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Vor der Existenz des Gehirns gab es keine Farbe und keinen Laut im Universum und wahrscheinlich auch wenig Bedeutung und keine Gefühle oder Emotionen. Vor dem Auftauchen des Gehirns war das Universum auch frei von Schmerz und Angst.

Roger Sperry 1

Am 11. September 2001 sah der fünfjährige Erstklässler Noam Saul durch die Fenster seines Klassenzimmers in der PS 234 Independence School , weniger als 500 Meter vom World Trade Center entfernt, die Kollision des ersten der beiden Passagierflugzeuge mit den Zwillingstürmen. Daraufhin rannte er mit seinen Klassenkameraden und ihrem Lehrer die Treppe hinab in das Foyer der Schule, wo die meisten Schüler von ihren Eltern in Empfang genommen wurden, die sich erst kurz vorher dort von ihnen verabschiedet hatten. Noam, sein älterer Bruder und ihr Vater waren drei von Zehntausenden von Menschen, die an jenem Morgen in Lower Manhattan durch Schutt, Asche und Rauch um ihr Leben liefen.

Zehn Tage später besuchte ich Noam Sauls Familie, mit der ich befreundet war, und suchte an jenem Abend zusammen mit den Eltern des Jungen in einer unheimlichen Dunkelheit die immer noch rauchende Umgebung auf, wo einmal der erste der beiden Türme gestanden hatte und wo immer noch Rettungsteams im gleißenden Licht der Jupiterlampen rund um die Uhr arbeiteten. Bei unserer Rückkehr in die Wohnung der Familie war Noam noch wach, und er zeigte mir ein Bild, das er am 12. September um 21.00 Uhr gezeichnet hatte. Es gab wieder, was er am Vortag gesehen hatte: ein Flugzeug, das in den Turm flog, einen Feuerball, Feuerwehrleute und Menschen, die aus den Fenstern des Turms sprangen. Doch unten auf dem Bild war noch etwas anderes zu sehen: ein schwarzer Kreis am Fuß der Gebäude. Weil ich mir nichts darunter vorstellen konnte, fragte ich Noam, was es sei. Er antwortete: »Ein Trampolin.« Als ich ihn fragte, was ein Trampolin an diesem Ort solle, erklärte er: »Damit können sich die Leute, wenn sie noch einmal springen müssen, in Sicherheit bringen.« Ich war sprachlos. Dieser fünfjährige Junge, der 24 Stunden vorher Zeuge einer unvorstellbaren Katastrophe geworden war, hatte das, was er gesehen hatte, mithilfe seiner Imagination verarbeitet und war dann wieder in sein gewohntes Leben zurückgekehrt.

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Zeichnung des fünfjährigen Noam, nachdem er am 11. September 2001 Zeuge des Terrorangriffs auf das World Trade Center geworden war. Noam zeichnete das Bild, das so viele Überlebende jenes Infernos verfolgte: wie Menschen aus den Fenstern der Türme sprangen, um zu entkommen. Doch er fügte diesem Schreckensbild ein lebensrettendes Detail hinzu: Unten an dem zusammenbrechenden Gebäude stand ein Trampolin.

Noam hatte großes Glück gehabt. Niemandem aus seiner Familie war etwas zugestoßen, er war in einer liebevollen Atmosphäre aufgewachsen, und ihm war klar, dass die Tragödie, die er als Augenzeuge miterlebt hatte, zu einem Ende gekommen war. Während einer Katastrophe orientieren sich kleine Kinder gewöhnlich an ihren Eltern. Wenn ihre primären Bezugspersonen ruhig bleiben und auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen, bleiben sie auch nach entsetzlichen Ereignissen frei von schweren psychischen Schädigungen.

Noams Umgang mit seinem Erlebnis zeigt zwei wichtige Aspekte der adaptiven Reaktion auf Gefahren, die für das menschliche Überleben sehr wichtig sind. Zum Zeitpunkt der Katastrophe war es Noam möglich, aktiv zu werden, indem er sich von der Katastrophe durch Flucht entfernte und so selbst etwas zu seiner Rettung beitrug. Und nachdem er wieder zu Hause und damit in Sicherheit war, verstummten die Alarmglocken in seinem Gehirn und Körper. Dies ermöglichte seinem Geist zu verstehen, was geschehen war, und sich sogar eine Alternative zu dem, was er gesehen hatte, auszudenken, nämlich die Existenz eines lebensrettenden Trampolins am Ort der Katastrophe.

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Traumata wirken sich auf den ganzen menschlichen Organismus aus – auf Körper, Geist und Gehirn. Bei Bestehen einer PTBS verteidigt sich der Körper weiter gegen eine Bedrohung, die längst nicht mehr besteht. Um von einer PTBS geheilt zu werden, muss man in die Lage versetzt werden, diese anhaltende stressbedingte Mobilisierung zu beenden und den ganzen Organismus wieder in den für eine sichere Situation typischen Zustand zu versetzen.

Anders als Noam bleiben Traumatisierte auf die traumatische Situation, die sie erlebt haben, fixiert, und sie werden in ihrer Entwicklung aufgehalten, weil es ihnen nicht gelingt, neue Erlebnisse in ihr Leben zu integrieren. Es bewegte mich sehr, von Veteranen der Armee Pattons zu Weihnachten eine Armbanduhr für Armeeangehörige aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs geschenkt zu bekommen, aber gleichzeitig war dies auch ein Hinweis darauf, dass das Leben dieser Menschen im Jahre 1944 praktisch zum Stillstand gekommen war. Traumatisiert zu werden bedeutet, dass man das eigene Leben fortan so organisiert, als fände das Trauma immer noch statt – unverändert und unveränderbar –, weil jedes neue Ereignis durch die Vergangenheit kontaminiert wird.

Nach einem traumatischen Ereignis erleben Menschen die Welt mit einem veränderten Nervensystem. Die Energie der Überlebenden konzentriert sich dann darauf, das Chaos in ihrem Inneren zu bezwingen, was natürlich die Spontaneität beeinträchtigt. Solche Bemühungen, unerträgliche physiologische Reaktionen zu unterdrücken, können zur Entstehung der unterschiedlichsten körperlichen Symptome führen, darunter Fibromyalgie, chronische Erschöpfung und andere Autoimmunkrankheiten. Deshalb ist es im Falle einer Traumabehandlung wichtig, den ganzen Organismus, Körper, Geist und Gehirn, einzubeziehen.

Für die Sicherung des Überlebens organisiert

Die Abbildung auf Seite 85 zeigt, wie der Körper als Ganzes auf eine Bedrohungssituation reagiert.

Sobald das Alarmsystem des Gehirns aktiviert wird, treten automatisch die in den ältesten Teilen des Gehirns gespeicherten vorprogrammierten Notfallpläne in Funktion. Wie bei anderen Säugetieren haben auch bei uns Menschen die Nervenzellen und chemischen Stoffe, aus denen die Grundstruktur des Gehirns besteht, eine direkte Verbindung zu unserem Körper. Wenn die ältesten Gehirnteile die Führung übernehmen, werden die höher entwickelten Bereiche – und wird damit auch unser Bewusstsein – teilweise abgeschaltet, und unseren Körper erreicht der Impuls, wegzulaufen, sich zu verstecken, zu kämpfen und manchmal auch zu erstarren. Wenn wir uns der Situation, in der wir uns befinden, völlig bewusst werden, befindet sich unser Körper möglicherweise schon auf dem Weg in die Sicherheit. Gelingt die Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsreaktion und können wir der Gefahr entfliehen, erlangen wir unser inneres Gleichgewicht zurück und kommen allmählich »wieder zu Sinnen«.

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Effektives Handeln im Gegensatz zum Erstarren. Effektives Handeln (das Resultat von Kampf oder Flucht) beendet den Zustand der Bedrohung. Erstarrung beinhaltet, dass der Körper in einem Zustand unausweichlichen Schocks und erlernter Hilflosigkeit gefangen bleibt. Wenn Menschen mit einer Gefahr konfrontiert werden, schüttet ihr Körper automatisch Stresshormone aus, um sich auf einen Kampf oder die Flucht vorzubereiten. Gehirn und Körper sind darauf programmiert, einer Gefahr zu entfliehen, um sich in Sicherheit zu bringen und die weitere Ausschüttung von Stresshormonen überflüssig zu machen. Bei den festgeschnallten Menschen auf dem rechten Foto, die nach dem Orkan Katrina evakuiert werden, bleibt der Stresshormonspiegel erhöht, was zur Folge hat, dass bei diesen Überlebenden der Naturkatastrophe ständig Angst, Depression, Wut und körperliche Krankheiten stimuliert werden.

Falls die normale Reaktionsweise aus irgendeinem Grunde blockiert ist, beispielsweise weil Menschen festgehalten, eingesperrt oder anders gehindert werden, wirksam aktiv zu werden – ob in einem Kampfgebiet, am Ort eines Autounfalls, bei häuslicher Gewalt oder einer Vergewaltigung –, schüttet das Gehirn weiter Stresshormone aus, und seine elektrischen Schaltkreise feuern, ohne dadurch etwas bewirken zu können. 2 Noch lange nach dem ursächlichen Ereignis kann das Gehirn dem Körper weiter Signale übermitteln, die ihn dazu antreiben, vor einer gar nicht mehr existierenden Gefahr zu fliehen. Mindestens seit 1889, als der französische Psychologe Pierre Janet das erste Mal in einer wissenschaftlichen Publikation traumatischen Stress beschrieb 3 , ist bekannt, dass Traumatisierte dazu neigen, »mit der Aktivität bzw. dem vergeblichen Versuch, aktiv zu werden, fortzufahren, mit dem sie zum Zeitpunkt des traumatischen Ereignisses begonnen hatten«. Dass Menschen sich bewegen und etwas tun können, um sich zu schützen, entscheidet darüber, ob ein entsetzliches Erlebnis bei einem Betroffenen dauerhafte Narben hinterlässt.

Ich werde mich in diesem Kapitel gründlicher mit der Reaktion des Gehirns auf Traumata befassen. Je mehr die Neurowissenschaften über das Gehirn herausfinden, umso klarer wird, dass es ein riesiges Netzwerk miteinander verbundener Teile ist, das uns hilft, zu überleben und zu gedeihen. Wir müssen wissen, wie diese Teile zusammenarbeiten, um verstehen zu können, wie sich Traumata auf alle Teile des menschlichen Organismus auswirken. Dies kann für uns zu einem unentbehrlichen Führer werden, der uns den Weg zur Auflösung von traumatischem Stress weist.

Die verschiedenen Schichten des Gehirns

Die wichtigste Aufgabe des Gehirns ist, selbst unter schwierigsten Bedingungen unser Überleben zu sichern. Alles andere ist zweitrangig. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, muss es zu Folgendem in der Lage sein: (1) Es muss Signale erzeugen, die registrieren, was unser Körper braucht, beispielsweise Nahrung, Ruhe, Geborgenheit, Sex und Schutz. (2) Es muss eine Beschreibung der Welt entwickeln können, um uns darauf hinzuweisen, wo unsere Bedürfnisse erfüllt werden. (3) Es muss die erforderliche Energie mobilisieren und Handlungen initiieren, die uns an unser Ziel bringen. (4) Es muss uns auf Gefahren und Chancen hinweisen, die uns auf unserem Weg begegnen können. (5) Es muss unsere Handlungen an die Erfordernisse des konkreten Augenblicks anpassen. 4 Und da wir als Menschen zu den Säugern zählen – und als solche Geschöpfe sind, die nur in Gruppen überleben und gedeihen können –, sind alle genannten Ziele für uns nur durch Koordination und Zusammenarbeit zu erreichen. Psychische Probleme treten auf, wenn unsere inneren Signale ihren Zweck nicht erfüllen; wenn unsere Landkarten uns nicht dorthin führen, wohin wir gehen müssen; wenn wir so gelähmt sind, dass wir uns nicht bewegen können; wenn unsere Handlungen nicht unseren Bedürfnissen entsprechen; oder wenn unsere Beziehungen zerbrechen. Alle Gehirnstrukturen, mit denen ich mich im Folgenden auseinandersetzen werde, spielen hinsichtlich der soeben genannten Funktionen eine wichtige Rolle, und wir werden sehen, dass Traumata jede von ihnen beeinträchtigen können.

Der rationale, kognitive Bereich unseres Gehirns ist dessen jüngster Teil und beansprucht etwa 30 Prozent des Raumes in unserem Schädel. Dieser Teil des Gehirns beschäftigt sich hauptsächlich mit der Welt außerhalb von uns: damit, wie Dinge und Menschen »funktionieren« und wie wir unsere Ziele erreichen, unsere Zeit einteilen und unsere Handlungen organisieren können. Unter dem rationalen Teil des Gehirns liegen zwei ältere und in einem gewissen Sinne separate Gehirne, die für alles andere zuständig sind: für die Registrierung und Steuerung der physiologischen Vorgänge im Körper in jedem einzelnen Augenblick und für die Feststellung von Zuständen wie Behagen, Sicherheit, Gefahr, Hunger, Erschöpfung, Verlangen, Sehnsucht, Begeisterung, Freude und Schmerz.

Aufbau und Entwicklung des Gehirns erfolgen Schicht um Schicht von unten nach oben. Es entwickelt sich bei jedem Kind im Mutterschoß genau so, wie es im Laufe der Evolution allmählich seinen aktuellen Zustand erreicht hat. Sein primitivster, zum Zeitpunkt der Geburt schon voll funktionsfähiger Teil ist das alte tierische Gehirn, das oft auch Reptilienhirn genannt wird. Es befindet sich im Hirnstamm, unmittelbar über dem Punkt, an dem das Rückenmark in den Schädel eintritt. Das Reptilienhirn ermöglicht alles, was das neugeborene Kind tun kann: essen, schlafen, wachen, weinen, atmen; eine Temperatur, Hunger, Nässe und Schmerz empfinden; und den Körper durch Urinieren und Defäkieren von Giftstoffen befreien. Hirnstamm und Hypothalamus (der unmittelbar über dem Hirnstamm liegt) regulieren gemeinsam das Energieniveau des Körpers. Sie koordinieren die Funktion des Herzens und der Lunge sowie des endokrinen Systems und des Immunsystems und sorgen auf diese Weise dafür, dass diese wichtigen lebenserhaltenden Systeme eine relativ stabile innere Balance aufrechterhalten, die auch Homöostase genannt wird.

Atmen, Essen, Schlafen, Defäkieren und Urinieren sind so basale Körperfunktionen, dass wir ihre Bedeutung leicht übersehen, wenn wir uns mit der Komplexität des Geistes und des Verhaltens beschäftigen. Doch wenn unser Schlaf gestört ist oder unser Darm nicht richtig funktioniert oder wir uns ständig hungrig fühlen oder bei jeder Berührung unseres Körpers am liebsten schreien würden (was bei traumatisierten Kindern und Erwachsenen oft der Fall ist), wird die innere Balance unseres gesamten Organismus gestört. Es ist erstaunlich, wie viele psychische Probleme mit Störungen des Schlafs oder Appetits, mit Berührungsempfindlichkeit, Verdauungsproblemen oder unangenehmen Erregungszuständen einhergehen. Deshalb muss sich jede Traumabehandlung, wenn sie wirksam sein soll, mit diesen grundlegenden Körperfunktionen befassen.

Unmittelbar über dem Reptilienhirn befindet sich das limbische System. Es wird auch Säugetierhirn genannt, weil dieser Gehirnteil bei allen Säugetieren, die in Gruppen leben und ihre Jungen ernähren, vorhanden ist. Es entwickelt sich größtenteils erst nach der Geburt. Dies ist der Sitz der Emotionen. Hier werden auch Gefahren registriert, es wird beurteilt, was angenehm und was beängstigend ist, und es wird darüber entschieden, was im Interesse des Überlebens wichtig oder unwichtig ist. Auch die Entscheidungen darüber, wie sich der betreffende Mensch in unseren komplexen sozialen Netzwerken verhält, fallen hier.

Das limbische System wird unter Beteiligung der genetischen Anlagen des Kindes und seines angeborenen Temperaments in Reaktion auf Erlebtes geformt. (Alle Eltern, die mehrere Kinder haben, merken schnell, dass sich Babys von Geburt an hinsichtlich der Intensität und Art ihrer Reaktionen auf ähnliche Ereignisse unterscheiden.) Alles, was ein Baby erlebt, schlägt sich in seinem emotionalen und perzeptuellen Weltbild nieder, das sein Gehirn in der Entwicklungsphase erzeugt. Mein Kollege Bruce Perry hat angemerkt, das Gehirn werde »benutzerabhängig« geformt. 5 Dies ist seine Art, das Phänomen der Neuroplastizität zu beschreiben, jene relativ neue Entdeckung, nach der Neuronen, die »zusammen feuern, vernetzt werden« (»fire together, wire together«) . Wenn ein Schaltkreis wiederholt feuert, kann daraus eine Art Standardeinstellung werden – die Reaktion, die mit größter Wahrscheinlichkeit ausgelöst wird. Fühlen wir uns sicher und geliebt, spezialisiert sich unser Gehirn auf Exploration, Spiel und Kooperation; sind wir hingegen verängstigt und fühlen uns unerwünscht, spezialisiert unser Gehirn sich auf den Umgang mit Gefühlen der Angst und des Verlassenwerdens.

Als Babys und Kleinkinder lernen wir die Welt, die uns umgibt, kennen, indem wir uns bewegen, nach etwas greifen, irgendwohin krabbeln und entdecken, was passiert, wenn wir weinen, lächeln oder protestieren. Wir experimentieren in diesem Alter ständig mit unserer Umgebung – mit den Auswirkungen unserer Interaktionen darauf, wie unser Körper sich fühlt. Nehmen Sie einmal an der Geburtstagsparty eines zweijährigen Kindes teil, und achten Sie darauf, wie die kleine Antonia Sie beschäftigt hält, mit Ihnen spielt und flirtet, ohne auch nur ein einziges Wort sagen zu müssen. Diese frühen Explorationen formen jene Strukturen des limbischen Systems, die für Emotionen und Gedächtnis zuständig sind; doch diese Strukturen können auch noch durch spätere Erlebnisse signifikant verändert werden – zum Besseren beispielsweise durch eine enge Freundschaft oder eine wunderschöne erste Liebe und zum Schlechteren durch einen Überfall, andauernde schlechte Behandlung oder Vernachlässigung.

Zusammen bilden Reptilienhirn und limbisches System das, was ich in diesem Buch »emotionales Gehirn« nennen werde. 6 Das emotionale Gehirn bildet das Zentrum des zentralen Nervensystems (ZNS ), und seine wichtigste Aufgabe ist, für unser Wohl zu sorgen. Wenn es eine Gefahr oder eine besondere Chance registriert – beispielsweise einen vielversprechenden potenziellen Partner –, macht es uns durch verstärkte Ausschüttung bestimmter Hormone darauf aufmerksam. Die daraus resultierenden viszeralen Empfindungen (die von leichter Übelkeit bis zu einem Panikgefühl in der Brust reichen können) wirken störend auf das, womit sich Ihr Geist im betreffenden Augenblick beschäftigt, und bringen Sie – körperlich und geistig – dazu, eine andere Richtung einzuschlagen. So subtil diese Emotionen auch sein mögen, sie haben starken Einfluss auf die kleinen und großen Entscheidungen, die wir im Laufe unseres Lebens fällen: darauf, was wir zu essen beschließen, wo und mit wem zusammen wir schlafen, welche Musik wir bevorzugen, ob wir gern im Garten arbeiten oder lieber in einem Chor singen und mit wem wir uns anfreunden bzw. wen wir hassen.

Die zellulare Organisation und die Biochemie des emotionalen Gehirns sind einfacher als die des Neokortex, unseres rationalen Gehirns, und es beurteilt eintreffende Informationen globaler. Deshalb gelangt es aufgrund ziemlich grober Ähnlichkeiten zu Schlussfolgerungen, wohingegen das rationale Gehirn in der Lage ist, seine Entscheidungen auf der Grundlage eines Abgleichs mit komplexen Kategorien zu treffen. (Das Lehrbuchbeispiel hierfür ist das entsetzte Zurückschrecken vor einer Schlange, dem etwas später die Erkenntnis folgt, dass es sich um ein zusammengerolltes Seil handelt.) Das emotionale Gehirn initiiert vorprogrammierte Notfallpläne wie die für die Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Solche muskulären und physiologischen Reaktionen erfolgen automatisch, also ohne dass wir auch nur einen einzigen Gedanken darauf verschwenden oder sie irgendwie planen; unsere bewussten, rationalen Fähigkeiten kommen in solchen Situationen erst später zum Zug, oft erst lange nachdem die Gefahr vorüber ist.

Nun erreichen wir die äußerste Schicht des Gehirns, den Neokortex. Diese haben wir mit anderen Säugern gemeinsam, doch bei uns Menschen ist sie besonders dick. Ab dem zweiten Lebensjahr entwickeln sich die Frontallappen, die den größten Teil des Neokortex ausmachen, mit zunehmender Geschwindigkeit. Die alten Philosophen nannten das Alter von sieben Jahren »das Alter der Vernunft«. Für uns alle ist die erste Klasse in der Schule der Auftakt zu einem Leben, in dessen Mittelpunkt Fähigkeiten stehen, die durch die Frontallappen ermöglicht werden: Stillsitzen, die Kontrolle über die Schließmuskeln, die Fähigkeit, sich sprachlich auszudrücken statt auszuagieren, die Fähigkeit, abstrakte und symbolische Ideen zu verstehen, die Fähigkeit zu planen, und die Fähigkeit, sich mit Lehrern und Klassenkameraden zu arrangieren.

Die Frontallappen sind für Qualitäten verantwortlich, die uns Menschen unter den Säugern einzigartig machen. 7 Sie ermöglichen uns, eine Sprache zu benutzen und abstrakt zu denken. Sie verleihen uns die Fähigkeit, riesige Mengen von Informationen aufzunehmen, zu integrieren und mit ihnen einen Sinn zu verbinden. Trotz aller Begeisterung über die sprachlichen Kunststücke von Schimpansen und Rhesusaffen steht nach wie vor außer Frage, dass nur Menschen die Worte und Symbole benutzen können, die zur Schaffung jener gemeinschaftlichen, spirituellen und historischen Kontexte erforderlich sind, die unser Leben prägen.

Die Frontallappen ermöglichen uns, zu planen und zu reflektieren, uns Dinge vorzustellen und Zukunftsszenarien durchzuspielen. Sie helfen uns vorauszusagen, was geschehen wird, wenn wir auf eine bestimmte Weise aktiv werden (wenn wir uns beispielsweise für eine neue berufliche Position bewerben) oder wenn wir etwas anderes nicht tun (beispielsweise die Miete nicht bezahlen). Sie ermöglichen Entscheidungen und liegen unserer erstaunlichen Kreativität zugrunde. Generationen von eng zusammenarbeitenden Frontallappen haben unsere Kultur geschaffen, die uns von geschnitzten Kanus über von Pferden gezogene Wagen und Düsenflugzeuge zu Hybridautos und von Briefen zu E-Mails gebracht haben. Und sie sind auch der Ursprung von Noams lebensrettendem Trampolin.

Einander spiegeln: Interpersonale Neurobiologie

Wichtig für das Verständnis von Traumata ist, dass die Frontallappen auch der Sitz der Empathie sind – unserer Fähigkeit, uns in einen anderen Menschen einzufühlen. Im Jahre 1994 gelang der modernen Neurowissenschaft eine der wirklich sensationellen Entdeckungen, als eine Gruppe italienischer Wissenschaftler spezialisierte Zellen im Kortex entdeckte, die unter dem Namen Spiegelneuronen bekannt geworden sind. 8 Die Forscher hatten an einzelnen Neuronen im prämotorischen Kortex eines Affen Elektroden befestigt und dann mithilfe eines Computers überwacht, welche Neuronen genau feuerten, wenn der Affe eine Erdnuss oder eine Banane festhielt. Einmal schaute ein Experimentator in dem Moment auf den Computerbildschirm, als er Nahrung in eine Schachtel legte. Die Gehirnzellen des Affen feuerten genau dort, wo sich die Motoneuronen des Affen befanden. Aber der Affe aß weder, noch bewegte er sich. Er beobachtete den Forscher, und sein Gehirn spiegelte, was der Forscher tat.

Zahlreiche andere Experimente folgten in Laboratorien auf der ganzen Welt, und schon bald stand fest, dass die Spiegelneuronen viele bisher unerklärliche Aspekte mentaler Aktivität zu erklären vermochten, beispielsweise Empathie, Nachahmung, Synchronie und sogar die Sprachentwicklung. Ein Autor bezeichnete die Spiegelneuronen als »neuronales Wi-Fi« 9 – wir fangen nicht nur die Bewegungen, sondern auch die emotionalen Zustände und Intentionen anderer auf. Wenn Menschen sich im Zustand der Synchronie befinden, stehen oder sitzen sie ähnlich, und der Rhythmus ihrer Stimmen gleicht sich an. Aber unsere Spiegelneuronen machen uns auch anfällig für die Negativität anderer, sodass wir auf ihre Wut mit Rage reagieren oder ihre Depression uns selbst ebenfalls in eine depressive Stimmung versetzt. Ich werde mich später in diesem Buch noch ausführlicher zu den Spiegelneuronen äußern, weil Traumatisierte fast immer nicht gesehen, nicht gespiegelt und ganz generell übergangen werden. Eine Traumabehandlung muss die Fähigkeit zu gefahrlosem Spiegeln und Gespiegeltwerden wiederherstellen, aber auch die Fähigkeit, der Versuchung zu widerstehen, sich von den negativen Emotionen anderer Menschen »kapern« zu lassen.

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Das dreieinige (dreiteilige) Gehirn. Das Gehirn entwickelt sich von unten nach oben. Das Reptilienhirn wird schon vor der Geburt funktionsfähig und organisiert die grundlegenden lebenserhaltenden Funktionen. Es reagiert im ganzen Leben sehr stark auf Gefahren. Das limbische System wird weitgehend in den ersten sechs Lebensjahren organisiert, aber es entwickelt sich auch danach weiter nutzungsabhängig. Ein Trauma kann seine Funktionsfähigkeit während des ganzen Lebens stark beeinflussen. Der Präfrontalkortex entwickelt sich zuletzt, und auch er wird durch traumatische Erlebnisse beeinflusst, was unter anderem dazu führen kann, dass er nicht mehr in der Lage ist, unwichtige Informationen auszufiltern. Er ist während des ganzen Lebens anfällig dafür, im Falle einer Gefahr funktionsunfähig zu werden.

Wie jeder, der schon einmal mit Hirnverletzten gearbeitet hat oder sich um die eigenen dementen Eltern kümmern musste, leidvoll hat erfahren müssen, ist die gute Funktionsfähigkeit der Frontallappen entscheidend für harmonische Beziehungen zu unseren Mitmenschen. Sich vergegenwärtigen zu können, dass andere Menschen manchmal anders denken und fühlen als wir, ist für Zwei- und Dreijährige ein gewaltiger Entwicklungsschritt. Wenn sie lernen, die Motive anderer zu verstehen, können sie sich in Gruppen von Menschen, die andere Wahrnehmungen, Erwartungen und Werte haben, gefahrlos anpassen. Ohne flexible, aktive Frontallappen werden Menschen zu »Gewohnheitstieren«, und ihre Beziehungen werden oberflächlich und mechanistisch. Erfindungen und Innovationen, Entdeckungsgeist und Staunen – all dies fehlt ihnen.

Die Frontallappen können uns auch (müssen uns aber nicht) davon abhalten, Dinge zu tun, die uns peinlich sind oder die andere Menschen verletzen. Wir müssen nicht jedes Mal etwas essen, wenn wir hungrig sind; und wir brauchen nicht jeden anderen Menschen zu küssen, der unser sexuelles Verlangen weckt; und es ist auch nicht zwingend, dass wir jedes Mal einen Wutausbruch bekommen, wenn wir wütend sind. Aber genau an dieser Grenze zwischen Impulsen und akzeptablem Verhalten nehmen die meisten Schwierigkeiten ihren Anfang. Je intensiver der viszerale, sensorische Input des emotionalen Gehirns ist, umso weniger vermag das rationale Gehirn solche Impulse zu dämpfen.

Identifizieren von Gefahren: Der Koch und der Rauchmelder

Gefahr ist ein normaler Bestandteil des Lebens, und das Gehirn ist dafür zuständig, Gefahren zu entdecken und eine angemessene Reaktion auf sie zu entwickeln. Sensorische Informationen über Vorgänge in der Außenwelt gelangen durch die Augen, die Nase, die Ohren und die Haut in den Körper. Diese Empfindungen kommen im Thalamus zusammen, einem Bereich im limbischen System, der im Gehirn wie eine Art Koch fungiert. Der Thalamus mischt den gesamten Input unserer Sinnesorgane zu einer gut gewürzten, wohlschmeckenden »autobiografischen Suppe«, einem integrierten, kohärenten Erlebnis dessen, »was ich erlebe«. 10 Die Empfindungen werden dann in zwei Richtungen weitergeleitet – einerseits zur Amygdala, zwei kleinen mandelförmigen Gebilden, die tiefer im limbischen, unbewussten Gehirn liegen, und andererseits hinauf in die Frontallappen, wo sie das Bewusstsein erreichen. Der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux (1996/2001, dt. S. 173) nennt den Pfad zur Amygdala den »niederen Weg«, eine extrem schnelle Verbindung, und den Pfad zum Frontalkortex den »hohen Weg«, der im Falle eines überwältigend bedrohlichen Erlebnisses einige Millisekunden mehr braucht, um Informationen zu verarbeiten. Doch die Verarbeitung durch den Thalamus kann zusammenbrechen. Anblicke, Geräusche, Gerüche und Berührungen werden dann als isolierte, dissoziierte Fragmente encodiert, und die normale Verarbeitung der Erinnerungen zerfällt. Die Zeit erstarrt, und die gegenwärtige Gefahr fühlt sich an, als werde sie für alle Zeit bestehen bleiben.

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Das emotionale Gehirn deutet die eintreffenden Informationen zuerst. Sensorische Informationen über die Umgebung und den Zustand des eigenen Körpers, die mit Augen, Nase und Ohren, durch Berührung und vom kinästhetischen Empfinden aufgenommen werden, treffen beim Thalamus ein, werden dort verarbeitet und dann zur Amygdala weitergeleitet, die ihre emotionale Bedeutung einschätzt. Dies geschieht blitzschnell. Wird eine Bedrohung entdeckt, sendet die Amygdala dem Hypothalamus die Anweisung, Stresshormone auszuschütten, damit sich der Körper darauf vorbereiten kann, sich gegen die Gefahr zu verteidigen. Der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux nennt diese Verbindung den »niederen Weg«. Die zweite neuronale Verbindung, der »hohe Weg«, verläuft vom Thalamus über den Hippocampus und das anteriore Cingulum zum Präfrontalkortex, wo eine bewusste und detailliertere Deutung stattfindet. Dieser hohe Weg beansprucht einige Millisekunden mehr als der niedere. Ist die Deutung der Gefahr durch die Amygdala zu intensiv und/oder die Filterung der höheren Gehirnbereiche zu schwach, was bei PTBS häufig vorkommt, verlieren die Betroffenen die Kontrolle über ihre automatischen Notfallreaktionen, was zu längerem Erstarren oder zu Aggressionsausbrüchen führen kann.

Die zentrale Aufgabe der Amygdala, die ich »Rauchmelder des Gehirns« nenne, besteht darin herauszufinden, ob eintreffender Input überlebenswichtig ist. 11 Dies geschieht sehr schnell und automatisch, wobei das Feedback vom Hippocampus – eines in der Nähe liegenden Areals, das neu eintreffende Informationen mit früheren Erlebnissen abgleicht – eine wichtige Rolle spielt. Spürt die Amygdala eine Gefahr – die Möglichkeit eines Zusammenstoßes mit einem entgegenkommenden Fahrzeug, eine bedrohlich wirkende Person auf der Straße –, sendet sie augenblicklich ein Signal an den Hypothalamus und den Hirnstamm, wodurch die Stresshormonproduktion und das autonome Nervensystem (ANS ) aktiviert werden, damit sie eine Reaktion des gesamten Körpers initiieren. Weil die Amygdala die vom Thalamus eintreffenden Informationen schneller verarbeitet als die Frontallappen, entscheidet sie, ob diese Informationen eine Gefährdung des Überlebens anzeigen, bevor wir uns der Gefahr bewusst geworden sind. Wenn uns klar wird, was vor sich geht, ist unser Körper möglicherweise schon dabei, sich in Sicherheit zu bringen.

Die Gefahrensignale der Amygdala führen zur Ausschüttung starker Stresshormone, unter anderem von Kortisol und Adrenalin, was den Herzschlag beschleunigt, den Blutdruck erhöht und die Atemfrequenz ansteigen lässt – erforderliche physiologische Vorbereitungen auf eine Kampf- oder Fluchtreaktion. Ist die Gefahr vorüber, kehrt der Körper ziemlich schnell in seinen Normalzustand zurück. Ist die Erholungsfähigkeit jedoch gestört, verbleibt der Körper in einer für die Selbstverteidigung erforderlichen Verfassung, verbunden mit einem Gefühl ständiger Erregung.

Obwohl der körpereigene »Rauchmelder« Gefahren in der Regel ziemlich zuverlässig erkennt, erhöhen Traumata die Wahrscheinlichkeit einer Fehleinschätzung bestimmter Situationen als gefährlich oder ungefährlich. Man kommt mit anderen Menschen nur dann gut aus, wenn man zutreffend einschätzen kann, ob ihre Absichten gutartig oder gefährlich sind. Schon eine leichte Fehleinschätzung kann zu schmerzhaften Missverständnissen in privaten und beruflichen Beziehungen führen. In einer komplexen Arbeitssituation oder in einem Haushalt mit ungestümen Kindern gut zurechtzukommen setzt voraus, dass man schnell einschätzen kann, wie Menschen sich fühlen, und dass man das eigene Verhalten dementsprechend ständig anpasst. Arbeitet das Alarmsystem fehlerhaft, können Wutausbrüche oder Systemabschaltungen in Reaktion auf harmlose Bemerkungen oder Gesichtsausdrücke die Folge sein.

Die Stressreaktion kontrollieren: Der Wachturm

Wenn wir die Amygdala als den Rauchmelder im Gehirn bezeichnen, könnten wir die Frontallappen – und insbesondere den direkt über den Augen liegenden medialen Präfrontalkortex (MPFK ) 12 – als Wachturm bezeichnen, der uns ermöglicht, das Geschehen von oben zu betrachten. Zeigt der Rauch, den Sie riechen, an, dass Ihr Haus in Flammen steht und Sie es so schnell wie möglich verlassen sollten? Oder wird er durch ein Steak erzeugt, das Sie über eine zu hoch auflodernde Flamme halten? Die Amygdala fällt keine Urteile dieser Art; sie bereitet uns nur auf einen Kampf oder eine Flucht vor, und zwar schon bevor die Frontallappen ihre Einschätzung entwickeln können. Wenn Sie nicht zu aufgebracht sind, können Ihre Frontallappen Ihre innere Balance wiederherstellen, indem sie Ihnen zu erkennen helfen, dass Sie auf einen Fehlalarm reagiert haben, und indem sie die Stressreaktion abbrechen.

Gewöhnlich ermöglichen uns die exekutiven Funktionen des Präfrontalkortex, zu beobachten, was vor sich geht, vorauszusagen, was in Reaktion auf eine bestimmte Art von Aktivität geschehen wird, und eine bewusste Entscheidung zu treffen. Wenn wir in der Lage sind, ruhig und objektiv über unseren Gedanken, Gefühlen und Emotionen zu schweben (eine Fähigkeit, die ich in diesem Buch Achtsamkeit nennen werde), und wir uns dann genug Zeit zum Reagieren nehmen, ermöglicht dies den exekutiven Funktionen des Gehirns, die im emotionalen Gehirn vorprogrammierten automatischen Reaktionen zu hemmen, zu organisieren und zu modulieren. Diese Fähigkeit ist zwingend notwendig, damit wir unsere Beziehungen zu unseren Mitmenschen aufrechterhalten können. Solange unsere Frontallappen adäquat ihre Funktionen erfüllen, verlieren wir nicht jedes Mal die Fassung, wenn wir in einem Restaurant zu lange auf das Essen warten müssen oder wenn ein Versicherungsangestellter uns besonders lange in der Leitung warten lässt. (Unser Wachturm sagt uns auch, dass die Wut und die Drohungen anderer Menschen eine Funktion ihres emotionalen Zustandes sind.) Versagt dieses System seinen Dienst, werden wir konditionierten Tieren ähnlich: Sobald wir eine potenzielle Gefahr entdecken, wechseln wir automatisch in den Kampf-oder-Flucht-Modus.

Im Falle einer PTBS verändert sich die Balance zwischen der Amygdala (»Rauchmelder«) und dem MPFK (»Wachturm«) radikal, wodurch es wesentlich schwerer wird, die eigenen Emotionen und Impulse unter Kontrolle zu behalten. Neuroimaging-Untersuchungen an Menschen, die sich in starken emotionalen Zuständen befinden, zeigen, dass starke Furcht, Traurigkeit und Wut die Aktivierung der subkortikalen Hirnregionen verstärken, die bei der Entstehung von Emotionen eine Rolle spielen, und dass diese Emotionen gleichzeitig die Aktivität verschiedener Bereiche des Frontallappens verringern, insbesondere die des MPFK . In solchen Situationen werden die inhibitorischen Fähigkeiten des Frontallappens außer Funktion gesetzt, und die Betroffenen »verabschieden sich von ihren Sinnen«: Sie können dann in Reaktion auf jedes laute Geräusch erstarren, bei der geringsten Frustration wütend werden und auf die kleinste Berührung mit vollständigem Erstarren reagieren. 13

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Top down oder bottom up. Strukturen im emotionalen Gehirn entscheiden darüber, was wir als gefährlich oder ungefährlich wahrnehmen. Es gibt zwei Möglichkeiten, das Gefahrenwarnsystem zu verändern: von oben mittels modulierender Botschaften des medialen Präfrontalkortex (nicht des gesamten Präfrontalkortex) oder von unten über das Reptilienhirn, was durch Atmung, Bewegung und Berührung möglich ist.

Effektiver Umgang mit Stress ist nur im Falle einer Balance zwischen dem »Rauchmelder« und dem »Wachturm« möglich. Wollen wir mit unseren Emotionen angemessener umgehen, gibt unser Hirn uns dazu zwei verschiedene Möglichkeiten: Wir können lernen, sie von oben (top-down) oder von unten (bottom-up) zu regulieren.

Die Kenntnis des Unterschieds zwischen der Top-down- und der Bottom-up-Regulation ist wichtig, wenn wir traumatischen Stress verstehen und erfolgreich behandeln wollen. Bei der Top-down-Regulation wird die Fähigkeit des »Wachturms«, die Körperempfindungen zu beobachten, gestärkt. In diesem Zusammenhang sind die Achtsamkeitsmeditation und Yoga von Nutzen. Bei der Bottom-up-Regulation wird das autonome Nervensystem (dessen Ursprung der Hirnstamm ist) modifiziert. Wir können zum ANS mithilfe von Atmung, Bewegung und Berührung in Kontakt treten. Die Atmung ist eine der wenigen Körperfunktionen, die sowohl bewusst gesteuert werden als auch autonom funktionieren kann. In Teil V dieses Buches werden Techniken vorgestellt, mit deren Hilfe wir sowohl die Top-down- als auch die Bottom-up-Regulation verbessern können.

Reiter und Pferd

Zunächst möchte ich ausdrücklich klarstellen, dass Emotionen dem Verstand nicht entgegengesetzt sind. Emotionen schreiben Erlebnissen einen bestimmten Wert zu und bilden somit die Grundlage der Aktivität des Verstandes. Wie wir uns selbst erleben, resultiert aus dem Verhältnis zwischen rationalem und emotionalem Gehirn. Wenn sich diese beiden Systeme in einem Zustand der Balance befinden, »fühlen wir uns wie wir selbst«. Ist jedoch unser Überleben in Gefahr, können beide Systeme relativ unabhängig voneinander agieren.

Nehmen wir beispielsweise an, Sie fahren in Ihrem Auto und reden mit einem Freund, und plötzlich sehen Sie, dass ein Lastwagen direkt auf Sie zukommt. Sie verstummen augenblicklich, treten voll auf die Bremse und schlagen das Lenkrad stark ein, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Falls Ihre instinktive Reaktion eine Kollision verhindert hat, können Sie das Gespräch anschließend dort fortsetzen, wo Sie es unterbrochen haben. Doch ob Sie dazu in der Lage sind, hängt größtenteils davon ab, wie schnell Ihre viszeralen Reaktionen auf die Gefahr abklingen.

Der Neurowissenschaftler Paul MacLean, der die weiter oben vorgestellte Beschreibung des Gehirns als einer dreiteiligen Struktur entwickelt hat, verglich die Beziehung zwischen rationalem und emotionalem Gehirn mit der zwischen einem mehr oder weniger kompetenten Reiter und seinem widerspenstigen Pferd. 14 Solange das Wetter gut ist und der Weg eben verläuft, kann der Reiter das Gefühl aufrechterhalten, die Situation sehr gut unter Kontrolle zu haben. Doch bei plötzlichen, unerwarteten Geräuschen oder Gefährdungen durch andere Tiere kann sein Pferd »durchgehen«, was ihn zwingt, sich gut festzuklammern. Etwas Ähnliches passiert, wenn Menschen das Gefühl haben, es gehe um ihr nacktes Überleben, oder wenn sie von Wut, Angst oder starkem sexuellem Verlangen ergriffen werden: Sie hören dann nicht mehr auf die Stimme der Vernunft, und es hat keinen Sinn, mit ihnen zu debattieren. Wenn das limbische System zu der Einschätzung gelangt, dass es in einer Situation um Leben oder Tod geht, werden die Verbindungen zwischen den Frontallappen und dem limbischen System extrem unzuverlässig.

Psychologen versuchen oft, Menschen zu helfen, ihr Verhalten mithilfe von Einsicht und Verstehen zu beeinflussen. Doch die neurowissenschaftliche Forschung hat gezeigt, dass nur wenige psychische Probleme auf unzureichendem Verstehen basieren, dass die meisten vielmehr durch Druck aus tieferen Gehirnregionen entstehen, die unsere Wahrnehmung und Aufmerksamkeit steuern. Wenn die Alarmglocke des emotionalen Gehirns immer wieder eine Gefahr signalisiert, bringt keine noch so tiefe Einsicht sie zum Verstummen. Ich erinnere mich an ein Comedy-Programm, in dem jemand, der siebenmal an einem »Wut-Management«-Programm teilgenommen hatte, die Techniken, die er dort gelernt hatte, in den höchsten Tönen lobte: »Sie sind wirklich hervorragend und funktionieren unglaublich gut – solange man nicht so richtig wütend wird.«

Wenn das emotionale und das rationale Gehirn sich in einem Konflikt befinden (beispielsweise wenn wir auf jemanden, den wir lieben, wütend sind; wenn wir uns vor jemandem fürchten, von dem wir abhängig sind; oder wenn wir uns von jemandem sexuell angezogen fühlen, der für uns tabu ist), kommt es zu einer Art Tauziehen, das hauptsächlich im Bereich der viszeralen Empfindungen stattfindet – im Bauch, im Herzen und in der Lunge – und das sowohl körperliches als auch psychisches Unbehagen hervorruft. In Kapitel 6 werden wir uns damit beschäftigen, wie Gehirn und Viszera in sicheren und gefährlichen Situationen interagieren, weil dies der Schlüssel zum Verständnis der vielen körperlichen Ausdrucksformen von Traumata ist.

Ich möchte dieses Kapitel mit der Untersuchung von zwei Gehirnscans beenden, die einige zentrale Merkmale von traumabedingtem Stress veranschaulichen: Wiedererleben ohne Zeitbezug; erneutes Erleben von Vorstellungsbildern, Geräuschen und Emotionen; Dissoziation.

Was Stans und Utes Gehirne uns über Traumata lehren

An einem schönen Septembermorgen im Jahre 1999 brachen Stan und Ute Lawrence, beide Freiberufler in den Vierzigern, von ihrem Heim in London, Ontario, auf, um in Detroit an einer Geschäftsbesprechung teilzunehmen. Auf halber Strecke zu ihrem Ziel trafen sie völlig unerwartet auf eine dichte Nebelwand, die ihnen in einem Sekundenbruchteil völlig die Sicht nahm. Stan trat augenblicklich scharf auf die Bremse, sodass sein Auto zur Seite gedreht auf dem Highway zum Stillstand kam, wodurch es einem Zusammenstoß mit einem riesigen Laster nur knapp entging. Ein Sattelschlepper rammte das Heck des Wagens, und nachfolgende Kleintransporter und Pkw s fuhren ebenfalls auf und schoben sich ineinander. Menschen, die an der Unfallstelle aus ihren Fahrzeugen stiegen und um ihr Leben liefen, wurden angefahren. Die ohrenbetäubenden Aufprallgeräusche nahmen kein Ende – und bei jedem neuen Stoß, der Stans und Utes Auto von hinten traf, hatten sie das Gefühl, dieser werde sie töten. Sie waren in Auto Nummer dreizehn einer Massenkarambolage von insgesamt 87 Fahrzeugen gefangen, der schlimmsten Unfallkatastrophe der kanadischen Geschichte. 15

Eine gespenstische Stille folgte. Stan bemühte sich, die Türen und Fenster des Fahrzeugs zu öffnen, doch der Sattelschlepper, der ihr Heck eingedrückt hatte, stand so ungünstig, dass dies unmöglich war. Plötzlich hämmerte jemand auf das Dach ihres Wagens. Ein Mädchen schrie: »Holt mich hier raus, ich verbrenne!« Stan und Ute sahen sie im brennenden Auto sterben, ohne etwas tun zu können. Das Nächste, woran sie sich erinnerten, war, dass ein Lastwagenfahrer mit einem Feuerlöscher auf der Motorhaube ihres Wagens stand. Er zertrümmerte die Windschutzscheibe, um sie zu befreien, und Stan kletterte durch die Öffnung. Als er sich umdrehte, um seiner Frau zu helfen, sah er Ute erstarrt auf ihrem Sitz. Gemeinsam mit dem Lastwagenfahrer hob Stan sie aus dem Fahrzeug, und ein Rettungswagen brachte sie in eine Notaufnahme. Abgesehen von ein paar Schnittwunden waren beide körperlich unverletzt geblieben.

Als sie am Abend wieder zu Hause waren, wollten sie sich beide nicht zum Schlafen hinlegen. Sie hatten das Gefühl, wenn sie sich entspannten, würden sie sterben. Sie waren reizbar und sprunghaft. An diesem und vielen folgenden Abenden tranken sie ziemlich viel Wein, um ihre Angst zu betäuben. Sie schafften es nicht, die Bilder, von denen sie verfolgt wurden, zu unterdrücken, und es gelang ihnen auch nicht, die immer wieder auftauchenden Fragen zum Schweigen zu bringen: Was wäre, wenn sie früher losgefahren wären? Was, wenn sie nicht angehalten hätten, um zu tanken? Nachdem dies drei Monate lang so weitergegangen war, wendeten sie sich an Dr. Ruth Lanius, eine Psychiaterin, die an der University of Western Ontario arbeitete.

Dr. Lanius, die ein paar Jahre vorher meine Studentin am Trauma Center gewesen war, erklärte Stan und Ute, sie wolle sich vor Beginn einer Behandlung ihre Gehirne auf einem fMRT -Scan anschauen. Dieses Verfahren misst die neuronale Aktivität, indem es Veränderungen der Durchblutung im Gehirn misst, und anders als der PET -Scan spielt bei diesem Verfahren Radioaktivität keine Rolle. Dr. Lanius benutzte das gleiche Scriptdriven-Imagery -Verfahren, das wir auch an der Harvard University benutzt hatten, um Vorstellungsbilder, Geräusche und Gerüche zu evaluieren, die Stan und Ute erlebt hatten, als sie am Unfallort in ihrem Auto gefangen gewesen waren.

Stan machte den Anfang und erlebte sofort einen Flashback, genauso wie es Marsha in unserer Harvard-Studie ergangen war. Er kam schwitzend aus dem Scanner, mit stark erhöhtem Herzschlag und sehr hohem Blutdruck. Er berichtete: »Genau so habe ich mich während des Unfalls gefühlt. Ich war mir sicher, dass ich sterben würde, und ich konnte nichts tun, um dies zu verhindern und mich zu retten.« Statt sich an den Unfall als etwas zu erinnern, das vor drei Monaten passiert war, hatte er die ganze Situation noch einmal erlebt.

Dissoziation und Wiedererleben

Dissoziation ist die Essenz des Traumas. Das überwältigende Erlebnis wird abgespalten und aufgeteilt, sodass die Emotionen, Geräusche, Bilder, Gedanken und physischen Empfindungen, die mit dem Trauma verbunden sind, ein Eigenleben zu führen beginnen. Die sensorischen Erinnerungsfragmente dringen in die Gegenwart ein und werden buchstäblich wieder erlebt. Solange das Trauma noch nicht aufgelöst ist, bleiben die Stresshormone, die der Körper zu seinem Schutz produziert, aktiv, und die defensiven Augenblicke und emotionalen Reaktionen der ursprünglichen traumatischen Situation wiederholen sich unablässig. Im Gegensatz zu Stan sind sich allerdings viele Menschen der Verbindung zwischen ihren »verrückten« Gefühlen und Reaktionen und den reinszenierten traumatischen Erlebnissen gar nicht bewusst. Ihnen ist völlig schleierhaft, warum sie auf die kleinste Reizung so reagieren, als stehe ihre physische Vernichtung unmittelbar bevor.

Flashbacks und Reinszenierungen sind in einem gewissen Sinne schlimmer und schwerer zu ertragen als das Trauma selbst. Ein traumatisches Ereignis hat einen Anfang und ein Ende – und folglich ist es irgendwann vorüber. Doch bei Menschen mit einer PTBS kann jederzeit ein Flashback auftreten, ganz gleich, ob sie gerade wach sind oder schlafen. Man kann nicht vorhersehen, wann dies wieder passieren oder wie lange solch eine Situation dauern wird. Menschen, die unter Flashbacks leiden, organisieren ihr Leben oft so, dass sie sich vor diesen Erlebnissen möglichst gut schützen können. Manchmal gehen sie wie unter Zwang zum Fitnesstraining und stemmen Gewichte (haben aber trotzdem weiterhin das Gefühl, nicht stark genug zu sein), betäuben sich mit Drogen oder versuchen, das illusionäre Gefühl zu entwickeln, in sehr gefährlichen Situationen die Kontrolle zu behalten (beispielsweise in Motorradrennen, beim Bungee-Springen oder bei der Arbeit als Fahrer eines Rettungsfahrzeugs). Der ständige Kampf gegen unsichtbare Gefahren wirkt erschöpfend und lässt sie kraftlos, deprimiert und müde zurück.

Wenn sich Elemente eines erlebten Traumas immer wieder bemerkbar machen, prägen die bei diesen Anlässen ausgeschütteten Stresshormone die Erinnerungen immer tiefer in den Geist ein. Ereignisse des normalen Alltagslebens treten dann zunehmend in den Hintergrund. Weil sie sich auf das Geschehen in ihrer Umgebung nicht einlassen können, fühlen sie sich nie völlig lebendig. Es fällt ihnen auch schwerer als anderen Menschen, die Freuden und Mühen des Alltagslebens zu spüren oder sich auf eine aktuelle Aufgabe zu konzentrieren. Weil solche Menschen nicht völlig in der Gegenwart präsent sind, bleiben sie umso stärker der Vergangenheit verhaftet.

Durch Trigger hervorgerufene Reaktionen kommen auf unterschiedliche Weisen zum Ausdruck. Veteranen reagieren oft auf das kleinste Alarmsignal – wenn sie beispielsweise auf der Straße über ein Schlagloch fahren oder ein Kind spielen sehen –, als befänden sie sich noch in der Kriegssituation. Sie erschrecken sehr leicht und werden dann entweder wütend oder erstarren. Menschen, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurden, betäuben ihre Sexualität manchmal völlig und verspüren starke Scham, wenn sie durch Empfindungen oder Bilder, die sie an ihre Missbrauchserlebnisse erinnern, gegen ihren Willen erregt werden – auch wenn das, was sie verspüren, die mit bestimmten Körperteilen assoziierten natürlichen Freuden sind. Werden Traumatisierte gezwungen, über ihre traumatischen Erlebnisse zu sprechen, steigt bei manchen der Blutdruck, während andere unter einer Migräne leiden. Wieder andere ziehen sich in solchen Fällen emotional völlig zurück und spüren für Unbeteiligte offensichtliche Veränderungen gar nicht. In einer Laborsituation können wir die Beschleunigung des Herzschlags und die Verstärkung der Produktion von Stresshormonen im Körper problemlos feststellen.

Solche Reaktionen sind irrational und können von den Betroffenen in der Regel nicht beeinflusst werden. Starke und kaum kontrollierbare Dränge und Emotionen bewirken, dass die Betroffenen sich verrückt fühlen oder sogar glauben, nicht der menschlichen Spezies anzugehören. Wenn Menschen während der Geburtstagsparty eines eigenen Kindes nichts empfinden oder beim Tod eines Menschen, den sie geliebt haben, keine Reaktion erkennen lassen, fühlen sie sich wie Ungeheuer. Zu ihrer vorherrschenden Emotion wird dann die Scham, und ihr vorrangiges Bestreben ist, die Wahrheit möglichst gut zu verbergen.

Menschen in einem solchen Zustand sind so gut wie nie mit dem Grund ihrer Selbstentfremdung in Kontakt. Dies ist der Punkt, an dem eine Therapie helfen kann, denn sie ermöglicht, die durch das traumatische Erlebnis entstandenen Emotionen zu spüren und sich in der gegenwärtigen Situation zu beobachten. Im Grunde geht es jedoch darum, dass das Gefahren wahrnehmende System des Gehirns verändert wurde und dass die körperlichen Reaktionen der Betroffenen dem Einfluss von in der Vergangenheit entstandenen Prägungen unterliegen.

Das Trauma, das »da draußen« begann, wird nun auf dem Schlachtfeld im eigenen Körper weitergespielt, gewöhnlich ohne bewusste Verbindung zwischen dem, was damals geschah, und dem, was im Moment im eigenen Inneren geschieht. Es geht weniger darum, dass man lernt, die schrecklichen Dinge, die geschehen sind, zu akzeptieren, sondern darum, die eigenen inneren Empfindungen und Emotionen zu meistern. Spüren, Benennen und Erkennen, was in uns vor sich geht, ist der erste Schritt auf dem Weg zur Genesung.

Der Rauchmelder wechselt in einen höheren Gang

Stans Gehirn-Scan zeigt, dass bei ihm in diesem Moment ein Flashback stattfindet. So sieht es im Gehirn von Menschen aus, die ein Trauma wieder erleben: Der helle Bereich in der Ecke unten rechts, der überblendete Bereich unten links und die vier symmetrischen weißen Löcher, die das Zentrum der Aufnahme umgeben, deuten darauf hin. (Vielleicht erkennen Sie auch die aufleuchtende Amygdala und den »abgeschalteten« Bereich in der linken Hirnhälfte aus der in Kapitel 3 vorgestellten Harvard-Studie wieder.) Stans Amygdala konnte nicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden. Sie wurde so aktiviert, als fände der Autounfall im Scanner statt, und es wurden die gleichen großen Mengen von Stresshormonen ausgeschüttet und die gleichen Reaktionen des Nervensystems ausgelöst. Diese Reaktionen waren der Grund für das Schwitzen und Zittern des Patienten, für die stark erhöhte Herzfrequenz und für den hohen Blutdruck: alles völlig normale und möglicherweise lebensrettende Reaktionen, wenn soeben ein Lastwagen auf das eigene Auto aufgefahren ist.

Ein gut funktionierender Rauchmelder ist sehr wichtig. Schließlich möchte niemand ohne es zu merken einem Brand zum Opfer fallen. Aber wenn man beim Geruch von Rauch jedes Mal in Panik verfällt, wirkt das im normalen Alltagsleben ziemlich störend. Natürlich müssen wir mitbekommen, ob jemand auf uns wütend ist, aber wenn unsere Amygdala übertrieben stark reagiert, kann es passieren, dass wir ständig in Angst sind, andere Menschen könnten uns hassen, oder dass wir das Gefühl haben, alle anderen hätten uns »auf dem Kieker«.

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fMRT-Darstellung eines Flashbacks. Man beachte, dass auf der rechten Seite wesentlich stärkere Aktivität stattfindet als auf der linken.

Ausfall des Zeitmessers

Stan und Ute waren seit ihrem Unfall hypersensibel und sehr reizbar. Dies deutete auf Schwierigkeiten ihres Präfrontalkortex hin, unter Stress die Kontrolle aufrechtzuerhalten. Stans Flashback löste eine noch extremere Reaktion aus.

Die beiden weißen Bereiche am vorderen Teil des Kopfes (oben auf dem Bild) sind der rechte und linke dorsolaterale Präfrontalkortex. Sind diese Bereiche deaktiviert, verlieren die Betroffenen das Zeitempfinden und sind im Augenblick gefangen, ohne jedes Gefühl für Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. 16

Zwei Gehirnsysteme sind für die mentale Verarbeitung von Traumata wichtig, nämlich diejenigen, die für die Regulierung der Intensität von Emotionen und für die Einschätzung des Kontexts zuständig sind. Die Emotionsintensität wird durch den »Rauchmelder«, die Amygdala, und ihren Gegenspieler, den »Wachturm«, den medialen Präfrontalkortex, erfasst. Kontext und Bedeutung eines Erlebnisses obliegen dem System, das den dorsolateralen Präfrontalkortex (DLPFK ) und den Hippocampus umfasst. Der DLPFK liegt an der Vorderseite des Gehirns seitlich, der MPFK im Zentrum der Vorderseite. Die Strukturen an der Mittellinie des Gehirns vermitteln das innere Selbsterleben, die an der Seite unsere Beziehung zu unserer Umgebung.

Der DLPFK teilt uns mit, in welcher Beziehung unser gegenwärtiges Erleben zur Vergangenheit steht und wie es die Zukunft beeinflussen könnte – man kann sich diesen Bereich als den »Zeitmesser« des Gehirns vorstellen. Das Wissen, dass alles, was passiert, endlich ist und somit früher oder später enden wird, macht die meisten Erlebnisse erträglich. Das Gegenteil trifft ebenfalls zu – wir empfinden Situationen als unerträglich, wenn wir annehmen, dass sie niemals enden werden. Die meisten von uns wissen aufgrund trauriger Erlebnisse, dass entsetzlicher Kummer gewöhnlich mit dem Gefühl verbunden ist, dieser elende Zustand werde nie enden und wir würden unseren Verlust nie überwinden. Ein Trauma ist die schlimmste Art zu erleben, dass etwas »nie enden wird«.

Stans Scan zeigt, warum Menschen nur dann von einem Trauma genesen können, wenn die Gehirnstrukturen, die während des ursprünglichen Erlebnisses ausgeschaltet wurden – weshalb das Ereignis vom Gehirn überhaupt als Trauma registriert wird –, wieder voll funktionsfähig sind. Besuche in der Vergangenheit sollten in der Therapie in einer Situation stattfinden, in der die Patienten im biologischen Sinne fest in der Gegenwart verwurzelt sind und sich möglichst ruhig, sicher und geerdet fühlen. (»Geerdet« bedeutet, dass man das eigene Gesäß auf dem Stuhl, auf dem man sitzt, spürt, dass man das Licht durch das Fenster kommen sieht, dass man die Anspannung in den Waden spürt und hört, wie der Wind den Baum vor dem Haus durchrüttelt.) Ist man in der Gegenwart verwurzelt, während man sich ein Trauma vergegenwärtigt, erschließt man sich Möglichkeiten tiefen Wissens darum, dass die entsetzlichen Ereignisse, die man erlebt hat, der Vergangenheit angehören. Dies ist aber nur möglich, wenn der Wachturm, der Koch und der Zeitmesser des Gehirns ihre Funktionen erfüllen. Eine Therapie kann so lange nicht zum Erfolg führen, wie Patienten immer wieder in ihre Vergangenheit zurückgezogen werden.

Der Thalamus schaltet ab

Wenn Sie sich den Scan von Stans Flashback noch einmal genau anschauen, finden Sie dort noch zwei weitere weiße Löcher in der unteren Hälfte der Darstellung. Dabei handelt es sich um den rechten und linken Thalamus – der während des Flashbacks ebenso ausgeschaltet wird, wie er es während des ursprünglichen traumatischen Erlebnisses war. Wie ich bereits sagte, fungiert der Thalamus als »Koch« – als eine Art Schaltstation, die Wahrnehmungen der Ohren und Augen und der Haut sammelt und sie in die »Suppe« integriert, die unser autobiografisches Gedächtnis ist. Der Ausfall des Thalamus erklärt, warum Traumata primär nicht als Geschichte erinnert werden, als Erzählung mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende, sondern als isolierte sensorische Eindrücke: in Form von Bildern, Geräuschen und physischen Empfindungen, die mit starken Emotionen verbunden sind, meist solchen des Schreckens und der Hilflosigkeit. 17

Unter normalen Umständen fungiert der Thalamus auch als Filter oder Torhüter. Dadurch wird er zu einer zentralen Komponente von Aufmerksamkeit und Konzentration sowie des Erlernens von Neuem – die durch ein Trauma beeinträchtigt werden. Während Sie hier sitzen und lesen, hören Sie vielleicht im Hintergrund Musik oder den Verkehr auf der Straße, oder Sie spüren ein leichtes »Nagen« im Bauch, das Ihnen signalisiert, dass die Zeit für einen Snack gekommen ist. Wenn es Ihnen gelingt, auf den Text dieser Seite fokussiert zu bleiben, hilft Ihr Thalamus Ihnen, relevante Sinnesinformationen von unwichtigen zu unterscheiden, die Sie gefahrlos ignorieren können. In Kapitel 19, in dem es um Neurofeedback geht, werde ich auf einige Tests zu sprechen kommen, die wir benutzen, um zu messen, wie gut dieses Prüfsystem seine Aufgaben erfüllt und wie man es stärken kann.

Bei Menschen mit einer PTBS sind die Schleusentore weit geöffnet. Weil ihr Wahrnehmungsfilter nicht richtig funktioniert, befinden sie sich ständig in einem Zustand sensorischer Überlastung. Um mit dieser Situation fertigzuwerden, versuchen sie, sich zu verschließen, und sie entwickeln einen Tunnelblick und eine Hyperfokussierung. Gelingt es ihnen nicht, sich ohne Hilfsmittel zu verschließen, greifen sie manchmal zu Drogen oder Alkohol, um die Welt von sich fernzuhalten. Das Tragische ist, dass der Preis für dieses Sich-Verschließen unter anderem im Ausfiltern von Quellen der Freude besteht.

Depersonalisation: Sich von sich selbst abspalten

Wir werden uns nun anschauen, wie es Ute unter dem Scanner erging. Nicht alle Menschen reagieren auf Traumata genau gleich; doch der Unterschied zwischen diesen beiden Partnern war besonders auffällig, denn Ute hatte im Unfallwagen direkt neben Stan gesessen. Sie reagierte auf ihr Traumaskript mit völligem Abschalten ihres Geistes. In fast allen Bereichen ihres Gehirns war die Aktivität stark verringert. Herzfrequenz und Blutdruck stiegen nicht an. Und auf die Frage, wie sie sich während des Scans gefühlt habe, antwortete sie: »Ich habe mich genauso gefühlt wie während des Unfalls: Ich habe überhaupt nichts gespürt.«

Der medizinische Begriff für Utes Reaktion ist Depersonalisation . 18 Jeder, der mit traumatisierten Männern, Frauen und Kindern zu tun hat, wird früher oder später mit völlig ausdruckslosen Blicken und vollständiger Geistesabwesenheit konfrontiert, den äußeren Manifestationen der biologischen Erstarrungsreaktion. Depersonalisation ist ein Symptom der massiven Dissoziation, zu der es durch ein Trauma kommt. Stans Flashback war auf das Misslingen seiner Bemühungen, dem Unfall zu entfliehen, zurückzuführen – durch das Skript reaktiviert, strömten alle seine dissoziierten, fragmentierten Empfindungen und Emotionen in die Gegenwart. Doch Ute hatte, statt zu kämpfen, um der Situation zu entfliehen, ihre Angst dissoziiert und fühlte deshalb nichts.

Ich erlebe das Phänomen der Depersonalisation regelmäßig in meiner Praxis, wenn Patienten mir entsetzliche Geschichten erzählen, offensichtlich ohne auch nur das Geringste dabei zu empfinden. Es ist dann, als würde die gesamte Energie aus dem Raum gesaugt, und ich muss mich sehr bemühen, meine Aufmerksamkeit auf den Bericht zu konzentrieren. Ein lebloser Patient zwingt mich, wesentlich härter zu arbeiten, um die Therapie lebendig zu erhalten, und ich habe oft darum gebetet, dass solche Therapiesitzungen schnell vorübergehen mögen.

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Völliges Abschalten (Dissoziation) in Reaktion auf die Erinnerung an ein erlebtes Trauma. In diesem Fall ist die Aktivität fast aller Gehirnbereiche verringert, was das Denken, die Fähigkeit zu fokussieren und die Orientierung beeinträchtigt.

Nachdem ich Utes Scan gesehen hatte, veränderte ich meinen Umgang mit stark dissoziierten Patienten völlig. Weil bei ihnen fast das gesamte Gehirn »abgeschaltet« ist, können sie nicht denken, spüren keine tiefen Gefühle, erinnern sich nicht und können dem, was geschieht, keinen Sinn abgewinnen. Eine »Redetherapie« im herkömmlichen Sinne ist unter diesen Umständen ziemlich nutzlos.

In Utes Fall gab es Grund zu vermuten, warum sie auf das Trauma so völlig anders als Stan reagierte. Die Überlebensstrategie, die sie genutzt hatte, hatte ihr Gehirn in ihrer Kindheit erlernt, um mit der Härte ihrer Mutter fertigzuwerden. Utes Vater war gestorben, als sie neun Jahre alt gewesen war, und ihre Mutter hatte sie nach seinem Tod oft ziemlich gemein und herabwürdigend behandelt. Irgendwann hatte Ute entdeckt, dass sie ihren Geist »abschalten« konnte, wenn ihre Mutter sie wieder einmal anbrüllte. 35 Jahre danach, in ihrem demolierten Auto gefangen, hatte Utes Gehirn in den Überlebensmodus umgeschaltet, den sie schon benutzt hatte, um sich gegen ihre Mutter zur Wehr zu setzen – sie »ließ sich verschwinden«.

Menschen wie Ute müssen wieder wach werden und Engagement entwickeln; dies mag ihnen schwerfallen, aber sie müssen es schaffen, wenn sie ihr Leben wieder selbst steuern wollen. (Ute ist dies schließlich gelungen, sie hat ein Buch über ihre Erlebnisse geschrieben und verlegt nun eine Zeitschrift mit Namen Mental Fitness .) In diesem Zusammenhang ist der Bottom-up -Ansatz therapeutischer Arbeit wichtig. Er zielt darauf, die Physiologie des Patienten, seine Beziehung zu seinen Körperempfindungen zu verändern. Im Trauma Center arbeiten wir an so grundlegenden physiologischen Faktoren wie der Herzfrequenz und dem Atemmuster. Wir bringen unseren Patienten bei, bestimmte Körperempfindungen hervorzurufen, indem sie bestimmte Akupressur-Punkte 19 beklopfen. Auch rhythmische Interaktionen mit anderen Menschen sind von Nutzen – beispielsweise das Hin- und Herwerfen eines Strandballs, das Hüpfen auf einem Pilates-Ball sowie das Trommeln oder Tanzen zu Musik.

Taubheitsempfindungen sind die andere Seite einer PTBS . Viele unbehandelte Traumatisierte erleben wie Stan anfangs explosive Flashbacks und werden später empfindungslos. Obgleich das Wiedererleben eines Traumas dramatisch, beängstigend und manchmal sogar selbstzerstörerisch ist, kann ein völliger Mangel an mentaler Präsenz über längere Zeit noch schädlicher sein. Dieses Problem spielt bei traumatisierten Kindern eine besonders große Rolle. Ausagierende Kinder ziehen die Aufmerksamkeit auf sich; um »abschaltende« Kinder hingegen kümmert sich niemand, weil sie nicht stören, und weil sie meist unbemerkt bleiben, verlieren sie allmählich ihre Zukunft.

Lernen, in der Gegenwart zu leben

Die Schwierigkeit einer Traumabehandlung liegt nicht nur darin, dass man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen muss, sondern noch stärker in der Notwendigkeit, die Qualität des alltäglichen Erlebens zu verbessern. Traumatische Erinnerungen erlangen im Falle einer PTBS unter anderem deshalb die Vorherrschaft, weil es den Patienten so schwerfällt, sich im gegenwärtigen Augenblick lebendig zu fühlen. Wenn Menschen sich hier und jetzt nicht völlig lebendig fühlen können, suchen sie Orte auf, wo sie sich einmal lebendig gefühlt haben – auch wenn dort Entsetzen und Elend auf sie warten.

Viele Ansätze zur Behandlung von traumatischem Stress konzentrieren sich darauf, die Patienten bezüglich ihrer Vergangenheit zu desensibilisieren, wobei man erwartet, dass die erneute Konfrontation mit Traumata ihre emotionalen Ausbrüche und Flashbacks verringern wird. Meiner Meinung nach basiert dieser Ansatz auf einem Missverständnis dessen, was bei traumatischem Stress geschieht. Wir müssen unseren Patienten vor allem beibringen, voll und ganz und vor allem sicher in der Gegenwart zu leben. Damit sie dies schaffen, müssen wir ihnen helfen, die Gehirnstrukturen, die während des traumatischen Erlebnisses »abgeschaltet« wurden, zu reaktivieren. Eine Desensibilisierung mag die Reaktivität Traumatisierter verringern, aber sie macht sie in ihrem Alltag nicht zufriedener – wenn sie spazieren gehen, sich etwas zu essen kochen oder mit ihren Kindern spielen –, sodass das Leben ungenutzt an ihnen vorüberzieht.