null für viele, die dem „Dritten Reich“ zumindest nicht feindselig gegenübergestanden hatten, nicht das Ende bedeuten musste. Winnig war vor und nach dem Ersten Weltkrieg aktiver Sozialdemokrat und während der turbulenten Frühzeit der Weimarer Republik eine Zeit lang Oberpräsident von Ostpreußen gewesen. Doch wurde er in seiner politischen Haltung zunehmend konservativ, nationalistisch und antiparlamentarisch. 1928 veröffentlichte er Das Reich als Republik, dessen Eröffnungssatz die Wendung enthielt, die später in der Rhetorik der Nationalsozialisten eine so bedeutende Rolle spielen sollte: „Blut und Boden sind das Schicksal der Völker.“Über die Juden äußerte er sich nicht anders als die nationalistische Rechte mit ihren pseudohistorischen rassistischen Klischees. Winnig trat nie in die NSDAP ein, sondern ging zu einem christlichen Konservatismus über, der ihn möglicherweise in Kontakt zu den Widerstandskämpfern des 20. Juli brachte, aber von Verfolgung blieb er verschont. Er gehörte zu den ersten Mitgliedern der nach dem Krieg gegründeten CDU und erhielt von der Universität Göttingen den Ehrendoktortitel in Theologie. Von der Regierung Adenauer wurde er mit dem Großen Verdienstkreuz ausgezeichnet. Nach seinem Tod 1956 wurde ihm zu Ehren eine Schule benannt (und nach der Wiedervereinigung eine Straße in seiner Heimatstadt Blankenburg).
Solche von Kontinuität unterfütterten Wandlungen gab es in den Lebensgeschichten vieler Menschen. Die Vorteile lagen auf der Hand: Die Individuen wie auch die Gemeinschaft, der sie angehörten, konnten ihr Leben fortsetzen. Dennoch stellte sich im Westen wie im Osten gleichermaßen die Frage, wie mit der Vergangenheit umzugehen sei – nicht nur mit der unmittelbaren Vergangenheit des „Dritten Reichs“, sondern auch mit den weiter zurückliegenden Epochen: mit dem Kaiserreich, mit Friedrich dem Großen, den Religionskriegen, Martin Luther bis hin zu Arminius. Wie konnte man sich die Kultur aneignen ohne das Böse darin? Wie war die deutsche Identität jetzt zu denken? Im Osten suchte die offizielle Haltung eine Zeit lang Zuflucht in der Auffassung, man habe sich der Vergangenheit auf eine Weise entledigt, die es gestatte, die Kultur – oder zumindest bestimmte Elemente – aus dem Kontext zu lösen und so zu übernehmen. Im Westen wurden die Probleme von Geschichte und Kultur zum Grund vieler in den folgenden Jahrzehnten offen geführter Auseinandersetzungen. Am Ende konnten weder Ost noch West, individuell wie kollektiv, die Konfrontation vermeiden.
Unterdessen hatte Österreich im Rahmen der Nachkriegsvereinbarungen einen Weg eingeschlagen, der schließlich zur Entstehung einer eigenen österreichischen Identität führte. Das Land, das sich am Ende des Ersten Weltkriegs noch „Deutsch-Österreich“ genannt hatte und sich gerne vom Deutschen Reich als „Ostmark“ hatte vereinnahmen lassen, war jetzt ganz schlicht zur Republik Österreich geworden. Immer mehr Bewohner der Republik, so zeigten Umfragen, verstanden sich als Österreicher statt als Deutsche oder als österreichische Deutsche. Diese Identitätsfindung hatte natürlich eine Vorgeschichte – der Ausschluss aus dem Kaiserreich, die lange Geschichte der Habsburger Regenten, der Katholizismus, die Erinnerungen an die Vorherrschaft im Heiligen Römischen Reich und eine kosmopolitisch strahlende Kultur. Aber schon die Schweizer hatten Jahrhunderte zuvor den Weg zu einer eigenen Identität beschritten. 1946 legte sich Österreich eine neue Nationalhymne zu (mit einem eher nichtssagenden Text und einer Melodie, die – wiewohl von Mozart – bei Weitem nicht so schön ist wie Haydns alte Kaiserhymne). Von dieser neuen Identität führt kein Weg zurück.
Und was ist mit Deutschland? Als 1949 die Bundesrepublik aus der Taufe gehoben wurde, waren Bedenken über das zukünftige Verhalten dieses neuen deutschen Staats verständlich. Schließlich hatte sich das deutsche Regierungswesen im vergangenen Jahrhundert zwischen dem Unbefriedigenden und dem Abstoßenden bewegt – von der Halbdemokratie des Kaiserreichs über die in sich gespaltene und instabile Weimarer Republik bis zum totalitären „Dritten Reich“, das mit der parlamentarischen Demokratie kurzen Prozess machte. Demzufolge war die politische Struktur der Bundesrepublik darauf angelegt, beide Fehler zu vermeiden: sowohl die parteimäßige Fragmentierung der Weimarer Republik als auch die exzessive Anhäufung von Macht, die das „Dritte Reich“ ermöglichte. Der Bundespräsident hatte vorwiegend repräsentative Funktionen und wurde indirekt, nicht durch Volksabstimmung gewählt. Starke Länder* mit gewisser Eigenständigkeit waren bereits von den westlichen Alliierten eingerichtet worden. Dort wie auch im Bund selbst sorgte die berühmte Fünf-Prozent-Hürde für eine Begrenzung der in den Parlamenten vertretenen Parteien. Das „konstruktive Misstrauensvotum“ sollte verhindern, dass Regierungen abgelöst werden konnten, ohne dass es eine Nachfolgerin gab – eine Schwäche des politischen Systems der Weimarer Republik. Und schließlich wurde ein Verfassungsgericht* ins Leben gerufen, um zu kontrollieren, ob die Operationen der Verfassungsorgane grundgesetzkonform sind. Das Grundgesetz wurde 1949 verabschiedet und tut weiterhin seinen Dienst als deutsche Verfassung.
Etwas später, aber im selben Jahr, wurde in der Sowjetzone die DDR gegründet, deren verfassungsmäßige Struktur ihrer Form nach der der Bundesrepublik ähnelte, mit der Zeit jedoch sich vorhersehbarerweise nach Art der anderen sowjetischen Satellitenstaaten entwickelte und gemäß dem kommunistischen Modell ein weit größeres Maß an Zentralisation erlaubte. Später wurden die Länder aufgelöst, und in der Verfassung von 1968 war die Vorherrschaft der SED verankert. So zeigte sich der deutsche Nachkriegsstaat in zwei miteinander konkurrierenden Modellen. Beide beruhten auf der Annahme, eine spätere Wiedervereinigung sei möglich, wobei die Bundesrepublik den Verlust der Ostgebiete zunächst nicht anerkannte. In den ersten 40 Jahren ihrer Existenz rang nun die Bundesrepublik mit einem zweiten deutschen Staat um die internationale Anerkennung – einem Staat, der ein völlig anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem repräsentierte (und der auch den Verlust Ostpreußens und die neue Westgrenze Polens anerkannte).
Während dieser vierzig Jahre erwies sich die Bundesrepublik als Gewinnerin in einem durchaus als existenziell zu begreifenden Wettbewerb – was sich aus heutiger Perspektive vielleicht besser erkennen lässt. Niemand in den beiden deutschen Staaten wagte die Behauptung, es gebe zwei unterschiedliche deutsche Nationen, und die in der DDR herrschende Ideologie ging zumindest theoretisch davon aus, dass am Ende das eigene sozioökonomische System über den Westen triumphieren würde. In praxi jedoch breitete sich die Überzeugung aus, dass Bundesrepublik und DDR auf unbestimmte Zeit als zwei Staaten einer Nation koexistieren würden. Tatsächlich aber stellte die Existenz des einen Staats die des jeweils anderen infrage. Sollte sich der eine als (in wirtschaftlicher wie politischer Hinsicht) erfolgreicher erweisen, stünde die Existenz des anderen auf dem Spiel. Das wussten die Realisten in der sowjetischen Führung ganz genau, und in den 1970er-Jahren erkannten sie, dass die DDR den Wettbewerb verlor und nicht überleben würde, wenn sie sich selbst überlassen bliebe. Schließlich kam es 1990 zur Wiedervereinigung unter der Flagge der Bundesrepublik.
Tatsache ist, dass das neue Deutschland über 70 Jahre nach Kriegsende eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte vorzuweisen hat. Es ist eine der führenden Wirtschaftsmächte geworden und hat eine lebens- und überlebensfähige Demokratie entwickelt – nicht zuletzt dank einer Verfassung, die den Herausforderungen des Terrorismus nach den Unruhen von 1968 (darüber später mehr) ebenso gewachsen war wie der historischen Aufgabe der Wiedervereinigung. Erfolgreich verlief auch die Integration in ein neues Europa: zuerst als Mitglied der NATO, dann als Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EG) und schließlich, nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa und der Wiedervereinigung, als zentraler Bestandteil der Europäischen Union (EU). Keine Spur mehr lässt sich finden von Aggression, Expansionsstreben und Militarismus. Stattdessen hat Deutschland – wenn auch zögernd – die führende Rolle in dem bislang ehrgeizigsten europäischen Projekt übernommen: der Eurozone. Das ist ein erstaunlicher und vollkommen unerwarteter Erfolg, für den es kaum Parallelen in der Geschichte gibt. Der nüchterne Beobachter könnte versucht sein, den Schluss zu ziehen, dass die Frage der deutschen Identität und ihrer Verortung in Europa beantwortet ist.
Aber der Schluss wäre voreilig. Weder war die Reise von 1945 bis heute ein müheloses Unterfangen, noch ist Deutschland am Ziel angelangt. Seine Identität ist nach wie vor problematisch, zwar nicht mehr auf der politischen, aber auf der psychologischen und geistigen Ebene. Überdies hängt die Frage der deutschen Identität mit der Frage nach der neuen europäischen Identität auf der Weltbühne zusammen. Doch bevor wir uns dieser Frage mit all ihren Verästelungen zuwenden, müssen wir die Errungenschaften der deutschen Nachkriegsrepublik würdigen.
Beginnen wir mit der Wirtschaft. Der Anfang des deutschen Wirtschaftsbooms liegt in den Tiefen der ökonomischen Krise während des außergewöhnlich kalten Winters von 1946/47. Die Reichsmark war wertlos geworden, Bauern horteten Nahrungsmittel, Zigaretten und Schokolade waren die einzig vertrauenswürdigen Tauschmittel und eine humanitäre Katastrophe war im Entstehen begriffen. Tatsächlich aber bahnte sich die Wende an: zuerst mit dem Marshallplan und dann mit der Währungsreform. Der Marshallplan stellte umfangreiche Mittel für den Wiederaufbau zur Verfügung, und die Währungsreform war die Grundlage für eine solide Geldpolitik zur Entwicklung eines effizienten Marktes, einer starken Sparquote und langfristiger Investitionen. Das sind ganz andere Bedingungen als nach dem Ersten Weltkrieg: Die Weimarer Republik hatte schwer an den Reparationen zu tragen, und ihre Mittelschicht wurde das Opfer einer Hyperinflation, die das Seelenleben einer ganzen Gesellschaft durcheinanderbrachte. Nun aber erhielt das im Entstehen begriffene westdeutsche Gemeinwesen einen Schub, der die Basis für das Wirtschaftswunder* der 1950er- und 60er-Jahre bildete.
Völlig anders dagegen verlief die Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone. Hier konnte man nicht die Hilfe des Marshallplans in Anspruch nehmen, hier gab es eine ganz anders geartete Währungsreform, die eine notwendige Station auf dem Weg zu einem eigenen Staat darstellte. Doch musste die SBZ darüber hinaus in Form von Materialien, Produktionsanlagen und Arbeitskraft umfangreiche Reparationen an die Sowjetunion zahlen. Zwar wurde die DDR zur stärksten Wirtschaftskraft im Ostblock, aber die relative Schwäche des Ostens – die sich im Wesentlichen der strukturellen Schwäche einer kollektivierten Planwirtschaft verdankte – wurde durch solche ungünstigen Startbedingungen noch verschlimmert.
Die westdeutsche Wirtschaft setzte dagegen zu einem Höhenflug an. Während des ersten Jahrzehnts wuchs sie im Durchschnitt um acht Prozent (nicht so schnell wie die der anderen besiegten Macht – Japan –, aber doppelt so schnell wie fast jede andere bedeutende Wirtschaftsnation in Europa). Die ökonomische Entwicklung war stark genug, um den massiven Zustrom von Vertriebenen aus den Ostgebieten zu integrieren – immerhin waren es an die zwölf Millionen, wodurch sich die Bevölkerungszahl um 20 Prozent erhöhte. Zudem war der Wiederaufbau von 150 durch die Bombardierungen weitgehend zerstörten Städten zu bewältigen, dazu die Umstrukturierung von ganzen Industriekonzernen, etwa die Auflösung des Chemieunternehmens IG Farben, das entscheidend zum Auf- und Ausbau der deutschen Kriegswirtschaft beigetragen hatte; es entstanden die drei Säulen der chemischen und pharmazeutischen Industrie: BASF, Hoechst und Bayer. Unter britischer Leitung nahm das Volkswagenwerk in Wolfsburg wieder die Produktion auf und begann mit der Produktion eines der später erfolgreichsten Pkws, der zum Sinnbild für das neue, bescheidene, freundliche Deutschland wurde. Der Volkswagen wurde in alle Welt exportiert und war das vielleicht sichtbarste Zeichen für die Effektivität einer Wirtschaft, die sich zum Exportweltmeister entwickeln sollte.
All dies beruhte auf dem Konzept, die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern kooperativ statt konfrontativ zu gestalten – Mitbestimmung* lautete die Devise. Hinzu kam das vielfach bewunderte duale Berufsausbildungssystem. Ferner wurden die im „Dritten Reich“ abgeschafften Handelskammern*wieder eingerichtet. Alle Unternehmen und Betriebe, von den ganz großen bis zu den Hunderttausenden, die Deutschlands weltbekannten Mittelstand* bilden, müssen einer Handelskammer angehören, die, ressourcenkräftig und gut verwaltet, zu einem effektiven Netzwerk beiträgt, in dem die Geschäftswelt ihren Mitgliedern Unterstützung gewährt. Dieser Korporatismus entwickelte sich mit ähnlichen Strukturen bereits im 19. Jahrhundert. Während also die Wirtschaft im anderen Teil Deutschlands entschlossen war, von einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit ihren Ausgang zu nehmen, wurde die westdeutsche Wirtschaft auf die Grundlage eines stärkeren Rückgriffs auf traditionelle Strukturen gestellt. Das Wachstumsmodell war so erfolgreich, dass Westdeutschland sogar Gastarbeiter* in steigender Zahl aufnahm, die sich dauerhaft niederließen und schließlich großen Einfluss auf die deutsche Identität haben sollten.
Natürlich war die westdeutsche Wirtschaft ihren Produktionsbedingungen und -zielen nach völlig anders organisiert als die des „Dritten Reichs“, wo die ökonomische Entwicklung vor allem auf der Expansion des militärischen Sektors und während des Kriegs zunehmend auf Zwangsarbeit beruhte. Und die Wirtschaft des Kaiserreichs war zwar, wie die der Wirtschaftswunderrepublik, exportorientiert (Deutschland war 1914 zum größten Stahlproduzenten und -exporteur in Europa aufgestiegen), profitierte aber ebenso vom umfangreichen Bau von Kriegsschiffen, wodurch Wilhelm II. die britische Überlegenheit zur See eindämmen wollte.
Aber nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Wirtschaftsexpansion zum einen durch den Wiederaufbau, zum anderen durch den Export vor allem von Fertigprodukten vorangetrieben. Der gute Ruf deutscher Ingenieursprodukte stammte aus dem 19. Jahrhundert, und obwohl sie im Krieg die Konkurrenz der Feinde nicht immer überflügeln konnten,30 halfen sie der Nachkriegswirtschaft, ihre Muskeln spielen zu lassen. Deutsche Industrieprodukte haben sich auf den Märkten weltweit durchgesetzt. Schon zur Zeit der Wiedervereinigung war Deutschland zur weltweit größten Exportnation geworden – eine Position, die das Land bis 2010 innehatte, bevor es auf den zweiten Platz hinter China zurückfiel. Doch ist von allen bedeutenden Fertigungswirtschaften die deutsche immer noch am stärksten exportorientiert (gemessen am Anteil der Exporte an der Gesamtproduktion). Mehr als 40 Prozent der Produktion werden exportiert, während die Relation in Frankreich und Großbritannien nur jeweils 30 Prozent und in den USA weniger als die Hälfte dessen beträgt. Es werden lebhafte Debatten darüber geführt, ob dieses exportorientierte Wachstumsmodell sich auch in der Zukunft aufrechterhalten lässt und ob es Ursache oder Folge von wirtschaftlichen Schwächen in anderen Ländern der Eurozone ist. Doch für den Augenblick halten wir nur die Tatsache dieser außerordentlichen Leistung der deutschen Wirtschaft fest.
In den 1970er-Jahren wurde nach dem ersten Ölschock das Wirtschaftsklima nicht nur für Westdeutschland, sondern auch für alle anderen europäischen Wirtschaftsnationen (und damit auch für die DDR) rauer. Das Wachstum betrug im Durchschnitt weniger als zwei Prozent – das Wirtschaftswunder war Geschichte. Dann kam die ökonomische Herausforderung der Wiedervereinigung und die Entwicklung neuer Märkte vor allem in Asien und Osteuropa, die sich zu starken Produktionsstandorten entwickelten. Die deutsche Wirtschafft stagnierte und verlor an Dynamik. In den 1990er-Jahren betrug ihr Wachstum nur noch ein Prozent im Durchschnitt und lag damit zum ersten Mal seit dem Krieg hinter einem wieder erstarkenden Großbritannien. Nun lag die Vorherrschaft bei den Finanzmärkten, und die Finanzwirtschaft hatte augenscheinlich mehr Wert als die Realwirtschaft. Die viel gerühmte Mitbestimmung schien der Anpassung an eine sich verändernde Welt im Wege zu stehen. Einige sahen in Deutschland sogar den neuen „kranken Mann“ Europas.
Aber das war voreilig. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts profitierte Deutschland zum einen von neuen, durch die Einführung des Euro ermöglichten Wechselkursen und zum anderen von den Arbeitsmarktreformen, die eine Koalitionsregierung unter Führung des sozialdemokratischen Kanzlers Gerhard Schröder auf den Weg gebracht hatte. Diese waren eine Art von nationaler Mitbestimmung, die unter dem Namen „Hartz-Reformen“ bekannt wurden. (Urheber war Peter Hartz, Personalvorstand der Volkswagen AG.) Angekurbelt wurde die positive Wirtschaftsentwicklung durch das Streben vieler deutscher Hersteller nach erstklassiger Qualität, sodass deren Produkte gerade in den industriell aufstrebenden Ländern den Vorzug erhielten. „Vorsprung durch Technik“ lautete ein Slogan des Autoherstellers Audi, und darin war zusammengefasst, was Deutschland vor allem den Märkten zu bieten hatte, die Wert auf deutsche Investitionsgüter und Premium-Pkws legten. Der vielleicht deutlichste Beweis für das Ansehen der deutschen Industrie im Weltmaßstab ist die offenkundige Bereitschaft der Chinesen, Deutschland in Europa strategische Priorität einzuräumen. Bemerkenswerterweise gibt es regelmäßige Treffen der beiden Regierungen auf Kabinetts- und Ministerebene, was die Chinesen keiner anderen europäischen Regierung gewähren.
Bildeten Währungsreform und weitere nach dem Krieg eingeführte strukturelle Veränderungen die Grundlage für den späteren wirtschaftlichen Erfolg, waren die etwa zur selben Zeit lancierten verfassungsmäßigen und politischen Reformen, die den Grundstein für den demokratischen Erfolg der Bundesrepublik legten, nicht weniger wichtig. In den folgenden Jahrzehnten sollte sie zeigen, wie robust sie als demokratisches Gemeinwesen war. Von Beginn an brachte sie eine Reihe stabiler Regierungen hervor, deren erste Konrad Adenauer als Kanzler führte. Er wurde mit einer Stimme Mehrheit gewählt – seiner eigenen – und gewann später die bislang einzige Wahl, die seiner Partei, der CDU, und ihrer Schwesterpartei, der bayrischen CSU, die absolute Mehrheit bescherte. Adenauer blieb Kanzler bis 1963, und noch Jahre danach konnte die CDU von seiner Beliebtheit zehren. Ab 1966 gab es dann die erste Große Koalition – zwischen CDU und SPD –, bei der die Christdemokraten weiterhin den Kanzler stellten.
Die Bundestagswahl von 1969 war ein Wendepunkt: SPD und FDP bildeten eine Koalition, und zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wurde mit Willy Brandt ein Sozialdemokrat Kanzler. Wenn es zum Markenzeichen einer gesunden Demokratie gehört, einen Machtwechsel verfassungsgemäß und friedlich herbeizuführen, dann hatte die Bundesrepublik 1969 diesen Test bestanden. Seitdem gab es gemäß unterschiedlichen Wählerwanderungen Regierungswechsel von einer Mitte-rechts- zu einer Mitte-links-Regierung und umgekehrt. Sie vollzogen sich nach Art einer reifen Demokratie: häufig genug, um als angemessene Reaktion auf sich verändernde Bedürfnisse der Wählerschaft gelten zu können und zugleich Stabilität zu garantieren. Seit 1949 gab es in Westdeutschland sowie in der wiedervereinigten Bundesrepublik acht Kanzler, während die USA im gleichen Zeitraum 13 Präsidenten und Großbritannien 15 Premierminister an der Spitze sahen – und Italien 60 Regierungen erlebte.
Willy Brandt trat sein Amt zu einer Zeit tief greifender sozialer Veränderungen an. 1968 war eines jener seltenen Jahre gewesen, dessen erdbebenähnliche Ereignisse die Welt erzittern lassen. Was in der Bundesrepublik geschah, gehörte zu einem umfassenderen Aufruhr in der ganzen westlichen Hemisphäre, doch kam bei den Deutschen noch eine ganz besondere und bedeutsame Dimension hinzu: Es ging um die ungeschönte Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Kinder wollten von ihren Eltern wissen, was diese im „Dritten Reich“ gemacht hatten.
Im Gefolge von 1968 erwuchs der jungen Republik dann eine bedrohliche terroristische Herausforderung, deren Hauptakteur in den 1970er-Jahren die Rote Armee Fraktion (RAF) war. Ähnliche Gruppen entstanden auch in Italien oder, aus anderen Gründen, in Großbritannien. Die Bundesrepublik konnte die Bedrohung abwenden, ohne den demokratischen Prozess und die Rechtsprinzipien ernsthaft zu gefährden. Zwar gab es damals viel Kritik am Umgang der Regierung mit Terroristen und Terrorismusverdächtigen, doch lohnt sich ein Seitenblick auf andere Länder, auch wenn das der Kritik nicht den Stachel zieht: Die Regierungen der USA, Italiens, Frankreichs und Großbritanniens bedienten sich im Kampf gegen terroristische Gefahren ebenfalls Methoden, die keineswegs über Kritik erhaben waren. In diesem Sinne kann Deutschland den Vergleich mit anderen Nationen bestehen.
1989 dann stellte sich die Bundesrepublik der historischen Herausforderung der Wiedervereinigung und sah und sieht sich seitdem mit vielschichtigen neuen Problemen konfrontiert, die sich aus Entwicklungen innerhalb der EU ergeben, wobei besonders die Eurozone im Fokus steht. Auch hierbei hat Deutschlands Verfassung sich als stabil erwiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat mehr als einmal Klagen jener Personen verhandelt, die die währungspolitischen Stabilisierungsmaßnahmen der Regierung für verfassungswidrig erachteten. Keine deutsche Regierung würde es wagen, die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu übergehen, ungeachtet der möglichen Folgen für die Märkte. Bisweilen wurde gespottet, Deutschland sei lediglich eine „DM-Demokratie“, was sicherlich keine angemessene Beschreibung der Realität ist. Zweifellos aber beruhte das Selbstwertgefühl zumindest teilweise auf der Wirtschaftsleistung und der Finanzkraft; keine Institution genoss mehr Ansehen als die Bundesbank*, mit Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts. Während unklar ist, wie viel Einfluss die Bundesbank in der Eurozone zukünftig noch ausüben kann, bleibt das Verfassungsgericht auch weiterhin eine respektierte Autorität, und sein Status ist das vielleicht sicherste Anzeichen der grundlegenden Stabilität des politischen Systems in Deutschland. Wenn man Bilder der Karlsruher Richter in ihren traditionellen roten Roben sieht, denkt man unwillkürlich an Roland Freisler, der ein ebensolches Gewand trug. Aber während das „Dritte Reich“ das Recht und die deutsche Rechtstradition mit Füßen trat, haben die Gerichte der Bundesrepublik deren Ehre wiederhergestellt.
Radikal neu ist auch die Bundeswehr* mit ihrer Stellung in der Gesellschaft. Sie steht fest und fraglos unter parlamentarischer Kontrolle (während die Reichswehr in der Weimarer Republik direkt dem Reichspräsidenten unterstellt war). Gesellschaftlich weckt sie keine großen Emotionen; und was seinen Ursprung in der gefährlichen Symbiose von Militär, Oberklassen und Großkapital im Kaiserreich hat, nämlich der selbstverliebte Glanz und das Prestige, mit dem die Wehrmacht im „Dritten Reich“ einherstolzierte, ist dahin, als wäre es nie gewesen.
Die Bundesrepublik ist nun in ihrem siebten Jahrzehnt und nach wie vor sind die öffentlichen Debatten lebendig, häufig intensiv, bisweilen gar erbittert. Die in den Medien und in Kreisen der Intellektuellen geäußerte Kritik ist lautstark, unnachgiebig und anspruchsvoll. Dabei jedoch sind Demokratie und Recht gesellschaftlich so stark verankert, dass sie nicht ernsthaft infrage gestellt werden. Im 21. Jahrhundert sind Stabilität und Dauerhaftigkeit der Republik für uns eine ausgemachte Sache, und wir vergessen dabei leicht, dass dieses Ergebnis 1949 vor dem Hintergrund der jüngsten deutschen Geschichte in keiner Weise absehbar war. Aus heutiger Sicht sollten wir erkennen und anerkennen, welchen Wandlungsprozess Europas größtes und historisch problematischstes Land vollzogen hat.
Parallel zu Deutschlands demokratischer Entwicklung vollzog sich die Integration in ein neues Europa, und zwar in vier Stufen. Zuerst suchte das Nachkriegswestdeutschland die Bindung an Westeuropa, dessen Länder ihrerseits zur US-amerikanischen Einflusssphäre gehörten. Sodann erfolgte unter Willy Brandt die Anerkennung des anderen Deutschlands und der Aufbau einer Beziehung mit dem Sowjetblock, verbunden mit der Anerkennung der neuen Realitäten in Osteuropa im Zeichen einer friedlichen und sogar konstruktiven Koexistenz. Zwanzig Jahre nach dem Machtwechsel kam während der Kanzlerschaft Helmut Kohls ein unerwarteter historischer Augenblick: die Gelegenheit zur Wiedervereinigung, bei der Ostdeutschland in der Bundesrepublik aufging. Und schließlich sah Deutschland in den folgenden Jahrzehnten die Erweiterung einer Europäischen Union, die nun drei ehemalige Sozialistische Sowjetrepubliken, einige ehemalige Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts und ehemals bündnisfreie kommunistische Staaten aus Südosteuropa als Mitglieder aufnahm. Die darauf folgende Phase ist noch nicht abgeschlossen: die Konsolidierung der Eurozone als Herzstück der EU unter Führung von Angela Merkel, der heute beherrschenden Gestalt in Deutschland und Europa.
Die anfängliche Westorientierung der Bundesrepublik verdankte sich dem Einfluss des Rheinländers Adenauer. Für ihn bedeutete die Einbindung in ein atlantisches Bündnis ein Mittel, um Deutschland vor sich selbst zu schützen. Sicher war die Wiedervereinigung in der Verfassung als Ziel festgeschrieben und sicher war Bonn als provisorische Hauptstadt gedacht. Aber für Adenauer waren Berlin und der preußische Militarismus an Deutschlands Tragödie nicht unschuldig. Wenn die Ostgebiete und ihre protestantische Kultur – zumindest fürs Erste – verloren waren, schuf dies die Freiheit, kulturelle Inspiration und Stabilität im Westen zu suchen.
Diese Westpolitik* besaß zwei Grundlagen: die Mitgliedschaft in der NATO, um den strategischen und militärischen Schutz der USA zu genießen, und das europäische Projekt. Die NATO war unter amerikanischer Führung 1949 gegründet worden mit dem Ziel, wie der erste Generalsekretär es formulierte, „die Amerikaner drin-, die Russen draußen- und die Deutschen niederzuhalten“. Doch vor dem Hintergrund eines intensiver werdenden Kalten Kriegs und obwohl Frankreich sichtlich zögerte, wurde Deutschland 1955 als Mitglied zugelassen und die Wiederbewaffnung gestattet.
Im europäischen Projekt spielte die bundesrepublikanische Regierung neben Frankreich von Anfang an eine führende Rolle bei der Gründung zunächst der Montanunion (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS) und dann der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Gemeint war sie als Wirtschaftsprogramm, doch die Deutschen sahen darin die Integration ihrer traumatisierten, zutiefst verunsicherten Seele in ein umfassenderes europäisches Ganzes. In geografischer Hinsicht schaute Deutschland auf jene Regionen in Europa, mit denen Adenauer immer vertraut gewesen war. Und diese Vertrautheit führte weit in die Vergangenheit zurück: Die ursprüngliche EWG der sechs Gründungsmitglieder umfasste eine europäische Region, die sich recht genau mit dem Herrschaftsgebiet Karls des Großen 1200 Jahre zuvor deckte. In dieser Region fühlte Adenauer sich heimisch.
Ganz ähnlich empfanden auch die Franzosen: De Gaulles Blick auf Europa – ein integriertes Westeuropa mit Frankreich als klarer geistiger und kultureller, daher auch politischer Führerschaft – hat seinen Ursprung in Ludwig XIV. und über die Französische Revolution in Napoleon. Adenauer fühlte sich nie bemüßigt, diese Weltsicht und den Deutschland darin zugewiesenen Ort infrage zu stellen. Allerdings wollte er auch nicht Deutschland in diesem umfassenderen Europa aufgehen sehen. Schließlich war er es, der für die Wiederaufnahme des „Deutschlandliedes“ als Nationalhymne eintrat. Doch akzeptierte er, dass Deutschland in der entstehenden europäischen Gemeinschaft die Rolle des Wirtschaftsdynamos, nicht aber der politischen Führerschaft spielen solle. Im Übrigen war er damit zufrieden, die Ostdeutschen sich selbst zu überlassen. Seine Rolle in den Wirtschaftswunderjahren hatte mehr von einem autoritären Preußen an sich, als Klischees über rheinländisches Gemüt vermuten lassen. Immerhin war seine Heimat lange vor Gründung des Kaiserreichs unter preußischer Verwaltung gewesen. Er wusste, wie wichtig eine gute Verwaltung war, und er hatte keine Berührungsängste mit der deutschen Vergangenheit, auch nicht mit der jüngsten. Er ernannte Hans Globke – Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze – zum (sehr effektiven) Chef des Kanzleramtes. Alles in allem war Adenauer so sehr Kind der deutschen Kultur wie zugleich Europäer.
Dazu passt die Haltung der westdeutschen Regierung zu ihrem Bruderstaat im Osten. Adenauer mag damit zufrieden gewesen sein, das sich die Bundesrepublik vom preußischen Osten durch die Teilung, die 1949 endgültig zu werden schien, gelöst hatte, doch hieß das nicht, dass seine Regierung diese Teilung auch offiziell anerkannte. Vielmehr verweigerte er die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit jedem Land, das die DDR anerkannte. Diese Politik wurde explizit 1955 formuliert, nach der Aufnahme formeller diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion – die ihrerseits natürlich die DDR anerkannte. Die Regierung Adenauer bestimmte das als Sonderfall, weil die Sowjetunion den Status als Besatzungsmacht hatte. Das galt aber nicht für andere Staaten.
In den 1960er-Jahren wurde diese rigide Politik allmählich fragwürdig. Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 verursachte unendlich viel Leid, rettete jedoch die DDR vor dem Zusammenbruch durch den ständigen Verlust an Humankapital (ein höchst unschönes Wort, dessen alleiniger Vorzug darin besteht, die Aufmerksamkeit auf den tatsächlichen, den wirtschaftlichen Grund für den Mauerbau zu lenken). Danach erfreute sich die DDR der – rückschauend betrachtet – erfolgreichsten zwei Jahrzehnte ihrer Existenz. Die Grundlage für die westdeutsche Politik dem Osten gegenüber hatte darin bestanden, die Oder-Neiße-Linie nicht als endgültige Grenzfestlegung und die DDR nicht als dauerhaft zu betrachten. Aber diese Politik wirkte mit der Zeit immer unrealistischer. Allgemeiner gesprochen, gab es ein wachsendes Bedürfnis – nicht nur seitens der Westdeutschen –, mit dem Ostblock Beziehungen aufzunehmen, statt immer nur hinter den physischen und psychischen Palisaden des Kalten Kriegs zu sitzen. Die Nichtanerkennung brachte Westdeutschland keine Vorteile, und umgekehrt gab es keinen Grund für die Annahme, dass die Menschen in Ostdeutschland davon profitierten. Handel war besser als Konfrontation: Er eröffnete Aussichten auf eine Aufweichung und vielleicht eine spätere Öffnung des Systems im Ostblock.
Die Wende kam 1969, als Willy Brandt eine konstruktivere Beziehung zur DDR zum Kernstück seiner Ostpolitik* machte, die die bisher dominierende Westpolitik nicht ersetzen, sondern ergänzen sollte. Brandt besaß ein ganz eigenes Charisma. Das Bild von seinem Kniefall vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos war nicht nur ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur reuevollen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sondern auch ein entscheidender Moment in diesem neuen Aufbruch nach Osten. Verträge mit der Sowjetunion und Polen erkannten die bestehenden Grenzen an; Verträge mit weiteren osteuropäischen Staaten folgten. Und nach heftigen Auseinandersetzungen im Bundestag gab es Zustimmung zu einem Vertrag mit der DDR, demzufolge es nunmehr zu einer gegenseitigen staatlichen Anerkennung kam. Nun wurden beide deutsche Staaten Mitglieder der Vereinten Nationen.
Mit Brandts Ostpolitik waren die Reibereien in den Beziehungen zur DDR natürlich nicht beseitigt. Und die Vertriebenen hofften weiter auf eine Rückkehr in die verlorenen Heimatgebiete. Aber der Einfluss ihrer Verbände wurde schwächer. Zudem sahen immer weniger Westdeutsche die Wiedervereinigung als ein wichtiges Ziel an, obwohl sie offiziell von der Bundesrepublik angestrebt wurde und durch die Ostpolitik, zumindest auf lange Sicht, möglich gemacht werden sollte. Ironischerweise gab es eine vergleichbare Diskrepanz zwischen offizieller Ideologie und tatsächlichem Empfinden der Bevölkerung auf der anderen Seite der Grenze. Gemäß der ostdeutschen Ideologie war die DDR ein eigener Staat der deutschen Nation mit seinem eigenen (und überlegenen) Ansatz zum Aufbau einer neuen Gesellschaft; doch die Menschen in der DDR, von denen die meisten die Alternative im Fernsehen anschauen konnten, sehnten sich nach Zugang zum Westen.
Hätte die DDR erfolgreich überleben können? Hätte sie eine neue Gesellschaft mit hinreichend wirtschaftlichem Wohlstand entwickeln können, sodass die Loyalität ihrer Bürger stark genug wäre, auch ohne Mauer in ihrem Land zu bleiben? Hätte sie eine eigene Identität à la Österreich herausbilden können?
Oberflächlich betrachtet ist es natürlich wahr, dass die DDR nahezu unbegrenzt hätte weiter existieren können, wenn dem Sowjetsystem als Ganzem dies gelungen wäre – wenn die Sowjetunion das Selbstvertrauen und die militärische Kraft bewahrt hätte, die Satellitenstaaten in ihrem Einflussbereich zu halten. Doch wenn man tiefer schaut, muss man die Frage verneinen, und zwar aus mindestens drei Gründen. Zum einen – und das ist aus späterer Perspektive leichter zu erkennen – musste eine kollektivistisch eingerichtete Kommandound Kontrollwirtschaft auf Dauer weniger leistungsfähig sein als eine Marktwirtschaft, die Unternehmertum und Kreativität begünstigte. Es ist hier nicht der Ort, das im Detail zu erörtern, und es soll auch nicht die Behauptung aufgestellt werden, dass der westdeutsche Kapitalismus ohne Probleme gewesen wäre – vielmehr sind die mit ihm vermachten Schwierigkeiten Gegenstand heftiger Diskussionen, die in der Bundesrepublik von 1968 bis 1989 und dann im wiedervereinigten Deutschland geführt wurden und werden. Doch ist nicht zu leugnen, dass der Wettbewerb zwischen dem kapitalistischen Wirtschaftssystem des Westens und der sowjetischen Planwirtschaft letztlich einen klaren Sieger hervorbrachte. Darüber hinaus musste der über Funk und Fernsehen vermittelte Informationsfluss von Westnach Ostdeutschland das Vertrauen der DDR-Bevölkerung in ihren Staat und das ihm zugrunde liegende System auf Dauer untergraben. Sicher waren nur wenige bereit, das Risiko einer Flucht auf sich zu nehmen; sehr viel mehr Menschen zogen sich in die Welt der familiären und freundschaftlichen Beziehungen zurück und bekundeten, wo es notwendig war, ihre Übereinstimmung mit den offiziellen Verlautbarungen, die von kollektiver Verantwortlichkeit und Zielgerichtetheit sprachen. Und waren die Grenzen für Informationen damals schon durchlässig, wie sehr erst wären sie es zwei Jahrzehnte später mit dem Eintritt ins digitale Zeitalter geworden. Nein, das Projekt der DDR, eine selbstbewusste und auf Dauer gestellte Identität zu entwickeln, war zum Scheitern verurteilt. Wäre das Ende nicht 1989 gekommen, dann eben später.
Und zum Dritten geht es hier um mehr als nur um Informations- und Wirtschaftsprobleme. Die alte Unterscheidung zwischen einem subjektiven und einem kollektiven Ansatz zur Bestimmung der menschlichen Identität – zwischen Luthers oder Kants autonomem Individuum und Hegels Korporatismus, zwischen Einzelperson und Volk – hatte ihre Bedeutung für den Kampf um die deutsche Seele nicht eingebüßt. Aus der Perspektive der Jetztzeit lässt sich das besser beurteilen als aus der des 20. Jahrhunderts, das so viele gesellschaftliche Experimente erlebte, in denen das Kollektive das Individuelle überformte. Die Menschen sind nicht einfach nur lutherische oder kantische autonome Geister, sondern haben auch ein tief sitzendes Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das entsprechend ausgenutzt werden kann. So geschah es zu vielen Deutschen im „Dritten Reich“ wie in der DDR, dass sie vorgegebenen gesellschaftlichen Zielen untergeordnet wurden. Doch früher oder später meldet sich der Geist des Individuellen zu Wort und fordert Freiheit. Als die Ostdeutschen im Herbst 1989 riefen: „Wir sind ein Volk!“, da war dies nicht die Forderung nach Wiedervereinigung als neuer kollektiver Bestrebung, vielmehr begehrten die Demonstranten der DDR gegen ihre offiziell verordnete Identität auf und forderten, gleich den Westdeutschen, ihre eigene Identität in Freiheit selbst bestimmen zu können. (Wir werden auf die Frage zurückkommen, inwieweit es nach der Wiedervereinigung eine gesamtdeutsche Identität gibt und wie sich diese zu individueller Autonomie einerseits und einer zunehmend vernetzten und globalisierten Welt andererseits verhält.)
Zudem gab es noch ein Problem für die DDR, das sie ganz besonders verletzlich machte: Berlin. Von Anbeginn war die Frage, wer die Stadt regieren und verwalten sollte, von zentraler Bedeutung für Deutschlands Zukunft. Das begriffen die Sowjets sofort, die Amerikaner etwas später: Wenn Westdeutschland, vom Osten abgetrennt infolge der Währungsreform, sich wirtschaftlich entwickeln würde, müsste Berlin von den Alliierten dauerhaft gestützt und unterstützt werden, sollte es nicht völlig unter sowjetische Kontrolle geraten. Die Amerikaner begriffen sehr gut, welche symbolische Bedeutung die Kontrolle der vier Mächte über Berlin hatte – und als die Zusammenarbeit der Westalliierten mit den Sowjets nicht mehr funktionierte, wurde ihnen klar, wie wichtig Westberlin sein und noch werden würde. 1948/49 kam es zu einer Aktion von weitreichender Bedeutung, deren ganzes Ausmaß erst später sichtbar werden sollte: die Berliner Luftbrücke. Stalins Versuch, die Westalliierten aus der Stadt zu drängen, indem er alle Land- und Wasserwege blockiert hatte, war sein erster großer Fehler im Umgang mit den Nachkriegsregelungen in Europa. Es folgte eine so entschlossene wie dramatische Reaktion, die für die Sowjets völlig unerwartet kam. Eine Stadtbevölkerung von zwei Millionen über eine Luftbrücke zu versorgen, war eine logistische Herausforderung ersten Ranges, die den Amerikanern mit über 270.000 Flügen aber gelang. Die Luftbrücke brach nicht nur die Blockade, sondern führte auch zur Entstehung von getrennten Regierungen für West- und Ostberlin. Kurz danach erfolgte die Gründung zuerst der Bundesrepublik, dann der Deutschen Demokratischen Republik. Nun war Westberlin eine Insel mitten in der DDR.
Westberlin blieb für die DDR während ihrer gesamten Existenz ein Problem. Alles, was in Berlin geschah, geschah vor den Augen der Welt – die brutale Unterdrückung des Arbeiteraufstands in Ostberlin im Juni 1953, der Mauerbau und die darauf folgenden dramatischen Fluchtversuche, Kennedys berühmter Besuch, der zu einem unvergessenen Symbol wurde für das amerikanische Engagement für Berlin und für alles, was die Stadt repräsentierte: „All free men, wherever they may live, are citizens of Berlin, and therefore, as a free man, I take pride in the words ‚Ich bin ein Berliner‘.“ Zum ersten Mal erschienen Deutsche in den Augen der Welt als Opfer und als Symbole der Freiheit. Und im Osten war der psychologische Einfluss der Mauer etwas, wovon die DDR sich nicht mehr erholen sollte. Für eine junge Studentin namens Angela Merkel war der Mauerbau ihr erster politischer Moment. Wer weiß, was geschehen wäre, hätte der Westen Berlin nicht unterstützt? Wer weiß, was mit einer Enklave passiert wäre, die ökonomisch von großzügigen Zuwendungen aus Westdeutschland und strategisch von einem unbegrenzten militärischen Engagement der Westalliierten abhängig war? Doch hat die Existenz Westberlins samt der hässlichen Mauer, die sich mitten durch eine europäische Stadt schlängelte, die Künstlichkeit des ostdeutschen Projekts eindringlicher als alles andere vor Augen geführt.
Tatsächlich konnte die von der DDR angebotene Alternative niemals über ihre Künstlichkeit hinwegtäuschen – die Leugnung kultureller und historischer Bindungen mit dem Westen und der Glaube an einen Beginn von null Uhr an. Anfänglich gab es Begeisterung, doch währte sie nicht lange. Die stolzen architektonischen Monumente der frühen Jahre (wirklich ausgezeichnete Bauwerke wie der Altmarkt in Dresden oder die Stalinallee in Ostberlin) wichen einem allgemeinen Eindruck von Zerfall – einem Symbol für die allmählich fortschreitende Paralyse im Innern: „Langsam verteilt sich das Gift im ganzen Blutstrom.“31 In den 1980er-Jahren unternahm das DDRRegime einiges, um sich die deutsche Vergangenheit wieder anzueignen: Man feierte den 500. Jahrestag von Luthers Geburt oder das Erbe Friedrichs des Großen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Auf einer Ebene war das ein Zeichen wachsenden Selbstvertrauens (wie auch der Bau des Fernsehturms auf dem Alexanderplatz), andererseits stand dahinter die Einsicht, dass nicht alles völlig neu war; und es mehrten sich die Besorgnisse der Regierung über die Wirtschaftslage. Die alte Formel – Schwerindustrie plus Kollektivierung – konnte die wachsenden Konsumbedürfnisse nur bis zu einem gewissen Grad erfüllen, und die Vergleiche fielen ungünstig aus: Der Trabi machte neben einem Mercedes eine schlechte Figur. Zunehmend wuchs in der Regierung ein paranoides Misstrauen gegenüber der eigenen Bevölkerung, weshalb die Aktivitäten der Staatssicherheit zunahmen.
Das Ende kam dann überraschend plötzlich. Ostdeutschland war nicht mehr als einer der vielen Dominosteine in Osteuropa, der mit den anderen fiel, als die Sowjetunion selbst von grundlegendem Wandel erschüttert wurde. Aber natürlich war es etwas anders, denn der Hauptgrund, weshalb die anderen Länder die ganze Zeit den cordon sanitaire hatten bilden müssen, war ja gewesen, die Sowjetunion vor jeglicher Veränderung zu bewahren. Als die Mauer fiel, war nicht unmittelbar klar, ob es eine Wiedervereinigung geben würde. Bekanntlich standen Margaret Thatcher und François Mitterand solchen Plänen skeptisch gegenüber, und man wusste auch nicht, ob es möglich sein würde, den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland zu bewerkstelligen. Schließlich war der Albtraum der Sowjetunion seit 1945 ein starkes, vereinigtes Deutschland gewesen – und genau das bahnte sich jetzt an.
Hätte es für zwei wirklich demokratische deutsche Staaten die Möglichkeit einer Koexistenz gegeben? Sicher nicht: Willy Brandts unvergessliche Bemerkung am Tag nach dem Fall der Mauer fasste das unwiderstehliche Streben nach Einheit zusammen: „Es wächst zusammen, was zusammengehört.“ Vorangetrieben wurde die Wiedervereinigung von der Sehnsucht der Ostdeutschen nach dem guten Leben in Westdeutschland ebenso wie von der tiefen kulturellen Identität, die die Menschen im Westen bis zu einem gewissen Grad vergessen und die die DDR-Ideologen zu leugnen versucht hatten. Wäre es besser gewesen, die Vereinigungsprozesse langsamer anzugehen – etwa auf den Eins-zu-eins-Umtausch der Ost- in D-Mark, der die ostdeutsche Industrie zu großen Teilen vernichtete, zu verzichten? Theoretisch ja. Aber damit verkennt man die damalige Begeisterung, die Entschlossenheit, den Augenblick zu ergreifen, das überwältigende Gefühl, dass für die Wiedervereinigung einer Nation, die in den vergangenen Jahrzehnten so viel Leid erduldet wie auch selbst verschuldet hatte – einer Nation mit gemeinsamer Identität, die sich danach sehnte, ihren Platz unter den Nationen einnehmen zu können –, jeder Preis gezahlt werden konnte und musste.
Eine Generation nach der Wiedervereinigung leben die Deutschen in einem neuen Land. „Ossis“ und „Wessis“ führen teils immer noch ein durchaus unterschiedliches Leben mit unterschiedlichen Auffassungen und unterschiedlichen wirtschaftlichen Aussichten. Weiterhin verliert der Osten zu viele junge Leute an den Westen. Und noch 2013 beispielsweise glich die Wählerlandschaft von Berlin unheimlicherweise dem Plan der geteilten Stadt von ehemals. Es war alles weit schwieriger und langwieriger, als man es in den Tagen der Begeisterung nach dem Mauerfall erwartet hatte. Aber der Wandel – der Städte wie Leipzig und Dresden radikal ergriffen hat – ist jetzt stark und unumkehrbar. Vielleicht braucht es noch eine Generation, bis die unsichtbare Mauer fällt. Aber es ist von einiger Bedeutung, dass Deutschlands Kanzlerin aus dem Osten stammt und ebenso – bis vor Kurzem – der Bundespräsident.
Auch ist Deutschland Teil eines neuen Europas. Die Ausweitung der Europäischen Union ist jetzt bis zu dem Punkt gediehen, an dem sie fast den gesamten Kontinent abdeckt: Norwegen und die Schweiz sind freiwillig außerhalb der EU geblieben, haben aber enge Verbindungen mit ihr, und jene südosteuropäischen Staaten, die noch keine Mitglieder sind, werden es innerhalb des nächsten Jahrzehnts sicherlich sein. Großbritannien ist ein oftmals widerspenstiger Partner gewesen. Trotz ihrer vielen Mängel hat die EU in Europa zum ersten Mal für langfristig stabile politische Verhältnisse gesorgt. Und auch Deutschlands Position im Hinblick auf alle seine Nachbarn ist – zum ersten Mal seit 1200 Jahren – stabil: Wenn die nach dem Krieg gegründete Bundesrepublik danach strebte, ein europäisches Deutschland zu werden, statt ein deutsches Europa zu schaffen, dann hat dieses Streben nunmehr sein Ziel erreicht.
Deutschland hat seit der Stunde Null einen weiten Weg zurückgelegt und musste unterwegs außerordentliche Herausforderungen bewältigen: den Wiederaufbau aus Ruinen, das Trauma der Vertreibung aus den Ostgebieten, die Schmerzen der Teilung. All dies hätte leicht dazu führen können, das altvertraute Opfergefühl wachzurütteln und für neue Ressentiments zu sorgen. Aber das tat es nicht – zumindest nicht auf die von Generationen anderer Europäer, die in zwei Weltkriegen gegen die Deutschen gekämpft hatten, befürchtete Weise.
Wie sich herausstellte, lag das Risiko ganz woanders und sorgte, jedenfalls auf den ersten Blick, für einige Überraschung. Die 68er kritisierten nicht nur ihre Eltern, sondern auch die USA, die sie als Exponenten und Exporteur des Faschismus sahen. Auch die westdeutsche Regierung war in ihren Augen faschistisch – provozierenderweise setzten sie sie mit dem „Dritten Reich“ gleich. Einige gingen noch weiter und radikalisierten den Antizionismus, der sich in manchen Kreisen der Linken als Resultat des Konflikts zwischen Israel und den arabischen Staaten herauskristallisiert hatte, zu wirklichem Antisemitismus: So wurde 1969 ein Angriff gegen das jüdische Gemeindehaus in Westberlin geplant, der als Teil einer Bomben- und Brandstiftungskampagne gegen die Symbole von Kapitalismus und Imperialismus, zudem noch am 9. November, am Jahrestag der „Reichskristallnacht“, stattfinden sollte. Nur ein defekter Zünder verhinderte eine Katastrophe. Diese Episode zeigt, wie berührungseng die Ideologien der extremen Linken und der extremen Rechten waren und wie leicht man von der einen zur anderen Position überwechseln konnte. Politisch dauerhaft aber war die extreme Linke nicht: Sie überlebte kaum einige ihrer prägnantesten Vertreter.
Am anderen Ende des politischen Spektrums flammte nach der Wiedervereinigung in einigen ostdeutschen Städten Gewalt gegen Migranten auf, die Befürchtungen nährte, es könne zu einer Neubelebung von nationalsozialistischen Verhaltensmustern aus der Vorkriegszeit kommen. Doch auch das war nicht politisch dauerhaft. Im Großen und Ganzen ist das moderne Deutschland so friedlich und stabil wie irgendein anderes großes Land in Europa. Zorn und Kriegsversessenheit sind – für das neue Deutschland besonders bemerkenswert – gänzlich verschwunden. Obwohl der Racheinstinkt nicht nur für die Nazis, sondern für menschliches Verhalten insgesamt kennzeichnend ist, sieht es so aus, als hätte – in scharfem Gegensatz zur Stimmung nach dem Ersten Weltkrieg – der so extreme und einmalige Zusammenbruch das Land von diesem grundlegenden Instinkt befreit und ihm die Entdeckung einer unvorhergesehenen Quelle von Erneuerung und Erlösung ermöglicht.
Vor allem aber erzählt das neue Berlin die Geschichte des erneuerten Deutschlands. Die Mauer ist nahezu spurlos verschwunden. Wo sie gestanden hat, erheben sich mittlerweile neue Gebäude. Vieles Alte wurde restauriert. Die Stadt atmet den Geist der Bohème und hat eine kosmopolitische Atmosphäre, die an die Zwanzigerjahre erinnert. Berlin bleibt ein unvollendetes Meisterwerk. Eine Kunst floriert, die von den Nazis als entartet bezeichnet worden wäre, während zugleich die Berliner Philharmoniker nach wie vor das beste Sinfonieorchester der Welt sind. Und nicht nur Berlin lebt und lebt auf. Siegfried ist kein Nationalheld mehr, aber Bayreuth ist und bleibt das Pilgerzentrum der Wagnerianer, und der Ring des Nibelungen ist immer noch ein Kunstwerk der besonderen Art. Statt Naziparaden gibt es jetzt Fußball. Eine Zeit lang hat Ostdeutschland (in neuem Kostüm) den sozialen Korporatismus der Nazis am Leben gehalten, doch das ist längst Geschichte.
Das reiche Erbe aus den alten Zeiten wird wiederentdeckt und restauriert und zum Leuchten gebracht. Manches wurde vollständig wiederaufgebaut, wie etwa die Altstadt von Dresden. Insbesondere wird die Schönheit und Geschichte im Osten Deutschlands wiederentdeckt, werden Schlösser und Kirchen restauriert, gibt es praktisch unbeschädigte Meisterwerke wie Stralsund, kann man den Spuren von Bach und Luther folgen, das Land der Wälder, Seen und Kanäle entdecken. Auch das Erbe der Ostgebiete ist nicht verloren: Die Polen haben die Marienburg ebenso restauriert wie die alten Stadtzentren von Gdansk (Danzig) und Wroclaw (Breslau). Sogar in Kaliningrad (Königsberg), wo so viel zerstört wurde, haben die Russen die Kathedrale und das Grabmal des berühmtesten Sohnes der Stadt, Immanuel Kants, restauriert (die Universität trägt seinen Namen).
Dieses neue Deutschland hat seinen Platz in der Mitte eines neuen Europa eingenommen – als das größte und ökonomisch kräftigste Land. Zunehmend mehr Straßen führen nach Berlin. In gewisser Hinsicht hat die Bundesrepublik das erreicht, wonach das Kaiserreich immer strebte – aber sie hat es friedlich und merklich zögernd erreicht.
Dieser Erfolg nun führt zu neuen Fragen. Denn die EU hat sich auf eine beispiellose Integrationsphase eingelassen, deren Zeichen die Einführung der Eurozone ist. Was diese Entwicklung bedeuten mag, beunruhigt viele Deutsche zutiefst. Viele sind stolz darauf, in Frieden und Wohlstand leben zu können. Aber viele machen sich auch Sorgen über das heutige Deutschland und seinen Ort in der Welt. Mit Bedenken betrachten sie die Gegenwart: das unvollendete Projekt des Euro und die Risiken, die daraus für die hart erarbeitete Stabilität und ihren Wohlstand erwachsen. Mit Bedenken betrachten sie auch die Zukunft: die Auswirkungen der Globalisierung, den Aufstieg Asiens, die Haltbarkeit ihres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, die Bedrohung durch den Klimawandel, die Zukunft ihrer Kultur und die allgemeine Frage, was aus den Deutschen im 21. Jahrhundert wird. Und sie betrachten auch die Vergangenheit mit Bedenken: Haben sie sich ihr vollständig gestellt? Kann sie jemals für abgeschlossen gelten? Wird Deutschland irgendwann einmal in Normalität existieren können?
Mithin werden die nächsten beiden Kapitel dieses neue Deutschland und seine Identität betrachten: zuerst den langen Schatten der Vergangenheit, dann die Zukunft dieser zögernden Führungskraft im neuen Europa.