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Wohlstand schlägt Gerechtigkeit: das seltsame Coas
e-Theorem
Hier kommt eine neue Idee zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit: Arbeitgebern Schmiergeld anbieten. Um die größtmögliche Wirkung zu entfalten, sollte das nicht klammheimlich und hintenrum gemacht werden, sondern ganz offen, indem der Stellenbewerber beim Bewerbungsgespräch eine Zahlung in bar anbietet. Zugegebenermaßen könnte das ein etwas heikles Gespräch werden. Stellen Sie sich einfach mal dessen Ende vor:
Personalchef: [erhebt sich von seinem Chefsessel]
Vielen Dank, dass Sie heute hergekommen sind. Wir werden Ihnen spätestens morgen Bescheid geben.
Ron [Jobbewerber]: Ähmm … hmm, hmm … da wäre noch eine Kleinigkeit. Ich möchte Ihnen einen Deal anbieten: Ich zahle Ihnen 500 Dollar, wenn Sie mir den Job geben.
Personalchef: Wie bitte? Wie meinen Sie das?
Ron: Es ist eine kleine Extramotivation, um mich einzustellen. Ein Bonus!
Personalchef: [lacht verlegen]
Aha, verstehe. Tut mit leid, aber so was machen wir hier nicht. Danke für Ihr Interesse, aber der nächste Kandidat wartet schon. Ich muss heute Nachmittag noch mehrere Gespräche führen … [geht zur Tür]
.
Ron: Verstehen Sie mich nicht falsch – es ist ganz offiziell, ein staatliches Anreizprogramm.
Personalchef: [klingt skeptisch]
Soll das heißen, ich bekomme 500 Dollar Bonus vom Staat, wenn ich Sie einstelle?
Ron: Na ja, nicht Sie, sondern die Firma. Ihre Firma bekommt 500 Dollar, so viel ich weiß. In diesem Schreiben ist alles erklärt [zieht einen offiziell aussehenden Brief aus der Jackentasche]
.
Personalchef: So, so. [Liest das Schreiben.]
So ein Schreiben habe ich noch nie gesehen. Hmmm … darf ich Sie fragen, ob Sie irgendeinen besonderen Status haben? Das kann doch nicht für jeden Arbeitssuchenden gelten, sonst
hätte ich das doch schon mal gesehen.
Ron: Also, das weiß ich nicht, ich glaube, das gilt für jeden.
Personalchef: Hmmm … anscheinend soll man zwei Formulare ausfüllen, und dann dauert es vier Monate, bis der Antrag bearbeitet ist. Das müsste ich erstmal genehmigen lassen. Es ist schon ein bisschen komisch! Und natürlich muss das über die Buchhaltung laufen. Vielleicht sollten wir es einfach vergessen. Jedenfalls werden Sie keinen Nachteil davon haben, ich werde Ihre Bewerbung genauso objektiv beurteilen wie alle anderen.
Tatsächlich ist die Idee, Arbeitgeber zu bestechen, nicht neu. Als 1983 die Arbeitslosenquote in den
USA
bei über zehn Prozent lag, wurde immer fieberhafter nach politischen Ansätzen gesucht, um die Quote zu senken. Damals beschloss der Bundesstaat Illinois, etwas ganz Neues auszuprobieren. Es wurden nahezu 4000 Personen zufällig ausgewählt, um an einem auf ein Jahr angelegten »Hiring Incentive Experiment« (»Experiment zur Förderung von Einstellungen«) teilzunehmen.
[1]
Den Teilnehmern wurde gesagt: Wenn sie innerhalb von elf Wochen nach Eintreten der Arbeitslosigkeit eine neue Stelle finden und mindestens vier Monate in diesem Job bleiben würden, dann könne ihr neuer Arbeitgeber bei der zuständigen Behörde einen Bonus von 500 Dollar beantragen. Und dieses Angebot über 500 Dollar sollte während des Bewerbungsgesprächs von der arbeitslosen Person gemacht werden.
Über ein Drittel der angesprochenen Kandidaten lehnte es ab, an diesem Experiment teilzunehmen – vermutlich, weil sie solche irritierten oder gar ablehnenden Reaktionen befürchteten, wie sie unser fiktiver Ron erlebte. Von denen, die tatsächlich mitmachten, kamen nur vier Prozent bei einem Arbeitgeber unter, der dafür dann den Bonus erhielt. Einige Teilnehmer fanden keinen Job oder verloren ihn wieder, bevor vier Monate um waren. Über ein Drittel der Arbeitgeber, die einen Anspruch auf die 500 Dollar gehabt hätten, erhielten ihn nicht, und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie den erforderlichen Antrag nicht eingereicht hatten.
Die Ökonomen, von denen das Experiment konzipiert worden war, hatten nicht erwartet, dass so viele Arbeitssuchende nicht teilnehmen wollten oder dass ihre neuen Arbeitgeber den Bonus nicht in Anspruch nehmen würden (500 Dollar im Jahr 1984 würden heute etwa
1200 Dollar entsprechen). Außerdem schien den Ökonomen nicht klar zu sein, dass es jemandem peinlich oder unangenehm sein könnte, seinem potenziellen neuen Arbeitgeber ein Bestechungsgeld für einen Job anzubieten. Das Merkblatt, das den Teilnehmern mitgegeben wurde, enthielt detaillierte Instruktionen, wie dieses Angebot über 500 Dollar vorgebracht werden sollte, ungefähr so, als handele es sich lediglich um eine weitere Empfehlung, was man in einem Bewerbungsgespräch sagen sollte.
Das seltsame Weltbild dieser Ökonomen war vom Coas
e-Theorem inspiriert, einem Element der ökonomischen Theorie, das dem britischen Ökonomen Ronald Coas
e zugeschrieben wird. Er lebte ausgerechnet in Illinois – ob das ein Zufall war, sei dahingestellt. Sein Theorem beruht auf der Prämisse, dass jeder Mensch in jeder Lebenslage stets bereit sein wird, einen Deal zu machen: Geld für etwas anzubieten, was er will, oder von einer anderen Person Geld dafür anzunehmen, dass er ihr gibt, was sie will. Das Gesetz, moralische Regeln oder die guten Sitten – etwa die Anstandsregel, dass man kein Schmiergeld anbietet, um einen Job zu bekommen – würden letzten Endes einem Geschäft zum beiderseitigen Nutzen nicht im Wege stehen. Die Ökonomen gingen im Wesentlichen davon aus, dass das Coas
e-Theorem auch im wirklichen Leben Bestand haben würde.
Trotz der Wirkungslosigkeit solcher Programme wie dem Hiring Incentive Experiment – und der Naivität der ihm zugrunde liegenden Vorstellung, wie und warum ein Geschäft zustande kommt – hat das auf dem Coas
e-Theorem beruhende Weltbild sich in vielerlei Hinsicht durchgesetzt. Es begann mit einer echten Revolution des rechtlichen Denkens: Der 1960 von Coas
e veröffentlichte Artikel »The Problem of Social Cost«, der das Coas
e-Theorem inspiriert hat, wurde zum meistzitierten Beitrag in einer juristischen Fachzeitschrift.
[2]
Die Ideen von Coas
e führten zu der Überzeugung, dass der ultimative Sinn von Gesetzen darin bestünde, den Wohlstand aller Bürger zu maximieren. Um das zu erreichen, solle der Gesetzgeber zwar eindeutige Regeln und Rechte einführen, sich dann aber den Kräften des Marktes nicht in den Weg stellen und sich nicht in das Abschließen von Geschäften zwischen Bürgern einmischen. Diese Perspektive führte auf direktem Wege zu politischen Maßnahmen, die heute zum Mainstream zählen, aber damals, als sie zuerst vorgeschlagen wurden,
schockierend radikal wirkten: etwa die Versteigerung von Mobilfunk- und
TV
-Frequenzbändern durch den Staat oder der vom Staat geschaffene Markt für Emissionsrechtehandel, über den verschiedene Unternehmen untereinander mit dem »Recht« handeln können,
CO
2
in die Atmosphäre zu entlassen. In jüngerer Vergangenheit haben sich auch Befürworter von anderen künstlich »geschaffenen« Märkten auf das Coas
e-Theorem berufen, etwa für einen Markt zwischen verschiedenen Ländern für Flüchtlingsaufnahmequoten, oder Bevölkerungskontrolle über einen Markt für Genehmigungen, ein Kind in die Welt zu setzen. Abgesehen davon, dass es Märkte in Bereichen einführt, wo es sie vorher nicht gab, ist das Coas
e-Theorem ein »Do nothing«-Manifest: Der Staat solle nichts tun und sich nicht einmischen, da sämtliche Probleme über Geschäfte zwischen privaten Parteien gelöst werden könnten.
Und das alles entstand durch einen Zufall.
Ein Ökonom wider Willen und sein Theorem durch Zufall
Ronald Coas
e wurde im Dezember 1910 in dem nordwestlich von London gelegenen Vorort Willesden geboren. Seinen späteren Erinnerungen zufolge hatte Coas
e als Kind eine »Schwäche in den Beinen«, die mit Beinschienen behandelt wurde, und seine erste Schule war eine »Schule für Körperbehinderte«.
[3]
Das scheint dazu geführt zu haben, dass e
r erst mit zwölf Jahren auf die höhere Schule wechselte, die Kilburn Grammar School, statt wie üblich mit elf Jahren. Fünf Jahre später beeinflusste dieser verspätete Schulwechsel die Wahl seines Studienfachs. Eigentlich wollte er Geschichte studieren, doch das konnte er nicht, weil damals ein Studium der Geschichte Lateinkenntnisse voraussetzte. In der Schule hatte Coas
e Latein nicht belegen können, weil er ein Jahr zu spät auf die Kilburn Grammar School gewechselt hatte. Seine zweite Wahl als Studienfach war Chemie, doch Mathematik lag ihm nicht – ein Fach, das für ein naturwissenschaftliches Studium vorausgesetzt wird. Dann, so erzählt Coas
e, »entschied ich mich für den einzigen anderen Studiengang, für den ich den notwendigen Stoff an der Kilburn Grammar School lernen konnte: Wirtschaft.«
[4]
Und so landete Coas
e
auf diesem durch mehrere Zufälle bestimmten Weg an der London School of Economics, wo er 1929 begann, Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Er lernte schnell. Die Ideen für seine erste akademische Arbeit hatte er schon für eine Vorlesung niedergelegt, die er drei Jahre später in Dundee hielt – mit 21 Jahren. Diese Arbeit, »The Nature of the Firm«, war etwas Besonderes: Sie war einer von zwei herausragenden Beiträgen zur Ökonomik, die ihm über ein halbes Jahrhundert später den Wirtschaftsnobelpreis eintragen würden. (In aller Kürze versucht Coas
e in »The Nature of the Firm« zu erklären, warum es überhaupt Unternehmen gibt, und im Speziellen, warum Unternehmer sich entschließen, Mitarbeiter fest anzustellen, anstatt jede einzelne Aufgabe an externe Auftragnehmer zu vergeben.) Doch es ist sei
n anderer Beitrag, »The Problem of Social Cost«, um den es uns hier geht.
Viele große Ideen der Wirtschaftswissenschaften nahmen ihren Anfang als abstrakte Übungen in reiner Theorie, für die erst später – wenn überhaupt – praktische Anwendungen entwickelt wurden. Doch Coas
e arbeitete anders. In seiner gesamten Laufbahn – er veröffentlichte sein letztes Buch,
How China Became Capitalist
(deutsche Ausgabe:
Chinas Kapitalismus. Weg ohne Plan und Zukunft?
), im Alter von 101 Jahren – hat Coas
e abstrakte Theorien immer wieder kritisiert und sie als »Schultafel-Ökonomik« abgetan. Ein Gebiet, das ih
n besonders interessierte, waren Monopolunternehmen des öffentlichen Sektors, vor allem Sendeanstalten wie die
BBC
. Nachdem er 1951 in die
USA
umgezogen war, studierte er die Federal Communications Commission (
FCC
), die Sendelizenzen für Radio- und Fernsehsender vergibt, nachdem sie geprüft hat, ob eine solche Lizenz dem öffentlichen Interesse dient. Coas
e konnte kaum seinen Abscheu verbergen für das, was er als staatliches Diktat betrachtete, und wies darauf hin, dieses Vorgehen sei wie »eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission, die dafür zuständig ist, die Parteien zu benennen, denen es erlaubt wird, Zeitungen und Zeitschriften zu veröffentlichen, in jeder Stadt, jedem Ort und jedem Dorf.«
[5]
Coas
e schlug vor, stattdessen die Sendefrequenzbänder zu versteigern und dem Höchstbietenden zuzusprechen, was damals unvorstellbar war für alle, die für einen Sender arbeiteten. Heute ist es in vielen Ländern das übliche Verfahren.
Coase
s
Hauptargument war, dass die Verzögerung, die durch die Vergabe von Sendelizenzen durch die Federal Communications Commission entstand, unnötig war. Solange die Senderechte eindeutig gesetzlich geregelt und übertragbar seien, würden sie unweigerlich in den Händen derjenigen landen, für die sie am wertvollsten waren. Ganz gleich, welcher Sender eine solche Lizenz zunächst erhalten würde, er werde mehr Geld damit verdienen, die Rechte weiterzuverkaufen anstatt sie zu behalten – es sei denn, dieser Sender würde den Senderechten mehr Wert zumessen als alle anderen Interessenten. Und da der Sender, für den die Rechte am wertvollsten waren, sie vermutlich auch am besten nutzen würde, sei das auch das beste Ergebnis für die gesamte Gesellschaft. Es stellte sich heraus, dass Coase
s Ansichten nicht nur von Sendeanstalten und der FCC
mit Befremden zur Kenntnis genommen wurden – auch die Hüter der Grundsätze einer freien Marktwirtschaft zeigten sich erstaunt und ablehnend, was aus heutiger Sicht durchaus bemerkenswert ist.
Coas
e reichte seinen Artikel über die FCC
zur Veröffentlichung an das Journal of Law and Economics
ein, eine neue Fachzeitschrift, die im Verlag der University of Chicago erschien, der Hochburg der akademischen Stoßtrupps des Marktliberalismus. Sie waren davon überzeugt, die dem Artikel zugrunde liegende Idee – dass der Umstand, wer eine staatliche Lizenz zuerst erhält, sich nicht darauf auswirken sollte, wer sie am Ende bekommt – sei schlichtweg falsch. Im Gegensatz zu Coas
e war ihnen instinktiv klar, dass eine Firma vor Aktivitäten zurückscheuen wird, für die sie keine Lizenz hat, weil es sie teuer zu stehen kommen kann, das Gesetz zu übertreten: So wird zum Beispiel eine Firma wahrscheinlich darauf verzichten, ein Produkt herzustellen, für das sie die erforderlichen Patente nicht hat, oder dessen Herstellung zu Luft- oder Wasserverschmutzung führt, für die sie verklagt werden könnte. Darum forderte Aaron Directo
r, der Chefredakteur des Journal of Law and Economics
, Coas
e auf, seine zentrale Schlussfolgerung aus dem Artikel zu entfernen: Coas
e war zu dem Schluss gekommen, dass rechtliche Fragen sich letztlich kaum darauf auswirken würden, was tatsächlich produziert wird. Als Coas
e sich weigerte, seinen Artikel entsprechend zu überarbeiten, lud Directo
r ihn zu einem Dinner bei sich zu Hause ein, wo er einige Ökonomen der Chicagoer Schule treffen sollte, um ihnen Rede und Antwort zu stehen. Seine Einladung zur Dinnerparty
wirkte durchaus freundschaftlich; tatsächlich glich das Treffen jedoch eher einem Tribunal.
Anfang der 1960er-Jahre sahen sich die Ökonomen der Chicagoer Schule als Außenseiter, die aggressive Schlachten zu schlagen hatten gegen das politische und akademische Establishment im fernen Washington und in Cambridge, Massachusetts. Gary Becke
r, ein junger Chicago-Ökonom, der ebenfalls später den Wirtschaftsnobelpreis gewann, gab später zu, sie alle hätten sich verkannt gefühlt und seien besonders reizbar gewesen. Diese Unsicherheit manifestierte sich als aggressives Verhalten in Workshops, bei denen eingeladene Akademiker ihre Ansichten verteidigten. Als ein solcher Gastredner George Stigle
r, den Organisator des Workshops, fragte, wo er denn sitzen solle, um seine Arbeit zu präsentieren, antwortete Stigle
r: »In Ihrem Fall – unter dem Schreibtisch.« Dies war die Atmosphäre, in die Coas
e eines Abends Anfang 1960 geriet, bei Directo
r zu Hause. Der Abend begann mit einer Abstimmung. Die 20 anwesenden Ökonomen der Chicagoer Schule lehnten die Ansichten von Coas
e ab; der einzige, der dafür stimmte, war Coas
e selbst. Dann versuchte Milton Friedma
n, der Anführer des Chicagoer Teams, Coase
s Argumente vom Tisch zu wischen. Stigle
r, der das Ganze beobachtete, erinnert sich später an »eine der spannendsten intellektuellen Auseinandersetzungen meines Lebens: Milto
n attackierte ihn von der einen Seite, dann von der anderen, dann noch mal aus einer anderen Richtung. Doch zu unserem Entsetzen traf Milto
n nicht ihn, sondern uns. Am Ende des Abends wurde noch mal abgestimmt, und das Blatt hatte sich gewendet: Ronald bekam alle 21 Stimmen …«
[6]
Coas
e fand den Abend bei Directo
r ziemlich anstrengend, doch es war ihm gelungen, die Ökonomen der Chicagoer Schule von seinen Ideen zu überzeugen. Dies war vermutlich genau der Moment, in dem das moderne Konzept der Privatisierung
erfunden wurde, denn die Chicago-Ökonomen erweiterten Coase
s Argumente zum Thema Sendelizenzen sofort auf alle anderen öffentlichen Vermögenswerte. Sie folgerten, dass es für die gesamte Gesellschaft stets das Beste sei, wenn öffentliche Vermögenswerte einfach an den Höchstbietenden versteigert würden. Falls es nicht möglich (oder politisch unerwünscht) sei, sie zu versteigern, sollten die Rechte an solchen Werten einfach an irgendjemanden übertragen werden – ganz gleich an wen, das spiele keine Rolle, da Coas
e argumentiert hatte, dass sie unweigerlich in den Händen der Partei enden würden,
die ihnen den größten Wert zuschrieb.
Directo
r ermutigte Coas
e, seine Argumente detailliert auszuarbeiten, und diese Arbeit wurde bald darauf als »The Problem of Social Cost« veröffentlicht. An den Anfang seines Artikels stellte Coas
e eine Geschichte von zwei benachbarten Farmern, einem Rinderhalter und einem Getreidebauern. Nehmen wir an, so die Geschichte, die Rinder des einen streunen auf den Feldern des anderen umher und richten dort Schäden an, indem sie das Getreide zertrampeln. Wenn die beiden Landwirte die Freiheit haben, über dieses Problem zu verhandeln und zu einer Vereinbarung zu kommen, sind zwei Ergebnisse möglich. Falls es billiger ist, die Rinder (etwa durch Errichten eines Zauns) zurückzuhalten, als die Ernteschäden wert sind, dann werden die Rinder zurückgehalten werden; falls jedoch umgekehrt ein Zaun teurer ist, als die Ernteschäden wert sind, dann wird das Getreide auch weiterhin zertrampelt werden. Die jeweilige Höhe der Kosten wird das Ergebnis der Verhandlungen zwischen den Farmern bestimmen, ganz gleich, ob das Gesetz dem Rinderhalter oder dem Getreidebauern bestimmte Rechte zuspricht. Doch die Rechtslage wird bestimmen, wer für die Kosten der Lösung des Problems aufkommen muss – wenn zum Beispiel das Errichten eines Zauns weniger kostet, als die Ernteschäden wert sind, doch die Rinder das gesetzliche Recht haben, sich frei bewegen zu dürfen, dann wird der Getreidebauer den Rinderbauern dafür bezahlen müssen, den Zaun zu bauen. Die Botschaft dieser Geschichte von Coas
e lässt sich ganz einfach zusammenfassen: Wenn einer Vereinbarung zwischen den beiden Farmern keine sonstigen Kosten oder Hindernisse im Wege stehen, werden ihre Verhandlungen immer zum gleichen Ergebnis führen, ganz unabhängig von der Rechtslage.
Doch beinahe sofort nach Coase
s Triumph auf Director
s Dinnerparty begann sich ein entscheidender Unterschied zwischen Coase
s Ansichten und denen seiner neuen Chicago-Unterstützer zu zeigen. Wenn man davon ausgeht, dass Coase
s Geschichte von den beiden Farmern realistisch sein sollte, dann, so folgerten die Chicago-Ökonomen, sei bei vielen alltäglichen Auseinandersetzungen das Anrufen eines Gerichts eine kostspielige Zeitverschwendung. Allgemeiner ausgedrückt: Sie vertraten die Auffassung, dass die Rolle und der Zweck des Rechtssystems völlig neu überdacht
und die Notwendigkeit für staatliche Interventionen qua Gesetz dramatisch reduziert werden müsse. Diese Schlussfolgerungen haben auch heute noch, im 21. Jahrhundert, enormen Einfluss. Doch sie beruhen auf einem Missverständnis.
Coas
e hatte seine Geschichte als offensichtlich fiktiv gemeint, als eine Art Gedankenexperiment, das die fantastischen Konsequenzen aufzeigen sollte, die aus der fiktiven
Grundannahme der Geschichte folgen: Dass dem Abschließen von Geschäften zwischen privaten Parteien keine sonstigen Kosten oder Hindernisse im Wege stehen oder, mit Coase
s Worten: die Annahme, dass »zero transaction costs« (»keine Transaktionskosten«) anfallen. Zwar ist diese Art der Argumentation jedem Philosophen als Reductio ad absurdum
geläufig, doch die Chicago-Ökonomen übersahen den springenden Punkt: Sie hielten es im Wesentlichen für realistisch, davon auszugehen, dass keine Transaktionskosten anfallen, und machten sich daher die daraus folgende absurde Schlussfolgerung zu eigen.
Ihre fehlerhafte Deutung der Argumentation von Coas
e verfestigte sich sehr schnell im öffentlichen Bewusstsein und ließ sich dann kaum noch infrage stellen, da sie in den Rang eines »Theorems« erhoben wurde. Stigle
r erwähnte das »Coas
e-Theorem« zum ersten Mal schwarz auf weiß, als er es 1966 in die dritte Auflage seines erfolgreichen Lehrbuchs aufnahm. Bald darauf tauchten in den meisten Lehrbüchern Varianten des Theorems auf, die ungefähr besagen: »Es spielt keine Rolle, wie das Gesetz bestimmte Rechte verteilt, da Verhandlungen zwischen den beteiligten Parteien stets das gleiche Ergebnis herbeiführen werden.« Dass diese Schlussfolgerung voll und ganz auf der hochgradig unrealistischen Annahme beruht, dass keine Transaktionskosten entstehen, wurde meist heruntergespielt oder gar nicht erst erwähnt.
Es ist wichtig, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass das Coas
e-Theorem nicht das ist, was es zu sein scheint. Erstens ist es nichts, was Coas
e jemals gesagt oder vorgeschlagen hätte; zweitens ist es kein Theorem, da es nicht aus einer Reihe von Annahmen besteht, die durch logisches Ableiten zu einer Schlussfolgerung führen. (Da der Name jedoch inzwischen allgemein gebräuchlich ist, werde auch ich ihn hier weiterhin verwenden.) Und dieses sogenannte »Coas
e-Theorem« besagt das genaue
Gegenteil
dessen, was Coas
e meinte. Tatsächlich ist das Coas
e-Theorem, obwohl es enormen Einfluss entfaltet hat, von maßgeblicher Seite immer wieder und sehr deutlich kritisiert worden: nämlich von Ronald Coas
e
selbst. Fast 30 Jahre nach Erscheinen seines bahnbrechenden Artikels hat Coas
e wehmütig gesagt: »Weder hat meine Sicht der Dinge allgemeine Zustimmung hervorgerufen noch wurde der Großteil meiner Argumente verstanden.«
[7]
Doch seine Kritik wurde ignoriert. Für Coas
e war es ziemlich ironisch, dass ihm 1991 der Wirtschaftsnobelpreis zugesprochen wurde, weil das auf der Basis einer weit verbreiteten und fundamentalen Fehldeutung seiner Arbeit geschah. Es wird Zeit, den richtigen Coas
e zu Wort kommen zu lassen.
Coas
e versus Chicagoer Schule?
Coas
e wollte mit seiner Geschichte über die Farmer keineswegs behaupten, die Gesetze seien irrelevant, sondern das genaue Gegenteil: dass nämlich die Gesetze sehr wohl eine Rolle spielen, weil derjenige, der die gesetzlichen Rechte über etwas innehat, das Ergebnis privater Verhandlungen über diese Rechte beeinflussen wird, sofern nicht solchen Verhandlungen buchstäblich keine
Kosten oder Hindernisse im Wege stehen. Und Coas
e hat zu Recht betont, dass es im wirklichen Leben immer
irgendwelche Hindernisse gibt, die zu den von Coas
e so bezeichneten Transaktionskosten führen. Diese Kosten sind allgegenwärtig, weil sie so unterschiedlich sind und etliche Hindernisse – nicht nur finanzielle – einschließen, was die beteiligten Parteien demotiviert, eine Vereinbarung zur Beilegung ihrer Differenzen zu treffen. Bevor es zu einer Vereinbarung kommen kann, entstehen Kosten, um herauszufinden, mit wem man verhandeln muss, und weitere Kosten, um dann mit dieser Partei zu kommunizieren. Vielleicht wären Sie bereit, einem (oder mehreren) Nachbarn eine Entschädigung zu zahlen, wenn Sie auf Ihrer Party bis spät in die Nacht laute Musik spielen wollen, aber erst einmal müssen Sie feststellen, wer sich denn überhaupt durch die Musik gestört fühlen würde. Ganz ähnlich wäre eine Wäscherei, die sauberes Wasser aus einem Fluss entnehmen will (zumindest so sauber, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist), vielleicht durchaus bereit, dafür zu zahlen, saubereres Wasser zu bekommen, doch es könnte schwierig für sie werden herauszufinden, welche flussaufwärts gelegene Fabrik den Fluss tatsächlich verschmutzt. Außerdem gibt es Kosten, die direkt aus den Verhandlungen über eine Vereinbarung
entstehen – am offensichtlichsten die Zeit und die Arbeit, die es kostet, diese Verhandlungen zu führen, aber auch die Kosten, die entstehen, um alle relevanten Informationen zusammenzutragen. Die Wäscherei wird entscheiden müssen, wie viel sie der Fabrik zu zahlen bereit ist, und daher wird sie die Kosten anderer Lösungen abschätzen müssen, etwa einer anderen Versorgungsquelle für ihr Wasser oder der Möglichkeit, das Flusswasser im eigenen Haus aufzubereiten, bis es sauber genug ist. Wenn es schließlich zu einer Vereinbarung gekommen ist, entstehen zusätzliche Kosten, um deren Einhaltung zu überwachen und um sicherzustellen, dass die andere Partei ihre Verpflichtungen erfüllt. Und falls sie das nicht tut, wird der Versuch, die Vereinbarung durchzusetzen – womöglich durch ein Gerichtsverfahren – wieder etwas kosten.
Transaktionskosten implizieren, dass das Objekt oder das Recht, um das gestritten wird, nicht unbedingt an die Person, Firma oder Organisation gehen wird, die ihm den höchsten Wert beimisst. Das ist so, weil die Transaktionskosten in vielen Fällen verhindern, dass eine Vereinbarung zustande kommt, selbst wenn dieser Deal für alle Beteiligten vorteilhaft wäre. Wenn für eine der beteiligten Parteien die Kosten, die entstehen würden, um zu einem Deal zu kommen und ihn durchzusetzen, höher wären als der davon erwartete Nutzen, wird das Geschäft nicht zustande kommen. Wenn aber ein Geschäft, das für alle Beteiligten nützlich wäre, nicht zustande kommt, ist dieses Ergebnis in gewisser Hinsicht eine Verschwendung, denn dadurch wird eine Gelegenheit vertan, allen
Parteien einen Nutzen zu verschaffen. Ökonomen nennen ein solches Ergebnis »ineffizient«, weil ein verfügbarer Nutzen verschwendet wird. Hier kann der Staat die offensichtliche Rolle spielen zu intervenieren, um den Gesamtnutzen zu steigern. Anstatt zum Beispiel davon auszugehen, dass die Wäscherei und die Fabrik zu einer Vereinbarung kommen werden – was möglicherweise wegen der Transaktionskosten nicht geschehen wird –, könnte der Staat das Verschmutzen des Wassers durch die Fabrik besteuern, wobei die Höhe der Steuern den durch die Verschmutzung entstehenden Kosten entsprechen sollte (zum Beispiel den höheren Kosten, die der Wäscherei entstünden, wenn sie verschmutztes Wasser nutzen müsste). Generell kam Coas
e zu dem Schluss, dass die Existenz von Transaktionskosten in der Tat eine Intervention des Staates rechtfertigen kann, da private Verhandlungen allein zu ineffizienten Ergebnissen
führen können.
An diesem Punkt könnten Sie zu raten versuchen, wie die Geschichte von Coas
e versus Chicagoer Schule weiterging: Die Chicago-Ökonomen berufen sich auf das Coas
e-Theorem, um ihre marktliberalen Dogmen zu rechtfertigen – Privatisierung, Versteigern von öffentlichen Vermögenswerten, marktbasierte Politik wie Emissionsrechtehandel und so weiter. Dagegen entpuppt sich Coas
e als Vorkämpfer für staatliche Interventionen.
Mit dieser Vermutung würden Sie danebenliegen. Entsprechend seinem Misstrauen gegen »Schultafel-Ökonomik« argumentierte Coas
e, dass weder freie Märkte noch staatliche Interventionen in jedem einzelnen Fall besser seien – es hänge immer von den Umständen ab. Um zu entscheiden, welche Politik die beste ist, gibt es keine Alternative zu einer sorgfältigen Analyse von Fall zu Fall. Das heißt, dass Coas
e sich keineswegs bedingungslos für staatliche Interventionen einsetzte, sondern eine vernünftige und pragmatische Haltung an den Tag legte. Darüber hinaus hatte er eine Erkenntnis gewonnen, die ihn nicht nur mit der Chicagoer Schule aussöhnte, sondern ihn sogar zu einem ihrer intellektuellen Helden machte. Es war eine Erkenntnis, die zahlreiche Ideen über Moral und Gerechtigkeit zunichtezumachen schien – Ideen, die häufig herangezogen werden, um Einschränkungen der freien Märkte zu rechtfertigen.
Vor »The Problem of Social Cost« hatten die Wirtschaftswissenschaften sich auf den gesunden Menschenverstand verlassen, wenn es darum ging, Situationen zu analysieren, in denen eine Partei einer anderen einen Schaden zufügt. Wenn eine Fabrik einen Fluss verschmutzt, dessen Wasser flussabwärts von einer Wäscherei genutzt wird, dann ist die Lösung für dieses Problem, dass die Fabrik entweder ihre Verschmutzung einstellt oder die Wäscherei entschädigt. Falls es bei einem Automodell wegen eines Konstruktionsfehlers unter bestimmten Umständen gefährlich ist, mit einem solchen Auto zu fahren, dann ist die Lösung, einen Rückruf der betroffenen Fahrzeuge anzuordnen und die Fahrer, die bereits Nachteile erlitten haben, zu entschädigen. Coas
e fasste die vorherrschende Rechtsauffassung folgendermaßen zusammen: »Wenn A einen Nachteil für B verursacht, muss entschieden werden: Wie sollten wir A einschränken?« Coas
e machte diese Auffassung mit einem Federstrich zunichte: »Die eigentliche Frage, die
entschieden werden muss, ist diese: Sollte A erlaubt werden, B zu schaden, oder sollte B erlaubt werden, A zu schaden? Das Problem ist, den größeren Schaden zu vermeiden.«
[8]
Es liegt auf der Hand, dass dies eine entscheidende Frage ist, die gestellt werden muss – aber kein Ökonom hatte sie jemals gestellt. Wie es Richard Posne
r, ein führender
US
-Bundesrichter, später einmal gesagt hat: »Coas
e ist der lebende Beweis … dass es einen sehr ungewöhnlichen Verstand erfordert, die Analyse des Offensichtlichen zu unternehmen.«
[9]
Coas
e hatte etwas ganz Einfaches erkannt: Wenn zwei Parteien in Konflikt miteinander geraten, entsteht
beiden
durch die Gegenwart der anderen ein Schaden. Wenn die Rinder des Rinderbauern über das Feld des benachbarten Getreidebauern streunen, welcher Farmer ist dafür verantwortlich? Es würde kein Problem entstehen, kein Ernteschaden, wenn nicht beide Farmen vorhanden wären und nebeneinanderliegen würden. Es ist die Nachbarschaft der beiden Farmen, die den Ernteschaden »verursacht«, nicht einer der Farmer allein. Wenn eine Fabrik Wasser verschmutzt, das von einer Wäscherei verwendet wird, entstehen der Wäscherei dadurch Kosten – doch wenn die Verschmutzung verboten wird, entstehen der Fabrik Kosten. Diese Auffassung impliziert, dass der »gesunde Menschenverstand« bei Fragen der Verantwortlichkeit bedeutungslos ist. Es ist unmöglich, das Opfer und den Übeltäter zu benennen, indem man untersucht, wer wem welche Kosten verursacht hat, da beiden Parteien Kosten entstehen. Aus dieser Erkenntnis zog Coas
e den Schluss, dass die Entscheidung, ob einer Firma Emissionen erlaubt werden sollten oder nicht, »das Gleiche ist, als wolle man vorschreiben, ob auf einem Feld Weizen oder Gerste angebaut werden soll«.
[10]
Das heißt, es kommt nur darauf an, die Produktion, den Output oder den Wert insgesamt zu maximieren.
An dieser Stelle endet die Analyse von Coas
e. Doch spätestens Anfang der 1970er-Jahre waren seine Anhänger der Chicagoer Schule – die inzwischen ebenso häufig Jura wie Ökonomik studierten – noch viel weiter gegangen. Sie erweiterten die Analyse von der wirtschaftlichen Welt auf die Bereiche der Gesetzgebung und Moral. So wendeten sie zum Beispiel Coase
s Ideen auf Unfälle an und argumentierten, dass man sowohl Schädiger als auch Geschädigten für einen Unfall verantwortlich machen könne, da ja beide Parteien anwesend sein müssten, damit ein Unfall überhaupt passieren kann. Von da aus ist es nur noch ein kleiner
Schritt zu der Schlussfolgerung, dass beide Parteien gleichermaßen für den Unfall verantwortlich seien. Die traditionellen moralischen und rechtlichen Auffassungen über Motivation, Verantwortlichkeit und Rechte werden bei diesem neuen Ansatz – der bald als die »Law and Economics«-Schule des juristischen Denkens bekannt wurde – beiseitegewischt.
Der wachsende Einfluss der Law-and-Economics-Bewegung – eines mächtigen Netzwerks von Akademikern und Richtern – ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine große Idee ungewollte Folgen nach sich ziehen kann. Coas
e stellte jahrhundertealte Rechtsauffassungen über Unfälle auf den Kopf – sozusagen durch einen Unfall. Er hatte nicht die Absicht, eine Revolution des juristischen Denkens auszulösen; e
r selbst drückte es so aus: »Ich habe kein Interesse an Rechtsanwälten oder juristischer Bildung.«
[11]
Vielmehr wollte er mit seinen Ideen zeigen, inwiefern Märkte und andere wirtschaftliche Arrangements auf dem allgemeinen Rechtssystem beruhen. Doch seine Anhänger stellten diese Sicht auf den Kopf: Gesetzliche Rechte sollten auf wirtschaftlichen Aspekten beruhen (also
nicht
auf Vorstellungen über Gerechtigkeit, Fairness, Verantwortlichkeit, Motivation und so weiter). Die Law-and-Economics-Anhänger wollten die Ökonomik einsetzen, um die Gesetze zu erklären und neu zu gestalten. Ihre Inspiration war Coas
e, und die Folgen waren weitreichend.
Die Revolution von 1968
Für Historiker ist 1968 ein folgenschweres Jahr revolutionärer Umwälzungen, die von den Studentenrevolten in Paris ausgingen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Das Jahr 1968 hat in der Tat eine Revolution hervorgebracht, doch sie begann in Chicago, nicht in Paris.
Jahrelang wurden die Law-and-Economics-Leute vom juristischen Establishment ignoriert. Man hielt sie für eine Clique libertärer Exzentriker mit verrückten Ideen. Die Debatte innerhalb des Establishments drehte sich nicht darum, ob diese Ideen richtig oder falsch waren, sondern ob sie es überhaupt wert waren, ernst genommen zu werden. Bis dem Establishment seine Überheblichkeit von einem einzigen Man
n ausgetrieben wurde, der fast im Alleingang Law-and-Economics zu einer respektablen,
wenn auch umstrittenen Denkschule machte, und der unterdessen zum meistzitierten Juristen des 20. Jahrhunderts wurde.
Nachdem er sein Studium an der Harvard Law School als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte, fungierte Richard Posne
r von 1962 bis 1963 als Assistent von William Brenna
n, einem Richter am Supreme Court, dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Dann hatte er eine Reihe von bedeutenden juristischen Positionen in Washington inne, deren Höhepunkt seine Arbeit für den Solicitor General, den ranghöchsten Staatssekretär im US
-Justizministerium bildete. Dort war er zuständig für den Bereich »Antitrust«, also die Bekämpfung von Monopolen, Kartellen und anderen wettbewerbsverzerrenden Praktiken durch Unternehmen. Diese hervorragenden Mainstream-Referenzen sollten sich bald als unschätzbar erweisen, um seine intellektuellen Gegner davon zu überzeugen, ihn ernst zu nehmen. Doch zuerst brauchte er ein Ziel, und das fand er bald. Nachdem Richard Nixo
n im Herbst 1968 US
-Präsident geworden war, beauftragte die neue Regierung den Chicago-Ökonomen George Stigle
r, eine Antitrust-Taskforce zu bilden. Stigler bat Posne
r, in seinem Team mitzuarbeiten. Posne
r selbst sah sich als Liberaler – er hatte für die Demokraten gestimmt, nicht für Nixon –, doch da er zunehmend angewidert war von den Protesten gegen den Vietnamkrieg und den Studentenrevolten, nahm er dieses Angebot an. Seine Wandlung vom Liberalen zu einem Nietzsche lesenden Libertären beschleunigte sich, als er 1969 in die juristische Fakultät der University of Chicago eintrat und mehr Zeit mit den Chicago-Ökonomen Milton Friedma
n, George Stigle
r und Gary Becke
r verbrachte.
Aus juristischer Sicht waren die Antitrust-Ideen der Chicago Boys revolutionär, und sie stellten eine Reihe von komplexen Herausforderungen für die orthodoxe Rechtsauffassung dar. Aus der Chicagoer Perspektive waren diese Ideen eine einfache Anwendung des Coas
e-Theorems. Coas
e hatte gesagt, dass eine Regierung, bevor sie interveniert, um zu verhindern, dass Partei A einer Partei B einen Schaden zufügt, die dadurch für B entstehenden Kosten bedenken sollte. Posne
r wendete dieses Prinzip auf Antitrust an, etwa beim Phänomen Preisdumping, das auftritt, wenn ein in einer bestimmten Branche dominantes Unternehmen seine Preise aggressiv senkt – und dabei sogar vorübergehende Verluste in Kauf nimmt –, um Wettbewerbern
ihre Kunden abspenstig zu machen und diese Firmen dadurch aus dem Markt zu drängen. Solche schikanösen Taktiken sind bei großen Einzelhandelsketten gang und gäbe, wenn sie ihre erste neue Filiale in einer Kleinstadt eröffnen. Sobald die kleinen Läden aufgegeben haben, erhöht die Kette ihre Preise wieder, weil sie dann ein Monopol hat. Die unter Juristen und marktliberalen Ökonomen gängige Schulweisheit besagt, dass entsprechende Vorschriften oder andere Maßnahmen erforderlich sind, um solche Schikanen durch dominante Firmen zu verbieten, damit kleinere Firmen geschützt und dadurch der Wettbewerb erhalten wird, was wiederum dem Verbraucher und der Gesellschaft insgesamt zugutekommt. Posne
r und seine Chicago-Ökonomen wiesen darauf hin, bei dieser Argumentation würden die Interessen der großen Kette ignoriert und es gehöre zu einer objektiven Abwägung der gesellschaftlichen Interessen, auch die Interessen des dominanten Unternehmens zu berücksichtigen.
Posne
r hatte seine eigenen Vorstellungen zu dieser »objektiven Abwägung«. Er nannte sie »Wohlstandsmaximierung«: Wenn der dominanten Firma durch Einführen von Antitrust-Regulierungen finanzielle Verluste entstünden, die höher wären als die finanziellen Gewinne der kleineren Firmen, dann, so Posne
r, seien Antitrust-Vorschriften keine gute Idee. Generell hat die Chicagoer Law-and-Economics-Bewegung Argumente entwickelt, um die Interessen der dominanten Firmen zu schützen – oder, wie Kritiker der Bewegung es sehen, um schikanöse Konzerne zu schützen. So hatten Posne
r und seine Anhänger zum Beispiel enormen Einfluss auf die Urheberschutzgesetze, und zwar, indem sie paradoxerweise argumentierten, die Vorzüge freier Märkte seien am besten zu erreichen, indem man Patent- und Copyrightinhabern durch weitreichende gesetzliche Regelungen ein starkes Monopol auf ihr geistiges Eigentum gewähren würde. Heute sind die größten Nutznießer solcher gesetzlichen Wohltaten Konzerne, die Monopole auf Produkte haben, ohne die kaum jemand auskommt – Apple, Microsoft, Pfizer, Glaxo und so weiter. Und die Überzeugung Posner
s, Wohlstandsmaximierung sei besser, als Konzerne zu gängeln, ist das, was hinter dem Widerstand gegen die Forderung steckte, die Investmentbanken sollten bestraft werden für ihre ursächliche Rolle der globalen Finanzkrise, die 2007 begann. In einem Statement von Alan Greenspa
n, dem ehemaligen Chef der
US
-Notenbank Federal Reserve, klangen die posnersche
n
Ansichten an, als er sagte, es möge vielleicht »gut für den Seelenfrieden« sein, die Banken zu bestrafen, doch es sei »kaum einmal wirtschaftlich produktiv«.
[12]
Posner
s Unterstützung für Großkonzerne war nicht nur durch sein Stipendium motiviert. Im Jahr 1977 gründete er die Unternehmensberatung Lexecon, die seither enorm gewachsen ist (nach einer Übernahme heißt sie heute Compass Lexecon) und zahlreiche Großkonzerne mit Law-and-Economics-Munition versorgt hat, um deren Interessen zu schützen. Und Lexecon hat Experten, die in der Law-and-Economics-Denkschule ausgebildet sind, lukrative Positionen und Beratungsaufträge zugeschanzt.
Posner
s Wohlstandsmaximierungsprinzip lässt sich nicht nur für Konzerne anwenden; das ist lediglich die Spitze des Eisbergs. Um würdigen zu können, welche Auswirkungen es auf das rechtliche Denken entfaltet hat, sollte etwas klargestellt werden. Für Posne
r ist die Frage nicht so sehr, ob »Wohlstandsmaximierung Gerechtigkeit schlägt«; sie bedeutet etwas sehr viel Ambitionierteres: Wohlstandsmaximierung ist
Gerechtigkeit.
Mit der Behauptung, »Gerechtigkeit« habe keine andere Bedeutung als eine Art Synonym für Wohlstandsmaximierung zu sein, ging Posne
r auf einen frontalen Kollisionskurs mit dem liberalen juristischen Establishment. Ungeachtet seiner elitären Karrierestationen wäre Posne
r wegen seiner Ansichten sehr wahrscheinlich von diesem Establishment ignoriert worden, wenn er es ihnen nicht unmöglich gemacht hätte, ignoriert zu werden – durch wiederholtes, aggressives und öffentlichkeitswirksames Provozieren seiner Gegner, worauf sie reagieren mussten. Posne
r hatte an der Chicagoer Schule nicht nur wegen ihrer rechtslastigen Tendenzen Gefallen gefunden, sondern auch wegen ihrer aggressiven Methoden, und er kopierte diese Methoden, als er behauptete, dass Wohlstandsmaximierung ein wesentlich objektiverer und wissenschaftlicherer Ansatz sei als die herkömmliche rechtliche Analyse. Soweit es Posne
r betraf, waren traditionelle Rechtsgrundsätze »nichts als Geschwafel«.
Und so gelang es Posne
r, das liberale Establishment dazu zu bringen, auf seine Provokationen zu reagieren und auf diesem Weg Law-and-Economics zu einem öffentlichen Thema zu machen, anstatt einfach nur ignoriert zu werden. Die Debatte verlagerte sich von der Frage, ob Posner
s Ideen es überhaupt wert seien, ernst
genommen zu werden, zu einer detaillierten Auseinandersetzung um seine ökonomischen Argumente. Mit dieser Verlagerung des Fokus auf ökonomische Details traten grundsätzliche Rechtsfragen in den Hintergrund. Anwälte begannen, sich mit ökonomischen Argumenten zu munitionieren. Und so kam es, dass die Revolution von 1968 Bestand hatte, da der neue Rahmen der Debatte es Heerscharen von Anwälten ermöglichte, lukrative Karrieren zu machen, indem sie auf der Basis von Posner
s Eröffnungssalven ganze Rechtsgebiete neu schrieben. Douglas Bair
d, einer von Posner
s Protegés, der später zum Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der University of Chicago aufrückte, hat es so ausgedrückt:
Anfang der 1970er-Jahre kamen Leute wie Posne
r an die Uni, studierten sechs Wochen lang Familienrecht und schrieben dann ein paar Artikel, in denen sie erklärten, warum alles, was alle anderen zum Familienrecht sagten, zu 100 Prozent falsch sei. Die antworteten darauf: »Nein, wir haben nur zu 80 Prozent falschgelegen.« … Es war einfach, großartige Arbeit zu machen. … Ich habe immer gesagt, es sei ungefähr so, als ob man Coke-Flaschen mit einem Baseballschläger umhaut. … Ich interessierte mich für Insolvenzrecht, einer Spielwiese für intellektuelle Zwerge. … Es war eine totale intellektuelle Einöde. Ich bekam meine Professur, indem ich sagte: »Menschenskinder, ein Dollar heute ist mehr wert als ein Dollar morgen.«
[13]
Zugegebenermaßen war der Ton, den die Law-and-Economics-Clique anschlug, brutal – Posne
r nannte sein aggressives Auftreten ein »Säurebad« –, und ein paar von Posner
s Freunden waren Tyrannen, aber das heißt ja nicht, dass die Ideen falsch sein mussten.
[14]
Aber wie kann es eigentlich angehen, dass Wohlstandsmaximierung Gerechtigkeit
sein
kann?
Posne
r im Wunderland
»Wenn ich
ein Wort verwende«, erwiderte Humpty Dumpty ziemlich geringschätzig, »dann bedeutet es genau, was ich es bedeuten lasse, und nichts anderes.«
»Die Frage ist doch«, sagte Alice, »ob du den Worten einfach so viele verschiedene Bedeutungen geben kannst.«
Auf den ersten Blick scheint Posne
r
, wenn er Gerechtigkeit als Wohlstandsmaximierung neu definiert, nicht mehr und nicht weniger zu tun als Humpty Dumpty. Tatsächlich bestand Posner
s Argumentation aus zwei Teilen.
In seinem Artikel »The Problem of Social Cost« hatte Coas
e Folgendes impliziert: Wenn Richter von »Gerechtigkeit« sprechen und sich dabei auf komplizierte Rechtsgrundsätze berufen, führen ihre Entscheidungen in den meisten Fällen und im Durchschnitt dazu, dass das, was Coas
e als »Gesamtsozialprodukt« bezeichnet hat, maximiert wird. Posne
r interpretierte dieses Produkt als Wohlstand und entwickelte auf der Basis von Coase
s Vorschlag eine umfassende historische Analyse, die ihn zu dem Schluss führte, dass »die Logik des Common Law eine wirtschaftliche Logik ist«:
[15]
Der Richter würde durch seine Urteile die Maximimierung des Wohlstands fördern, sei es bewusst oder unbewusst. Posner
s Schlussfolgerungen sind bis heute umstritten, doch es besteht Einigkeit, dass sie zumindest ein Körnchen Wahrheit enthalten, und zwar unter anderem, weil ein Gerichtsurteil, das die Bilanz der Gewinne und Verluste, zu der es führt, völlig ignoriert, vermutlich mit größerer Wahrscheinlichkeit in der Berufungsinstanz aufgehoben würde. Wenn ein Urteil zu großen Verlusten für eine Partei führt, wird diese Partei mit größerer Wahrscheinlichkeit in die Berufung gehen; wenn die andere Partei nur einen relativ geringen Nutzen aus der Entscheidung zieht, wird sie mit geringerer Wahrscheinlichkeit Zeit und Geld dafür aufwenden, ihre Position zu verteidigen. Und umgekehrt wird ein Urteil, das sicherstellt, dass die Gewinne höher sind als die Verluste, weniger wahrscheinlich angefochten werden. Dieses Argument ist stichhaltig, soweit es denn reicht – aber es reicht eben nicht sehr weit. Selbst wenn Gerichtsentscheidungen im Durchschnitt dafür sorgen, dass die Gewinne höher sind als die Verluste, folgt daraus keineswegs, dass sie unter Missachtung konventionellerer Rechtsgrundsätze Wohlstand maximieren. Und selbst wenn sich herausstellen sollte, dass Wohlstandsmaximierung ein (unbewusster) Effekt von richterlichen Entscheidungen sei, folgt daraus nicht etwa, dass Wohlstandsmaximierung auch nach ethischen Grundsätzen ein wünschenswertes Ziel sei – im Gegenteil, es könnte sogar den Anforderungen der Gerechtigkeit entgegenstehen.
Das bringt uns zu Posner
s zweitem Argument, mit dem er
versuchte, eine explizite Rechtfertigung für Wohlstandsmaximierung zu konstruieren. Dabei berief er sich jedoch nicht auf ethische Grundsätze, sondern auf wirtschaftliche Faktoren, und zwar vor allem auf die Denkströmung der Wirtschaftswissenschaften, die besagt, dass Urteile über Fairness und Gerechtigkeit nichts anderes seien als Gefühlsbekundungen und dass es sich bei Meinungsverschiedenheiten wegen solcher Angelegenheiten »um Differenzen handelt, die Männer letztlich nur durch einen Kampf beilegen können«, wie Posner
s Kollege Friedma
n es ausgedrückt hat.
[16]
Posne
r betrachtet Wohlstandsmaximierung als »wissenschaftlich«, weil sie Urteile über Fairness und Gerechtigkeit vermeidet. Wohlstandsmaximierung zielt darauf ab, die Größe des gesamtwirtschaftlichen Kuchens zu maximieren, ohne dass darum gekämpft werden müsste, wie dieser Kuchen aufgeteilt werden soll.
Doch diese Auffassung ist selbst nach ihrer eigenen Logik fehlerhaft. Wohlstandsmaximierung ist nicht in dem Sinne wissenschaftlich, dass sie ethische Urteile vermeidet, weil schon die Entscheidung, Wohlstand zu maximieren, selbst ein ethisches Urteil ist – nämlich die Entscheidung, Wohlstand Vorrang einzuräumen vor moralischen Überlegungen, die sich von der Verteilung des Kuchens bis hin zur Verantwortlichkeit für Unfälle erstrecken. So haben wir ja zum Beispiel gesehen, wie die Chicago Boys Coase
s Vorstellungen auf die Verantwortlichkeit für Unfälle anwenden: Die bei einem Unfall geschädigte Partei sei gleichermaßen für ihren Schaden verantwortlich, da es ohne sie gar nicht erst zu dem Unfall gekommen wäre. Posne
r ging sogar noch weiter und vertrat die Auffassung, das Gesetz solle einen Beklagten nur dann zum Verursacher eines Unfalls erklären, wenn dieses Rechtsurteil im Sinne der Wohlstandsmaximierung sei. Das heißt, einem Beklagten könne nur dann Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, wenn die Kosten der Verhinderung des Unfalls geringer seien als die zu erwartenden Kosten des Unfalls selbst (berechnet als der finanzielle Wert des Schadens multipliziert mit seiner Eintrittswahrscheinlichkeit). Falls es nicht
zur Maximierung des Wohlstands führen würde, den Beklagten wegen Fahrlässigkeit zu verurteilen, dann, so Posne
r, sollte das Gesetz zu dem Schluss führen, dass die Ursache des Unfalls anderswo liege. Posne
r wies darauf hin, eine bequeme Entschuldigung in solchen Fällen könne sein, den Unfall
auf »höhere Gewalt« zurückzuführen. In Posner
s Vorstellung von Gerechtigkeit gibt es keinen Platz für das, was die meisten Menschen für Gerechtigkeit halten – nämlich, Fahrlässigkeit auf der Grundlage der Kette von Ursachen und Wirkungen und der ihr zugrunde liegenden Motive, Kompetenzen und Sorgfaltspflichten der beteiligten Parteien zu beurteilen.
Ganz ähnlich argumentierte Posne
r in seinem 1978 veröffentlichten Artikel »The Economics of the Baby Shortage«, in dem es heißt, das stark regulierte Genehmigungsverfahren zur Adoption eines Kleinkinds solle abgeschafft werden. Posne
r empfahl, es durch einen »echten« freien Markt für Babys zu ersetzen, um durch Realisieren von »Gewinnen aus dem Handel mit der Übertragung von Vormundschaftsrechten auf neue Eltern« Wohlstand zu maximieren.
[17]
Für Posne
r und seine Chicago Boys war diese Empfehlung eine offensichtliche Anwendung des Prinzips der Wohlstandsmaximierung – nämlich, gesetzliche Einschränkungen zu beschneiden, um ein praktisches Problem zu »lösen«. Für alle anderen war es lediglich eine weitere Bestätigung dafür, wie weit Posne
r den Kontakt zur Realität verloren hatte und jegliche Moral in Trümmern hinter sich ließ.
Posner
s Bezug auf die »Gewinne aus dem Handel«, dem Kauf und Verkauf von Kleinkindern, beschwört Coase
s Welt des »Deal-making«, der Geschäftemacherei herauf. Spätestens in den 1970er-Jahren hatten die meisten Anwälte und Ökonomen der Chicagoer Schule zu akzeptieren begonnen, dass das Coas
e-Theorem im wirklichen Leben wegen der allgegenwärtigen Transaktionskosten keinen Bestand haben kann. Stattdessen betrachteten sie das Theorem als Utopie. In einer idealen Welt – einem posnersche
n Wunderland – würde jeder Mensch die uneingeschränkte Möglichkeit haben, Geschäfte zum beiderseitigen Nutzen abzuschließen. Also verschrieben sich die Anhänger der Chicagoer Law-and-Economics-Schule dem Ziel, die reale Welt so weit wie möglich zu einem solchen Wunderland zu machen. Erstens: Rechtliche Hürden, die dem Abschließen von Geschäften im Weg stehen, sollten abgebaut werden. Selbst wenn dieses Geschäft darin besteht, ein Baby zu verkaufen, sollte das Gesetz in der Regel nicht einschreiten, weil dadurch wertvolle Gewinne aus dem Handelsgeschäft verhindert würden. Zweitens: Falls ein Gericht angerufen würde, weil Transaktionskosten die Parteien daran hinderten, ein Geschäft
abzuschließen, sollte es ganz einfach durch gerichtliche Anordnung das wohlstandsmaximierende Geschäft herbeiführen, das die Parteien in einer idealen Welt ohne Transaktionskosten abgeschlossen hätten
. Dieser Weg zur juristischen Entscheidungsfindung wurde als der »Mimic the market«-Ansatz (»Nachahmen der Märkte«) bezeichnet. Auch hier wird also Gerechtigkeit als explizites Ziel des Rechtssystems durch Wohlstandsmaximierung ersetzt.
Es ist leicht, dieses Vorgehen lächerlich zu machen, wenn es um den Verkauf von Babys oder ganz generell um moralische Fragen geht – wie es ja häufig der Fall ist. Doch in eng abgesteckten wirtschaftlichen Kontexten scheint es richtig zu sein, den Parteien möglichst weitgehend die Freiheit zu lassen, Geschäfte zum beiderseitigen Nutzen abzuschließen. Das wirft die Frage auf, ob es in alltäglichen oder wirtschaftlichen Angelegenheiten uneingeschränkt zugelassen werden sollte, Vereinbarungen zum beiderseitigen Nutzen zu treffen, wenn keine moralischen Aspekte auf dem Spiel stehen? Diese Frage kann auch anders gestellt werden. Coas
e hatte sich eine Welt vorgestellt, in der Menschen mit gegensätzlichen Interessen Geschäfte zum beiderseitigen Nutzen abschließen würden, ohne sich auf Gesetze oder staatliche Interventionen berufen zu können. Coas
e war völlig klar, dass dies eine völlig hypothetische Welt ist, da in der realen Welt stets Transaktionskosten anfallen. Aber sollten wir eine solche hypothetische Coas
e-Welt tatsächlich anstreben?
Coas
e selbst hat sich zu dieser Frage so gut wie gar nicht geäußert – vermutlich, weil er ihre praktische Relevanz nicht gesehen hat. Aber andererseits konnte er auch nicht voraussehen, dass sein Gedankenexperiment in ungezügelter Geschäftemacherei als Grundlage der utopischen Vision der Chicagoer Law-and-Economics-Denkschule herhalten würde. Aber selbst wenn wir die Moral außer Acht lassen und mit Posne
r annehmen würden, Wohlstandsmaximierung sei unser einziges Ziel, blieben immer noch Probleme mit dieser utopischen Vision. Es fängt damit an, dass ein Geschäft vielleicht den Wohlstand der beteiligten Parteien maximiert, aber nicht den Wohlstand der Gesellschaft insgesamt. So könnten zum Beispiel zwei in derselben Branche aktive Konzerne ein Kartell bilden oder andere Preisabsprachen treffen, die zwar ihren Gesamtprofit maximieren, aber auf Kosten der Verbraucher.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass selbst uneingeschränkte Geschäftemacherei nicht unbedingt dazu führen muss, dass es zu allseits nützlichen Deals kommt. Nehmen wir an, ich bin in einem der labyrinthartigen Suks von Marrakesch und möchte eine Teekanne kaufen. Doch dafür müssen der Händler und ich uns auf einen Preis einigen. Nehmen wir weiterhin an, der Höchstpreis, den zu zahlen ich bereit bin, sei höher als der Mindestpreis, den der Händler zu akzeptieren bereit ist. Dann ist ein Geschäft zum beiderseitigen Nutzen durchaus möglich: Wenn wir uns auf einen Preis zwischen diesen beiden Grenzwerten einigen, kommt ein Geschäft zustande, das uns beiden nützt. Aber natürlich weiß keiner von uns das vorher. Unter Umständen werden wir es nicht schaffen, uns auf einen Preis zu einigen – entweder, weil ich irrigerweise annehme, dass der Händler seinen Preis nicht weiter senken wird, oder ganz einfach, weil sein bestes Angebot mir noch zu hoch ist und ich einfach nicht mehr die Nerven habe, noch weiter zu feilschen. Selbst wenn Menschen bereit sind, langwierige Verhandlungen zu führen, weil viel auf dem Spiel steht, weiß keine Seite, wie weit die andere Seite zu gehen bereit ist, und die Entschlossenheit beider Parteien, für sich das Beste herauszuholen, kann verhindern, dass das Geschäft zum Abschluss kommt, obwohl es Bedingungen gibt, mit denen beide Seiten zufrieden wären – wenn sie das denn nur wüssten.
Solche praktischen Probleme spielen eine wichtige Rolle, aber vielleicht gibt es auch noch eine grundsätzlichere Hürde. Für die meisten von uns hört sich ein Leben voll ständiger, nie endender Geschäftemacherei nicht gerade wie eine wünschenswerte Utopie an. Wie würde ein solches Leben aussehen?
Ein Triumph des Coas
e-Theorems
Am 1. September 2014 legte eine Frau auf einem Flug von New York nach Palm Beach, Florida, ihr Strickzeug weg und stellte die Rückenlehne ihres Sitzes nach hinten. Die Passagierin hinter ihr begann sofort, sich zu beklagen, schrie und fluchte, bis es zu einem solchen Tumult kam, dass der Pilot beschloss, sicherheitshalber den Flug abzubrechen und schon in Jacksonville, Florida, zu landen. Und das war keineswegs ein Einzelfall.
[18]
Vier Tage vorher war ein Flug von Miami nach Paris umgeleitet worden nach Boston, weil ein
französischer Passagier etwas dagegen hatte, dass die vor ihm sitzende Person ihre Rückenlehne zurückstellte. Eine Flugbegleiterin kam dazu, der Franzose wurde wütend, und später wurde er wegen »Nichtbefolgen der Anweisungen einer Luftfahrzeugbesatzung« angeklagt. Erst drei Tage vorher, am 24. August, war ein anderer Flug aus New York umgeleitet worden, nachdem zwei Passagiere in Streit geraten waren, weil einer von ihnen einen »Knee Defender« benutzt hatte, eine für 21,95 Dollar erhältliche Vorrichtung, mit der sich das Zurückstellen der vorderen Rückenlehne blockieren lässt.
In einem Kommentar in der
New York Times
wies der Journalist Josh Barr
o darauf hin, dass er schon in einem 2011 veröffentlichten Artikel eine Lösung für dieses Problem präsentiert hatte. Darin hatte er sich auf das Coas
e-Theorem berufen und vorgeschlagen, dass Flugpassagieren empfohlen werden sollte, mit den vor und hinter ihnen sitzenden Reisenden Deals zu machen.
[19]
Bei den meisten Fluglinien haben die Passagiere das »Recht, sich zurückzulehnen«, aber wenn sie darüber Vereinbarungen treffen könnten, dann könnten Reisende, die sich ihren Beinraum bewahren wollen, den Vordermann dafür bezahlen, sich nicht zurückzulehnen. Barr
o erklärte, das »Recht, sich zurückzulehnen« sei irrelevant. Wenn stattdessen jeder Passagier einen Anspruch auf Beinraum hätte, würde das genauso gut funktionieren: Solange die Fluglinien ihren Gästen
irgendein
klares und konsistentes Regelwerk vorschreiben und sie offiziell ermutigen würden, miteinander zu verhandeln, dann werde das Ergebnis laut Coas
e-Theorem das gleiche sein. Die Passagiere werden Vereinbarungen treffen, nach denen manche ihre Rückenlehnen zurückstellen und andere nicht, je nachdem, wem der zusätzliche Platz mehr wert ist – dem Passagier, der sich zurücklehnt, oder dem, der hinter ihm sitzt. Das Ergebnis wird im wirtschaftlichen Sinne effizient sein, da die knappe Ressource (Platz) an die Person geht, die ihr den größten Wert beimisst. Und das alles ohne Streitigkeiten.
Solche Vorschläge haben inzwischen Eingang in den Mainstream gefunden; sie kommen nicht mehr nur von Anhängern der Chicagoer Schule. Doch wenn Coas
e, der 2013 verstorben ist, davon wüsste, würde er sich wahrscheinlich im Grabe umdrehen. Diese Art von Regelung mag in der Welt der »Schultafel-Ökonomik«, über die Coas
e gespottet hat, gut funktionieren. Alle Randbedingungen für niedrige Transaktionskosten
sind erfüllt: an jedem Deal sind nur zwei Personen beteiligt; das Recht, über das verhandelt wird, ist eindeutig definiert und einfach; es müssen keine Informationen gesammelt werden, bevor die Passagiere entscheiden können, wie viel ihnen dieses Recht wert ist; Schummler werden sofort entdeckt. Und doch scheint ganz offensichtlich etwas nicht zu stimmen. Die meisten Menschen halten es nicht für notwendig, jeden sozialen Konflikt über eine Vereinbarung zu regeln. Wahrscheinlich wünschen sich die meisten Passagiere eine friedliche Flugreise, die nicht durch Feilschen über die Position der Rückenlehne gestört wird. Diesen Nachteil erwähnt Barr
o mit keinem Wort. Vielleicht ist er gar nicht darauf gekommen – wie die Ökonomen, die sich das »Hiring Incentive Experiment« ausgedacht haben und dann überrascht waren, dass manche Arbeitslose daran nicht teilnehmen wollten und dass manche Arbeitgeber, denen Cash angeboten wurde, dieses Angebot nicht in Anspruch nahmen.
Manche Passagiere würden vielleicht sogar noch weiter gehen und sagen, das von Coas
e inspirierte Gefeilsche sei einfach nicht der richtige Weg, um zu entscheiden, ob eine Rückenlehne zurückgestellt werden darf oder nicht. Hier sind einige Argumente für diese Sicht der Dinge: Bei der Behauptung, dieses Verfahren sei effizient, werden die Zeit und Energie außer Acht gelassen, die fürs Verhandeln gebraucht werden; reiche Passagiere werden einmal mehr ihren Willen bekommen; die Fluglinien sollten aufgrund ergonomischer Aspekte – Rückenproblemen, Schlafbedarf und so weiter – entscheiden, ob Sitzlehnen zurückgestellt werden dürfen oder nicht. Falls Reiseergonomen zu der Einschätzung kommen, dass die Sitzkonfiguration in einem Flugzeug Gesundheitsprobleme verursachen oder verschärfen kann, sollten die entsprechenden Vorschriften geändert werden, um mehr Beinraum zu schaffen (und dabei vielleicht auch berücksichtigen, dass die durchschnittliche Beinlänge deutlich zugenommen hat, seit solche Vorschriften in den 1950er-Jahren zuerst eingeführt wurden).
Die Ideen hinter diesen Einwänden reichen über die Diskussion um das »Recht, sich zurückzulehnen« hinaus. Das generelle Problem ist, dass andere Werte wichtiger sein könnten als Effizienz. Das Feilschen à la Coas
e wird von seinen Unterstützern häufig mit dem Argument verteidigt, es sei demokratisch und antielitär, und es würde im Gegensatz zu gesetzlichen Vorschriften und staatlichen
Interventionen dem einfachen Bürger nicht die Werte und Prioritäten von Aufsichtsbehörden, Richtern und Politikern aufzwingen. Aber dieses Argument ist scheinheilig, denn das coasesche Feilschen – und die Chicagoer Law-and-Economics-Schule generell – zwingt der Gesellschaft durchaus
einen Wert auf, und zwar die Vorstellung, Effizienz sei wichtiger als alles andere, selbst wenn das nicht ausdrücklich als Wohlstandsmaximierung zum Ausdruck gebracht wird. Auch der Chicagoer Ansatz ist undemokratisch, wenn er den Menschen nicht das gibt, was sie wollen – wenn sie zum Beispiel nicht feilschen, sondern gewisse moralische Grundsätze befolgen wollen, um Konflikte zu lösen und die Gesellschaft zu organisieren.
Diese Spannungen verschärfen sich noch, wenn mehr auf dem Spiel steht als das Recht, seine Sitzlehne zurückzustellen. Als Posne
r erstmals forderte, Richter sollten bei ihrer Urteilsfindung danach streben, »den Markt nachzuahmen«, war das juristische Establishment empört. Aber heute bemerken wir es kaum noch, wenn nach einem Ansatz, der noch weit darüber hinaus geht, Märkte künstlich geschaffen
werden – anstatt sie nur nachzuahmen –, um Konflikte über Rechte zu lösen. Und damit ist nicht etwa gemeint, bereits existierende Schwarzmärkte zu entkriminalisieren – zum Beispiel, weil Posne
r einen freien Markt für Nieren und andere menschliche Organe befürwortet. Vielmehr werden Märkte aus dem Nichts geschaffen, von Ökonomen konzipiert und von der Regierung durch Gesetze ins Leben gerufen. Das bringt uns zu der aller Wahrscheinlichkeit nach folgeschwersten Auswirkung des Coas
e-Theorems.
Heute ist der größte künstliche Markt der CO
2
-Emissionsrechtehandel. Er hat das größte Potenzial, sich auf das Schicksal der Menschheit auszuwirken, da er den Planeten vor einer katastrophalen Erwärmung bewahren kann – oder eben nicht. Der Begriff »Emissionsrechtehandel« ist ein Kürzel für einen globalen, 150 Milliarden Dollar schweren Handel mit Emissionsrechten für Kohlenstoffdioxid und andere Treibhausgase – ein kaum bekanntes Netzwerk von nationalen und internationalen Handelssystemen, das 2005 aus dem Nichts entstand und dessen Mitgliedsländer heute, nachdem China 2016 seinen CO
2
-Emissionsrechtehandel gestartet hat, insgesamt für fast die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung verantwortlich sind. Heute wird der Emissionsrechtehandel immer wieder angepriesen
als wichtigstes Element jeder Strategie zur Bekämpfung der Klimaveränderung: In zahlreichen Ländern will der politische Mainstream über den Emissionsrechtehandel nennenswerte Reduzierungen der CO
2
-Emissionen bewirken. Daher ist es wichtig, ob die Märkte für Emissionsrechtehandel funktionieren oder nicht.
Das ökonomische Denken, das dem Konzept der Märkte für Emissionsrechtehandel zugrunde liegt, baut ausdrücklich auf dem Coas
e-Theorem auf. Das Theorem zeigt angeblich, dass es keine Rolle spielt, welchen Ländern (oder Unternehmen) das Recht eingeräumt wird, X Einheiten CO
2
zu emittieren, da dieses Recht auf einem freien Markt für Emissionsrechte in den Händen der Partei landen wird, die ihm den höchsten Wert beimisst. Die politischen Instanzen, die für die Senkung der Gesamtemissionen verantwortlich sind, müssen dann nur noch die Höchstgrenzen für die betreffende Volkswirtschaft oder die Weltwirtschaft insgesamt festlegen – und der Markt erledigt den Rest. Das Coas
e-Theorem scheint die Regierungen von der politisch schwierigen Aufgabe zu entheben, die Entscheidung zu fällen, wie die Emissionsrechte etwa zwischen Fluglinien, Energieerzeugern und Automobilherstellern (und Autofahrern) aufgeteilt werden sollen. Und die beste Nachricht von allen ist, dass laut dem Coas
e-Theorem auf diese Weise die Gesamtemissionsgrenze zu den geringstmöglichen Kosten
erreicht wird. In allen Wirtschaftsbereichen, die von den Emissionsgrenzwerten abgedeckt werden, müssten Emittenten sich entscheiden, ob sie Emissionsrechte kaufen oder ihre Emissionen reduzieren wollen (indem sie zum Beispiel weniger produzieren oder emissionsärmere Technologien einführen). Das heißt, dass die Emittenten, die keine
Emissionsrechte kaufen, weil sie ihnen den geringsten Wert zuschreiben, diejenigen sein werden, für die es billiger ist, ihre Emissionen zu reduzieren als Emissionsrechte zu kaufen. Über die gesamte Wirtschaft werden die Emissionssenkungen, die notwendig sind, um das Gesamtziel zu erreichen, sich dort konzentrieren, wo sie am billigsten zu erreichen sind, was zur Minimierung der Gesamtkosten führen wird. Schlaue Sache.
Leider klafft zwischen der Schultafel-Ökonomik dieser Argumentation und der Realität eine große Lücke. Diese Argumentation gilt nur auf kurze Sicht, denn sie konzentriert sich
auf die billigste Möglichkeit, eine Senkung der Emissionen im Hier und Jetzt zu erreichen, ohne zu beachten, dass in Zukunft weitere Reduzierungen notwendig sein werden und dass aktuelle Entscheidungen die Kosten dieser zukünftigen Reduzierungen erhöhen können. Der Emissionsrechtehandel motiviert Emittenten, zuerst die billigen Verfahren zur Senkung von Emissionen zu nutzen, die leicht erreichbaren Ziele ins Visier zu nehmen und Emissionsrechte zu kaufen, anstatt wirkungsvollere Maßnahmen in Angriff zu nehmen. Den Emittenten fehlen die Anreize, Innovationen zu entwickeln und in neue Technologien zu investieren, was dazu führt, dass die Wirtschaft einstweilen an den alten schmutzigen Technologien festhält, die langfristig wahrscheinlich teurer sein werden. So motiviert zum Beispiel der Emissionsrechtehandel einen Energieerzeuger, der Kohle verstromt, sein Kraftwerk mit Filteranlagen auszustatten, um seine Emissionen bei niedrigen Kosten zu reduzieren. Allerdings wird es sehr teuer oder unmöglich sein, die Emissionen eines Kohlekraftwerks in Zukunft noch weiter zu senken. Um langfristig weitere Reduzierungen zu erreichen, müsste eine insgesamt kostengünstigere Strategie neue Gesetze vorsehen, die möglichst bald einen stufenweisen Ausstieg aus der Kohleverstromung vorschreiben und starke Anreize schaffen, über technische Innovationen die Kosten von saubereren Technologien zu senken.
Eine weitere Hinterlassenschaft von Coases Weltsicht ist die Idee, dass Umweltverschmutzung in einem absoluten oder objektiven Sinne gar nicht schädlich sei: Vielmehr sei sie nur schädlich aus der subjektiven Perspektive der Personen, Organisationen oder Länder, die direkt darunter litten. Der »Geschädigte« trage ebenso viel Schuld wie der »Schädiger«: Es sei seine Schuld, sich in den Weg gestellt zu haben. Aus dieser Perspektive ist es absurd, zu behaupten,
CO
2
-Emissionen verursachende wirtschaftliche Aktivitäten würden der Umwelt »schaden«. Oder zumindest ist es einseitig, denn durch die begrenzte
CO
2
-Aufnahmekapazität der Atmosphäre entsteht ja auch ein Schaden, nämlich für das Wirtschaftswachstum. Daraus folgt, dass große
CO
2
-Emittenten keine besondere Verantwortung haben, ihre Emissionen zu senken – die moralische Dimension von
CO
2
-Emissionen verursachenden Aktivitäten bleibt auf der Strecke. Soweit die Klimaveränderung als Problem betrachtet wird, können große Emittenten sagen, »nicht mein Problem«, und die
Verantwortung dafür den Märkten für Emissionsrechtehandel zuschieben, vor allem den Instanzen, die darüber entscheiden, welche Gesamtemissionen-Höchstgrenzen über den Markt erreicht werden sollen. Als der Chairman der Chicago Climate Exchange (
CCX
, »Chicagoer Klimabörse«) einmal gefragt wurde, ob einige der Verkäufer von Emissionsrechten an der
CCX
tatsächlich weniger emittieren würden, nachdem sie Emissionsrechte verkauft hatten, antwortete er: »Das geht mich nichts an. Ich betreibe eine profitorientierte Firma.«
[20]
Sobald die Verantwortlichkeit für den Kampf gegen die Klimaveränderung anderswo verortet wird, degeneriert der Emissionshandel zu einem Markt wie jeder andere. Unter bestimmten Umständen wird er zu einer Spielwiese für Spekulanten. Im Jahr 2008, in den Anfangstagen dieses einträglichen Geschäfts, wurden sie zu einem Kongress eingeladen, der in London unter dem vielversprechenden Titel »Cashing In on Carbon« abgehalten wurde. In der Werbung für diese Veranstaltung hieß es, der Kongress werde sich »nicht mit den eigentlichen Fragen der Klimaveränderung beschäftigen. … Er wendet sich direkt an Investmentbanken, Investoren und große Emissionsrechtekäufer und ist darauf fokussiert, wie sie von immer vielfältigeren, auf CO
2
-Emissionen basierenden Anlagemöglichkeiten profitieren können.«
»Ungefähr im Dezember 1910 veränderte sich der menschliche Charakter.« Das schrieb Virginia Wool
f über den Aufstieg des Modernismus, von der Musik Strawinsky
s über die Kunst Picasso
s, vom architektonischen Schaffen Le Corbusier
s bis hin zum schriftstellerischen Werk von Wool
f selbst.
[21]
Der Dichter Philip Larki
n verkündete, seine »wesentliche Kritik am Modernismus« sei dessen »unverantwortliche Ausbeutung der Technik, die im Widerspruch steht zum menschlichen Leben, wie wir es kennen«.
[22]
Und so ist es durchaus eine Ironie, dass Coas
e, der im Dezember 1910 geboren wurde, zu einem Opfer des Aufstiegs des Modernismus in der Ökonomik geworden sein soll. Seine differenzierten Ideen, die er über sorgfältige Fallstudien verfeinert hatte, wurden ihrer Nuancen beraubt und von seinen Anhängern zu einem
Theorem
verdichtet – das freilich im Widerspruch stand zu dem Wirtschaftsleben, wie Coas
e es kannte. Tatsächlich ist Coase
s gesamte Arbeit von seiner Ablehnung der unrealistischen »Schultafel-Ökonomik« durchdrungen,
die es nur darauf anlegt, aus modernen mathematischen Techniken Kapital zu schlagen. Coas
e ist nach wie vor der einzige Wirtschaftsnobelpreisträger, dessen Arbeiten keine mathematischen Gleichungen enthalten.
Wie wir schon gesehen haben – und auch später in diesem Buch immer wieder sehen werden –, ist Coase
s wesentlicher Kritikpunkt auch heute noch durchaus berechtigt: dass sich nämlich zwischen der sozialen und wirtschaftlichen Realität und ihrer idealisierten Darstellung in der ökonomischen Theorie eine besorgniserregende Kluft auftut. Ökonomen sind verliebt in elegante mathematische Werkzeuge und raffinierte Software. Doch wir müssen Coase
s Metapher aktualisieren: Heute ist das Betätigungsfeld der Ökonomen eher ein Videospiel als eine Schultafel. Ihre Werkzeuge mögen mittlerweile digital sein, doch die Schwierigkeiten, die sie verursachen können, wenn sie von studierten Ökonomen unbedarft auf die Realität angewendet werden, sind heute ebenso gravierend wie zu Zeiten von Coas
e. Stellen Sie sich einmal vor, ein Ökonom, der mit Grand Theft Auto
groß geworden ist, wird bewaffnet mit einem schnellen Auto und einer Uzi-Maschinenpistole auf das wirkliche Los Angeles losgelassen. Der Emissionsrechtehandel, die Stärkung des gesetzlichen Schutzes von Urheberrechten, das Umdefinieren des Rechtsbegriffs »Fahrlässigkeit« und die Kampagne, das Abdoptionsverfahren durch einen freien Handel mit Kindern zu ersetzen: All diese Projekte haben Auswirkungen auf das wirkliche Leben, die weit über Spielereien im akademischen Elfenbeinturm hinausgehen.
Eine bohrende Frage bleibt unbeantwortet: Wie konnte Coas
e über so lange Zeit so falsch verstanden werden? Es liegt auf der Hand, dass sich die Fehldeutung von Coase
s Arbeit so lange halten konnte, weil sie für viele in Chicago ideologisch attraktiv war, und weil sie eine ergiebige Basis für akademische Laufbahnen in der neuen Disziplin Law-and-Economics und für lukrative Karrieren in Firmen wie Lexecon bildete. Doch davon abgesehen hatte auch Coas
e selbst nicht gerade dazu beigetragen, richtig verstanden zu werden: Er stellte seine Schlüsselideen über ein Gedankenexperiment vor, ein Reductio ad absurdum
. Für jemanden, der die Wirtschaftswissenschaften realistischer machen will, scheint es keine gute Idee zu sein, sich auf eine hypothetische Welt zu berufen. Warum also hat Coas
e das getan? Niemand scheint es sicher zu wissen, doch ein wichtiger Teil der Erklärung
ist, dass selbst großartige Denker sich hin und wieder darauf konzentrieren, Fragen zu lösen, die sich im Nachhinein als Probleme von gestern erweisen. Coas
e stand unter dem Einfluss anderer Ökonomen vor ihm und deren Verfahren zur Analyse von Problemen wie Umweltverschmutzung. Bei der damals üblichen Analyse wurde davon ausgegangen, dass keine Transaktionskosten entstehen, aber trotzdem nach einer Intervention der Regierung gerufen. Coas
e wollte zeigen, dass in der völlig fiktiven Schultafelwelt ohne Transaktionskosten eine staatliche Intervention unnötig sei, weil der Umweltverschmutzer und der Geschädigte einen Deal miteinander machen würden. Daher war es angesichts seines rückwärtsgewandten Blickes durchaus einleuchtend, dass Coas
e bei seinen Überlegungen von einer Welt ohne Transaktionskosten ausging, doch das war einer der Gründe dafür, dass sich in den Köpfen späterer Generationen eine katastrophale Fehlinterpretation seiner Ideen festsetzen konnte.
Spätestens in den 1970er-Jahren unternahm Coas
e seine ersten vorsichtigen Versuche, solche Fehlinterpretationen geradezurücken, aber er äußerte sich nicht laut genug und wurde von einflussreichen Stimmen der Chicagoer Schule – etwa Becke
r, Friedma
n und Stigle
r – übertönt. Sein zögerliches Verhalten und sein Schweigen bleiben ein Rätsel. Im Jahr 1995 wurde Coas
e von Historikern gebeten, seine Zurückhaltung zu erklären, doch er antwortete nur trocken, er wolle lieber warten, bis er tatsächlich etwas zu sagen habe. Vielleicht war es die Loyalität gegenüber seinen Chicagoer Kollegen, die ihn davon abhielt, sich früher zu äußern. Erst in den 1980er-Jahren stellte Coas
e klar, dass seine Arbeit von Grund auf missverstanden worden sei, aber da war es schon zu spät. Das Missverständnis war zum Mainstream geworden, und ganze Karrieren waren darauf gegründet worden. Coas
e hat einmal traurig festgestellt: »Die Welt ohne Transaktionskosten ist häufig als eine ›coasianische Welt‹ bezeichnet worden. Nichts könnte weiter entfernt von der Wahrheit sein. Dies ist die Welt der modernen ökonomischen Theorie – ich hatte gehofft, die Ökonomen davon überzeugen zu können, diese Welt zu verlassen.«
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Die Adjektivierung seines Namens wird üblicherweise als »coaseanisch« buchstabiert, also
nicht
mit Coase
s eigener Schreibung »coasianisch«. Armer Ronald Coas
e – nicht einmal die Schreibung
seiner »coaseanischen Welt« konnte er selbst bestimmen, geschweige denn ihre Bedeutung.