Anton von Frisch, Karls Vater, war ein neunzehnjähriger Medizinstudent, als er zum ersten Mal Marie von Exner traf. Sie war die Schwester eines Freundes, der ihn eingeladen hatte, seine Sommerferien zum Teil im schönen Salzkammergut zu verbringen. Seit fünf Jahren verbrachten Marie und ihre Geschwister die Sommer nun hier. Anfangs kamen sie auf Einladung, später, je älter sie wurden, mieteten sie ihre Unterkünfte. Fast ein Jahrzehnt zuvor – der Jüngste war damals erst zehn Jahre alt gewesen – waren die fünf Exner-Kinder zu Waisen geworden. Ungeachtet dessen, dass jeder einen eigenen Vormund hatte und in einem anderen Haushalt aufwuchs, blieben sie einander während ihres Aufwachsens und auch später als Erwachsene eng verbunden. Und so freuten sie sich auch in diesem Sommer 1868 wieder sehr über ihr Wiedersehen. Noch besser wurde die Stimmung, als mehrere Freunde – darunter eben Anton – dazustießen und man gemeinsam im nahen See schwamm und die Wälder und Berge erkundete.25
Marie, vierundzwanzig Jahre alt und das mittlere Kind, war das einzige Mädchen unter den Geschwistern. Die Anziehungskraft zwischen ihr und Anton war, so hieß es in der Familie, ebenso unmittelbar wie überwältigend. Doch zunächst behielten die beiden ihre Gefühle für sich, und zwar auch voreinander. Wie Anton bald erfuhr, war Marie mit Ludwig Zitkovsky, einem jungen Philosophen und Freund der Familie, verlobt. Zitkovsky hoffte auf eine Lehrerstelle, um bald heiraten zu können. Doch wenn Ludwig noch nicht in der Lage war, Marie eine sichere Zukunft zu bieten, so war Anton noch viel weiter davon entfernt, überhaupt heiratsfähig zu sein. Zwar stammte er aus einer gut situierten Wiener Medizinerfamilie, doch er selbst war gerade einmal in seinem zweiten Studiensemester an der Wiener Medizinischen Fakultät.
Als auch Ludwig Zitkovsky mit seiner Familie am Ferienort anreiste, erkannte Marie mit schmerzlicher Klarheit, welchen Gegensatz die beiden Männer bildeten. An Ludwig, gestand sie später ein, habe sie »die ganze Zeit eine bestimmte Kraftlosigkeit und Willensschwäche gestört«.26 Als ihre Gefühle für Ludwig schwanden, sie jedoch keine Möglichkeit sah, die Verlobung zu lösen, versank sie in Mutlosigkeit. Ludwig spürte, dass sie sich abwandte, und versuchte die Veränderung zu verstehen. Eines Tages, als er und seine Mutter drauf und dran waren, die unglückliche junge Frau nach ihren Plänen zu fragen, wurde ihr alles zu viel. Marie floh aus dem Zimmer und »rannte in den Wald, den Berg hinauf, bis sie nicht mehr weiter konnte.«27 Nach diesem Sommer wurstelten die beiden weiter – Marie, die sich emotional immer weiter entfernte, und Ludwig, der immer noch hoffte, sie würden überwinden, was immer zwischen sie beide gekommen war. Marie fühlte sich wie in einer Falle.
Im darauffolgenden Frühling kam Adolf, ihr ältester Bruder, in den Osterferien nach Wien. Er hatte eben eine Professur für Rechtswissenschaften an der Universität Zürich angetreten und lud Marie nun ein, ihn dort zu besuchen. Glücklich nahm sie die Einladung an, um ihren zunehmend bedrückenden Banden zu Ludwig entfliehen zu können. Während der Zugreise in die Schweiz brach sie schließlich zusammen. Sie gestand ihrem Bruder, dass sie Ludwig nicht mehr lieben konnte und dass sie sich in ihren gemeinsamen Freund Anton verliebt hatte. Der ältere Bruder nahm das schluchzende Mädchen in die Arme und tröstete sie so gut er konnte: »Ihr habt euch eben auseinanderentwickelt. Ihr passt nicht mehr zueinander, dafür kann niemand.« In diesem Rückhalt durch ihren Bruder fand Marie den dringend benötigten Trost und setzte, nach ihrer Ankunft in Zürich, schließlich einen Brief auf, mit dem sie die Verlobung löste. Später erinnerte sie sich, sie habe sich wie jemand gefühlt, der »nach harter Gefangenschaft endlich frei geworden.«28
Adolf blieb drei Jahre in Zürich. Gefolgt war ihm dorthin sein jüngerer Bruder Franz-Serafin, um an der neu gegründeten Eidgenössischen Polytechnischen Schule (später die Eidgenössische Technische Hochschule, kurz: ETH, Zürich) Physik zu studieren. Während dieser Zeit reiste Marie nochmals für einen ausgedehnten Besuch an, und die drei Geschwister saugten das reiche intellektuelle Leben der Stadt auf. Durch Adolfs juristische und Franz-Serafins naturwissenschaftliche Kollegen wurden die drei Teil eines lebhaften Kreises. Zu ihren Freunden zählten der berühmte Architekt Gottfried Semper, der Archäologe Karl Dilthey und der bekannte Poet, Schriftsteller und Politiker Gottfried Keller.29 Obwohl Keller die Fünfzig bereits überschritten hatte, als er Adolf kennenlernte, entwickelte sich zwischen den beiden eine innige und dauerhafte Freundschaft. Kellers bezaubernde Korrespondenz mit Adolf, vor allem aber auch mit Marie Exner, dauerte bis kurz vor Kellers Tod im Jahr 1890.30 Darüber hinaus besuchte der Schriftsteller die Exners im Sommer 1873 im Salzkammergut und dann nochmals 1874, als er für drei Wochen nach Wien kam.31
Zu jener Zeit als Keller die Exners zum zweiten Mal besuchte, hatte sich für die Geschwister bereits viel verändert. Adolf hatte Zürich verlassen, eine Professur an der Wiener Universität angetreten und teilte sich mit Marie einen Hausteil in der Stadt. Für Kellers Besuch hatten sie ein Zimmer hergerichtet – »ganz still und freundlich, mit einem Rosenbeet vor dem Fenster.«32 Auch Maries Leben hatte sich in eine bedeutsame Richtung entwickelt. Nach der Auflösung ihrer Verbindung mit Ludwig erblühte die Beziehung zu Anton von Frisch. Ihre Hochzeit planten die beiden für den Spätherbst 1874. Anton hatte sich mittlerweile eine Assistentenstelle bei dem berühmten Wiener Chirurgen Theodor Billroth erarbeitet und wurde im Jahr seiner Hochzeit mit Marie zum Anatomieprofessor an der Akademie der bildenden Künste ernannt, eine Position, die er während der folgenden fünfundzwanzig Jahre innehatte. Seine Karriere gedieh auch weiterhin: Er publizierte über alle möglichen Themen von Bakteriologie über Diagnostik bis Chirurgie und war schließlich wesentlich an der Etablierung des modernen Fachs der Urologie beteiligt.33 Anton von Frischs beruflicher Erfolg stellte einen hohen Lebensstandard sicher. Karl erinnerte sich später zwar, dass sie nie besonders vermögend gewesen waren, bekannte aber, dass sein Aufwachsen dank des von Marie geschickt gelenkten sozialen und intellektuellen Lebens der Familie privilegiert war.
Tonangebend war Marie auch beim Kauf und der Führung dessen, was ständige Sommerresidenz der Familie, sicheres Refugium während der beiden Weltkriege und Ort von Karls wesentlichsten Experimenten wurde.34 Kurz nach ihrer Hochzeit erwarben Marie und Anton eine alte Mühle in Brunnwinkl am Wolfgangsee, an jenem Ort im Salzkammergut, an dem sie sich erstmals getroffen hatten. Nach und nach kaufte die Familie Grundstücke und Häuser rund um die Mühle dazu, sodass sich die ländliche Familienresidenz schließlich auf fünf Häuser am See erstreckte. Das Anwesen wurde zum ständigen Ferienort, und zwar nicht nur für die Familie von Frisch selbst, sondern auch für ihre diversen einflussreichen Freunde.35 Marie führte hier eine Art ruralen Salon, zu dessen Gästeschar ihre gelehrte Familie ebenso zählte wie Theodor Billroth, der Komponist Johannes Brahms und die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach, die in Brunnwinkl aus ihren unvollendeten Manuskripten vorlas.
Abb. 1. 1. Die Mühle samt den benachbarten Häusern in Brunnwinkl im Salzkammergut. Marie hatte ihren Mann Anton von Frisch in den 1870ern davon überzeugt, das Anwesen zu kaufen. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurden die fünf Häuser am Ufer des Wolfgangsees zum glänzenden intellektuellen Zuhause für die Familie von Frisch und deren Freunde. Auch während der beiden Weltkriege war diese Sommerkolonie Familie und Freunden ein Refugium, und für Karl von Frisch war es ein zentraler Ort seiner wissenschaftlichen Arbeit. (Nachlass Karl von Frisch, Bayerische Staatsbibliothek, München, ANA 540.)
Auch der Nachwuchs des Ehepaars von Frisch wurde während der folgenden anderthalb Jahrzehnte mehr. Im Sommer nach der Hochzeit kam Hans zur Welt. Etwas weniger als zwei respektive drei Jahre später wurden Otto und Ernst geboren, und nach einer Unterbrechung von acht Jahren – im November 1886 – Karl. Als Jüngster wuchs er umgeben von Natur und Tieren auf, aber auch unter der intellektuellen Führung von Marie und deren Brüdern, die allesamt Universitätsprofessoren waren.
Seine Kindheit verwurzelte Karl von Frisch sowohl persönlich als auch intellektuell tief mit der Mühle und ihrer Umgebung in Brunnwinkl. Es war hier, wo er seine ersten Experimente an Aalen durchführte und eine Sammlung lokaler Fauna und Flora anlegte, die über die Jahre auf nahezu fünftausend Exemplare anwuchs. Die Fülle der Natur nahm ihn gefangen und er erinnerte sich, dass er »alles sammeln [wollte], nicht nur Schmetterlinge oder irgend eine andere ausgewählte Gruppe, wie es gewöhnlich geschieht.« Und auch seinen ersten »wissenschaftlichen Vortrag« hielt er in Brunnwinkl, und zwar vor einem Publikum, zu dem auch sein Onkel Sigmund Exner zählte, der später, an der Wiener Universität, sein Physiologieprofessor und intellektueller Mentor wurde.36
Abb. 1. 2. Karl von Frisch als Kind mit seinem Spielzeug. Wien, um 1888. (Nachlass Karl von Frisch, Bayerische Staatsbibliothek, München, ANA 540.)
Marie förderte das Interesse ihres Sohns an Tieren. Als sie zur Erholung nach einer Krankheit nach Istrien ans Meer reiste, nahm sie ihren Jüngsten mit. Jahre später erinnerte sich Karl von Frisch daran, dass es für ihn nichts Schöneres gab, als »stundenlang regungslos auf den Klippen zu liegen und zuzusehen, was sich auf den algenbewachsenen Steinen unter der Wasseroberfläche an Lebendigem zeigte. Ich kam dahinter, welche Zauberwelt sich dem geduldigen Beobachter enthüllen kann, wo der flüchtige Wanderer überhaupt nichts bemerkt.«37
Abb. 1. 3. Das Familien-Streichquartett bestand aus Karl (ganz rechts) und seinen älteren Brüdern (v. l. n. r.) Otto, Ernst und Hans. (Nachlass Karl von Frisch, Bayerische Staatsbibliothek, München, ANA 540.)
Karl von Frischs Unterricht begann mit Privatlehrern zu Hause. Später trat er in das exklusive humanistische Wiener Schottengymnasium ein, wo rund siebzehn Jahre später auch sein Mit-Nobelpreislaureat Konrad Lorenz Schüler war. Für den jungen von Frisch war der formale Unterricht kein ungetrübtes, erfolgreiches Vergnügen, und es waren vor allem die theoretischen Fächer wie Mathematik und Latein, die ihn peinigten.38 Doch in Fächern wie Naturgeschichte und Biologie machte ihn seine Leidenschaft für alles Lebendige zu einem fleißigen und fähigen Schüler. Diese beiden wurden seine Lieblingsgegenstände und ermöglichten ihm, Zusammenhänge zwischen Bücherwissen, seinen Begegnungen in der Natur und den zahlreichen Haustieren, die er hielt, herzustellen.
Abb. 1. 4. Der Student Karl von Frisch mit seinem Onkel, dem Experimentalphysiologen Sigmund (Schiga) Exner. Die Fotografie entstand in Brunnwinkl und zeigt Karls naturhistorische Sammlung. Bereits als Kind begann Karl die einheimischen Arten rund um die Mühle zu sammeln. Teile dieser Sammlung sind heute im nahen Heimatkundlichen Museum St. Gilgen zu sehen. (Nachlass Karl von Frisch, Bayerische Staatsbibliothek, München, ANA 540.)
Bis zu jener Zeit, als Karl von Frisch ins Gymnasium eintrat, war seine Menagerie beachtlich angewachsen. Er hatte erstaunliche 123 Tierarten zusammengetragen, unter denen sich lediglich neun Säugetiere befanden.39 Darüber hinaus kümmerte er sich versiert um seine Salzwasseraquarien, was ihn, wie er später sagte, die Kunst sorgfältiger Beobachtung gelehrt hat. Die innigste Beziehung jedoch entwickelte er zu einem Vogel: ein kleiner brasilianischer Sittich namens Tschocki, der rund fünfzehn Jahre bei der Familie lebte. Der Vogel beeindruckte den Jungen zutiefst, und er erinnerte sich, dass der Vogel ihn allen anderen Familienmitgliedern vorzog. Tschocki war sein ständiger Begleiter zu Hause, der »auf meiner Schulter saß, auf meinen Knien ein Schläfchen hielt, auf dem Schreibtisch Schulhefte und Bleistifte zernagte oder sich anderweitig in meiner Umgebung betätigte. […] Nachts schlief er neben meinem Bett, und am Morgen war der erste Griff in den Käfig, um den Vogel zur Begrüßung und Unterhaltung zu mir zu holen.« Als vogelkundiges Vorbild diente seine Mutter, die Jahr für Jahr eine Blaumeise in der Zoohandlung kaufte, sie mit der Hand aufzog und im Frühling freiließ.40
Im Jahr 1905 begann Karl von Frisch an der Wiener Universität Medizin zu studieren. Wien hatte sich bis zu dieser Zeit zur lebhaften Metropole entwickelt, in der es vom Komponisten Gustav Mahler über den Architekten Adolf Loos bis zu Gustav Klimt und Sigmund Freud von enorm wichtigen Denkern und kulturellen Erneuerern nur so wimmelte. Zwar war die pulsierende Hauptstadt des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs weder das einzige noch das erste urbane Zentrum, in dem diese Strömungen Wurzeln schlugen, und doch hat sich nach Meinung der Forscher »im Wien der Jahrhundertwende … die europäische Moderne in klarster und intensivster Form etabliert.«41 Auch die Naturwissenschaften waren Teil dieser Blüte, und die Exners – Karls Verwandte mütterlicherseits – zählten zu den glanzvollsten intellektuellen Familien der Stadt.
Ausgehend vom frühen 19. Jahrhundert bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus waren es drei Generationen der Familie Exner, die sich auf den Gebieten Physik, Physiologie, Meteorologie, Avantgardekunst, Rechtswissenschaften und Medizin auszeichneten und aus der nicht weniger als zehn Universitätsprofessoren hervorgingen. Mit den intellektuellen Strömungen in der Stadt waren sie ebenso eng vertraut wie mit der wachsenden Sommerkolonie in Brunnwinkl, wobei Privates und Berufliches durch Arbeit, Freizeit und Ehe nahtlos ineinander übergingen. Gemeinsam mit anderen, darunter die Physiker Ernst Mach und Ludwig Boltzmann, waren die Exners bestrebt, den Gespenstern, die Österreichs Politik und Kultur heimsuchten, etwas entgegenzusetzen. Ihre liberale Antwort auf linke Anarchie und rechten Klerikalismus war, einen auf Wahrscheinlichkeit beruhenden, wissenschaftlichen Denkansatz zu bieten. »Sie ›bändigten‹ die Ungewissheit, indem sie sie quantifizierten«, um es mit den Worten der Wissenschaftshistorikerin Deborah Coen auszudrücken.42
Trotz des zunehmenden intellektuellen und beruflichen Erfolgs, der ihn von allen Seiten umgab, war der junge Karl von Frisch weit davon entfernt, mit Zuversicht auf seinen eigenen Weg an der Wiener Universität zu blicken. Sein Herz gehörte der Zoologie, aber sein Vater, selbst Mediziner, hatte ihn überzeugt, dass ihm die Medizin eine sicherere Zukunft bieten würde. Doch ungeachtet der Zweifel war die Zeit an der Universität nicht vergebens, denn er hatte sich eine starke Basis in Anatomie, Zoologie und Histologie erworben. Vor allem arbeitete er mit seinem Onkel, dem Experimentellen Physiologen Sigmund Exner, der selbst unter den hervorragendsten Physiologen des 19. Jahrhunderts – zuerst bei Ernst Wilhelm von Brücke in Wien, später bei Hermann Helmholtz in Heidelberg – Medizin studiert hatte.
Die Sorgfalt, mit der Exner seine Experimente durchführte, und die Eleganz, mit der er sie demonstrierte, beeindruckten den jungen Karl von Frisch tief. Noch Jahre später erinnerte er sich voller Begeisterung an die Lehrveranstaltung seines Onkels, der »die Funktionsweise der menschlichen Organe ohne jedes unnötige Beiwerk in vorbildlicher Klarheit zur Darstellung« brachte. Er pries seinen Onkel für die Fähigkeit, »dem Gesagten durch wohldurchdachte Versuche die Kraft der Überzeugung zu verleihen.« Abend für Abend übertrug von Frisch seine Mitschrift in Sigmunds Vorlesungen und studierte sie sorgfältig. Insbesondere »die physiologischen Übungen interessierten mich brennend.«43 Neben diesen Pflichtveranstaltungen übernahm von Frisch unter der Führung seines Onkels auch sein erstes unabhängiges Forschungsprojekt. Mit diesen Experimenten erweiterte er Untersuchungen seines Onkels an Facettenaugen, indem er die Pigmente in den Augen von Motten, Hummern und Garnelen studierte.44
In den Augen von Wirbeltieren verändert die Iris ihre Form, um die Lichteinstrahlung durch die Pupille auf die Retina zu regulieren. Wirbellose haben diese Strukturen nicht und sind stattdessen von beweglichen Pigmenten abhängig, die den Lichteinfall steuern. Von Frisch machte sich auf, Natur und Ursache für diesen Pigmentwechsel zu enthüllen. Zu diesem Zweck brachte er wirbellose Tiere vom Dunkeln ins Helle und umgekehrt und untersuchte danach deren Augen. Die beiden unterschiedlichen Pigmentkonfigurationen, die sich aus den jeweiligen Lichtverhältnissen ergaben, nannte er »Lichtauge« und »Dunkelauge«. Diese Tests führte er sowohl an lebenden Tieren in verschiedenen Stadien heller und dunkler Umgebung durch als auch an Tieren, die er in bestimmten Zeitabständen während des Übergangs von hell zu dunkel tötete. In einer darauffolgenden Versuchsreihe setzte er lebende Tiere Licht mit verschiedenen Wellenlängen aus und stellte fest, dass die Pigmente gegenüber blauviolettem und violettem Licht am empfindlichsten waren.
Nachdem er das Tempo des Pigmentwechsels studiert hatte, untersuchte er, ob das Licht selbst oder ob Nervenreize den Wechsel der Pigmentzellen auslöste. Er testete die für Nervenstimulation üblichen Verdächtigen – elektrische Stimuli, Säuren und Basen, unterschiedliche Temperaturen und sogar Radium und Röntgenstrahlung –, fand jedoch heraus, dass keiner davon den Pigmentwechsel in den Augen der Tiere verursachte.
Die Veröffentlichung der Resultate begann er mit einem Dementi: »Die im folgenden mitgeteilten Versuche führten keineswegs zu klaren Resultaten. Wenn diese dennoch veröffentlicht werden, geschieht es, weil in diesem Fall auch die negativen und oft unverständlichen Ergebnisse nicht uninteressant scheinen und vielleicht zu weiteren Untersuchungen anregen.«45 Was die durch und durch sorgfältige Studie tatsächlich zeigte, war ein vielversprechender, fleißiger Student der vergleichenden Physiologie. Systematisch isolierte und untersuchte von Frisch die verschiedenen Faktoren, die im Pigmentwechsel des Auges eine Rolle spielen könnten. Er nahm die Arbeit seines Onkels als Ansatzpunkt, überarbeitete dessen Entdeckungen und ging dabei noch mehr ins Detail. Der Arbeitsstil ist eindeutig jener eines Experimentellen Physiologen, der die Organe von Tieren sowohl in vivo als auch in vitro untersuchte.
In dieser Publikation wurde nicht nur pflichtschuldig von den verschiedenen Fallstricken und Misserfolgen des Experiments berichtet. Sie vermittelt darüber hinaus lebhaft, wie es für den jungen Wissenschaftler war, mit diesen Tieren zu arbeiten und das Durchführen heikler chirurgischer Eingriffe zu lernen. Bei einer Garnelengruppe etwa trennte er die haarfeinen Fasern der optischen Nerven der Tiere. Der Text gibt keine ganz klare Antwort auf die Frage, ob die Tiere diese Prozeduren überlebten oder ob das für das Experiment tatsächlich erwünscht war. Aber zumindest bei einigen Fällen lässt sich herausfinden, dass er Experimente an postoperativen Tieren durchführte, die das vorhergehende Prozedere offensichtlich überlebt hatten.
Die Arbeiten an den Tieren verlangten, selbst wenn von Frisch nicht gerade das Skalpell schwang, beträchtliche Fähigkeiten und Geduld. Um die Auswirkungen einer teilweisen Belichtung auf Krebsaugen zu testen, schmierte er eine klebrige Mischung aus Alkohol und Ruß auf die Augen der Tiere. Er beschrieb diese Prozedur einigermaßen genau und hielt sie für »nicht ganz leicht«, da »Gestalt, glatte Beschaffenheit und ihre große Empfindlichkeit selbst gegen geringe Lichtmengen erschwerende Umstände« bildeten. Behindert wurde der Aufwand noch durch den heftigen Widerstand der Tiere gegen diese Behandlung: »Da die Tiere die lästige Kappe mit ihren Füßen geschickt abzulösen verstehen, muss man auch den Augenstiel miteinschließen.« Nach »einigen missglückten Versuchen« entschied er sich für eine Lösung von »Celloidin in Ätheralkohol«, die mit Ruß zu einem »dicken, rasch erstarrenden Brei gemischt wird«, um damit den Tieren die Augen zu verkleben.46
Obwohl von Frisch, wie es sich für einen angehenden Wissenschaftler dieser Ära gehörte, in seinen Publikationen einen gewissen Grad an Abstand hielt, erzählen seine rückblickenden Betrachtungen dieser Experimente eine einigermaßen andere Geschichte. Und auch wenn er »mit Eifer« an seine Arbeit heranging, wie er sich später erinnerte, sah er sich doch »schnell in einem Konflikt. Ich musste die Augen der lebenden Krebse mit elektrischen Strömen reizen, was ihnen sichtlich unangenehm war.« Sein Widerwille war heftig: »Jeder Versuch kostete mich eine Überwindung. Doch blieb der Forschertrieb stärker als das Mitleid. Zu ähnlichen Versuchen an Vögeln oder Säugetieren mit ihrem höher entwickelten und gewiss auch empfindlicheren Nervensystem hätte ich mich allerdings auch später kaum entschließen können.« Karl von Frischs Sympathien waren instinktiv und gleichzeitig von seinem wissenschaftlichen Verständnis von Verwandtschaft und evolutionärer Hierarchie geprägt, das Menschen und Säugetiere an die Spitze der Schmerzempfindungsskala setzte. Und obwohl die Studie letztlich ergebnislos blieb, erkannte er später, dass die Arbeit ein bleibendes Interesse für das Experiment und die Sinnesphysiologie in ihm geweckt hatte.47
Im Jahr 1908 führte ihn diese wachsende Leidenschaft für die Zoologie und das Experimentieren weg von der Wiener Universität. Nachdem er alle medizinischen Examina mit Auszeichnung bestanden hatte, entschied er sich gegen eine Fortsetzung dieses Studienplans, der nun zunehmend klinisch wurde. Für ein Doktorat in Zoologie an Richard Hertwigs Zoologischem Institut in München ließ er die Medizin und Wien hinter sich. Hertwig hatte in jener aufregenden Zeit in Jena studiert, als Ernst Haeckels und Carl Gegenbaurs gemeinsame Regentschaft die Studenten mit einer fesselnden Kombination aus Anatomie, Zoologie und Evolution versorgt hatte. Zwei ihrer vielversprechendsten Studenten waren Richard Hertwig und dessen Bruder Oscar. Von Frisch hatte, obwohl er Richard Hertwig nun erstmals persönlich traf, bereits als Junge ein Buch über Seeanemonen von den Hertwig-Brüdern gelesen.48
Hertwigs Institut befand sich in einem alten Klostergebäude im Zentrum Münchens. Seinen Wurzeln entsprechend, wandelte sich der einstige Klosterbezirk zu dem immens konzentrierten Ambiente für von Frischs Studien. Er befand, dass es einem in dieser »harmonischen Abgeschiedenheit … nicht schwer fiel, sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren.« Das Institut war das Zentrum einer neuen Art von Wissenschaft, wo »neben der Morphologie und vergleichenden Anatomie die experimentelle Zoologie lebendig wurde.«49 Karl von Frisch wurde zum begeisterten Teilnehmer an Hertwigs großem Praktikum, eine Kombination aus Vorlesung und Laborübung, in dem Studenten in die Grundlagen der neuen Biologie eingeführt wurden. Der Kurs fand sechsmal pro Woche statt und begann um sieben Uhr morgens.
Es war bei dieser Lehrveranstaltung, dass von Frisch die Bekanntschaft des ebenfalls neuen Studenten Otto Koehlers machte, der ihm ein enger Freund und Verbündeter wurde. Während der ersten Wochen in München entstand zwischen den beiden ein abendliches Ritual. Wenn sie mit ihrer Arbeit am Institut fertig waren, fuhren sie mit ihren Fahrrädern in von Frischs Studentenwohnung. Dort plauderten sie während eines einfachen Nachtmahls aus Brot, Butter, Wurst und Käse über alles, was tagsüber vorgefallen war, über ihre Pläne und was ihnen sonst noch alles einfiel. So entwickelte sich trotz der unterschiedlichen Herkunft der beiden jungen Männer eine ungezwungene Freundschaft. Abgesehen davon, dass es ihnen ihr Wiener respektive preußischer Dialekt manchmal auf heitere Weise schwer machte, einander zu verstehen, war Koehler völlig anders aufgewachsen als von Frisch. Koehler war schon früh zur Waise geworden und daher allein und ohne direkte familiäre oder finanzielle Unterstützung. Nach einem seiner Besuche in der Sommerresidenz der Familie von Frisch in Brunnwinkl brachte er seine Bewunderung und seine Sehnsucht nach einer innig verbundenen und intellektuell lebhaften Familie zum Ausdruck. Später erinnerte sich von Frisch, dass dadurch seine eigene Wertschätzung für sein besonderes Aufwachsen geweckt worden war.50 Doch so sehr Koehler familiärer Hintergrund fehlte, so sehr stürzte er sich ins Lernen. Bereits als junger Mann verfügte er über großes Wissen in den Bereichen Geschichte, Kunst und besonders Musik. Auch von Frisch hatte eine humanistische Erziehung genossen, schon früh Violine gelernt und mit seinen drei Brüdern ein Streichquartett gebildet. Doch im Vergleich mit Koehlers musikalischen Fähigkeiten tat von Frisch seine eigenen als dilettantisch ab.
Abb. 1. 5. Ein Blick in den Innenhof des einstigen Klosterbaus, in dem sich Hertwigs (und später von Frischs) Münchner Zoologisches Institut befand. Im Hintergrund sieht man die Zwillingstürme der Frauenkirche. (Nachlass Karl von Frisch, Bayerische Staatsbibliothek, München, ANA 540.)
Außer Koehler wurden auch einige der vielversprechendsten jungen Wissenschaftler dieser Zeit zu engen Freunden, darunter der Genetiker Richard Goldschmidt und Franz Doflein. Goldschmidt war Hertwigs Chefassistent, Doflein war eben zum Assistenzprofessor für Systematik und zum Kurator der Zoologischen Staatssammlung ernannt worden. Gern erinnerte sich von Frisch später an die Naturexkursionen, die er mit Doflein in und um München und auch in weiter abgelegene Gebiete unternommen hatte.51
Nach nur zwei Semestern in München kehrte von Frisch bereits 1909 wieder nach Wien zurück, um näher bei seiner Familie zu sein, während er forschte und an seiner Dissertation schrieb. Zurück in Wien, wandte er sich an Hans Przibram, der eine biologische Forschungseinrichtung im Wiener Prater leitete. Das Vivarium oder die Biologische Versuchsanstalt, kurz: BVA, wie dieses Institut offiziell hieß, war 1903 – sechs Jahre bevor von Frisch dazustieß – gegründet worden. Errichtet hatte man das Gebäude im Stil der Neo-Renaissance anlässlich der Wiener Weltausstellung 1873, bevor es Hans Przibram mit zwei Kollegen, Wilhelm Figdor und Leopold von Portheim, mit ihrem Privatvermögen zu Beginn des 20. Jahrhunderts erwarb.52 Das Wien der Jahrhundertwende wird immer als Heimat von Freud, Mahler, Klimt und den Mitgliedern der Secession in Erinnerung bleiben. Auch die Naturwissenschaften erreichten einen Höhepunkt um 1900 in Wien. Und dennoch gediehen einige Fächer, wie zum Beispiel Biologie, eher weniger gut, da sie mit zu knappen Mitteln und traditionellem Ansatz betrieben wurden. Im neuen Gebäude war es zudem verboten, lebendige Tiere zu halten. Aus diesen Gründen war es praktisch unmöglich für Wissenschaftler wie Przibram, sich dort der neuen esperimentellen Biologie zu widmen.53 Auf dem ohnehin umkämpften akademischen Arbeitsmarkt konnten solche Machenschaften verheerende Auswirkungen auf viele junge Juden haben. Przibram, gut ausgebildet, fähig und dank seiner Familie reich, und seine Kollegen widmeten ihre ganze Energie der Einrichtung eines Instituts, in dem die neue Art einer höchst experimentellen und interdisziplinären Biowissenschaft ein Zuhause finden sollte. Die Arbeit an der BVA, so Przibram, »soll sich auch nicht auf bestimmte Probleme beschränken, sondern alle großen Fragen der Biologie in ihren Bereich ziehen.« Er fuhr damit fort, ausführlich über jene Organismen zu schreiben, die diesem Ziel dienen sollten: »Tiere und Pflanzen, Bewohner des Süßwassers, des Meeres und des Landes sind gleich willkommen.«54
Während ein Großteil des 19. Jahrhunderts von morphologischen Studien toter, oft sogar ausgestorbener Tiere dominiert war, entstand gegen Ende des Jahrhunderts eine neue Art von Biowissenschaft, die ihre Aufmerksamkeit nun lebendigen Prozessen wie Vererbung, Regeneration und Reproduktion zuwandte. Jene, die dies praktizierten, taten das zunehmend mit Blick auf die experimentellen und quantifizierenden Methoden der Naturwissenschaften und der Physiologie. Die BVA bot dafür ein in vier Bereiche – Zoologie, Botanik, physikalische Chemie und Physiologie – unterteiltes Umfeld, das sich ganz den Fragestellungen und Prozessen des Lebens widmete. Um diesen Ansprüchen zu genügen, wurde es immer wichtiger, dass die untersuchten Tiere und Pflanzen die Versuche der Wissenschaftler lange genug überlebten, um ihr Verhalten und ihre Strukturen über längere Zeiträume, ja Generationen preiszugeben. Genau dafür war die BVA geschaffen worden.
Przibram und seine Kollegen hatten das Gebäude komplett entkernen und dann auf dem neusten Stand der Technik ausstatten lassen. Süß- und Salzwasserbecken (Letztere befüllt mit Meerwasser, das man mit Güterwaggons aus Triest heranschuf) mit ausgefeilten Belüftungsund Zirkulationssystemen beherbergten Wassertiere. Terrarien, Käfige, Gärten, Teiche, Gehege und Ställe dienten alle dem einen Zweck, die lebenden wissenschaftlichen Materialien am Leben zu erhalten. Dazu kamen Räume, deren hohe Luftfeuchtigkeit ein tropisches Habitat vortäuschte, und eine Höhle, die man fünf Meter in den Boden gegraben hatte, um absolute Dunkelheit und eine konstante Temperatur von zwölf Grad zu gewährleisten. Es gab spezielle Vorrichtungen, um die Wirkung der Schwerkraft auf Tiere und Pflanzen zu untersuchen, und vollkommen dunkle Räume, um das Umgebungslicht sorgfältig regulieren zu können.55 Viele Jahre später, nachdem die Nazis das Institut übernommen hatten und das Gebäude im Krieg schließlich zerstört worden war, erinnerte sich von Frisch anerkennend: »Dort roch es nicht nach Nelkenöl und vergälltem Alkohol, dort regierte das lebende Tier – und dorthin zog es mich.«56
Als von Frisch bei Przibram begann, übertrug ihm dieser eine Studie der Entwicklungsgeschichte der Gottesanbeterin, ein Organismus, an dem Przibram selbst gearbeitet hatte. Von Frisch langweilte sich bald mit diesem Thema, stieß jedoch zufällig auf einen Kommilitonen, der am Pigmentwechsel von Elritzen arbeitete. Diese Tiere zeigen einen rapiden Farbwechsel, wenn sie durch unterschiedlich beleuchtetes Wasser schwimmen. Von Frisch war Feuer und Flamme. Er hielt das für die natürliche Fortsetzung seiner früheren Studien am Pigmentwechsel von Facettenaugen, die er unter Exner an Wirbellosen durchgeführt hatte. Przibram gab seinen Segen, und von Frisch machte sich auf der Stelle an die Untersuchung, wie dieser Farbwechsel im Fisch reguliert wurde. So wie von Frisch es selbst sah, war er neuerlich »einem vergleichenden physiologischen Thema verfallen«, und er begann die Besuche bei seinem Onkel Sigmund am Physiologischen Institut wiederaufzunehmen, um sich Rat zu holen.57
Ausgehend von den früheren Studien Félix Pouchets begann von Frisch damit, den Grenzstrang im Körper des Fisches direkt unter seiner Rückenflosse einzuschneiden. Nahezu sofort wurde der Fischschwanz – beginnend am Einschnitt – dunkel. Wenn er den Grenzstrang des Fisches danach mit Elektrizität stimulierte, wurde die Haut wieder hell, was darauf schließen ließ, dass Kontraktionen die Zellen heller erscheinen ließen. Im Gegensatz dazu ließ die durch den Nervenschnitt verursachte Erschlaffung die Pigmente an die Hautoberfläche steigen, wodurch die dunklere Färbung entstand. Als von Frisch den Einschnitt bei verschiedenen Fischen nach und nach höher am Rückenmark ansetzte, veränderte der Körper die Farbe immer bereits ab der Stelle hinter dem Einschnitt. Das galt zumindest so lange, bis er einen Punkt genau über der Dorsalflosse erreichte, womit plötzlich der Kopf schwarz wurde, während der hinter dem Einschnitt liegende Teil unverändert blieb. Wenn er einen Teil des Sehnervs an seinem Ursprung hinter dem Dach der Augenhöhle trennte, wurde der Kopf von den Augen bis zum Maul ebenfalls dunkel. Weitere Experimente mit diesen Tieren legten offen, dass die Kontraktion der Pigmentzellen von zwei separaten Nervenbahnen vermittelt wurde. Einer war dabei für die Farbveränderung im vorderen Körperbereich verantwortlich, der andere kontrollierte den Bereich hinter dem fünfzehnten Wirbel.58
Abb. 1. 6. Abbildungen von Fischen, die von Frisch in seiner frühen Arbeit über die nervale Steuerung des Farbwechsels verwendete. (Karl von Frisch: Beiträge zur Physiologie der Pigmentzellen in der Fischhaut. In: Festschrift zum sechzigsten Geburtstag Richard Hertwigs, Bd. 3. Jena, G. Fischer, 1910, Tafel 7.)
Nach nur einem Semester legte Karl von Frisch seine Dissertation vor und war für die mündlichen Prüfungen bereit. Haupt- und Nebenfach waren Zoologie respektive Botanik. Darüber hinaus wurde eine Philosophieprüfung verlangt, ein Fach, über das von Frisch zugab, »wenig« zu wissen. Entgegen allen Erwartungen stolperte er durch den zoologischen Teil seines Examens, was doch eigentlich sein stärkstes Fach hätte sein sollen. Sein Prüfer hatte ihm Fragen gestellt über Themen, die von Frisch für »sehr langweilig« hielt und auf die ihn seine Zeit in München nur schlecht vorbereitet hatte. Doch zu seinem größeren Schrecken absolvierte er seine Philosophieprüfung mit Auszeichnung. Dieses überraschende Ergebnis fiel mit der Gelegenheit zusammen, seiner Frustration darüber Ausdruck zu verleihen, dass sein Prüfer die Evolutionslehre ablehnte. Seine »erste und einzige Frage« war genau zu dieser Theorie. Karl von Frisch vergaß sich offensichtlich selbst und schwang während der verbleibenden Prüfungszeit eine glühende Rede über die Gültigkeit dieser Lehre. Der Professor, von der Leidenschaft des jungen Mannes wohl ebenso gebührend beeindruckt wie von seinem Wissen, billigte ihm ein »Ausgezeichnet« zu, und zwar aufgrund der Tatsache, dass er »eine eigene Meinung vertreten« hätte.59 Dieses Vorkommnis weist auf eine wesentliche und bleibende Überzeugung Karl von Frischs hin: Funktionelle Merkmale in Organismen sind adaptiv und Strukturen von Lebewesen legen Zeugnis für ihre evolutionäre Geschichte ab.
Im Jahr 1910 kehrte von Frisch nach München zurück, um eine Assistentenstelle unter Hertwig anzutreten. Nun arbeitete er eng mit Hertwigs erstem Assistenten Richard Goldschmidt zusammen und half, die große Labor-Lehrveranstaltung des Zoologischen Instituts, in der er zwei Jahre vorher seinen Freund Otto Koehler kennengelernt hatte, zu leiten. Darüber hinaus konnte er seinem eigenen Forschungsinteresse nachgehen. Durch seine Arbeit an der Sinnesphysiologie der Fische und später der Bienen geriet der junge Forscher bald in eine der hitzigsten Debatten seiner Karriere.