Je größer der Zweifel, umso größer das Erwachen; je kleiner der Zweifel, umso kleiner das Erwachen. Kein Zweifel, kein Erwachen.
Garma C. Chang , Die Praxis des Zen
Sie leben das kleine Stück Zeit, das Ihnen zugedacht ist; aber dieses Stück Zeit ist nicht nur Ihr eigenes Leben; es ist die Summe aller Leben, die gleichzeitig mit dem Ihren stattfinden … Was Sie sind, ist ein Ausdruck der Geschichte.
Robert Penn Warren, World Enough and Time
Ende der 1960er-Jahre wurde ich in einem Sabbatjahr zwischen dem ersten und zweiten Jahr meines Studiums in der Medical School zufällig Zeuge einer tief reichenden Veränderung im Umgang und Verständnis psychischen Leidens in der Medizin. Ich hatte einen Traumjob in einer Forschungsabteilung des Massachusetts Mental Health Center , wo ich Organisator von Freizeitaktivitäten für die Patienten war. Das MMHC galt seit Langem als eines der besten psychiatrischen Krankenhäuser im ganzen Land, ein Juwel in der Krone des Lehrimperiums der Harvard Medical School . Ziel der Forschungsprojekte auf meiner Station war herauszufinden, ob Psychotherapie oder medikamentöse Behandlung besser geeignet sei, junge Menschen, die einen als Schizophrenie diagnostizierten ersten psychischen Zusammenbruch erlebt hatten, zu behandeln.
Die Redekur, ein Spross der freudschen Psychoanalyse, war zu jener Zeit am MMHC bei psychischen Erkrankungen noch die Behandlungsform erster Wahl. Allerdings hatte eine Gruppe französischer Wissenschaftler Anfang der 1950er-Jahre einen neuen Wirkstoff entdeckt, Chlorpromazin (das unter dem Namen Thorazin im Handel war), das Patienten »ruhigstellen« und ihre Erregung und ihre Wahnsymptome dämpfen konnte. Dies ließ die Hoffnung aufkommen, man könnte Psychopharmaka so weiterentwickeln, dass man mit ihnen schwere psychische Probleme wie Depression, Panik, Angst und Manie behandeln und mit einigen der belastendsten Symptome der Schizophrenie besser fertigwerden könnte.
Ich hatte mit den Forschungsarbeiten auf der Station nichts zu tun und erfuhr auch nicht, welche Behandlung die einzelnen Patienten erhielten. Sie waren alle ungefähr so alt wie ich selbst – College-Studenten von der Harvard University , vom MIT und von der Boston University . Einige hatten versucht, sich umzubringen; andere hatten sich mit Messern oder Rasierklingen Schnittverletzungen zugefügt; mehrere hatten die Mitbewohner ihrer Zimmer angegriffen oder ihre Eltern oder Freunde durch anderes unberechenbares Verhalten erschreckt. Meine Aufgabe war, diese Patienten dazu zu bringen, das normale Verhalten von College-Studenten beizubehalten, beispielsweise in einem Pizza-Restaurant in der Nähe zu essen, in freier Natur zu campen, sich Baseballspiele der Boston Red Sox anzuschauen und auf dem Charles-River zu segeln.
Weil diese Situation für mich noch völlig neu war, saß ich bei den Stationssitzungen mit gespannter Aufmerksamkeit da und versuchte, die sprachlich und logisch komplizierten Äußerungen der Patienten zu entschlüsseln. Außerdem musste ich lernen, mit ihren irrationalen Ausbrüchen und entsetzten Rückzügen fertigzuwerden. Eines Morgens fand ich eine Patientin wie eine Statue in ihrem Zimmer stehen, einen Arm in einer abwehrenden Geste erhoben, das Gesicht in einem Ausdruck von Furcht erstarrt. In dieser reglosen Haltung blieb sie mindestens zwölf Stunden stehen. Die Ärzte nannten mir den Namen dieses Zustandes, Katatonie; aber in keinem der Lehrbücher, die ich zurate zog, stand, was man in solchen Fällen tun konnte. Wir ließen die Situation einfach ihren Lauf nehmen.
Trauma vor der Morgendämmerung
Ich verbrachte viele Nächte und Wochenenden auf dieser Station und sah in dieser Zeit Dinge, mit denen die Ärzte während ihrer kurzen Visiten nie in Berührung kamen. Wenn Patienten nicht schlafen konnten, wanderten sie in ihren festgezurrten Bademänteln oft zum abgedunkelten Raum für das Wachpersonal, um zu reden. Die nächtliche Stille schien ihnen zu helfen, sich zu öffnen, und sie erzählten mir in solchen Situationen, wie sie geschlagen, überfallen oder sexuell missbraucht worden waren, oft von den eigenen Eltern, manchmal aber auch von Verwandten, Klassenkameraden oder Nachbarn. Sie offenbarten mir ihre Erinnerungen daran, wie sie nachts hilflos und entsetzt im Bett gelegen und gehört hatten, dass ihre Mutter von ihrem Vater oder einem Freund geschlagen wurde oder dass ihre Eltern einander Entsetzliches androhten und Möbel zerstörten. Andere erzählten mir von Vätern, die betrunken nach Hause kamen – wie sie deren Schritte auf dem Treppenabsatz gehört und darauf gewartet hatten, dass ihr Vater in ihr Zimmer kam, sie aus dem Bett zerrte und sie wegen irgendeines angeblichen Vergehens bestrafte. Mehrere der Frauen erinnerten sich, reglos wach im Bett gelegen und auf das Unvermeidliche gewartet zu haben – dass ein Bruder oder ihr Vater in ihr Zimmer kam und sie missbrauchte.
Während der morgendlichen Visiten stellten die jungen Ärzte ihren Supervisoren ihre Fälle vor, ein Ritual, an dem Mitarbeiter wie ich schweigend teilnehmen konnten. Doch die behandelnden Ärzte hörten so gut wie nie Geschichten, wie die Patienten sie mir erzählten. Später haben viele Studien die Bedeutung solcher nächtlicher Bekenntnisse bestätigt: Heute wissen wir, dass mehr als die Hälfte der Menschen, die in der Psychiatrie Hilfe suchen, als Kinder überfallen, verlassen, vernachlässigt, vergewaltigt oder zu Zeugen von Gewalttätigkeit in ihrer Familie wurden. 1 Doch solche Erlebnisse schienen bei den Visiten nicht die geringste Rolle zu spielen. Ich staunte angesichts der wenig mitfühlenden Gespräche über Symptome bei solchen Anlässen sowie darüber, wie viel Zeit darauf verwendet wurde, die suizidalen Gedanken und die selbstschädigenden Verhaltensweisen der Patienten unter Kontrolle zu halten, statt sich mit den möglichen Ursachen ihrer Verzweiflung und Hilflosigkeit zu befassen, um sie zu verstehen. Mich erstaunte auch, wie wenig sich die Ärzte für die Erfolge und Bestrebungen der Patienten interessierten – dafür, welche anderen Menschen ihnen wichtig waren, welche sie liebten oder hassten, was sie motivierte und beschäftigte, was sie in ihrer Situation verharren ließ und was ihnen ein Gefühl des Friedens vermittelte – also die gesamte Ökologie ihres Lebens.
Einige Jahre später wurde ich als junger Arzt mit einem besonders krassen Beispiel für die Wirkung des medizinischen Modells konfrontiert. Ich arbeitete damals als Aushilfskraft in einem katholischen Krankenhaus, wo ich Frauen untersuchte, die in der Klinik wegen Depressionen eine Elektroschockbehandlung erhalten sollten. So neugierig, wie ich nun einmal war, schaute ich mir die Krankenakten der Frauen ein wenig an, um sie über ihr Leben befragen zu können. Viele berichteten über problematische Ehen, schwierige Kinder und Schuldgefühle wegen Abtreibungen. Während sie sprachen, wurde ihre Stimmung deutlich besser, und oft dankten sie mir überschwänglich für mein Zuhören. Manche fragten sich nach einem solchen Gespräch, ob sie wirklich noch eine Elektroschockbehandlung brauchten, nachdem sie sich so viel von der Seele geredet hatten. Ich war nach solchen Begegnungen jedes Mal traurig, weil ich wusste, dass die Behandlung, die diese Patientinnen am nächsten Morgen erhalten würden, ihre Erinnerung an unser Gespräch auslöschen würde. Kein Wunder, dass ich diese Arbeit nicht lange fortsetzen konnte.
An Tagen, an denen ich nicht am MMHC auf der Station arbeiten musste, suchte ich oft die Countway Library of Medicine auf, um über die Patienten, denen ich helfen sollte, mehr herauszufinden. An einem Samstagnachmittag stieß ich auf einen Text, der noch heute hohes Ansehen genießt: Eugen Bleulers Lehrbuch aus dem Jahre 1911, Dementia Praecox . Bleulers Beobachtungen waren faszinierend:
Unter den schizophrenen Körperhalluzinationen sind die sexuellen wohl die häufigsten und wichtigsten. Alle Wonnen normaler und abnormer Geschlechtsbefriedigung werden von den Kranken durchlebt, aber noch viel häufiger alle Scheußlichkeiten, die sich die üppigste Phantasie ausdenken kann. Den Männern wird der Samen abgezogen, man macht ihnen schmerzhafte Erektionen; dann wieder werden sie impotent gemacht; man brennt, schneidet, reißt die inneren und äußeren Genitalien heraus; Frauen werden in der raffiniertesten Weise geschändet, verletzt, zum Koitus mit Tieren gezwungen usw. usw. […] Denn trotz der symbolischen Bedeutung vieler solcher Halluzinationen sind die meisten derselben wirkliche Empfindungen, die uns nicht bloß vorgetäuscht werden durch metaphorische Ausdrucksweisen der Kranken. 2
Dies ließ mich aufhorchen: Unsere Patienten hatten Halluzinationen – die Ärzte befragten sie regelmäßig danach und verstanden sie als Anzeichen für das Ausmaß ihrer Gestörtheit. Doch wenn ich den Geschichten, die ich während meiner Nachtwachen hörte, Glauben schenken wollte, konnte es dann sein, dass die »Halluzinationen« in Wahrheit bruchstückhafte Erinnerungen an reale Erlebnisse waren? Waren Halluzinationen wirklich nichts weiter als die Ausgeburten kranker Gehirne? Konnten Menschen sich physische Empfindungen ausdenken, die sie nie erlebt hatten? Gab es eine klare Linie zwischen Kreativität und pathologischer Imagination? Zwischen Gedächtnis und Imagination? Diese Fragen bleiben bis heute unbeantwortet, doch die Forschung hat nachgewiesen, dass bei Menschen, die in ihrer Kindheit missbraucht oder misshandelt wurden, oft physische Empfindungen (beispielsweise Bauchschmerzen) ohne erkennbare physische Ursache auftreten; sie hören Stimmen, die sie vor Gefahren warnen oder ihnen abscheuliche Verbrechen zur Last legen.
Es stand außer Frage, dass viele Patienten auf der Station gewalttätige, merkwürdige und selbstschädigende Verhaltensweisen zeigten, insbesondere wenn sie frustriert waren oder sich missverstanden fühlten. Sie bekamen Wutanfälle, warfen Geschirr, zerschlugen Fenster und fügten sich mit Glasscherben Schnittwunden zu. Damals hatte ich noch keine Vorstellung davon, warum jemand auf einen in meinen Augen harmlosen Vorschlag (»Lassen Sie mich den Schmutz aus Ihrem Haar entfernen«) mit Rage oder Entsetzen reagieren konnte. In der Regel folgte ich dem Rat erfahrener Pfleger, die mir signalisierten, wann es besser war, sich zurückzuhalten oder, wenn das nicht half, einen Patienten zu fixieren. Ich war überrascht und ziemlich beunruhigt darüber, welch starke Befriedigung ich manchmal empfand, wenn es mir gelungen war, einen Patienten zu Boden zu ringen, sodass eine Krankenschwester ihm eine Injektion verabreichen konnte, und mir dämmerte allmählich, welch großer Teil unserer Ausbildung uns helfen sollte, angesichts erschreckender und verwirrender realer Geschehnisse die Kontrolle über eine Situation zu behalten.
Sylvia war eine hinreißende 19 Jahre alte Studentin der Boston University , die meist allein in einer Ecke saß und den Eindruck erweckte, sie sei zu Tode erschrocken und völlig verstummt; trotzdem verlieh der Ruf, die Freundin eines wichtigen Bostoner Mafioso zu sein, ihr eine Aura des Geheimnisvollen. Nachdem sie sich über eine Woche lang zu essen geweigert hatte und schnell Gewicht verlor, beschlossen die behandelnden Ärzte, eine Zwangsernährung anzuordnen. Drei Männer hielten sie fest, ein weiterer führte einen Gummischlauch in ihre Speiseröhre ein, und eine Krankenschwester beförderte die flüssige Nahrung durch den Schlauch in ihren Magen. Später berichtete Sylvia während eines nächtlichen Gesprächs furchtsam und zögernd, sie sei als Kind von ihrem Bruder und einem Onkel sexuell missbraucht worden. Da wurde mir klar, dass unsere »Fürsorge« in Form von Zwangsernährung ihr wie eine Gruppenvergewaltigung vorgekommen sein musste. Dieses Erlebnis und ähnliche halfen mir, für meine eigenen späteren Studenten folgende Regel zu formulieren: »Wenn Sie mit einem Patienten etwas tun, was Sie mit Ihren Freunden oder Kindern nicht tun würden, dann denken Sie darüber nach, ob Sie dadurch unwissentlich ein traumatisches Erlebnis des Patienten reproduzieren könnten.«
In meiner Rolle als Organisator von Freizeitaktivitäten für die Patienten fielen mir auch noch andere Dinge auf: Als Gesamtgruppe waren die Patienten auffällig ungeschickt und hatten eine sehr schlechte Bewegungskoordination. Wenn wir einen Campingausflug machten, standen die meisten hilflos herum, während ich die Zelte aufbaute. Einmal wären wir fast in einer Sturmbö auf dem Charles River gekentert, weil sie starr auf der Leeseite des Bootes kauerten und nicht begriffen, dass sie ihre Position verändern mussten, um ein Kentern des Bootes zu verhindern. Bei Volleyballspielen war die Mannschaft des Klinikpersonals regelmäßig besser koordiniert als die der Patienten. Eine weitere Eigenart von ihnen allen war, dass selbst ihre entspanntesten Gespräche gestelzt klangen, weil ihnen der natürliche Fluss der Gesten und des Gesichtsausdrucks fehlte, wie man ihn unter Freunden beobachten kann. Die Bedeutung dieser Beobachtungen wurde mir erst klar, nachdem ich die körperorientierten Psychotherapeuten Peter Levine und Pat Ogden kennengelernt hatte. In späteren Kapiteln werde ich viel dazu sagen, wie Traumata im Körper der Betroffenen »festgehalten« werden.
Den Sinn von Leiden verstehen
Nach meinem Jahr auf der Forschungsstation setzte ich mein Studium an der Medical School fort und kehrte später als frischgebackener Doktor der Medizin an die MMHC zurück, um dort meine Facharztausbildung in Psychiatrie zu absolvieren. Ich war damals sehr stolz darauf, in dieses Ausbildungsprogramm aufgenommen zu werden. Viele berühmte Psychiater hatten dort ihre Ausbildung erhalten, darunter auch Eric Kandel, der spätere Nobelpreisträger für den Fachbereich Physiologie und Medizin. Während meiner Facharztausbildung entdeckte Allan Hobson in einem Labor im Keller dieses Krankenhauses die Gehirnzellen, die für die Entstehung von Träumen verantwortlich sind, und die ersten Studien über die chemischen Grundlagen der Depression wurden ebenfalls an der MMHC durchgeführt. Doch für viele von uns Assistenzärzten waren die Patienten die wichtigste Ressource. Wir brachten sechs Stunden täglich mit ihnen zu, und anschließend trafen wir uns als Gruppe mit erfahrenen Psychiatern, um mit ihnen unsere Beobachtungen zu besprechen, Fragen zu stellen und einander mit möglichst geistreichen Bemerkungen zu übertrumpfen.
Unser großartiger Lehrer Elvin Semrad empfahl uns nachdrücklich, im ersten Jahr unserer Facharztausbildung keine Psychiatrielehrbücher zu lesen. (Diese intellektuelle Hungerkur könnte der Grund dafür sein, dass die meisten von uns später unersättliche Leser und sehr aktive Autoren wurden.) Semrad wollte verhindern, dass unsere Wahrnehmungen der Wirklichkeit durch die vermeintlichen Gewissheiten »offizieller« psychiatrischer Diagnosen getrübt würden. Ich erinnere mich noch, ihn einmal gefragt zu haben: »Wie würden Sie diesen Patienten nennen – ist er schizophren oder schizoaffektiv?« Er hielt einen Moment inne, strich sich über das Kinn, scheinbar in tiefes Nachdenken versunken, und antwortete dann: »Ich glaube, ich würde ihn Michael McIntyre nennen.«
Semrad lehrte uns, der größte Teil menschlichen Leidens hänge mit Liebe und Verlust zusammen, und Therapeuten hätten die Aufgabe, Menschen zu helfen, die Realität des Lebens mit all ihren Freuden und Leiden »anzuerkennen, zu erleben und zu ertragen«. Er pflegte zu sagen: »Die größten Quellen des Leidens sind die Lügen, die wir uns selbst erzählen«, und er drängte uns, hinsichtlich aller Aspekte dessen, was wir erleben, uns selbst gegenüber ehrlich zu sein. Er sagte oft, die Situation von Menschen könne sich niemals bessern, wenn sie nicht wüssten, was sie wissen, und nicht fühlten, was sie fühlen.
Ich erinnere mich noch gut an meine Überraschung, als ich diesen angesehenen alten Harvard-Professor bekennen hörte, wie tröstlich es für ihn sei, den Hintern seiner Frau neben sich zu spüren, wenn er abends einschlafe. Indem er uns solche simplen menschlichen Bedürfnisse offenbarte, half er uns zu erkennen, wie wichtig solche Dinge auch in unserem eigenen Leben waren. Ignorierten wir sie, erwartete uns eine kümmerliche Existenz, so erhaben unsere Gedanken und so groß unsere äußeren Erfolge auch sein mochten. Heilung, so pflegte Semrad zu sagen, wird nur durch Erfahrungswissen möglich: Wir können unser Leben nur dann völlig nach unseren eigenen Vorstellungen führen, wenn wir die Realität unseres Körpers mit all ihren viszeralen Dimensionen anerkennen.
Doch die Psychiatrie hatte damals schon eine andere Richtung eingeschlagen. Im Jahre 1968 hatte das American Journal of Psychiatry die Resultate jener Studie publiziert, die auf der Forschungsstation durchgeführt worden war, auf der ich ein Jahr lang gearbeitet hatte. Danach hatten schizophrene Patienten, die ausschließlich mit Psychopharmaka behandelt worden waren, ein besseres Behandlungsergebnis erzielt als die Mitglieder einer Kontrollgruppe, die dreimal wöchentlich bei den besten Psychotherapeuten Bostons eine Gesprächstherapie erhalten hatten. 3 Diese Studie war einer der vielen Meilensteine auf einem Weg, der den Umgang von Medizin und Psychiatrie mit psychischen Problemen allmählich grundlegend veränderte: Aus den unendlich variablen Ausdrucksformen unerträglicher Gefühle und Beziehungen wurde ein vom Vorliegen gehirnbasierter Erkrankungen ausgehendes Modell klar unterscheidbarer »Störungen«.
Der Umgang der Medizin mit menschlichem Leiden hängt und hing immer von den zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten ab. Vor der Zeit der Aufklärung machte man für abweichende Verhaltensweisen Gott, die Sünde, die Magie, Hexen und böse Geister verantwortlich. Erst im 19. Jahrhundert fingen Wissenschaftler in Frankreich und Deutschland an, Verhaltensweisen als Anpassungen an die Komplexität der Welt zu verstehen und sie aus dieser Perspektive zu untersuchen. Aber dann tauchte ein neues Paradigma auf: Wut, Lust, Stolz, Gier, Geiz und Faulheit sowie all die anderen Probleme, mit denen fertigzuwerden wir Menschen uns zu allen Zeiten abgemüht haben, wurden nun in »Störungen« umgewandelt, die man durch Zufuhr der jeweils richtigen chemischen Stoffe beheben konnte. 4 Viele Psychiater waren in dieser neuen Situation froh, endlich »richtige Wissenschaftler« zu werden, wie ihre Kommilitonen von der Medical School, die Laboratorien, Tierexperimente, teure Forschungsausrüstungen und komplizierte diagnostische Tests zur Verfügung hatten, und sich endlich von den wenig praxistauglichen Theorien von Philosophen wie Sigmund Freud und Carl Gustav Jung verabschieden zu können. Ein damals wichtiges Lehrbuch der Psychiatrie ging sogar so weit zu behaupten: »Die Ursache psychischer Krankheiten wird heute Abweichungen des Gehirns zugeschrieben, Störungen der chemischen Balance.« 5
Wie meine Kollegen war auch ich von der pharmakologischen Revolution hellauf begeistert, ich wurde im Jahr 1973 erster Funktionsoberarzt für Pharmakologie an der MMHC . Möglicherweise war ich der erste Psychiater in Boston, der eine manisch-depressive Patientin mit Lithium behandelte. (Ich hatte von John Cades Arbeit mit Lithium in Australien gelesen und erhielt von einem Komitee der Klinik die Erlaubnis, dieses Mittel selbst zu erproben.) Eine Frau, die seit 35 Jahren jedes Jahr im Mai manisch und im November suizidal depressiv geworden war, blieb aufgrund der Lithiumbehandlung unter meiner Aufsicht drei Jahre lang symptomfrei. Ich gehörte auch dem ersten US -amerikanischen Forschungsteam an, das an chronischen Patienten, die in den Verwahrstationen alter Irrenanstalten ihr Leben fristeten, das Antipsychotikum Clozapin testete. 6 Einige Reaktionen dieser Patienten waren rätselhaft: Menschen, die einen Großteil ihres Lebens in ihre eigene separate, entsetzliche Realität eingesperrt gewesen waren, konnten plötzlich zu ihren Familien und in ihr altes Lebensumfeld zurückkehren; Patienten, die in Dunkelheit und Verzweiflung ausgeharrt hatten, genossen wieder den Kontakt zu anderen Menschen und öffneten sich den Freuden der Arbeit und des Spiels. Diese erstaunlichen Resultate erfüllten uns mit der Hoffnung, endlich das menschliche Elend bezwingen zu können.
Antipsychotika waren der wichtigste Faktor, der in den Vereinigten Staaten zu einer starken Verringerung der Insassen psychiatrischer Anstalten führte. Deren Zahl sank von 500 000 im Jahre 1955 auf unter 100 000 im Jahre 1996. 7 Menschen unserer Zeit, die nicht wissen, wie die Welt vor der Entwicklung dieser Behandlungsmöglichkeiten aussah, können sich die durch sie verursachte Veränderung kaum vorstellen. Im ersten Jahr meines Medizinstudiums besuchte ich einmal das Kankakee State Hospital in Illinois und sah dort einen korpulenten Stationsaufseher in einem unmöblierten Aufenthaltsraum mit Wasserrinnen wie in einem Stall Dutzende von völlig verdreckten, nackten und offensichtlich verwirrten Patienten mit einem Schlauch abspritzen. Diese Erinnerung erscheint mir heute eher wie ein Albtraum, nicht wie etwas, das ich mit eigenen Augen gesehen habe. Nach Abschluss meiner Facharztausbildung im Jahre 1974 übernahm ich als erste Anstellung die Position des (zweitletzten) Leiters des Boston State Hospital , einer ehemals ehrwürdigen Institution, die Tausende von Patienten beherbergt und einmal ein riesiges Areal mit Dutzenden von Gebäuden umfasst hatte, darunter Gewächshäuser, Gärten und Werkstätten, von denen die meisten allerdings mittlerweile Ruinen waren. Während meiner dortigen Tätigkeit wurden die Patienten allmählich in »die Gemeinde« verteilt, ein Sammelbegriff für die namenlosen Unterkünfte und Pflegeheime, in denen die meisten von ihnen Aufnahme fanden. (Ironischerweise war das Boston State Hospital ursprünglich ein »Asyl« gewesen, was dem ursprünglichen Wortsinn nach »Zufluchtsort« bedeutet, aber im Laufe der Zeit eine eher Unheil verheißende Bedeutung angenommen hat. Tatsächlich handelte es sich um eine geschützte Gemeinschaft, in der jeder Mitarbeiter die Namen und Eigentümlichkeiten der betreuten Patienten kannte.) Im Jahre 1979, kurz nachdem ich mit meiner Arbeit bei der VA begonnen hatte, schlossen sich die Tore des Boston State Hospital für immer, und der Gebäudekomplex wurde zu einer Art Geisterstadt.
Während meiner Zeit in dieser Institution arbeitete ich weiter im psychopharmakologischen Labor des MMHC , das sich mittlerweile einem anderen Forschungsschwerpunkt zugewandt hatte. In den 1960er-Jahren hatten Wissenschaftler an den National Institutes of Health begonnen, Techniken zur Isolation und Messung von Hormonen und Neurotransmittern im Blut und im Gehirn zu entwickeln. Neurotransmitter sind chemische Botenstoffe, die Informationen von Neuron zu Neuron weiterleiten und uns so effektives Handeln ermöglichen.
Da Wissenschaftler inzwischen Hinweise gefunden hatten, denen zufolge ein abnormer Noradrenalinspiegel auf das Bestehen einer Depression hinwies und ein erhöhter Dopaminspiegel bei Schizophrenie eine Rolle spielte, hofften wir, Medikamente gegen bestimmte abnorme Zustände im Gehirn entwickeln zu können. Diese Hoffnung hat sich zwar nie völlig erfüllt, aber unsere Bemühungen, zu messen, wie sich Psychopharmaka auf psychische Symptome auswirken, führten zu einer weiteren tief reichenden Veränderung der Psychiatrie. Weil die Forscher präzise und systematisch über ihre Erkenntnisse kommunizieren können mussten, wurden sogenannte Research Diagnostic Criteria entwickelt – ein Prozess, an dem ich als einfacher Forschungsassistent beteiligt war. Aus diesen Bemühungen entstand schließlich das Fundament für die erste Systematik zur Diagnose psychischer Probleme, das oft als »Bibel der Psychiatrie« bezeichnete Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM ). Das Vorwort zum 1980 erschienenen und damals bahnbrechenden DSM -III gab sich insofern als angemessen bescheiden, als es erwähnte und damit anerkannte, dass das neu entwickelte Diagnosesystem ungenau sei – so ungenau, dass es keinesfalls in der Forensik oder zur Klärung von Versicherungsansprüchen genutzt werden solle. 8 Wie wir noch sehen werden, war die Bescheidenheit leider nur von kurzer Dauer.
Unausweichlicher Schock
Da ich mit so vielen offenen Fragen bezüglich traumatischer Belastungen beschäftigt war, fing ich an, mich dafür zu interessieren, ob die damals gerade entstehende Neurowissenschaft die gesuchten Antworten liefern könnte. Deshalb entschloss ich mich, an den Veranstaltungen des American College of Neuropsychopharmacology (ACNP ) teilzunehmen. Im Jahre 1984 bot das ACNP im Rahmen eines Kongresses viele faszinierende Vorträge über die Entwicklung von Psychopharmaka an, aber erst wenige Stunden vor meinem geplanten Rückflug nach Boston hörte ich einen Vortrag von Steven Maier von der University of Colorado , der mit Martin Seligman von der University of Pennsylvania zusammengearbeitet hatte. Es ging darin um die erlernte Hilflosigkeit bei Tieren. Maier und Seligman hatten in geschlossenen Käfigen gefangenen Hunden wiederholt schmerzhafte Elektroschocks versetzt. Sie bezeichneten diese Situation als »unausweichlichen Schock«. 9 Da ich Hundeliebhaber bin, hätte ich solche Untersuchungen zwar selbst nie durchführen können, aber mich interessierte trotzdem, welche Wirkung diese grausame Behandlung auf die Tiere gehabt hatte.
Nach mehreren Elektroschocks öffneten die Forscher die Käfigtüren und versetzten den Hunden dann erneut Schocks. Eine Kontrollgruppe von Hunden, die vorher keine Schocks erhalten hatten, verließ ihre Käfige auf der Stelle und lief davon. Die Hunde, die schon vorher unausweichliche Schocks erhalten hatten, versuchten hingegen trotz weit offener Käfigtür nicht einmal zu fliehen. Die Tiere lagen einfach da, winselten und entleerten sich. Die bloße Möglichkeit zu fliehen bringt traumatisierte Tiere und Menschen nicht automatisch dazu, den Weg in die Freiheit zu wählen. Wie die Hunde von Maier und Seligman geben auch viele traumatisierte Menschen einfach jede Hoffnung auf. Statt mit sich anbietenden neuen Möglichkeiten zu experimentieren, verharren sie verängstigt in der ihnen bekannten Situation.
Maiers Bericht faszinierte mich. Was die Forscher mit den armen Hunden getan hatten, hatten meine traumatisierten Patienten ebenfalls erlebt. Auch sie waren einer Situation oder anderen Menschen ausgesetzt gewesen, hatten schrecklichen Schaden erlitten und keine Möglichkeit gehabt, dem zu entfliehen. Ich ließ die Patienten, die ich behandelt hatte, blitzschnell Revue passieren. Fast alle waren in irgendetwas gefangen oder immobilisiert und nicht in der Lage, das Unvermeidliche abzuwehren. Mit ihrer Kampf-/Fluchtreaktion waren sie gescheitert, und aufgrund dessen befanden sie sich entweder in einem extremen Erregungszustand, oder sie erlebten einen Zusammenbruch.
Maier und Seligman stellten auch fest, dass traumatisierte Hunde wesentlich größere Mengen an Stresshormonen produzierten, als Hunde es normalerweise tun. Dies bestätigte unsere Erkenntnis über die biologischen Grundlagen von traumatischem Stress. Eine Gruppe junger Forscher, zu denen Steve Southwick und John Krystal an der Yale University , Arieh Shalev an der Hadassah Medical School in Jerusalem, Frank Putnam am National Institute of Mental Health (NIMH ) und Roger Pitman, ein späterer Mitarbeiter der Harvard University , zählten, waren alle darauf gestoßen, dass Traumatisierte auch nach dem Abklingen der realen Gefahr weiterhin große Mengen von Stresshormonen produzieren, und Rachel Yehuda am Mount Sinai Hospital in New York konfrontierte uns mit ihrer scheinbar paradoxen Erkenntnis, dass der Spiegel des Stresshormons Kortisol bei PTBS niedrig ist. Ihre Entdeckungen erschienen erst als sinnvoll, als es ihr gelang, anhand weiterer Untersuchungen zu zeigen, dass Kortisol die Stressreaktion beendet, indem es ein Entwarnungssignal sendet, und dass die Stresshormone bei Vorliegen einer PTBS , wenn die Bedrohungssituation vorüber ist, tatsächlich nicht völlig zu ihrem Ausgangswert zurückkehren.
Im Idealfall müsste unser Stresshormonsystem blitzschnell auf Bedrohungen reagieren und uns anschließend schnell wieder in einen Zustand der Balance versetzen. Allerdings gelingt es dem Stresshormonsystem bei Patienten mit PTBS nicht, die innere Balance wiederherzustellen. Auch nach dem Abklingen der akuten Gefahr werden weiter Kampf-, Flucht- oder Erstarrungssignale gesendet, und wie bei den Hunden fallen auch bei Menschen die Hormonspiegel in dieser Situation nicht auf Normalniveau zurück. Vielmehr lässt die anhaltende Produktion und Ausschüttung von Stresshormonen einen Zustand starker Erregung oder gar der Panik entstehen und ruft im Organismus langfristig verheerende Schäden hervor.
Ich versäumte an jenem Tag mein Flugzeug, weil ich unbedingt noch mit Steve Maier reden wollte. Was er in jenem Gespräch sagte, hat mir nicht nur wichtige Anhaltspunkte bezüglich der Probleme gegeben, die dem Zustand meiner Patienten zugrunde lagen, sondern mir möglicherweise auch den Weg zu ihrer Lösung gewiesen. Beispielsweise hatten Maier und Seligman herausgefunden, dass die einzige Möglichkeit, traumatisierten Hunden beizubringen, den Käfig, in dem sie die Elektroschocks erhalten hatten, wieder zu verlassen, trotz geöffneter Türen darin bestand, sie wiederholt mit den Händen aus ihren Käfigen zu ziehen, damit sie an ihrem eigenen Körper erlebten, wie man sich daraus entfernen konnte. Ich fragte mich, ob ich auch meinen Patienten auf diese Weise helfen könnte, ihre Annahme zu revidieren, sie könnten nichts tun, um sich zu verteidigen. Brauchten auch sie körperliche Erlebnisse, um das Gefühl wiederzuerlangen, sie hätten auf der viszeralen Ebene ihr Leben unter Kontrolle? Was, wenn sie lernen könnten, ihre physische Bewegungsfähigkeit zu nutzen, um einer bedrohlichen Situation zu entkommen, die derjenigen des Traumas ähnelte, in der sie gefangen saßen und erstarrt waren? In Teil V dieses Buches, in dem ich verschiedene neue Behandlungsmöglichkeiten beschreibe, ist eine der Schlussfolgerungen, zu denen ich schließlich gelange, genau dies.
Spätere Tierstudien mit Mäusen, Ratten, Katzen, Affen und Elefanten gelangten zu weiteren interessanten Erkenntnissen. 10 Erzeugten Forscher beispielsweise laute, intrusive Geräusche, rasten Mäuse, die in einem warmen Nest aufgezogen worden waren und viel zu fressen erhalten hatten, sofort in ihr Zuhause. Andere Mäuse hingegen, die in einem weniger heimeligen Nest in einer eher lauten Umgebung und mit wenig Nahrung aufgezogen worden waren, liefen sogar dann in dieses Zuhause, wenn sie einige Zeit in einer angenehmeren Umgebung verbracht hatten. 11
Verängstigte Tiere laufen nach Hause, ohne sich darum zu kümmern, ob ihr Zuhause wirklich sicher oder im Gegenteil beängstigend ist. Dies ließ mich an diejenigen unter meinen Patienten denken, die in ihren Familien missbraucht oder misshandelt worden waren und trotzdem immer wieder zu diesen Familien zurückkehrten und dann natürlich erneut verletzt wurden. Können traumatisierte Menschen nur immer wieder in einer Situation Zuflucht suchen, die ihnen vertraut ist? Und wenn ja, warum ist das so? Und kann man ihnen helfen, eine Beziehung zu Orten und Aktivitäten aufzubauen, die für sie ungefährlich und angenehm sind? 12
Vom Trauma abhängig: Der Schmerz der Lust und die Lust am Schmerz
Wenn ich mit meinem Kollegen Mark Greenberg zusammen Therapiegruppen für Vietnamveteranen leitete, verblüffte uns immer wieder, dass viele dieser Männer trotz ihres Entsetzens und ihrer Trauer lebendig zu werden schienen, sobald sie über ihre Helikopterabstürze und ihre sterbenden Kameraden sprachen. (Von Chris Hedges, einem früheren Korrespondenten der New York Times , der über verschiedene kriegerische Auseinandersetzungen berichtet hat, stammt ein Buch mit dem Titel Krieg ist eine Kraft, die uns einen Sinn gibt . 13 ) Viele Traumatisierte scheinen Erlebnisse, die viele von uns als abstoßend empfinden würden, geradezu zu suchen, 14 und oft klagen Patienten, wenn sie nicht gerade wütend sind, einem Zwang unterliegen oder sich einer gefährlichen Aktivität widmen, über ein unbestimmtes Gefühl der Leere und Langeweile.
Meine Patientin Julia war im Alter von 16 Jahren in einem Hotelzimmer mit vorgehaltener Pistole brutal vergewaltigt worden. Kurz darauf fing sie ein Verhältnis mit einem gewalttätigen Zuhälter an, der sie zur Prostitution zwang und sie regelmäßig verprügelte. Sie wurde mehrmals wegen Prostitution zu Gefängnisstrafen verurteilt, kehrte aber danach immer zu ihrem Zuhälter zurück. Schließlich griffen ihre Großeltern ein, indem sie ihr ein intensives Rehabilitationsprogramm bezahlten. Nach erfolgreichem Abschluss des stationären Teils der Behandlung nahm sie eine Arbeit als Rezeptionistin an und belegte an einem lokalen College Kurse. In einem Soziologiekurs schrieb sie eine Hausarbeit über die befreienden Möglichkeiten der Prostitution, für die sie die Memoiren mehrerer berühmter Prostituierter las. Danach brach sie allmählich die Teilnahme an sämtlichen Kursen ab. Eine kurze Beziehung zu einem Mitstudenten scheiterte schnell – sie sagte, er habe sie zu Tode gelangweilt, und sie habe seine Boxershorts als abstoßend empfunden. Dann machte sie in der U-Bahn Bekanntschaft mit einem Drogenabhängigen, der sie zuerst zusammenschlug und sie dann verfolgte. Nach einem weiteren Überfall dieses Verfolgers war sie endlich motiviert, die Behandlung fortzusetzen.
Freud hat für solche Trauma-Reinszenierungen (auch Reenactments genannt) einen Begriff geprägt. Er nannte sie »Wiederholungszwang«. Er und viele seiner Anhänger glaubten, Reenactments seien ein unbewusster Versuch, über eine schmerzhafte Situation die Kontrolle zu erlangen, und dieser könne letztlich zur Meisterung des Problems und zu seiner Auflösung führen. Leider gibt es keinerlei Anhaltspunkte für das Zutreffen dieser Theorie, denn die Wiederholung eines traumatischen Erlebnisses erzeugt noch mehr Schmerz und verstärkt den Selbsthass. Sogar das wiederholte Durchleben eines Traumas im Rahmen einer Therapie kann die Fixierung auf das Erlebnis verstärken.
Mark Greenberg und ich beschlossen, mehr über die Attraktoren herauszufinden – die Dinge, die uns anziehen, uns motivieren und uns das Gefühl geben, lebendig zu sein. Normalerweise bewirken Attraktoren, dass wir uns besser fühlen. Doch wenn das so ist, müssen wir uns fragen, warum sich so viele Menschen von gefährlichen oder schmerzhaften Situationen angezogen fühlen. Schließlich fanden wir eine Studie, die erklärte, weshalb Aktivitäten, die Furcht oder Schmerz verursachen, später als positiv anregend empfunden werden können. 15 In den 1970er-Jahren hatte Richard Solomon von der University of Pennsylvania gezeigt, dass der Körper lernt, sich an die verschiedensten Arten von Reizen anzupassen. Wir können von Drogen abhängig werden, weil wir uns nach ihrem Konsum sofort gut fühlen, aber auch Aktivitäten wie Saunagänge, Marathonläufe oder Fallschirmsprünge, die anfangs Unbehagen und sogar Entsetzen verursachen, können zu sehr positiven Erlebnissen werden. Die allmähliche Anpassung an solche Dinge signalisiert, dass im Körper eine neue chemische Balance entstanden ist, sodass beispielsweise Marathonläufer ein Hochgefühl erleben, weil sie ihren Körper an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit treiben.
Wenn wir so etwas einmal erlebt haben, fangen wir wie nach dem Konsum einer Droge an, uns nach der betreffenden Aktivität zu sehnen, und wir erleben Entzugserscheinungen, wenn wir uns ihr nicht widmen können. Langfristig sind Menschen mehr mit dem Schmerz des Entzugs beschäftigt als mit der ursprünglichen stimmungshebenden Aktivität. Diese Theorie könnte erklären, warum es Menschen gibt, die jemanden dafür bezahlen, dass er sie schlägt, oder warum einige sich mit Zigaretten Brandwunden zufügen oder sich nur zu anderen Menschen hingezogen fühlen, die sie verletzen. Furcht und Aversion können auf irgendeine perverse Art zu Lust werden.
Solomon entwickelte die Hypothese, dass Endorphine – die morphinartigen chemischen Stoffe, die das Gehirn in Reaktion auf Stress produziert – bei den paradoxen Abhängigkeiten, die er beschrieb, eine Rolle spielen könnten. Mir fiel seine Theorie wieder ein, als ich in einer Bibliothek einen Aufsatz aus dem Jahre 1946 mit dem Titel »Schmerz bei im Kampf Verwundeten« (»Pain in Men Wounded in Battle «) fand. Ein Chirurg namens Henry K. Beecher, der an der italienischen Front beobachtet hatte, dass 75 Prozent der schwer verwundeten Soldaten kein Morphium brauchten, spekulierte darin, dass »starke Emotionen Schmerz blockieren können«. 16
Waren Beechers Beobachtungen für Menschen mit einer PTBS wichtig? Mark Greenberg, Roger Pitman, Scott Orr und ich beschlossen, acht Vietnamveteranen zu bitten, an einem Standard-Schmerztest teilzunehmen, während sie sich Szenen aus verschiedenen Filmen anschauten. Der erste Clip, den wir ihnen vorführten, stammte aus Oliver Stones drastischem Film Platoon (1986), und wir maßen während der Vorführung, wie lange die Veteranen ihre rechte Hand in einen Eimer mit Eiswasser tauchen konnten. Anschließend wiederholten wir den Test mit einem Ausschnitt aus einem friedlichen (und seit Langem vergessenen) Film. Sieben der acht Veteranen hielten ihre Hand während der Vorführung der Szene aus Platoon 30 Prozent länger ins eiskalte Wasser. Anschließend berechneten wir, dass die durch das fünfzehnminütige Anschauen eines Kriegsfilms entstandene Analgesie einer Injektion von 8 mg Morphin entsprach, also ungefähr der Dosis, die ein Patient in einer Notaufnahme erhält, um Schmerzen in der Brust zu neutralisieren.
So gelangten wir zu dem Schluss, Beechers Beobachtung, dass »starke Emotionen Schmerz blockieren können«, müsse darauf beruhen, dass in solchen Situationen im Gehirn produzierte morphinähnliche Stoffe im Körper freigesetzt werden. Daraus leiteten wir die Annahme ab, dass bei vielen Traumatisierten eine erneute Konfrontation mit einer bereits bekannten starken Belastung zu einer ähnlichen Angstlinderung führen könnte. 17 Allerdings erklärte dieses interessante Experiment nicht vollständig, warum Julia immer wieder zu ihrem gewalttätigen Zuhälter zurückgekehrt war.
Beruhigen des Gehirns
Der ACNP *-Kongress im Jahre 1985 war noch denkwürdiger als der des Vorjahres. Jeffrey Gray, Professor am Kings College , hielt einen Vortrag über die Amygdala, einen Cluster von Gehirnzellen, der darüber entscheidet, ob ein Geräusch, eine Bildvorstellung oder eine Körperempfindung als bedrohlich wahrgenommen wird. Grays Untersuchungen hatten ergeben, dass die Sensibilität der Amygdala zumindest teilweise vom Spiegel des Neurotransmitters Serotonin in diesem Teil des Gehirns abhängt. Tiere mit niedrigem Serotoninspiegel reagieren besonders stark auf belastende Reize (wie beispielsweise laute Geräusche), wohingegen höhere Serotoninspiegel ihr Furchtsystem dämpfen, was die Wahrscheinlichkeit verringert, dass sie in Reaktion auf potenzielle Gefahren aggressiv werden oder erstarren. 18
* American College of Neuropsychopharmacology
Diese Entdeckung erschien mir als sehr wichtig: Meine Patienten fuhren oft in Reaktion auf relativ geringfügige Provokationen aus der Haut, und sie fühlten sich bei der kleinsten Zurückweisung völlig fertig. Die Rolle des Serotonins bei einer PTBS faszinierte mich zunehmend. Es gab Untersuchungen, nach denen bei dominanten männlichen Affen der Serotoninspiegel im Gehirn wesentlich höher ist als bei Tieren niederen Ranges, dass der Serotoninspiegel der Alphatiere jedoch sinkt, wenn man sie hindert, Blickkontakt zu den Affen zu halten, die sie vorher herumkommandiert haben. Im Gegensatz dazu erhoben sich Affen niederen Ranges, wenn man ihnen Serotonin gab, aus der Gruppe und wurden zu Anführern. 19 Die soziale Umgebung interagiert mit den chemischen Prozessen im Gehirn. Manipulierte man einen Affen so, dass er in der Dominanzhierarchie eine niedere Position einnahm, sank sein Serotoninspiegel, wohingegen eine künstliche Erhöhung des Serotoninspiegels zu einer Erhöhung des Rangs von ursprünglich in der Hierarchie Untergeordneten führte.
Die Implikationen dieser Erkenntnisse für Traumatisierte lagen auf der Hand. Wie Grays Tiere mit niedrigem Serotoninspiegel waren sie hyperaktiv, und ihre Fähigkeit, sich in sozialen Situationen zurechtzufinden, war in vielen Fällen beeinträchtigt. Fänden wir Möglichkeiten, den Serotoninspiegel in ihrem Gehirn zu erhöhen, ließen sich vielleicht beide Probleme gleichzeitig lösen. Anlässlich der gleichen Konferenz im Jahre 1985 hörte ich erstmals, dass die Pharmaindustrie dabei war, zwei neue Produkte zu entwickeln, die genau dies bewirken sollten; doch da diese Mittel noch nicht verfügbar waren, experimentierte ich selbst eine Weile mit dem als Nahrungsergänzungsstoff in Geschäften für alternativmedizinische Produkte erhältlichen L-Tryptophan, einem chemischen Vorläuferstoff des körpereigenen Serotonins. (Die Resultate meiner Experimente waren enttäuschend.) Eines der beiden Mittel, an deren Entwicklung die Pharmaindustrie arbeitete, kam nie auf den Markt; das andere war Fluoxetin, das unter dem Markennamen Prozac zu einem der erfolgreichsten jemals entwickelten psychoaktiven Mittel wurde.
Prozac wurde am Montag, dem 8. Februar 1988, vom Pharmaunternehmen Eli Lilly auf den Markt gebracht. Die erste Patientin, die an jenem Tag in meine Praxis kam, war eine junge Frau mit einer schrecklichen Vorgeschichte: Sie war in ihrer Kindheit missbraucht worden und kämpfte nun mit Bulimie; sie verbrachte einen großen Teil ihrer Zeit damit, sich zu überfressen und sich anschließend zu übergeben, um die Nahrung wieder aus ihrem Körper zu entfernen. Ich gab ihr ein Rezept für Prozac, das gerade erst in den Handel gekommen war, und als sie am Donnerstag der gleichen Woche wieder zu mir kam, sagte sie: »Die letzten Tage sind für mich völlig anders verlaufen als sonst: Ich habe gegessen, wenn ich hungrig war, und in der übrigen Zeit habe ich an meinen Hausaufgaben gearbeitet.« Dies war eine der bemerkenswertesten Äußerungen, die ich in meinen Praxisräumen jemals gehört habe.
Am Freitag kam eine andere Patientin zu mir, der ich am Montag zuvor ein Rezept für Prozac gegeben hatte. Sie war chronisch depressiv, Mutter von zwei Kindern im Grundschulalter und sorgte sich ständig, sie könnte als Mutter und Ehefrau versagen, und außerdem fühlte sie sich von den Forderungen ihrer eigenen Eltern, die sie als Kind sehr schlecht behandelt hatten, überwältigt. Nachdem sie vier Tage lang Prozac eingenommen hatte, fragte sie mich, ob sie ihren Termin am folgenden Montag, dem President’s Day , auslassen könne. Sie erklärte: »Ich bin noch nie mit meinen Kindern zum Skifahren gegangen – das macht normalerweise mein Mann –, und sie haben an diesem Tag schulfrei. Es wäre sicher gut, wenn sie sich an ein paar gute Situationen erinnern könnten, in denen wir alle zusammen unseren Spaß gehabt haben.«
Diese Patientin hatte ständig darum gekämpft, einfach nur durch den Tag zu kommen. Nach ihrer Sitzung rief ich einen Mitarbeiter von Eli Lilly an, den ich kannte, und sagte zu ihm: »Sie haben da ein Mittel, das Menschen hilft, in der Gegenwart zu sein, statt in der Vergangenheit eingeschlossen zu bleiben.« Das Unternehmen gab mir daraufhin ein kleines Stipendium für eine Untersuchung über die Auswirkungen von Prozac auf PTBS bei einer Stichprobe von 22 Frauen und 42 Männern. Dies war die erste Untersuchung über die Wirkung dieser neuen Art auf Traumasymptome. Das Team unserer Traumaklinik wählte 33 Nicht-Veteranen dafür aus, und die Kollegen, die diese Studie mit mir gemeinsam durchführen wollten – frühere Kollegen von der VA –, verpflichteten 31 Veteranen. Jeweils die Hälfte der Teilnehmer dieser beiden Gruppen erhielt Prozac, während die beiden anderen Hälften ein Placebo bekamen. Da die Untersuchung als Blindstudie angelegt war, wussten weder wir selbst noch die Patienten, welche Substanz sie einnahmen, sodass die Resultate nicht durch unsere Vorurteile verfälscht werden konnten.
Bei allen Teilnehmern – also auch bei denjenigen, die das Placebo erhalten hatten – besserte sich der Zustand zumindest teilweise. Bei den meisten Studien über die Behandlung der PTBS ist ein signifikanter Placeboeffekt erkennbar. Menschen, die sich dazu durchringen, ohne jedes Honorar an einer Studie teilzunehmen, in der sie wiederholt Nadelstiche über sich ergehen lassen müssen und in der sie nur mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit ein nachweislich wirksames Medikament erhalten, sind wirklich motiviert, ihr Problem zu lösen. Vielleicht besteht ihre Belohnung in nichts weiter als der Aufmerksamkeit, die ihnen zuteilwird, in der Gelegenheit, auf Fragen darüber, wie sie sich fühlen und was sie denken, zu antworten. Aber vielleicht sind die beruhigenden Küsse einer Mutter auf die kleinen Verletzungen ihres Kindes auch »nur« ein Placebo.
Prozac wirkte bei den untersuchten Patienten der Traumaklinik deutlich besser als das Placebo. Sie schliefen tiefer, hatten ihre Emotionen besser unter Kontrolle und waren weniger intensiv mit ihrer Vergangenheit beschäftigt als die Untersuchungsteilnehmer, die nur eine Zuckerpille erhalten hatten. 20 Erstaunlicherweise blieb die Wirkung von Prozac jedoch bei den Kriegsveteranen der VA völlig aus; ihre PTBS -Symptome blieben trotz des Medikaments unverändert bestehen. Bei diesem Resultat blieb es auch in den meisten nachfolgenden pharmakologischen Studien mit Veteranen: Bei einigen wenigen waren zwar leichte Verbesserungen zu erkennen, aber die meisten profitierten von der Prozac-Behandlung gar nicht. Es ist mir nie gelungen, dafür eine Erklärung zu finden, und diejenige, die am häufigsten dafür vorgebracht wird, vermag ich nicht zu akzeptieren: Der Bezug einer Pension oder Invalidenrente verhindere, dass sich der Zustand der betreffenden Veteranen zum Positiven verändere. Schließlich weiß die Amygdala nichts über Pensionen – sie erkennt nur potenzielle Gefahren und Bedrohungen.
Trotzdem haben Medikamente wie Prozac und verwandte Mittel wie Zoloft, Cipramil, Cymbalta und Paroxetin einen wichtigen Beitrag zur Behandlung traumabasierter Störungen geleistet. In unserer Prozac-Studie maßen wir mithilfe des Rorschachtests, wie Traumatisierte ihre Umgebung wahrnehmen. Diese Informationen lieferten uns wichtige Anhaltspunkte zur Klärung der Frage, wie Mittel dieser Art (die unter dem Sammelbegriff selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer oder SSRI s bekannt sind) ihre Wirkung entfalten. Bevor die Patienten mit der Prozac-Einnahme begonnen hatten, hatten ihre Emotionen ihre Reaktionen bestimmt. Beispielsweise denke ich an eine niederländische Patientin (nicht aus der Prozac-Studie), die mich aufsuchte, weil sie wegen einer Vergewaltigung in ihrer Kindheit behandelt werden wollte, und die, nachdem sie meinen niederländischen Akzent bemerkt hatte, fest davon überzeugt war, dass auch ich sie vergewaltigen würde. Prozac veränderte die Situation von PTBS -Patienten radikal: Das Mittel gab ihnen eine neue Perspektive 21 und half ihnen, ihre Impulse wieder zu steuern. Jeffrey Gray hatte offenbar recht gehabt: Wenn der Serotoninspiegel dieser Patienten anstieg, wurde ihre Reaktivität schwächer.
Der Triumph der Pharmakologie
Es dauerte nicht lange, bis die Pharmakologie die Psychiatrie revolutionierte. Psychopharmaka gaben den behandelnden Ärzten das Gefühl, etwas Positives bewirken zu können, und sie waren offensichtlich ein Werkzeug, dessen Wirkung über die Möglichkeiten der reinen Redetherapie weit hinausging. Außerdem verhalfen diese Mittel den Ärzten zu einem Einkommenszuwachs und zu regelrechten Profiten. Stipendien der Pharmaindustrie ermöglichten den Aufbau von Laboratorien, in denen engagierte Graduate-Studenten mit hoch komplizierten technischen Gerätschaften arbeiten konnten. Die Psychiatrieabteilungen, die bisher in den Kellern der Kliniken gewesen waren, arbeiteten sich allmählich höher hinauf, räumlich, da sie in höhere Stockwerke umquartiert wurden, und auch hinsichtlich ihres Ansehens.
Ein Symbol für diesen Wandel war auch an der MMHC zu beobachten, wo Anfang der 1990er-Jahre der Swimmingpool zugeschüttet wurde, um Raum für ein Laboratorium zu schaffen, und wo das in das Gebäude integrierte Basketballfeld in kleine Zellen aufgeteilt wurde, die für die neue pharmakologische Klinik genutzt werden sollten. Jahrzehntelang hatten Ärzte und Patienten in demokratischer Eintracht die Freuden eines Swimmingpools genossen und sich auf dem Basketballfeld die Bälle zugeworfen. Ich selbst hatte als »Stationsanimateur« mit Patienten zusammen viele Stunden im Fitnessraum verbracht. Dies war der einzige Ort in jener Institution gewesen, an dem wir alle unser körperliches Wohlbefinden wiederherstellen konnten, eine Insel inmitten des Elends, mit dem wir Tag für Tag konfrontiert wurden. Und nun wurden an diesem ehemaligen Zufluchtsort Patienten »repariert«.
Die pharmakologische Revolution, die so vielversprechend begonnen hatte, könnte letztlich ebenso viel Schaden angerichtet wie Gutes bewirkt haben. Die Theorie, der zufolge psychische Krankheiten hauptsächlich durch Störungen der chemischen Balance im Gehirn hervorgerufen werden, die man mithilfe bestimmter Medikamente beheben könne, wurde in weiten Kreisen akzeptiert, von den Medien und der Öffentlichkeit ebenso wie von den Angehörigen des Arztberufs. 22 Vielerorts haben Medikamente jede Psychotherapie ersetzt und es den Patienten ermöglicht, ihre Probleme zu unterdrücken, ohne sich mit den Ursachen, durch die sie entstanden waren, befassen zu müssen. Antidepressiva können wahre Wunder wirken, da sie es Patienten ermöglichen, ihre Funktionsfähigkeit im Alltagsleben zu erhalten; und wenn es um die Wahl zwischen der Einnahme einer Schlaftablette und Alkoholkonsum bis zur Bewusstlosigkeit geht, steht völlig außer Frage, was vorzuziehen ist. Für Menschen, die von ihren Versuchen, mithilfe von Yoga-Kursen, Work-outs oder ganz einfach durch Beharrlichkeit ihre Schwierigkeiten zu überwinden, erschöpft sind, können die richtigen Medikamente oft eine lebensrettende Linderung bewirken. Die SSRI s können von großem Nutzen sein, wenn man Traumatisierte aus ihrer Versklavung durch ihre Emotionen erlösen will; aber man sollte diese Mittel nur als Ergänzung im Rahmen eines umfassenden Behandlungskonzepts nutzen. 23
Nach der Durchführung zahlreicher Studien über die medikamentöse Behandlung von PTBS ist mir klar geworden, dass die Nutzung von Psychopharmaka in der Psychiatrie mit einem schwerwiegenden Nachteil verbunden ist, weil diese Mittel die Aufmerksamkeit von der Klärung verborgener Ursachen der Probleme ablenken.
In den letzten drei Jahrzehnten haben Psychopharmaka in unserer Kultur einen kaum noch wegzudenkenden Einfluss gewonnen, wenn auch mit sehr zweifelhaften Konsequenzen. Als Beispiel hierfür möchte ich auf die Rolle der Antidepressiva hinweisen. Wären sie tatsächlich so wirksam, wie man uns glauben machen will, dürften Depressionen in unserer Gesellschaft mittlerweile kaum noch eine Rolle spielen. Aber trotz des ständig steigenden Konsums dieser Mittel hat sich an der gewaltigen Zahl stationärer Behandlungen wegen Depression nicht das Geringste geändert. Die Zahl derer, die wegen Depression behandelt werden, hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten verdreifacht, und mittlerweile nimmt einer unter zehn US -Amerikanern Antidepressiva ein. 24
Die neuen Antipsychotika, zu denen Abilify, Risperdal, Zyprexa und Seroquel zählen, sind in den USA die am häufigsten verkauften Mittel überhaupt. Im Jahre 2012 wurden allein für Abilify in den USA 1 526 228 000 Dollar ausgegeben, mehr als für jedes andere Medikament. Das am dritthäufigsten verkaufte Mittel war Cymbalta, ein Antidepressivum, mit dessen Verkauf ebenfalls mehr als eine Milliarde Dollar umgesetzt wurden, 25 obwohl nie nachgewiesen werden konnte, dass es älteren Antidepressiva wie Prozac, das mittlerweile in Form preiswerterer Generika vertrieben wird, tatsächlich überlegen ist. Im Rahmen des nationalen medizinischen Hilfsprogramms für Arme, Medicaid , wird für Antipsychotika mehr Geld aufgewendet als für jede andere Art von Medikamenten. 26 Im Jahre 2008, dem Jahr, für das umfassende statistische Daten vorliegen, wurden über Medicaid 3,6 Milliarden Dollar für Antipsychotika aufgewendet, nachdem es im Jahre 1999 noch 1,65 Milliarden gewesen waren. Und die Zahl der Menschen im Alter von unter zwanzig Jahren, die aufgrund von durch Medicaid finanzierten Rezepten Antipsychotika erhielten, verdreifachte sich zwischen 1999 und 2008. Am 4. November 2013 erklärte sich Johnson & Johnson bereit, ein Bußgeld von 2,2 Milliarden Dollar wegen Klagen in Zivil- und Strafprozessen zu zahlen, weil das Unternehmen in unverantwortlicher Weise die Verschreibung des Antipsychotikums Risperdal für Ältere, Kinder und Menschen mit Entwicklungsstörungen beworben hatte. 27 Allerdings hat nie jemand die Ärzte zur Verantwortung gezogen, die Mitgliedern der genannten Gruppen dieses Mittel verschrieben haben.
Eine halbe Million Kinder in den Vereinigten Staaten nimmt zurzeit Antipsychotika ein. Kinder aus einkommensschwachen Familien werden mit vierfach höherer Wahrscheinlichkeit mit Antipsychotika behandelt als privat versicherte Kinder. Häufig dienen diese Mittel dazu, missbrauchte, misshandelte und vernachlässigte Kinder gefügig zu machen. Im Jahre 2008 erhielten 19 045 Kinder im Alter von fünf Jahren und jünger über Medicaid Antipsychotika. 28 Eine Studie, die auf Daten von Medicaid aus dreizehn Bundesstaaten basiert, ergab, dass 12,4 Prozent der Kinder in Pflegesituationen Antipsychotika erhielten, wohingegen es bei durch Medicaid versorgten Kindern insgesamt nur 1,4 Prozent waren. 29 Diese Mittel machen Kinder gefügiger und dämpfen ihre Aggressivität, aber sie beeinträchtigen auch ihre Motivation, ihren Spieltrieb und ihre Neugier, die ihnen helfen, sich zu entfalten und in der Gesellschaft ihren Platz zu finden. Außerdem laufen Kinder, die diese Mittel einnehmen, Gefahr, krankhaft übergewichtig zu werden und an Diabetes zu erkranken. Mittlerweile häufen sich auch die Fälle tödlicher Medikamentenüberdosen aufgrund der gleichzeitigen Einnahme von Psychopharmaka und Schmerzmitteln. 30
Weil Psychopharmaka so großen Profit verheißen, veröffentlichen medizinische Fachzeitschriften nur selten Untersuchungen über psychiatrische Behandlungsansätze, die auf Psychopharmaka verzichten. 31 Und Ärzte, die solche Behandlungsmethoden erproben, werden oft in abwertender Absicht als »Alternativmediziner« bezeichnet. Studien über solche Behandlungen werden nur selten mit Forschungsgeldern gefördert, es sei denn, sie basieren auf sogenannten manualisierten Protokollen – was bedeutet, dass sich Patienten und Therapeuten an eine in allen Einzelheiten beschriebene und festgelegte Vorgehensweise halten müssen, die keinerlei Feinabstimmung auf die Bedürfnisse eines bestimmten Patienten zulässt. Die offizielle »Schulmedizin« fühlt sich einer Verbesserung des Lebens mithilfe der Chemie verpflichtet, und die Tatsache, dass wir unsere Physiologie und unsere innere Balance mit anderen als medikamentösen Mitteln verändern können, wird kaum in Betracht gezogen.
Adaptation oder Krankheit?
Die These der Gehirnerkrankungen übersieht vier fundamentale Wahrheiten: (1) Unserer Fähigkeit, einander zu vernichten, entspricht unsere Fähigkeit, einander zu heilen. Die Heilung von Beziehungen und Gemeinschaften ist für die Wiederherstellung des Wohlbefindens Einzelner von zentraler Bedeutung. (2) Die Sprache verleiht uns die Macht, uns und andere zu verändern, indem wir unsere Erlebnisse mitteilen, da sie uns hilft, unser Wissen in Worte zu fassen und einen allgemein verständlichen Sinn darin zu finden. (3) Wir können auf unsere Physiologie einwirken, auch auf einige der sogenannten unwillkürlichen Funktionen des Körpers und des Gehirns, indem wir so grundlegende Aktivitäten wie Atmung, Bewegung und Berührung nutzen. Und wir können (4) die soziale Situation verändern, indem wir eine Umgebung schaffen, in der Kinder und Erwachsene sich sicher fühlen und gedeihen können.
Wenn wir diese wichtigen Dimensionen des Menschseins ignorieren, enthalten wir Menschen Möglichkeiten vor, Traumata zu heilen und ihre Autonomie wiederzuerlangen. Patient zu sein, statt sich selbst am Heilungsprozess zu beteiligen, trennt leidende Menschen von ihrer Gemeinschaft und entfremdet sie von ihrem Selbstempfinden. Angesichts der offensichtlich begrenzten Wirkung von Psychopharmaka fing ich an, mich zu fragen, ob wir Menschen auch mit natürlicheren Mitteln helfen könnten, ihre posttraumatischen Reaktionen zu überwinden.