KAPITEL VIER

Im Dienste des Reichs

image

Von Beginn an betrachtete Karl von Frisch diese Tortur, die seine Arbeit gefährdete, als einen Test seiner Nervenkraft ebenso wie seines funktionierenden Netzwerks. An Otto Koehler schrieb er: »Es scheint mir sehr zweifelhaft, ob etwa eingeleitete Aktionen oder Eingaben irgend einen Erfolg versprechen, wenn es nicht etwa gelingt, sehr maßgebende Leute dafür zu interessieren.«197 Von Frisch war gut vernetzt, doch sich durch die unergründliche Bürokratie der verschiedenen Ministerien zu navigieren, war eine gewaltige Herausforderung. Die ganze Situation war ausgesprochen heikel und verlangte ein genaues Abwägen jedes einzelnen Schritts. Der Schlüssel war, die Unterstützung so vieler einflussreicher Menschen wie möglich zu bekommen, dabei aber darauf zu achten, dass die Angelegenheit nicht allgemein bekannt wurde, um nicht den Gegnern in die Hände zu spielen. In seinem Brief an Koehler äußerte sich von Frisch daher auch besorgt darüber, dass zu viel Aufmerksamkeit die Beamten im Reichsministerium dazu veranlassen könnte, seine Entlassung stärker voranzutreiben, um so Parteimitglieder zufriedenzustellen.

Innerhalb von Tagen, nachdem er von seiner drohenden Entlassung erfahren hatte, schrieb von Frisch nicht nur an Koehler, sondern auch an drei weitere Wissenschaftler: Alfred Kühn, Fritz von Wettstein und Hans Spemann. Kühn arbeitete als Mitherausgeber der Zeitschrift für vergleichende Physiologie seit mittlerweile zwanzig Jahren mit von Frisch zusammen. Er und von Wettstein zählten zu den mächtigsten Wissenschaftlern Deutschlands. Jeder von ihnen leitete eine Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin, beide zählten zu Deutschlands bestfinanzierten Biologen und unterhielten ausgezeichnete Kontakte zum Germany Emergency Committee.198 Sie unternahmen alles, was in ihrer Macht stand, um von Frischs Schicksal abzuwenden: Sie schrieben Briefe, sprachen mit Ministern, organisierten Besprechungen, sandten Telegramme, dachten sich Strategien aus, telefonierten und versuchten, diskret weitere Verbündete an Bord zu holen. Gleichzeitig korrespondierten sie kontinuierlich mit von Frisch und schwankten in ihren Briefen zwischen dem Drängen, von Frisch möge den Mut nicht verlieren, und der vorsichtigen Aufforderung, Vorbereitungen für den schlimmsten Fall zu treffen.

Eine illustre Größe innerhalb Deutschlands Wissenschaft war auch Hans Spemann, der 1935 den Nobelpreis für seine Arbeiten im Bereich der Embryonalentwicklung erhalten hatte. Zwar stammte er aus der Generation vor von Frisch, doch Spemann hatte die Karriere des jüngeren Kollegen über die Jahre mit warmer Anteilnahme und Ermutigung verfolgt. Als von Frisch 1921 die Professur in Rostock antrat, schrieb ihm Spemann, der diesen Posten einige Jahre zuvor besetzt hatte: »Es freut mich außerordentlich zu hören, dass Sie den Ruf nach Rostock erhalten haben …« Nostalgisch erinnerte er sich an sein altes Institut: »Und wenn ich an meinen Arbeitsplatz denke mit dem Blick auf die alten Bäume des Blücherplatzes und auf die Jacobikirche, wo die weißen Möwen fliegen als Boten des nahen Meeres, so könnte ich Sie beneiden.« Und er bat von Frisch, »das trauliche alte Institut« zu grüßen.199 Jetzt, genau zwei Jahrzehnte danach, wandte sich von Frisch um Hilfe an Spemann.

Schockiert und traurig antwortete Spemann auf von Frischs Neuigkeiten und drückte sein Mitgefühl auf einer noch vertrauteren Ebene aus: »Also Menschen wie Ihre Mutter sollten nicht mehr unter uns wohnen dürfen! Man möchte verzweifeln.« Von Frischs Mutter war zwar zur Zeit der Machtergreifung der Nazis bereits tot, doch was Spemann damit ausdrücken wollte, war klar: Er betrachtete das, was das Regime tat, als jenseits jeglichen menschlichen Anstands. Spemann ermutigte von Frisch, das Kinn erhoben zu halten, und: »Lassen Sie es gar nicht in sich hinein, das Gift.«200

Zu Spemanns Kampagne zählte auch ein Brief an Bernhard Rust, den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, der innerhalb der Nazihierarchie eine gute Position innehatte und Zugang zu höchsten Regierungsbeamten. Spemann begann seinen Brief mit einer dankbaren Erinnerung an die Glückwünsche, die ihm der Minister anlässlich der Nobelpreisverleihung gesandt hatte. Danach plädierte er für Nachsicht im Fall von Frisch. Würde dieser von seinem Posten entfernt, warnte Spemann, wäre »unsere deutsche Biologie von einem der schwersten Schläge, welche sie überhaupt treffen könnte« bedroht. Er betonte von Frischs internationale Reputation, sein unermüdliches Wirken in der Ausbildung von Ärzten, Lehrern und Wissenschaftlern und die zentrale Rolle, die er für das Gedeihen des Münchner Zoologischen Instituts spielte. »Er ist einer unserer Besten und in gewissem Sinne unersetzlich.«201

Spemanns Brief war typisch für eine bestimmte Art, sich für von Frisch einzusetzen: Ein berühmter Wissenschaftler spricht für die Arbeit von Frischs und dessen Bedeutung für die deutsche Wissenschaft. Es gelang von Frisch und seinen Verbündeten, einige der meistrespektierten und einflussreichsten Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu mobilisieren. Dabei handelte es sich auch wahrhaftig um jene »maßgeblichen Leute«, auf die von Frisch in seinem Brief an Koehler gehofft hatte. Und doch kamen jene Menschen, deren Argumente sich letzten Endes als am entscheidendsten für von Frisch herausstellten, aus einer ganz anderen Richtung, und zwar nicht aus der theoretischen, sondern aus der angewandten Wissenschaft. Über ein Jahr, nachdem von Frisch die Nachricht von seiner drohenden Entlassung erhalten hatte, schrieb ihm sein Freund Otto Koehler einigermaßen erbittert, dass das Reichserziehungsministerium unschlüssig gegenüber jenen Einwänden war, die sich auf die reine Wissenschaft bezogen, sich aber willens zeigte, »dem Druck der angewandten Wissenschaft« nachzugeben.202

Auch wenn Wissenschaftshistoriker der Vorstellung eine Absage erteilen, nur angewandte, besonders ideologisch verbrämte oder kriegsorientierte Wissenschaften wären im Nazi-Deutschland erfolgreich gewesen, lässt von Frischs Fall etwas anderes vermuten: Abseits der etabliertesten Theoretiker versprachen die praktischen Implikationen der Forschungsarbeit doch das höchste Maß an Unterstützung, zumal der Krieg sich in die Länge zog. Als von Frisch zu begreifen begann, dass das Pragmatische, das real Anwendbare das Theoretische übertreffen würde, verlagerte sich seine Strategie deutlich. Erstens rekrutierte er mehrere Verbündete aus praktischen Disziplinen. Und zweitens betrachtete er seine Arbeit nicht mehr von einem im Wesentlichen akademischen Standpunkt, sondern aus einem eher praktischen Blickwinkel. Diese Veränderung war nicht nur auf der Ebene der öffentlichen Beziehungen von Bedeutung, sondern auch für seine Forschungsarbeit.

image

Am 2. Februar 1941, nur wenige Wochen nachdem von Frisch erfahren hatte, dass seine Position in Gefahr ist, veröffentlichte er in der nationalsozialistischen Zeitschrift Das Reich einen Beitrag, in dem er die Nützlichkeit der Arbeit in seinem Laboratorium betonte. In diesem wöchentlich erscheinenden Nachrichtenmagazin wurde aus den Bereichen Politik, Sport und Kultur berichtet. Es diente als Sprachrohr für Nazi-Ideologen und brachte regelmäßig Leitartikel von Propagandaminister Joseph Goebbels. Unter dem Titel Deutsche Forschung im Krieg brachte von Frisch dem Leser eine sorgfältig formulierte Botschaft über die praktische Bedeutung der Arbeit seines Instituts für Ernährung, Landwirtschaft und den Krieg.203 Hervorgehoben wurde in diesem Artikel die große Bandbreite der Forschungsarbeit in seinem Laboratorium, die sich vom Hörvermögen von Fledermäusen bis zum Geschmackssinn bei Schnecken erstreckte. Im Kern war der Beitrag ein Versuch, die Forschungsarbeit einer breiten deutschen Leserschaft nahezubringen und auf diese Weise ihre öffentlichen Konturen zu stärken. Gleichzeitig wurde damit die Nützlichkeit der Arbeiten für das deutsche Kriegsgeschehen betont. Wollte er irgendeine Chance haben, dass seine Entlassung rückgängig gemacht wurde, so musste er gewichtige Argumente für die Bedeutung seiner Arbeit liefern – und zwar für ein Publikum, das weit über die enge Gruppe seiner Kollegenschaft hinausreichte.

Überall im Text und in den Bildern tauchten Bezüge zum Krieg auf. Ein Doktorand, der sich über ein Mikroskop beugte, trug Uniform unter dem weißen Laborkittel. In der Bildlegende wurde erklärt, dass der Student vom Militärdienst beurlaubt worden war, um seine Arbeit über den Gehörsinn der Fische abschließen zu können. In einem anderen Bildtext erfuhren die Leser, dass die junge Frau, die bei der Beobachtung von Schnecken und Nacktschnecken zu sehen war, von ihren Pflichten im Rahmen der Flugabwehr befreit sei, um Forschungen zu betreiben, die Deutschlands Landwirtschaft vor dem Schaden, die diese Kreaturen anrichten, zu bewahren.

Von Frisch selbst war vor einem Aquarium zu sehen, während eine Frau neben ihm Notizen machte. Er untersuchte gerade, was geschah, wenn ein Schwarm Elritzen – »diese kleinen, wehrlosen, friedlichen Fische« – in ein Wasser gesetzt wurde, das mit dem Geruch ihrer »Feinde« – der Hechte – versetzt worden war. Laut Bildlegende reagierte der gesamte Schwarm unmittelbar darauf, wenn ein solches Wasser in ihr Aquarium geschüttet wurde, und floh ans andere Ende des Beckens. Das Ziel dieser Forschung war die Feststellung dessen, was die erstaunliche Gleichzeitigkeit der Panikreaktion der Tiere steuerte. Von Frisch erklärte, dass diese Arbeit einen praktischen Nutzen hat, in diesem Fall für die menschliche Psychologie: »Von der Sinnesphysiologie ist kein großer Schritt zur Tierpsychologie. Viele Triebe und Gemütsbewegungen der menschlichen Seele treten uns schon im geistigen Leben der Tiere entgegen, oft freilich nur in bescheidenen Anfängen.« Damit, dass er seine Leser in die Dialektik von Heldenmut und Feigheit hineinzog, überzeugte er sicherlich alle von der Relevanz seiner Forschungsarbeit. Beispiele für deutsches Heldentum und die Zaghaftigkeit der Feinde waren in der Propaganda der frühen 1940er-Jahre häufig zu hören. Doch wie von Frischs frühere Arbeiten oft zeigten – und zwar selbst dann, wenn er für Psychologen schrieb –, vermied er, den Sprung vom Tier zum Menschen zu wagen und warnte eher vor einer banalen Übertragung.204 Nur in diesem Fall sprach er sich für diese Verbindung aus.

image

Abb. 4. 1. Karl von Frisch und eine Assistentin arbeiten an den Angstreaktionen von Elritzen, wenn diese dem Geruch ihrer Feinde ausgesetzt sind. Dieses Bild war Teil des 1941 erschienenen Beitrags in der Nazi-Zeitschrift Das Reich, in der über die Forschungsarbeit an von Frischs Institut berichtet wurde. (Ullstein Bild/Getty Images.)

In dem Beitrag für Das Reich wurden auch von Frischs Forschungen über die Auswirkung von Nahrungsentzug auf Mehlmotten beschrieben. Obgleich von Frisch vage blieb, was die Resultate betrifft (zweifellos deshalb, weil die Arbeit noch nicht ausgereift war), so hielt er doch fest: »Wenn das Futter in nicht ganz zureichender Menge geboten wird, wirkt sich dies im Laufe der Generationen in bestimmter Weise aus.« Er konnte davon ausgehen, dass diese Arbeit ihren Widerhall bei jenen Lesern finden würde, die sich mit Lebensmittelknappheit während des Kriegs auseinandersetzen mussten.205 Außerdem hielt er fest: »Mit Menschen kann man solche Versuche nicht anstellen.« In Anbetracht der Gräueltaten der Nazis, die ja tatsächlich genau zu dieser Zeit Hungerexperimente im großen Rahmen an KZ-Insassen durchgeführt haben, erscheint von Frischs Anmerkung geradezu bestürzend ahnungslos.206

Mit diesem Beitrag bemühte sich von Frisch jedenfalls, der Auffassung von Parteifunktionären und Öffentlichkeit, in seinem Labor würden nur esoterische Tierbeobachter arbeiten, etwas entgegenzusetzen. Er argumentierte, dass, obwohl Teile seiner Forschungsarbeit nicht unmittelbar anwendbar waren, die gesunde Wissenschaft dennoch auch auf theoretischen Ansätzen basierte. Darüber hinaus war es immer möglich, dass Projekte, die ursprünglich nur akademischen Zwecken dienten, unvorhergesehenen praktischen Nutzen hervorbringen. Beispielsweise informierte er die Leser, dass die Vererbungswissenschaft ursprünglich ausschließlich wissenschaftliche Hintergründe hatte, heute aber »sucht das Deutsche Reich sie so intensiv wie möglich zum Vorteil des Volkes zu ergründen.«

Die Behauptung von Frischs, die Genetik sei aus rein akademischen Gründen aufgegriffen worden, ist natürlich falsch, da doch ihre Geschichte zutiefst mit der Zucht von Pflanzen und Tieren verbunden ist.207 Doch indem er die Eugenik ins Feld führte, konnte er einigermaßen sicher sein, dass seine Worte Anklang bei den Lesern dieser ultra-nationalsozialistischen Publikation finden würden.208

Das Thema Eugenik war weder von Frisch noch vielen der Wissenschaftlern dieser Zeit neu. In einem populären Biologiebuch, das 1936 – einige Jahre bevor sein eigenes Erbe hinterfragt wurde – erschienen war, hatte von Frisch einen ganzen Abschnitt der Frage gewidmet, wie man das Wissen um Erbanlagen von Pflanzen und Tieren für die Verbesserung der menschlichen Rasse anwenden könnte. Das Buch erschien in zwei Auflagen – die erste beim Verlag Ullstein, die zweite beim Deutschen Verlag unter der Schirmherrschaft der Goebbels Stiftung für die Deutsche Wehrmacht, die Lesematerial speziell zur Unterhaltung und Erbauung der Truppen publizierte.209

Wie in solchen Darstellungen üblich, beklagte von Frisch in diesem Biologiebuch-Kapitel, dass sich der menschliche Bestand verschlechtert. Seiner Ansicht nach hatten Medizinwissenschaft und menschliches Empfinden den Menschen größtenteils von der gnadenlosen Selektion, die über den Rest der lebendigen Welt herrschte, ausgenommen. Die fehlende Beschränkung der Vermehrung jener mit mentalen oder physischen Defekten sowie der gleichzeitige Wunsch der »wertvollen Teile des Volkes«, die Anzahl ihrer Kinder niedrig zu halten, verbanden sich mit den dysgenischen Auswirkungen des Krieges, und alle zusammen trugen zum allgemeinen Verfall der Rasse bei.210 Er bemängelte, dass Erziehung allein nicht ausreichte, um diese besorgniserregenden Tendenzen in den Griff zu bekommen, und bot als wirksame Lösung den »schmerzlosen Eingriff« an, mit dem man jene sterilisieren konnte, die »schwachsinnig waren oder an bestimmten erblichen mentalen Krankheiten oder physischen Deformationen litten.« »Natürlich«, sinnierte er, »ist diese ein starker Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Menschen.« Und er räumte ein, dass aufgrund solcher Maßnahmen auch potenziell gesunde Geburten verhindert würden, da »erbkranke« Eltern oft vollkommen gesunde Kinder bekämen. Nichtsdestoweniger, meinte er, würde das Gemeinwohl den möglichen Preis für den Einzelnen überwiegen: »Aber bleiben nicht besser einige Gesunde ungeboren, als dass Lebensuntüchtige, sich und anderen zur Qual, hemmungslos in die Welt gesetzt würden?«211

Im frühen 20. Jahrhundert war die Idee der Eugenik unter Wissenschaftlern, Politikern verschiedener Richtungen und auch in der Öffentlichkeit weit verbreitet. Wenn sich auch Deutschland schließlich zum ultimativen Beispiel des eugenischen Horrors entwickelte, wurden einzelne Aspekte dieser Wissenschaft in den ersten Dekaden des Jahrhunderts in vielen Ländern praktiziert, darunter in den USA, in Großbritannien und in Skandinavien.212 Zu den Strategien der Eugenik zählten so breitgefächerte Richtlinien wie Versuche, die Gesunden und Wohlhabenden zu mehr Kindern zu ermutigen, die Mütter- und Kindersterblichkeit einzudämmen oder die Forderung, jene auch gegen ihren Willen zu sterilisieren, die man für untauglich hielt.

Doch in der im Deutschen Verlag erschienenen Ausgabe des Biologiebuchs von Karl von Frisch gab es noch einen weiteren Abschnitt, der die Diskussion explizit an die Richtlinien des Nazistaats anpasste. Von Frisch identifizierte hier vier europäische Rassen: die nordische, die mediterrane, die dinarische und die alpine. Zwar präsentierte er diese Rassen als grundsätzlich voneinander verschieden, relativierte das Ganze aber insofern, als sie nicht wirklich in ihrer Reinform existierten, da es viele Nachkommen aus Mischehen gebe. Bei Tieren, führte er weiter aus, ermöglichten solche Kreuzungen zwischen »Rassen« eine Vielzahl von Variationen, die wiederum für Kreuzungen verwendet werden könnten, um die allgemeine Qualität der Nachkommen zu verbessern. Gleichzeit könnten Züchter, wenn Kreuzungen zu einem Nachwuchs mit unerwünschten Merkmalen führten, diesen »ausmerzen«, um die Gesundheit des Gesamtbestandes zu sichern. Bei den Menschen jedoch gebe es keinen Züchter, um die Ausbreitung nachteiliger Ergebnisse zu verhindern: »Doch niemandem steht das Recht und die Gewalt zu, die vielen unerfreulichen Typen aus den Ergebnissen menschlicher Rassenmischung auszumerzen, wie es der Züchter bei seinen Stämmen tut.« Selbstverständlich war es genau diese Art von »Recht und Macht«, die das Deutsche Reich zu haben meinte, zunehmend beanspruchte und auch ausübte. Es ist beunruhigend, dass von Frisch in dieser Edition seines Buchs hinzufügte, anstelle eines Züchters würden die deutschen Rassegesetze bestehen, das Rassenpolitische Amt und die NS-Volkswohlfahrt, die alle dafür zuständig seien, über die Reinheit und das Heil des deutschen Volkes zu wachen.213

Keine explizite Bemerkung gab es in dem Beitrag über Juden, und von Frisch vermied es auch, die vier genannten europäischen Rassen einer Hierarchie unterzuordnen. Dessen ungeachtet behandelten die Ausführungen das Thema Eugenik auf so zufriedenstellende Weise, dass man das Buch als passend für die Goebbels-Reihe befand. Der Artikel für Das Reich war hinsichtlich der Eugenik zwar weniger ausführlich, vermittelte aber damit, dass er sich vielfach darauf bezog, was das Land im Krieg benötigte, doch eine pro-deutsche Lesart.

Als Koehler von Frischs Essay in Das Reich las, ließ er ihn sein Vergnügen an Text und Fotografien in einem Brief wissen. »Alles ist so nett«, schwärmte er, »und dass das im Reich steht, das will so gar nicht dazu passen, was man sonst von Deiner Behandlung hört.«214 Koehlers Kommentar lässt darüber spekulieren, wie es von Frisch gelungen ist, seine Arbeit und sein Institut in einer so hochrangigen Nazi-Zeitschrift in Szene zu setzen, nachdem er die Nachricht über seine nicht-arischen Wurzeln erhalten hatte. Die Details rund um diese Veröffentlichung bleiben zwar im Verborgenen, ihr Rahmen aber unterstreicht, dass von Frisch und seine Verbündeten auf Kontakte zu den höchsten Ebenen der Nazi-Bürokratie abzielten und in diesem Bestreben oft erfolgreich waren.

Zur gleichen Zeit, zu der er Unterstützer um sich sammelte, versuchte er verzweifelt, mehr darüber herauszufinden, was genau die Autoritäten in Berlin über seinen familiären Hintergrund ausgegraben hatten. In der Nachricht über seine drohende Entlassung hatte bloß gestanden, dass er ein »Vierteljude« sei. Die genauen Details darüber lagen nicht bei und niemand wusste, ob nur einer oder beide Urgroßeltern mütterlicherseits Juden waren. In der perversen Buchführung der Nazis hatte das wesentliche Bedeutung, und es würde von Frisch dabei helfen, die bestmöglichen Reaktionen festzulegen. Koehler fasste die Situation zusammen: »Sind beide Urgroßeltern unarisch, so hat man zu bitten, ist es nur einer, dann hat man zu fordern.«215

Abgesehen von der Unsicherheit, was seine Abstammung betraf, wusste auch niemand, wann seine Entlassung wirklich ausgesprochen werden sollte. Um das Ganze noch komplizierter zu gestalten: Im Falle einer notwendigen Anfrage wäre es für von Frisch von Vorteil gewesen, die Trägheit der Bürokratie insofern zu seinen Gunsten nützen zu können, um präventiv ein Ansuchen um Emeritierung einzureichen. Denn ob der Rücktritt freiwillig oder erzwungen war, würde sich höchstwahrscheinlich darauf auswirken, ob er – zumindest eingeschränkt – weiterarbeiten durfte oder ob ihm die Fortsetzung seiner Forschungsarbeit vollständig untersagt würde. Der Schlüssel zur besten Lösung war, dann selbst um Versetzung zu bitten, wenn sicher war, dass die offiziellen Abläufe vorangingen – aber keinesfalls früher, um nicht die Möglichkeit zu versperren, dass seine Kündigung ohnehin auf unbestimmte Zeit verzögert werden würde.

Während von Frisch noch auf Informationen vom Reichsbildungsministerium in Berlin bezüglich der inkriminierenden Dokumente wartete, nahm er Kontakt zu seinem ältesten Bruder Hans auf. Sowohl seine drei Brüder in Österreich als auch ein Cousin an der Münchner Universität hatten ihre Stellen als Beamte mehr oder weniger unbehelligt behalten. Doch am Beispiel Hans von Frisch mögen sich bestimmte Erkenntnisse ergeben: Hans war der NSDAP bereits während der Zeit des Austrofaschismus unter Engelbert Dollfuß beigetreten. Da die Partei bis zum »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich 1938 verboten war, hatte Hans seinen Posten an der Technischen Universität in Wien für kurze Zeit verloren. Nach 1938 wurde er wiedereingesetzt, trat jedoch zwei Jahre darauf aus der Partei aus. Auch wenn er »nicht darüber sprechen wollte«, wie sich Karl von Frisch erinnerte, war sein Parteiaustritt 1940 nicht ganz freiwillig erfolgt. Und genau diese Umstände könnten weitere Details über ihr familiäres Erbe ans Tageslicht bringen.216 Also fragte sich von Frisch, was Hans wohl über ihre Abstammung wissen mochte.

Auf die Frage seines Bruders antwortete Hans mit einem Brief, in dem er erklärte, dass auch er nichts Genaues über die Beweise wusste, die gegen ihn gesammelt worden waren, dass er sich jedoch an jene Ereignisse erinnere, die zu seinem Parteiaustritt geführt hatten.217 Kurz nach dem »Anschluss« war er von einer Kommunalbehörde aufgefordert worden, seine Papiere vorzulegen. Als Hans den Beamten aufsuchte, blätterte dieser die Dokumente schnell durch, um festzustellen, ob sie vollständig waren, machte aber eine Anmerkung beim Namen Exner. Wie Hans erfuhr, war er vorgeladen worden, da er für eine Position an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Wiener Universität in Frage kam.

Nach dieser Begebenheit hörte Hans nichts mehr, auch nicht von der möglichen Stelle bei den Juristen. Im darauffolgenden Herbst verlangte man auch in der Reichsstelle für Sippenforschung die Vorlage der Dokumente von Hans von Frisch. Kurz danach wurde er aufgefordert, seine Mitgliedschaft in der NSDAP aufgrund der kompromittierenden Abstammung zurückzulegen. Im Juni 1940 informierte man ihn vonseiten des Reichserziehungsministeriums darüber, dass man keine weiteren Schritte gegen ihn unternehmen wolle, sofern er selbst um die Enthebung von seinen universitären Pflichten ansuche. Doch der Universitätsrektor hielt ihn davon ab und riet ihm abzuwarten. Hans entschied sich aber, den Schritt zu machen und um seine Entlassung zu bitten. Ein paar Monate später wurde er zwar offiziell seines Postens enthoben, zur gleichen Zeit, als das Ministerium Hans seine Entscheidung mitteilte, nahm ihn der Rektor jedoch zur Seite und bat ihn, seine Lehrtätigkeit fortzuführen. Und damit hatte sich für Hans wenig verändert: Er bekam sein Gehalt und arbeitete weiter, obwohl er offiziell all seiner Pflichten entbunden war.

Dieser Fall unterstreicht den beträchtlichen Spielraum, mit dem jemand, der als »Vierteljude« bezeichnet wurde, behandelt werden konnte. Für von Frisch war damit aber auch eindeutig klar, dass sein Bruder wegen seiner Herkunft um den Parteiaustritt gebeten worden war. Kein gutes Vorzeichen für seine eigene Situation. Als Otto Koehler hörte, dass Hans von Frisch als »Viertel-« und nicht als »Achteljude« bezeichnet worden war, schrieb er verzweifelt: »Dass ich in dem Gedanken an Dich einschlafe und aufwache, das nützt Dir gar nichts. Alle die gewohnten Betrachtungsweisen zerschlagen gegenüber der Härte dieser Gesetze nichts.«218

Doch nach der anfänglichen Hektik, da und dort einen Gefallen einzufordern und an allen Fäden zu ziehen, die es in Berlin wert und sicher schienen, hatten Kühn und von Wettstein endlich Glück: Am 5. Februar 1941 hatten sie es geschafft, einen Termin bei Franz Kummer, Staatssekretär im Reichserziehungsministerium, zu bekommen. Als sie vor ihm standen, erklärten sie von Frischs Situation. Würden sie von Frisch aus ihren Reihen verlieren, betonten die beiden, wäre das ein kaum verkraftbarer Schlag für die deutsche Wissenschaft.219 Der Staatssekretär zeigte sich interessiert und von den Leistungen von Frischs beeindruckt, erklärte ihnen jedoch, dass der Fall zu seinem Bedauern nicht in seiner Kompetenz lag. Stattdessen reichte er sie an Max Demmel weiter, einen anderen hohen Ministerialbeamten.

Auch Demmel gab sich freundlich und zuvorkommend, als die beiden Männer ihr Plädoyer vorbrachten. Natürlich, versicherte er, hatte er von diesem Fall gehört und war sich der Bedeutung dessen für die deutsche Wissenschaft bewusst. Er hatte sogar den Brief des Nobelpreisträgers Spemann, den dieser an Minister Rust geschrieben hatte, gelesen. Aber auch er bedauerte, dass die Angelegenheit außerhalb seiner Befugnisse lag. Er hatte sie »pflichtgemäß bearbeitet« und an das für rechtliche Belange von Beamten zuständige Büro weitergeleitet. Demmel fürchtete, dass die Kündigung nicht abzuwenden sein würde, ausgenommen durch einen Gnadenakt des Führers selbst.

»Lieber Karl«, schrieb Kühn an diesem Abend an von Frisch, »ich bin so traurig, dass auch Wettstein nun nicht optimistischer ist als ich! Ich hätte so gern mir Wege zeigen lassen, die ich nicht sah, und ich hoffe ja immer noch, dass sich etwas findet. Aber die Hoffnung ist nicht sehr groß. Es ist eben in einem Lauf der Beamten- und Parteimaschinerie, und ich sehe gar nicht, wie man es da herausziehen könnte.«220

Am 13. Februar 1941 erhielt von Frisch aus dem Reichsministerium schließlich eine Kopie jenes Dokuments, das bewies, dass seine Großmutter laut kirchlichen Quellen Jüdin gewesen war. Sie war am 3. Oktober 1814 geboren und getauft worden, doch ihr Vater und ihre Mutter waren, wie sich herausgestellt hatte, erst rund ein Jahrzehnt vor der Geburt ihres Kindes getauft worden. Die römisch-katholische Kirche in Wien hatte die entsprechenden Protokolle zur Verfügung gestellt.

Damit stand von Frischs Abstammung fest: Wie so viele Juden im frühen 19. Jahrhundert waren seine Urgroßeltern zum Katholizismus konvertiert, um sich unauffällig als Bürger der österreichisch-ungarischen Monarchie einzufügen. Doch diese Assimilation war für die Nazis ohne Belang: Jude zu sein war für ihren Begriff vorwiegend eine Frage des Blutes und der Abstammung, aber kaum eine des kulturellen Erbes oder des religiösen Glaubens. Das Ergebnis war, dass von Frisch, der sich nie zuvor als Jude betrachtet hatte, nun offiziell zu einem solchen erklärt wurde – über hundert Jahre, nachdem seine Urgroßeltern konvertiert waren. Im Begleitbrief wurde er aufgefordert, eine offizielle Erklärung über seine Position hinsichtlich seiner Entlassung innerhalb von acht Tagen zu übermitteln.221

Mit der Bestätigung seines Status als Nicht-Arier und der tickenden Uhr legten von Frisch und seine Verbündeten in Berlin (insbesondere die Biologen Kühn und von Wettstein) einen Gang zu. Sie hatten acht Tage, um herauszufinden, ob man für von Frisch eine Ausnahme machen würde. In der Zwischenzeit erfuhren sie außerdem, dass von Frisch nicht freiwillig um seine Versetzung in den Ruhestand ansuchen konnte, weil er das notwendige Alter von zweiundsechzig Jahren noch nicht erreicht hatte. Die einzige Alternative war ein Appell an das Reichsinnenministerium um »Gleichstellung«. Das heißt, dass von Frisch jemandem, der entweder im Ersten Weltkrieg an der Front gekämpft hatte, oder der bereits vor Ausbruch des Kriegs als Beamter berufen worden war, gleichgestellt wurde. Man erinnere sich an das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 1933, in dem genau diese beiden Ausnahmeregelungen niedergeschrieben worden waren. Doch ein solcher Appell müsste durch die höchsten Parteigremien und es war mehr als zweifelhaft, dass man dem Ansuchen stattgeben würde.222

Die Situation war düster und der Stichtag rückte schnell näher. Nachdem er sich mit seinen Verbündeten beraten hatte, entschloss sich von Frisch am 18. Februar für zwei Tage nach Berlin zu reisen. Die Zeit verbrachte er damit, Kollegen und Funktionäre zu treffen, die vielleicht in der Lage waren zu helfen.223 Einer seiner ersten Besuche galt dem berühmten Chirurgen Ferdinand Sauerbruch, einer der mächtigsten deutschen Wissenschaftler. Ebenso wie die Universitäten war auch die Wissenschaft unter den Nazis nach dem Führerprinzip reorganisiert worden. Das führte dazu, dass einzelne Führer innerhalb ihres Bereichs eine fast allmächtige Kontrolle über Finanzierung und personelle Entscheidungen ausübten.224 Im Jahr 1937 hatte man im Reichserziehungsministerium den Reichsforschungsrat (RFR) gegründet, um Planung und Finanzierung der Wissenschaft zu zentralisieren. Der RFR selbst war in einzelne Fachbereiche unterteilt, an dessen Spitze jeweils ein Wissenschaftler stand. Sauerbruch leitete seit 1937 den medizinischen Bereich.225 Und obwohl er nie der Partei beigetreten war, hatte er einen entscheidenden Kontakt – jenen zu Werner Zschintzsch, Staatssekretär im Reichserziehungsministerium.

Im Reichserziehungsministerium traf von Frisch auch Wilhelm Führer,226 der 1936 als Leiter des Dozentenbunds jenen vernichtenden Brief geschrieben hatte, um eine Untersuchung der Abstammung von Frischs zu fordern. Von Frisch wusste natürlich nicht, dass die Person, an die er sich nun wandte, einen solchen Brief geschrieben hatte. Und Führer versicherte, dass niemand Spezieller ihm Schwierigkeiten bereiten wolle, dass der Antrag zu seiner Versetzung in den Ruhestand vielmehr aufgrund des Parteiaustritts seines Bruders Hans automatisch eingebracht worden war. Führer bedauerte, dass Ausnahmen nur in jenen seltenen Fällen gewährt wurden, da jemand der Partei außergewöhnliche Dienste erwiesen hatte. Doch unglücklicherweise würden die Bedingungen an von Frischs Institut ihn kaum für einen solchen Dispens qualifizieren. Führer erinnerte ihn daran, dass er am Beginn der Naziherrschaft eine verdächtig hohe Anzahl an Juden beschäftigt hatte. Doch er versicherte ihm auch, dass seine beachtlichen wissenschaftlichen Errungenschaften bekannt waren und dass das Ministerium seine wichtige Arbeit nicht stören wolle.

Später an diesem Tag traf von Frisch einen weiteren hochrangigen Ministeriumsbeamten, und zwar Max Demmel, mit dem Kühn und von Wettstein bereits über ihn gesprochen hatten. Demmel bot ihm zwar keinen besonderen Grund zur Hoffnung, verlegte jedoch den Stichtag, bis zu dem von Frisch antworten musste, auf den 10. März. Das war eine willkommene Galgenfrist, die ihm Zeit geben würde, Optionen abzuwägen und Unterstützung zu mobilisieren. Demmel beteuerte ebenso, dass er sich der Wichtigkeit der rezenten Forschung von Frischs bewusst sei, und dass die Autoritäten keinen Wunsch hätten, den Fortschritt seiner Arbeit zu hemmen. Aber er kritisierte ihn auch dafür, dass er seine nicht-arische Abstammung nicht freiwillig bekanntgegeben hatte. Von Frisch protestierte: Tatsache war, dass er seinem Fragebogen 1937 eine Aussage beigelegt hatte, mit der er die Behörde auf die ungewisse Herkunft seiner Großmutter aufmerksam gemacht hatte. Nun sorgte er sich darum, dass diese Information aus irgendwelchen Gründen nie bis Berlin gelangt war. Sollte er beweisen können, dass er eine solche Erklärung abgegeben hatte, riet ihm Demmel, dann würde das sicherlich ein günstiges Licht auf seinen Fall werfen. Von Frisch versicherte ihm, dass er sich auf die Suche danach machen würde, wo diese Erklärung geblieben war, und ihren Inhalt dann unverzüglich nach Berlin übermitteln würde.

Alles in allem war von Frisch nach seinem Berlinbesuch hoffnungsvoll. Besonders froh war er, dass sowohl Führer als auch Demmel durchblicken hatten lassen, dass den Nationalsozialisten die Bedeutung seiner Arbeit bewusst sei und sie diese nicht beeinträchtigen wollten.227 Und er verließ Berlin in der Hoffnung, dass Sauerbruch irgendwie in der Lage sein würde, für ihn bei Staatssekretär Zschintzsch zu intervenieren. Über diese Möglichkeit schrieb er seinem langjährigen Verleger Ferdinand Springer eine kodierte Nachricht, indem er sich auf Sauerbruchs Beruf bezog: »Ich erhielt ohne weiteres eine Fristverlängerung [für die gewünschte Stellungnahme bis zum 20. III.], sodass vielleicht doch bis dahin von chirurgischer Seite noch eine Operation mit glatter Heilung möglich ist.«228

Als der Stichtag näher rückte, war von Frisch trotzdem zuversichtlich: Von vielen Seiten hatte man ihm versichert, dass seine Versetzung in den Ruhestand höchstwahrscheinlich nicht weiterverfolgt werden würde. Und falls doch, würde er ausreichend früh darüber informiert werden, um dem Ganzen zuvorzukommen und es mit einem Ansuchen um »Gleichstellung« zu verzögern. Zu guter Letzt verfasste er am 11. März 1941 eine zuversichtliche Antwort an den Rektor der Universität.229

In diesem Brief bestätigte er, dass man ihm geraten hatte, selbst um seine Versetzung in den Ruhestand anzusuchen. Doch er lehnte diese Option ab, und zwar mit der Begründung, dass er sich »nicht bewusst [sei], in Wort oder Tat jemals etwas unternommen zu haben, was den Interessen des nationalsozialistischen Staates zuwiderlaufen würde. Im Gegenteil«, fuhr er fort, »ich glaube durch meine Unterrichtstätigkeit, durch meine wissenschaftliche Arbeit und nicht zuletzt durch Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse in gemeinverständlicher Form, Volk und Staat nach besten Kräften gedient zu haben und noch dienen zu können.« Er beschloss den Brief mit einem »Heil Hitler« über seiner Unterschrift.

Bis Juni dieses Jahres hatte ihn keine schlechte Nachricht erreicht. Zuversichtlich dachte er, dass seine eigenen Bemühungen und jene hinter den Kulissen durch mitfühlende Kollegen ihren Zweck erfüllt hätten. Erleichtert schrieb er an Spemann, um ihn wissen zu lassen, dass alles gut schien. Sein »hauptsächlicher Berater« – wahrscheinlich Sauerbruch – hatte ihm ausdrücklich versichert, dass Zschintzsch seinerseits zugesichert hatte, die Ruhestandsversetzung würde nicht vorangehen. Spemann drückte im Gegenzug seine Freude über die Neuigkeiten aus und stimmte von Frisch zu: »Ich glaube nicht, dass es den feindlichen Mächten nach all dem noch möglich sein wird, jetzt oder später, Unheil zu stiften. […] Jetzt träumen Sie wohl schon vom Wolfgangsee.«230 Spemann erlebte das Finale dieser Situation nicht mehr, denn er starb nur wenige Monate später, im September 1941. Doch einstweilen war Optimismus angebracht.

Auch Otto Koehler freute sich, als er an von Frisch schrieb, zeigte sich aber auch überrascht. Nach dem, was von Frisch ihm geschrieben hatte, schien es, als hätte wichtige Forschungsarbeit an den Bienen die ganze Sache irgendwie gerettet.231 Dass er begnadigt wurde, weil er ein erfolgreicher Lehrer war, oder weil das Institut ohne ihn nicht weitermachen konnte, freilich – doch warum sollte es irgendjemanden im Reichserziehungsministerium kümmern, ober er seine Arbeit an Bienen fortsetzte?

image

Koehlers Frage hinsichtlich der überraschenden Wende in von Frischs Schicksal war berechtigt. Dass die Naziregierung überhaupt solches Interesse an von Frischs Arbeit bekundete, bestätigte den traurigen Zustand der Bienenzucht im Jahr 1941. Den Insekten ging es in der Tat gar nicht gut.

In den Jahren 1940 und 1941 beobachteten Imker aufgrund des Darmparasiten Nosema alarmierende Rückgänge in ihren Beständen. Der Nosema apis wird generell in Bienen gefunden, wobei diese Mikroorganismen zu bestimmten Zeiten Sporen freisetzen, die dann zu massiven Todesraten unter den Insekten führen. Die befallenen Bienen sind von Diarrhoe geschwächt und flugunfähig, bevor sie eingehen. Nach Schätzungen durch von Frisch zerstörte diese Epidemie 1941, dem schlimmsten Jahr, 800.000 Kolonien, wobei jede aus rund 30.000 bis 50.000 Arbeitsbienen bestand.232 Damals wie heute machte und macht eine solche Katastrophe sichtbar, was in der postindustriellen Gesellschaft ansonsten weitgehend unbemerkt bleibt: Bienen sichern die Vermehrung der meisten unserer Obst- und Gemüsesorten. In Krisenzeiten tritt die Rolle der Bienen schmerzlich in den Vordergrund, da der Massenverlust der Bestäuber sowohl für Tiere als auch für Menschen desaströs ist. Besonders furchterregend waren diese Aussichten für eine Nation, die sich inmitten eines zermürbenden Kriegs befand und am Rande der Nahrungsknappheit dahintaumelte.233 Angesichts dieser drohenden Gefahr gründete das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft den »Nosema-Ausschuss«.

Im Sommer 1941, nur wenige Monate nachdem von Frisch von seiner bevorstehenden Versetzung in den Ruhestand erfahren hatte, begann er das Problem der Nosema zu untersuchen.234 Das war eine drastische Abkehr von seiner früheren Arbeit. Während seine Arbeit zuvor hauptsächlich von intellektueller Neugierde gesteuert war und sich erst in zweiter Linie um praktisch anwendbare Fragestellungen gekümmert hatte, widmete sich nun sein gesamtes Labor der Suche nach einer Lösung gegen das Bienensterben. Das bedeutete, dass der größte Teil seiner Bienen wie auch seiner Studenten und Assistenten dazu eingeteilt wurden, einen Ausweg aus der verhängnisvollen Seuche zu finden.

In seiner Autobiografie erzählt von Frisch über den Nosema-Ausschuss: »Den Vorsitz führte ein Mann, der im Ernährungssektor an maßgebender Stelle tätig war. Er kannte meine Arbeiten und wusste mich in meiner Stellung bedroht. Er setzte sich mit Nachdruck für mich und unser Institut ein. Ihm ist es zuzuschreiben, dass ich einen Auftrag des Reichsernährungsministeriums zur Erforschung der Nosemaseuche der Bienen erhielt.«235 Die Identität des für den Ausschuss zuständigen Mannes verschwieg von Frisch. Anzunehmen, dass er ihn in der Nachkriegszeit schützen wollte, da er während des Krieges über erheblichen Einfluss im Reichsernährungsministerium verfügt hatte. Doch flüchtige Spuren in Veröffentlichungen, Briefen und besonders eine Entnazifizierungsaussage durch von Frisch lassen vermuten, dass es sich bei der fraglichen Person um den Mediziner Franz Wirz gehandelt hat. Wirz leitete das Hauptamt für Volksgesundheit und war auch für die Ernährungsplanung zuständig. In dieser Eigenschaft kümmerte er sich auch um den Nosema-Ausschuss, für den er von Frisch empfehlen konnte.236

Für von Frisch ermöglichte diese Kommission den Zugang zu knappen Ressourcen und gab ihm zudem die Möglichkeit, seine Arbeit offiziell neu auszurichten. Sein Vertrag sicherte ihm sowohl genug Geld für die Arbeit als auch zusätzliches Personal, um ihm bei den Untersuchungen zu helfen. Darüber hinaus erhielt er die notwendigen Reisegenehmigungen für das gesamte Reich und dafür wertvolle Benzinrationen. Bemerkenswert ist auch, dass manche Mitarbeiter von Frischs vom aktiven Kriegsdienst beurlaubt wurden, um bei den Forschungsarbeiten mitzuwirken.237

Im Sommer 1941 begannen von Frisch und seine Mitarbeiter in Brunnwinkl, die Effizienz sowohl herkömmlicher als auch neuer chemischer Methoden zu testen. Darüber hinaus wurde ein Netzwerk aus Beobachtern in ganz Deutschland eingerichtet, die über jene äußeren Umstände berichten sollten, die auf die Seuche hemmend oder förderlich wirkten. Zwar blieb die Arbeit hinsichtlich einer Lösung des Problems weitgehend ergebnislos, doch auf von Frischs Schicksal hatte sie tiefgreifende Wirkung.238

Bald nach dem Beginn der Erforschung der Krankheit erhielt von Frisch die Erlaubnis, seine Forschungen auf die Befruchtung von Kulturpflanzen auszudehnen. Da die Bienenpopulation unter der Seuche litt, wurde es zum Gebot der Stunde, dass die verbliebenen Bienen ausreichend Pflanzen bestäubten, um Bodenertrag und damit Ernährung sicherzustellen. Aktuellen Berichten aus Russland war zu entnehmen, dass Bienen auf Gerüche dressiert werden konnten, um ihre Besuche bei nahen Pflanzen zu intensivieren. Die Reichsgruppe der Imker hatte ein Buch zu diesem Thema übersetzen lassen, damit die Wissenschaftler die Behauptungen der Russen überprüfen und Empfehlungen zur Machbarkeit und Übernahme der Technik für das gesamte Deutsche Reich abgeben konnten. Später erklärte von Frisch: »Nach den bisherigen Beobachtungen steht zu erwarten, dass man durch eine zweckmäßig angelegte Duftfütterung mehreres erreichen kann: den raschen Beflug einer bestimmten Trachtpflanze, eine zahlenmäßige Steigerung des Befluges, aber auch eine Steigerung der Arbeitsintensität der Bienen und eine Verlängerung ihrer Arbeitszeit239 Natürlich war es in von Frischs Interesse zu unterstreichen, dass seine Forschungen aller Wahrscheinlichkeit nach Früchte tragen und weitere Versuche notwendig sein würden. Schließlich hing seine Lebensgrundlage davon ab. Das mit den Begriffen von erhöhter »Arbeitsintensität« und »Verlängerung ihrer Arbeitszeit« auszudrücken, weist darauf hin, dass von Frisch die Bienen in diesen Studien im Wesentlichen im Zusammenhang mit seiner Laborkapazität betrachtete. In diesem Augenblick zementierte von Frisch seine Verpflichtung, die Bienen für den Dienst am Reich einzuspannen, damit sie ihren Teil im Krieg beitrugen.

Doch im Spätsommer 1941 hatten sich die Ereignisse erneut verschlechtert. Am 25. August schrieb Kühn an von Frisch in Brunnwinkl: »Soeben höre ich von einer Seite, die ich nicht nennen kann, eine sehr alarmierende Nachricht: Deine Angelegenheit sei entweder doch nicht zum Stehen gekommen oder wieder aufgerührt worden und es sei dringend nötig, dass im Innenministerium ein ›Gleichstellungsantrag‹ von Dir vorliege, damit nicht Hals über Kopf die Sache rein formal und im negativen Sinne entschieden würde.« Kühn bedauerte, keine weiteren Informationen zu haben und zögerte deshalb zu handeln. Außerdem fragte er sich, ob irgendjemand in München wieder gegen von Frisch gehetzt hatte.240

Die Sorge, ob jemand in München diese Schwierigkeiten verursachte, plagte von Frisch und seine Unterstützer während der ganzen Zeit. Schon früh fragte er sich, ob da nicht jemand einen persönlichen Rachefeldzug gegen ihn führte. Trotz gegenteiliger Versicherungen seitens der offiziellen Beamten in Berlin schien der Verdacht durchaus berechtigt.

Ernst Bergdolt, Präsident des NS-Dozentenbunds, hatte im vergangenen Frühjahr Wind davon bekommen, dass von Frischs Versetzung in den Ruhestand möglicherweise nicht weiter betrieben würde. Er schrieb einen hasserfüllten Brief an Demmel vom Reichserziehungsministerium, der nach seinen Treffen mit von Holst, Kühn und von Frisch mit der Situation vertraut war.241 In Bergdolts Brief standen die vielleicht ekelhaftesten und kleinlichsten Denunziationen, die sich in von Frischs Akte hielten, und er beinhaltete sogar eine Liste möglicher Kandidaten, mit denen von Frisch nach seiner Entlassung ersetzt werden könnte. Seine Anhänger würden von Frisch, so Bergdolt, ungerechtfertigt als »den besten, einzigartigen und unersetzlichen« deutschen Zoologen »anpreisen«. »Interessierte gegnerische Kreise haben es verstanden, so mit allen Mitteln der Reklame und der persönlichen Beeinflussung eine Psychose zu schaffen, der z. T. auch nationalsozialistische Persönlichkeiten im guten Glauben verfallen sind.« Aufgrund seines suspekten »politischen Verhaltens« würde von Frisch es »in keiner Weise verdienen«, vom Gesetz verschont zu werden. Genau jene, die seine internationale Reputation preisen, sollten nicht vergessen, dass sein Institut mit »amerikanischem Geld« finanziert worden war, und dass er »die Geldgeber nicht enttäuscht hat, insofern als er mit Vorliebe und wo es nur ging jüdische Wissenschaftler und Mischlinge bevorzugt und gefördert hat.«242 Er setzte seinen Brief damit fort, dass er jene jüdischen Kollegen aufzählte, denen von Frisch zu helfen versucht hatte, als die Situation in Deutschland immer verzweifelter wurde. Und er warf ihm vor, nicht nur Nicht-Arier ermutigt, sondern vielmehr aktiv Nationalsozialisten diskriminiert zu haben. Der »hervorragende Straßburger Zoologe, an den Fr. an wissenschaftlicher Bedeutung nicht heranreichen konnte« wurde schlecht behandelt und »in ein kleines, schlecht heizbares und ganz unzulänglich möbliertes Zimmer abgeschoben, während die Juden sich in den schönsten und bestausgestatteten Räumen des neuen Instituts breitmachten.« Laut Bergdolts Brief gab es für die schlechte Behandlung Döderleins keinen anderen Grund, als den, dass er nicht zu der bevorzugten »philosemitischen oder gar selbst judenblütigen Clique« gehörte. Sollte von Frisch erlaubt werden, seine Arbeit am Institut fortzusetzen – und das war ein großes sollte, denn der Briefschreiber konnte solche Milde keinesfalls befürworten –, dann sollte er selbst in den erbärmlichen Raum gesperrt werden, den er dem Nazi-Emeritus Döderlein zugeteilt hatte. Bergdolts Wortwahl und Schwerpunkte lassen kaum einen Zweifel darüber zu, dass er Spemanns Brief für von Frisch an Rust gelesen oder zumindest davon gehört hatte. Bergdolts Klageschrift jedenfalls hatte bis Ende August so viel Auftrieb erhalten, dass Kühn hinsichtlich von Frischs Situation neuerlich in Alarmbereitschaft versetzt war.

Nachdem er Kühns Brief erhalten hatte, rief von Frisch umgehend seine Tochter Maria an. Sie war den Sommer über in München geblieben und daher näher an den Intrigen gegen ihren Vater. Jetzt fragte er, ob sie irgendetwas Konkretes über Gerüchte gehört hätte, er würde sich neuerlich in Schwierigkeiten befinden. Sie informierte ihn, dass die meisten seiner Berliner Vertrauten gar nicht in der Stadt waren und dass niemand wirklich wusste, ob es neue Schwierigkeiten gab oder ob diese einfach aus alten Gerüchten bestanden, die wieder in Umlauf gebracht worden waren.

Da die letzte Entscheidung im Reichserziehungsministerium getroffen werden würde, war es nun unerlässlich, mit Zschintzsch Kontakt aufzunehmen. An Kühn schrieb von Frisch verärgert, dass alle in den Ferien waren und er nicht wusste, wie er das Ansuchen um Gleichstellung am besten verfassen sollte. Da selbst ein Schreibfehler fatale Folgen haben konnte, bat er Kühn, sich an Zschintzschs Cousin Dr. Crampe zu wenden: Er war der Bekannte eines Bekannten und von Frisch hoffte, er würde ihn mit Zschintzsch zusammenbringen. Noch irgendjemanden gab es, der möglicherweise helfen konnte. Doch in seinem gehetzten Zustand konnte sich von Frisch seines Namens einfach nicht entsinnen. Er wusste nur noch, dass er gemeinsam mit von Wettstein mit ihm gesprochen hatte, als er in Berlin war. Er bat Kühn, ihn bitte per Telegramm zu informieren, sobald er mehr über eine der beiden nötigen Botschaften wusste: »Antrag stellen« oder »Antrag nicht stellen.«243

Auch der Münchner Physiker Arnold Sommerfeld hatte seiner Besorgnis Ausdruck verliehen und Sauerbruch darüber informiert, dass der Fall von Frisch neuerlich »aufgerührt« worden sei und die ganze Situation in einem »gefährlichen Stadium« zu sein schien. Er fügte hinzu, dass von Frisch geraten wurde, um »Gleichstellung« anzusuchen, ein Schritt, der ihm »ziemlich verzweifelt« schien. Sommerfeld fragte Sauerbruch, ob dieser »die große Güte« hätte »zu versuchen, direkt von Staatssekretär Zschintzsch unter Umgehung untergeordneter Stellen in Erfahrung zu bringen, was an dem Gerücht ist, ob Gefahr im Verzuge ist und ob der Gleichstellungsantrag zweckmäßig ist.« Vier Tage später schrieb Sauerbruch eine kryptische Zeile an Sommerfeld: »Lieber Herr Kollege! In aller Eile die Mitteilung, dass ich Ihrem Wunsche entsprochen habe.«244

In dieser Zeit drängte von Frischs alter Freund Otto Koehler darauf, von Frisch möge doch die Liste ehemaliger Studenten durchforsten, um eventuell jemanden außerhalb der akademischen Welt zu finden, der möglicherweise helfen konnte. »Manchmal«, schrieb er, »ist irgendeine Frau Apsmeier sehr wichtig.« Koehler hatte entschieden das Gefühl, Menschen mit Verbindung zur praktischen Imkerei könnten von Frisch helfen, seine Position zu behalten. Er hielt sie für »bessere Fürsprecher als trockene Professoren.«245

Genau diese Unterstützung fand er in Herrn Schreiber, Präsident des Landwirtschaftlichen Rats für Imkerei in Oberbayern. Schreiber verfasste zwei Briefe für von Frisch, einen an den Chirurgen Sauerbruch, den anderen an Gerhard Klopfer, Staatssekretär im Braunen Haus, der Parteizentrale der NSDAP in München. Im Brief an Sauerbruch betonte er: »Die gesamte deutsche Imkerschaft ist Ihnen, sehr geehrter Herr Geheimrat, außerordentlich dankbar, dass sie sich für die Erhaltung der Persönlichkeit des erfolgreichsten Bienenforschers der Welt einsetzen wollen.« Und an Klopfer schrieb er: »Als ein Vertreter der praktischen deutschen Bienenzucht gestatte ich mir daher, Herr Geheimrat, Sie dringend zu bitten, Ihrerseits durch das Gewicht Ihrer Persönlichkeit darauf hinzuwirken, dass uns diese unersetzliche Arbeitskraft erhalten bleibt.« Mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für die sterbenden Bienen setzte Schreiber den Brief fort: »Es dürfte Ihnen bekannt sein, dass der Führer infolge der katastrophalen Notlage der deutschen Bienenzucht und infolge seines vom Vater ererbten Verständnisses für die Bedeutung der Imkerei in den letzten zwei Jahren einschneidende persönliche Anordnungen zur Förderung der deutschen Bienenzucht getroffen hat, und dass die Ausschaltung dieses bedeutendsten Bienenforschers daher die Absichten des Führers auf diesem Gebiet durchkreuzt.«246 Dass er auf Hitlers Sympathie für die Imkerei aufgrund seines Vaters hinwies, richtete die Aufmerksamkeit auf die bekannte Tatsache, dass dessen Vater Bienen gezüchtet hatte.247

Und so begannen von Frisch und seine Verbündeten, parallel zur früheren Strategie, die herausragendsten und bekanntesten Wissenschaftler um sich zu scharen, weniger akademische, dafür aber letztlich weitaus erfolgreichere Unterstützer zu finden. Diese Strategie erwies sich als klug, da sich die Machtbasis der deutschen Wissenschaft und Politik mit den Nazis verändert hatte. Man hatte unter den Nazis zwar die Grundlagenforschung nicht aufgegeben, doch weit mehr Wert legte man auf angewandte Wissenschaften, die entweder direkt Hitlers politischen und rassistischen Ideologien dienlich oder kriegswichtig waren. Deutschland war nicht der einzige Staat im Krieg, der Letztgenanntes in den Mittelpunkt seiner Interessen rückte.248 Doch im Fall Nazi-Deutschlands hing dieser Wandel hin zu einer praktisch anwendbaren Wissenschaft eng mit der Blut-und-Boden-Ideologie des Regimes zusammen. Von der Entwicklung von Spitzenwaffen bis zu den Massenmorden in den Konzentrationslagern: Deutschland nützte jede Form moderner Industrieprodukte für seine mörderischen Zwecke. Gleichzeitig damit kam jedoch eine kulturelle Strömung zum Tragen, die ein einfaches, erdverbundenes Leben pries.249 Gefördert wurde diese ideologische Bewegung mit erfundenen Mythen – ein geschmackloses Gemisch aus historisierendem Kitsch und Nostalgie. In diesen Erzählungen über urdeutschen Heldenmut wurde die gefeierte arische Rasse als eins mit dem Land dargestellt.

Für jene wissenschaftlichen Forschungsbereiche, die sich auf Land und Boden konzentrierten, war diese Ideologie ein Segen. Entomologie war eine der fünf wissenschaftlichen Abteilungen, die Heinrich Himmler als Präsident der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe leitete. Das Ahnenerbe war eine 1935 gegründete Forschungseinrichtung der SS und hatte den Zweck, völkische und historische Themen zu erforschen und damit die Ideologie des Regimes zu unterfüttern. Unter der Schirmherrschaft der SS waren die Forschungen generell rassistisch und sehr oft tödlich. Jene Forscher, die für das Ahnenerbe tätig waren, pflegten großes Interesse an Pflanzen, fremden Ländern und Insekten. Forschungsarbeit in diesen Bereichen mag auf den ersten Blick harmlos erscheinen, auch wenn sie durch Fantasien über die deutsche Expansion und Autarkie untermauert wurde.250

Im Jahr 1942 gründete Himmler ein neues entomologisches Institut, dessen Ziel es war, Schädlinge zu studieren und auszurotten. Ironischerweise war von Frisch kurz als Institutsleiter im Gespräch, wurde aber bald aufgrund seiner jüdischen Abstammung ausgeschieden. Dieses Institut passte hervorragend in die deutsche Betrachtungsweise der Natur, mit der sie die Welt in Schädlinge und Nützlinge teilte. Forschungsziel war, die Lebensgewohnheiten von Fliegen, Läusen, Flöhen und Mücken zu studieren, um eine Möglichkeit zu finden, sie auszurotten. Abgesehen davon, dass neue chemische Mittel entwickelt wurden, sollten die Wissenschaftler bestimmen, »durch welche Seuchen und Bakterien … wir Menschen eine Vernichtung dieser für uns schädlichen Insekten einleiten und fördern [können].« Darüber hinaus ordnete Himmler an, man möge untersuchen, wie größere Tiere (wie Vögel, Säugetiere oder Schlangen) verwendet werden könnten, Insekten und deren Larven zu vernichten.251 Himmler erklärte nichts weniger als einen chemischen und biologischen Krieg gegen diese verhassten Kreaturen.

Doch wie die Dichotomie von Schädlingen und Nützlingen nahelegt, wurden nicht alle Insekten als schlecht betrachtet. Wenn die Schädlinge in den Büchern der Land- und Forstwirtschaft mit roter Tinte eingetragen wurden, so bekam die Honigbiene eindeutig schwarze Tinte.252 Als harte Arbeiterin und mit den Opfern, die sie für das Gemeinwohl ihres Volkes brachte, wurde die Honigbiene als ein für die Landwirtschaft nützliches Insekt und als wertvolles Beispiel für die menschliche Gesellschaft betrachtet. Und wie vorhin bereits erwähnt, hielt man die Bienenkrise für ernsthaft genug, um durch das Reichsernährungsministerium einen Ausschuss gründen zu lassen, der das Problem untersucht.

Es ist nicht ganz geklärt, ob Otto Koehler diese prorurale, kulturelle und politische Quelle bewusst anzapfte. Doch seine Instinkte trogen ihn nicht, als er von Frisch drängte, die Liste seiner ehemaligen Studenten zu durchforsten, um jemanden mit Einfluss zu finden, der kein »trockener Professor« war.

Ungefähr zur selben Zeit, als der Bienenzüchter Schreiber seine Briefe an Sauerbruch und Klopfer sandte, gelang es Koehler einen anderen Mann zu mobilisieren, der für von Frisch bald Fortschritte erzielen sollte: Bernhard Grzimek. Grzimek wurde später Direktor des Frankfurter Zoos und ein bekannter Fernsehmoderator im Deutschland der 1960er- und 1970er-Jahre.253 Er war Veterinärmediziner und seit 1938 Funktionär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, wobei sich seine Arbeit während des Kriegs vor allem um Kontrolle und Ausrottung von Rinder- und Geflügelseuchen drehte. Grzimek hatte zwar nicht den wissenschaftlichen Status, den viele andere der Unterstützer von Frischs hatten, doch er hatte entscheidende Kontakte im Reichsernährungsministerium und in der Partei. Dank der von Grzimek durchgeführten Manöver zeigte sich das Reichsernährungsministerium als die einzige Körperschaft, die gegenüber jenen, die für von Frischs Fall verantwortlich waren, weiterkam – eine Tatsache, die Koehler gegenüber von Frisch erstaunt anmerkte.254 Einmal mehr zeigte sich, dass jene mit Kontakten zu den praktischen Bereichen, die mehr oder weniger direkt mit den landwirtschaftlichen – und daher ernährungstechnischen – Bedürfnissen des Reichs zu tun hatten, in der Zeit des totalen Kriegs in einer starken Position waren.

Ein Hoffnungsschimmer für von Frisch zeigte sich schließlich am 26. Februar 1942: Aus dem Bayerischen Ministerium für Unterricht und Kultus erreicht ihn ein Brief, mit dem die Erlaubnis erteilt wurde, dass »Professor v. Frisch seine Forschungen zur Bekämpfung der Nosemaseuche bei Bienen in seinem bisherigen Institut auch nach seiner Zurruhesetzung fortführt.«255 Das bedeutete, dass man in der Frage seines Ruhestands wie gehabt fortfahren würde. Dennoch war es ein Sieg, da er die Möglichkeit hatte, seine Arbeit, die dem Regime enorm wichtig war, fortzusetzen und damit auch die Finanzierung gesichert war.

Zufrieden war von Frisch noch nicht, und er verlor keine Zeit, seinen Fall voranzutreiben. Am selben Tag, als ihm seine Begnadigung gewährt wurde, verfasste er ein Antwortschreiben an das Bayerische Kultusministerium. Er erklärte darin, dass er sich nun völlig für die Lösung des vordringlichen Problems der Nosema-Seuche einsetzen würde. Darüber hinaus fragte er, ob man ihm wohl nach seiner Pensionierung erlauben würde, seine Forschungen über diesen engen Fokus hinaus zu erweitern. Er erklärte, dass seine »Forschungsfreiheit« beeinträchtigt wäre, würde man ihn zwingen, sein gesamtes restliches Forscherleben ausschließlich der Seuche zu widmen. Außerdem, deutete er an, würde er alle Ressourcen des Instituts für die Arbeit an dem Problem verwenden, was bedeutete, dass ein Großteil der Ausstattung gebunden und daher für denjenigen, der die Direktion des Instituts nach seiner Pensionierung übernehmen wird, nicht zugänglich sein würde. Zum Schluss plädierte er nochmals dafür, in seiner Position zu verbleiben. Sollte man ihn in den Ruhestand versetzen, so würden die Studenten, die er für die Arbeit an dem Projekt ausgewählt hatte, nicht länger unter seiner Führung arbeiten, sondern unter jener seines Nachfolgers. »Diese Arbeitsgemeinschaft«, klagte er, »wird durch meine Ruhestandsversetzung im wahren Sinne entwurzelt und meine Forschungen hierdurch von einer anderen Seite her auf das empfindlichste gestört.«256

Dieses letzte Argument wirkte möglicherweise unaufrichtig oder zumindest weit von der Realität, mit der er sich auseinanderzusetzen hatte, entfernt. Zweifellos belastete ihn die Unsicherheit sehr, was mit der Studenten- und Mitarbeitergemeinschaft, mit der er sich seit Jahren umgab, geschehen sollte. So wie das Überleben der Bienen von ihren Stockgenossinnen abhing, so beruhte seine Wissenschaft auf der engen Zusammenarbeit innerhalb seiner Forschungsgruppe. Später erinnerte er sich, wie wesentlich es für ihn war, mit Menschen zu arbeiten, deren Urteilskraft und Verlässlichkeit er traute. Und womit er sich nun auseinandersetzen musste, war kein Ein-Mann-Job, sondern hing von den Augen und Händen vieler ab.

So gültig von Frischs Forderungen in Hinblick auf seine wissenschaftliche Arbeitsweise auch gewesen sein mögen, war der Brief an das Ministerium doch ziemlich erstaunlich. Um weiteres Entgegenkommen zu bitten und darüber hinaus darauf hinzuweisen, dass kein Stück seiner Laborausstattung seinem Nachfolger überlassen würde, nachdem ihm gerade eben erst die Fortsetzung seiner Arbeit gewährt worden war, muss entweder den Beigeschmack verblüffenden Mutes gehabt haben oder ärgerlicher Dummheit. Doch wie immer dieser Brief auch aufgenommen werden würde, momentan gab es nichts, was von Frisch hätte tun können als weiter zu forschen und die Antwort aus dem Ministerium abzuwarten.

In der Zwischenzeit arbeitete auch Grzimek weiter für von Frisch, sprach neuerlich mit seinen Kollegen im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft und brachte die Gründe dafür vor, wie wichtig die Arbeit von Frischs für die deutsche Landwirtschaft sei. Das Ergebnis all dieser Bemühungen bestand darin, dass Georg Narten, ein hoher Ministerialbeamter, schließlich zustimmte, persönlich mit Staatssekretär Werner Zschintzsch über die Sache zu sprechen – eine Intervention, die den größten Durchbruch für von Frisch versprach.

Am 9. Mai 1942 betrat Narten das Büro von Zschintzsch, um im Namen des Reichsernährungsministeriums für den Fall von Frisch zu sprechen. Karl von Frisch, setzte Narten Zschintzsch auseinander, sei einer von nur drei in Deutschland arbeitenden Biologen, dessen Arbeit für die praktische Landwirtschaft relevant sei.257 Besonders wichtig war seine Arbeit über die Nosema-Seuche. Narten betonte außerdem, dass von Frisch in dieser Hinsicht bereits große Erfolge erreicht hätte und nicht am selben Niveau weiterarbeiten könnte, sollte er in den Ruhestand versetzt werden. Es stimmte zwar, dass seine Arbeit unterbrochen wäre, hätte man ihn seines Postens enthoben. Tatsache aber war auch, dass die Resultate seiner Arbeit bis zum jetzigen Zeitpunkt ziemlich bescheiden waren. Nichtsdestoweniger machten 800.000 sterbende Bienenvölker einigen Eindruck, und dass wesentliche Arbeitsressourcen in von Frischs Institut diesem Problem gewidmet sein würden, war bedeutsam. Narten erzählte Zschintzsch darüber hinaus über die Forschungen von Frischs zur Duftlenkung von Bienen und merkte absichtlich an, dass die Sowjets mit dieser Methode ihre landwirtschaftliche Produktivität erhöht hätten. Zum Schluss argumentierte er noch, dass von Frisch ähnlich wie der Chirurg Sauberbruch zahllose Studenten hatte, die in von Frischs Fall in der landwirtschaftlichen Schädlingskontrolle arbeiteten. Seine Arbeit war also für das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft von wesentlicher Bedeutung, sodass ihre Fortsetzung in unveränderter Größenordnung gewährt werden müsse.

Das Gespräch war erfolgreich. Zschintzsch zeigte sich aufgeschlossen gegenüber Nartens Plädoyer, und bevor sich die beiden Männer voneinander verabschiedeten, versicherte Zschintzsch, er würde ohne die ausdrückliche Zustimmung aus dem Reichsernährungsministerium nichts weiter gegen von Frisch unternehmen.

Am 24. Juli 1942 wurde die Entscheidung mit einem kurzen Schreiben vom Reichserziehungsministerium an das Bayerische Kultusministerium offiziell. Rudolf Mentzel, Chef des Amtes Wissenschaft im Reichserziehungsministerium, schrieb: »Im Benehmen mit dem Herrn Leiter der Partei-Kanzlei habe ich die Weiterverfolgung der Versetzung von Professor von Frisch in den Ruhestand bis nach Kriegsende zurückgestellt.«258 Koehler befand sich in Hochstimmung. Was die Emotionen von Frischs betrifft, können wir nur raten. Die Erleichterung war jedoch sicher überwältigend. Die Entscheidung des Reichserziehungsministeriums bedeutete, dass er seine Arbeit ohne Furcht vor weiteren Maßnahmen gegen ihn bis zum Ende des Kriegs würde fortsetzen können.

image

Ein paar Worte zur Situation von Frischs im größeren Zusammenhang der Zeitläufte mögen hier am Platz sein. So aufreibend sie auch war, verblasst sie doch im Vergleich mit den Millionen Menschen, die litten und unter dem Regime ihr Leben verloren. Von Frischs Leben war nie in Gefahr, er konnte seine Besitztümer behalten und verdiente weiterhin Geld. Otto Koehler hielt im April 1942 fest, dass zwar er weder Studenten noch einen wissenschaftlichen Mitarbeiterstab hatte, von Frischs Institut dafür aber blühte und gedieh. Dreißig Studenten waren für die Laborübung bei von Frisch eingeschrieben, und er betreute vierzehn Dissertationen. Ein Formular aus der Nachkriegszeit, das er für die amerikanische Militärregierung ausfüllen musste, zeigt, dass sein persönliches Einkommen zwischen 1940 und 1941 um beinahe 10.000 Reichsmark stieg und 1942 nur geringfügig fiel.259

Was also anfangen mit von Frisch in dieser Zeit der Unterdrückung? Seine Gefühle oder Gedanken während dieser Ära herauszubekommen, ist nicht schwierig. Denn während seine Freunde ihr Mitgefühl in Briefe fließen ließen, waren von Frischs Antworten größtenteils von stoischer Ruhe. Über all die Zeit hielt er einen produktiven Arbeitsplan aufrecht. Und dass er in der Lage war, die Ausrichtung seiner Arbeit vollkommen umzugestalten, lässt angesichts extremen Drucks gewaltige persönliche und professionelle Ressourcen erkennen.

Und dennoch ist es schwierig, am Image eines Wissenschaftlers zu kratzen, der dem Horror, der ihn umgab, entfloh, indem er sich selbst in der Arbeit vergrub. In seiner nach dem Krieg erschienenen Autobiografie fragte er sich, ob es möglich gewesen wäre, die Machtergreifung der Nazis an den Universitäten abzuwenden, hätte es vom ersten Augenblick an eine ausgesprochene und vor allem vereinte Opposition gegeben. Aber, gestand er ein, »viele Professoren zollten den Neuerungen Beifall, teils aus Vorsicht, teils aus Überzeugung. Und bald war klar, dass jeder ernste Widerstand zur Selbstvernichtung führte.«260