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Im Leben geht es um Rhythmus. Wir vibrieren, und unser Herz pumpt Blut durch den Körper. Wir sind nichts anderes als eine Rhythmusmaschine.

Mickey Hart

Gegen Ende seiner beruflichen Tätigkeit, im Jahre 1872, veröffentlichte Charles Darwin sein Buch Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren . 1 Bis vor kurzer Zeit beschränkten sich die meisten wissenschaftlichen Diskussionen über Darwins Theorien auf seine beiden Bücher Die Entstehung der Arten (1859) und Die Abstammung des Menschen (1871). Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen ist, wie man mittlerweile erkannt hat, eine faszinierende Untersuchung über die Grundlagen der Emotionen und enthält zahlreiche Beobachtungen und Anekdoten aus jahrzehntelangen Untersuchungen sowie private Geschichten über Darwins Kinder und Haustiere. Außerdem repräsentiert dieses Buch einen Meilenstein der Buchillustration, und es ist eines der ersten Bücher, in denen Fotografien abgedruckt wurden. (Die Fotografie war zu jener Zeit eine noch relativ neue Technik, und wie die meisten Wissenschaftler wollte auch Darwin die neuesten technischen Möglichkeiten nutzen, um seine Ideen verständlich zu machen.) Das Buch ist auch heute noch im Handel, und eine neue englischsprachige Ausgabe enthält eine ausgezeichnete Einführung von Paul Ekman, einem Pionier der Emotionsforschung in unserer Zeit.

Darwin beginnt seine Erörterung mit einer Beschreibung der Organisationsaspekte des physischen Körpers, die alle Säugetiere einschließlich des Menschen miteinander gemein haben – der Lunge, der Nieren, des Gehirns, der Verdauungsorgane und der Sexualorgane, die alle das Leben erhalten und seinen Fortbestand sichern. Obwohl viele heutige Wissenschaftler Darwin Anthropomorphismus vorwerfen würden, erweist er sich als wahrer Tierliebhaber, wenn er schreibt: »Ich glaube, es ist nun gezeigt worden, daß der Mensch und die höheren Thiere, besonders die Primaten, einige wenige Instinkte gemeinsam haben. Alle haben dieselben Sinneseindrücke und Empfindungen, ähnliche Leidenschaften, Affekte und Erregungen, selbst die complexeren, wie Eifersucht, Verdacht, Ehrgeiz, Dankbarkeit und Großherzigkeit.« 2 Er beobachtet, dass wir Menschen einige der physischen Anzeichen für Emotionen mit Tieren gemeinsam haben. Wenn wir das Gefühl haben, dass die Haare an unserem Hinterkopf sich sträuben, weil wir Angst haben, oder wenn wir die Zähne blecken, weil wir wütend sind, können dies nur Relikte eines langen Entwicklungsprozesses sein.

Nach Darwins Auffassung wurzeln die Emotionen von Säugetieren grundsätzlich in deren Biologie: Sie sind unentbehrlich, weil sie die Motivation zur Ausführung einer Handlung beinhalten. Emotionen (vom lateinischen Wort emovere = hinausbewegen) geben allem, was wir tun, Form und Richtung und kommen primär durch die Muskeln des Gesichts und des ganzen Körpers zum Ausdruck. Aufgrund der Muskelbewegungen des Kopfes und des gesamten Körpers können andere Menschen unsere mentale Verfassung und unsere Absichten erkennen: Ausdrucksformen, die auf Wut hindeuten, und bedrohlich wirkende Körperhaltungen veranlassen sie dazu, sich von uns zu entfernen. Traurigkeit hingegen weckt fürsorgliche Impulse und Aufmerksamkeit. Furcht kann Hilflosigkeit signalisieren oder uns auf eine potenzielle Gefahr aufmerksam machen.

Wir können die Dynamik zwischen zwei Menschen instinktiv »lesen«, indem wir darauf achten, ob sie angespannt oder entspannt sind, in welcher Haltung sie sich befinden, wie ihre Stimme klingt und was uns ihr Gesichtsausdruck verrät. Schauen Sie sich einmal einen Film in einer Ihnen unbekannten Sprache an. Sie werden merken, dass Sie auch ohne Worte erraten können, welcher Art die Beziehung zwischen den Akteuren ist. Ebenso können wir oft auch das Verhalten anderer Säugetiere (z. B. das von Affen, Hunden oder Pferden) »lesen«.

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»Wenn ein Mensch einen anderen verhöhnt oder beissig anfährt, wird dann der Winkel der Oberlippe über dem Hunds- oder Augenzahn auf der Seite erhoben, auf welcher der so angeredete Mensch sich findet?« (Darwin: Gemüthsbewegungen, S. 16, Frage 7 )

Darwin beobachtet weiter, dass der wichtigste Zweck der Emotionen darin besteht, eine Bewegung zu initiieren, welche die Sicherheit und die physische Balance des Organismus (ob den eines Menschen oder den eines Tiers) wiederherstellt. Folgendes sagt Darwin über den Ursprung dessen, was wir heute PTBS nennen würden:

Verhaltensweisen, die der Vermeidung von Gefahr oder der Flucht vor ihr dienen, wurden eindeutig entwickelt, um jedem Organismus das Überleben zu ermöglichen. Unverhältnismäßig lange anhaltendes Flucht- oder Vermeidungsverhalten ist jedoch für das Tier von Nachteil, weil zur Erhaltung der Art die Fortpflanzung erforderlich ist, die wiederum von der Sicherung ausreichender Nahrung, von Schutz und von Paarungsaktivitäten abhängig ist, die alle das Gegenteil von Vermeidung und Flucht beinhalten. 3 [Zitiert nach B. van der Kolk.]

Die gesamte Energie eines Organismus, der im Überlebensmodus verharrt, wird auf den Kampf gegen unsichtbare Feinde fokussiert, sodass für Nahrungsbeschaffung, fürsorgliches Verhalten und Liebe nichts übrig bleibt. Für uns Menschen bedeutet dies: Solange sich unser Geist gegen Angriffe unsichtbarer Feinde zur Wehr setzt, sind nicht nur unsere engsten Bindungen in Gefahr, sondern auch unsere Fähigkeit, uns etwas vorzustellen, zu planen, zu spielen, zu lernen und auf die Bedürfnisse anderer Menschen zu achten.

Darwin hat sich auch schon über die Verbindungen zwischen Körper und Gehirn geäußert, die bis heute nicht vollständig geklärt sind. An starken Emotionen ist nicht nur der Geist, sondern sind auch Bauch und Herz beteiligt: »Herz, Eingeweide und Gehirn kommunizieren intensiv über den ›pneumogastrischen‹ Nerv, der für den Ausdruck der Emotionen bei Menschen und Tieren besonders wichtig ist. Ist der Geist stark erregt, wirkt sich dies unmittelbar auf den Zustand der Viszera aus; deshalb finden im Zustand der Erregung zwischen diesen beiden besonders wichtigen Organen des Körpers viele Aktionen und Reaktionen statt.« 4 [Zitiert nach B. van der Kolk.]

Als ich diese Passage entdeckte, las ich sie mit wachsender Begeisterung immer wieder. Natürlich erleben wir unsere verheerendsten Emotionen als qualvolle Gefühle und als Herzenskummer. Solange wir Emotionen hauptsächlich im Kopf registrieren, können wir sie recht gut unter Kontrolle behalten, aber ein Gefühl, als würde unser Brustkorb einbrechen oder als hätte uns jemand einen Schlag in den Bauch versetzt, ist unerträglich. Wir tun in solchen Fällen alles, um die schrecklichen viszeralen Empfindungen zu unterbinden, ganz gleich, ob wir uns zu diesem Zweck an einen anderen Menschen klammern, ob wir Drogen oder Alkohol konsumieren oder ob wir uns mit einem Messer die eigene Haut aufritzen, um die überwältigenden Emotionen durch fassbare Empfindungen zu überspielen. Wie viele psychische Probleme, die in Form von Drogenabhängigkeit oder selbstschädigendem Verhalten zum Ausdruck gelangen, beginnen als Versuche, mit dem unerträglichen körperlichen Schmerz fertigzuwerden, den unsere Emotionen verursachen? Falls Darwin recht hatte, können wir diese Probleme nur lösen, wenn wir Möglichkeiten finden, Menschen zu helfen, die innere sensorische Landschaft ihres Körpers zu verändern.

Bis vor Kurzem wurde diese bidirektionale Kommunikation zwischen Körper und Geist von der westlichen Wissenschaft weitgehend ignoriert, obwohl sie seit Langem für die traditionellen Heilmethoden in vielen anderen Regionen der Welt – vor allem in Indien und China – von zentraler Bedeutung ist. Heute verändert diese Sicht unser Verständnis von Traumata und der Möglichkeiten, von ihnen zu genesen.

Ein Fenster zum Nervensystem

All die kleinen Zeichen, die wir im Laufe eines Gesprächs instinktiv registrieren – die Muskelbewegungen und Spannungen, die im Gesicht eines anderen Menschen zu erkennen sind, Augenbewegungen und Veränderungen der Pupillengröße, Sprechgeschwindigkeit und Tonhöhe der Stimme –, sowie die Fluktuationen in unserer inneren Landschaft – Speichelfluss, Schlucken, Atmung und Herzfrequenz – sind durch ein einziges Regulationssystem miteinander verbunden. 5 Sie alle sind ein Produkt der Synchronie zwischen den beiden Zweigen des autonomen Nervensystems (ANS ): des sympathischen Zweiges, der als »Gaspedal« des Körpers fungiert, und des parasympathischen Zweiges, seiner »Bremse«. 6 Dies sind die »Gegenteile«, von denen Darwin sprach, und zusammen sind sie für die Steuerung des Energieflusses im Körper sehr wichtig, wobei der eine Zweig für die Nutzung der Energie und der andere für ihre Konservierung zuständig ist.

Das sympathische Nervensystem (SNS ) ermöglicht eine Steigerung der Erregung einschließlich der Kampf-oder-Flucht-Reaktion (Darwins »Flucht- oder Vermeidungsverhalten«). Vor fast zweitausend Jahren gab der römische Arzt Galenus diesem Zweig den Namen »sympathisch«, weil er beobachtet hatte, dass seine Aktivität von Emotionen bestimmt wird (sym-pathos) . Das SNS befördert Blut in die Muskeln und ermöglicht so schnelles Handeln, teilweise, indem es die Nebennieren zur Ausschüttung von Adrenalin veranlasst, wodurch Herzfrequenz und Blutdruck erhöht werden.

Der zweite Zweig des ANS ist der parasympathische Zweig (PNS – das »gegen die Emotionen gerichtete« Nervensystem, das diejenigen Körperfunktionen fördert, die der Selbsterhaltung dienen, etwa die Verdauungsfunktion und die Wundheilung). Er aktiviert die Ausschüttung von Acetylcholin, was die Erregung unterbricht, die Herzfrequenz verlangsamt, die Muskeln entspannt und die Atmung normalisiert. Wie schon Darwin erklärte, sind »Nahrung, Schutz und Paarungsaktivitäten« vom PNS abhängig.

Man kann diese beiden Systeme auf eine sehr einfache Weise selbst erkunden: Bei jedem tiefen Atemzug wird das SNS aktiviert. Der dadurch hervorgerufene Adrenalinschub lässt das Herz schneller schlagen, was erklären könnte, warum so viele Sportler vor Beginn eines sportlichen Wettkampfs ein paarmal kurz, aber tief einatmen. Das Ausatmen aktiviert die PNS , was die Herzfrequenz verlangsamt. Wenn Sie an einem Yoga- oder Meditationskurs teilnehmen, fordert der Kursleiter Sie wahrscheinlich auf, besonders stark auf das Ausatmen zu achten, weil tiefes und langes Ausatmen beruhigend wirkt. Wenn wir atmen, wird unser Herzschlag ständig schneller und wieder langsamer, und das Zeitintervall zwischen zwei aufeinanderfolgenden Herzschlägen ist nie genau gleich. Mithilfe einer Maßeinheit mit Namen Herzratenvariabilität (HRV ) lässt sich die Flexibilität dieses Systems untersuchen, und eine gute HRV – je stärker die Fluktuationsfähigkeit, umso besser – zeigt an, dass »Bremse« und »Gaspedal« Ihres Arousalsystems gut funktionieren und in Balance sind. Als wir uns ein Gerät für die Messung der HRV anschafften, gelang uns ein wichtiger Durchbruch, und ich werde in Kapitel 16 erklären, wie wir die HRV für die PTBS -Behandlung nutzen können.

Der neuronale Liebescode 7

Im Jahre 1994 hat Stephen Porges, der als Forscher an der University of Maryland arbeitete, als wir mit unseren Untersuchungen über die HRV begannen, und der mittlerweile an der University of North Carolina lehrt, die Polyvagal-Theorie vorgestellt, die auf Darwins Beobachtungen basiert und den frühen Erkenntnissen dieses Autors diejenigen der wissenschaftlichen Forschung der folgenden 140 Jahre hinzugefügt hat. (Der Begriff polyvagal bezieht sich auf die verschiedenen Zweige des Vagusnervs – Darwins »pneumogastrischen Nerv« –, der zahlreiche Organe miteinander verbindet, darunter Gehirn, Lunge, Herz, Magen und Darm.) Die Polyvagal-Theorie ermöglicht uns ein differenzierteres Verständnis der biologischen Implikationen von Gefühlen der Sicherheit und Gefährdung, das dem subtilen Zusammenwirken der viszeralen Empfindungen unseres eigenen Körpers mit den Stimmen und Gesichtern der Menschen in unserer Umgebung Rechnung trägt. Sie erklärt, weshalb ein freundliches Gesicht oder eine beruhigend klingende Stimme sich stark auf unsere Gefühle auswirken kann. Sie lieferte die Begründung dafür, warum uns das Wissen, dass wir von Menschen, die uns wichtig sind, gesehen und gehört werden, ein Gefühl der Ruhe und Sicherheit vermitteln kann, wohingegen Ignoriertwerden oder Ablehnung eine Wutreaktion oder einen psychischen Zusammenbruch hervorrufen kann. Die Polyvagal-Theorie hat uns auch zu verstehen geholfen, warum uns eine fokussierte Form des Einklangs mit einem anderen Menschen aus desorganisierten und von Furcht geprägten Zuständen befreien kann. 8

Die von Porges entwickelte Theorie half uns, über die Auswirkungen von Kampf- und Fluchtreaktionen hinauszublicken und in den Mittelpunkt unserer Bemühungen, Traumata zu verstehen, die sozialen Beziehungen zu stellen. Sie wies uns auch den Weg zu neuen Heilungsmethoden, die das Körpersystem stärken, um den Erregungszustand regulieren zu können.

Menschen reagieren erstaunlich empfindlich auf subtile emotionale Veränderungen bei anderen Menschen (und bei Tieren) in ihrer Umgebung. Leichte Veränderungen hinsichtlich der Anspannung der Augenbrauen, der Runzeln um die Augen, der Rundung der Lippen und der Haltung des Halses signalisieren uns schnell, ob ein Gegenüber sich wohlfühlt, misstrauisch oder entspannt ist oder sich fürchtet. 9 Unsere Spiegelneuronen registrieren, was in anderen Menschen vor sich geht, und unser eigener Körper passt sich innerlich an das an, was wir bei anderen bemerken. Ebenso signalisieren die Muskeln unseres eigenen Gesichts anderen, wie ruhig oder begeistert wir uns fühlen, ob unser Herz rast oder ruhig ist und ob wir kurz davor sind, sie anzugreifen oder davonzulaufen. Wenn ein anderer Mensch uns signalisiert: »Du bist bei mir in Sicherheit«, entspannen wir uns. Haben wir in unserer Beziehung Glück, fühlen wir uns auch genährt, unterstützt und erfrischt, wenn wir in das Gesicht und die Augen unseres Partners schauen.

Unsere Kultur hält uns zur Konzentration auf unsere persönliche Einzigartigkeit an; doch in einem tieferen Sinne existieren wir als individuelle Organismen kaum. Unser Gehirn ist so aufgebaut, dass es uns helfen kann, unsere Funktionen als Mitglieder eines Stammes zu erfüllen. Wir gehören sogar dann diesem Stamm an, wenn wir allein sind, ganz gleich, ob wir Musik hören (die andere Menschen geschaffen haben), ob wir im Fernsehen ein Basketballspiel anschauen (wobei sich unsere eigenen Muskeln anspannen, wenn die Spieler laufen und springen) oder ob wir eine Tabellenkalkulation für eine Geschäftsbesprechung zusammenstellen (wobei wir die Reaktionen des Chefs voraussehen). Den größten Teil unserer Energie verwenden wir darauf, eine Verbindung zu anderen Menschen herzustellen und aufrechtzuerhalten.

Wenn wir einmal die Liste spezifischer Symptome außer Acht lassen, die mit bestimmten psychiatrischen Diagnosen verbunden sind, stellen wir fest, dass fast alles psychische Leiden in irgendeiner Form entweder etwas mit dem Aufbau funktionstüchtiger und befriedigender Beziehungen oder mit Problemen hinsichtlich der Regulierung von Erregungszuständen zu tun hat (wie es bei Menschen, die ständig Wutanfälle bekommen, sich verschließen, sich übermäßig aufregen oder ganz generell desorganisiert sind, der Fall ist). Meist liegt eine Kombination der beiden genannten Faktoren vor. Das übliche medizinische Prozedere, das sich auf die Suche nach dem richtigen Medikament zur Behandlung einer bestimmten »Störung« konzentriert, lenkt in der Regel von der Auseinandersetzung mit der Frage ab, wie unsere Probleme uns mit unserer Funktion als Mitglieder eines Stammes beeinträchtigen.

Sicherheit und Reziprozität

Vor einigen Jahren hörte ich, wie Jerome Kagan, ein angesehener emeritierter Professor für Kinderpsychologie von der Harvard University , zum Dalai Lama sagte, auf jede grausame Handlung in dieser Welt kämen Hunderte von kleinen Handlungen der Güte und der Verbundenheit. Sein Resümee lautete: »Gütig statt bösartig zu sein ist wahrscheinlich ein Wesensmerkmal unserer Spezies.« Die Fähigkeit, sich in Gegenwart anderer Menschen sicher zu fühlen, ist wohl der wichtigste Aspekt psychischer Gesundheit; sichere Beziehungen sind für ein sinnvolles und befriedigendes Leben wahrscheinlich unerlässlich. Aus zahlreichen Untersuchungen über Reaktionen auf Katastrophen geht hervor, dass soziale Unterstützung der wirksamste Schutz gegen die schädlichen Auswirkungen von Stress und Traumata ist.

Soziale Unterstützung ist nicht das Gleiche, wie einfach nur mit anderen Menschen zusammen zu sein. Der entscheidende Aspekt ist die Reziprozität : dass wir uns von den Menschen in unserer Umgebung wirklich gehört und gesehen fühlen, dass wir das Gefühl haben, ein anderer Mensch bewahrt uns in seiner Seele und in seinem Herzen. Wenn wir erreichen wollen, dass sich unser Körper beruhigt, dass er heilt und sich weiterentwickelt, müssen wir viszeral ein Gefühl der Sicherheit erleben. Kein Arzt kann Freundschaft und Liebe auf Rezept verschreiben: Sie zu entwickeln erfordert komplexe und schwer zu erlangende Fähigkeiten. Man braucht keine lange Vorgeschichte traumatischer Erlebnisse zu haben, um sich auf einer Party, auf der man mit vielen Fremden zusammentrifft, befangen zu fühlen oder sogar in Panik zu geraten – aber ein Trauma kann die ganze Welt in eine Begegnung mit Aliens verwandeln.

Viele Traumatisierte stellen fest, dass sie mit den Menschen in ihrer Umgebung kaum noch zurechtkommen. Einige finden Trost in Gruppen von Menschen, die Ähnliches wie sie erlebt haben, mit denen sie immer wieder ihre Kriegserlebnisse rekapitulieren können. Das Fokussieren auf die gemeinsame Traumavorgeschichte und die Viktimisierung lindern ihr schmerzhaftes Gefühl der Isolation; allerdings ist der Preis dafür in der Regel, dass sie ihre individuellen Unterschiede leugnen müssen: Mitglied einer solchen Gruppe kann man nur werden, wenn man sich einem verbindlichen Verhaltenskodex unterordnet.

Die Isolation in einer streng definierten Opfergruppe fördert eine Sicht, die andere Menschen als bestenfalls irrelevant und schlimmstenfalls gefährlich erscheinen lässt – was wiederum zu einer noch stärkeren Entfremdung führt. Gangs, extremistische politische Parteien und religiöse Kulte können Trost bieten, aber sie fördern kaum die mentale Flexibilität, die Menschen brauchen, um sich dem, was das Leben zu bieten hat, völlig zu öffnen, und deshalb können sie ihre Mitglieder nicht von ihren Traumata befreien. Menschen mit guter allgemeiner Funktionsfähigkeit können individuelle Unterschiede akzeptieren und das Menschsein anderer anerkennen.

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Die Verzweigungen des Vagusnervs. Der Vagusnerv (den Darwin pneumogastrischer Nerv nannte) registriert Kummer und quälende Gefühle. Reagiert ein Mensch aufgebracht auf etwas, wird seine Kehle trocken, seine Stimme klingt sehr intensiv, sein Herz schlägt schneller, und seine Atmung wird schnell und flach.

In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Erwachsenen und Kindern, die zu ängstlich oder zu verschlossen sind, um bei anderen Menschen Trost und Geborgenheit zu finden, eine Beziehung zu einem Tier helfen kann. Hunde und Pferde und sogar Delfine sind weniger komplizierte Gefährten als Menschen, können Menschen aber zu dem dringend erforderlichen Gefühl der eigenen Sicherheit verhelfen. Insbesondere Hunde und Pferde werden mittlerweile häufig bei der Behandlung von Gruppen von Traumatisierten eingesetzt. 10

Drei Ebenen der Sicherheit

Nach einem Trauma erleben Menschen die Welt mit einem veränderten Nervensystem, dessen Wahrnehmung von Gefahr und Sicherheit nicht mehr so ist wie vorher. Porges hat den Begriff Neurozeption geprägt, der die Fähigkeit bezeichnet, Gefahr und Sicherheit in der Umgebung einzuschätzen. Wenn wir Menschen mit einer defekten Neurozeption zu helfen versuchen, besteht die größte Schwierigkeit darin, Möglichkeiten zu finden, ihre Physiologie in den ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen, damit die Überlebensmechanismen ihr nicht mehr entgegenwirken können. Dies bedeutet, dass man Traumatisierten helfen muss, angemessen auf Gefahr zu reagieren; noch wichtiger ist allerdings, dass ihre Fähigkeit, Sicherheit, Entspannung und echte Reziprozität zu erleben, wiederhergestellt wird.

Ich habe sechs Patienten, die Flugzeugabstürze überlebt hatten, ausführlich befragt und behandelt. Zwei berichteten, sie hätten während des Unfalls das Bewusstsein verloren; sie seien zwar körperlich nicht verletzt worden, aber psychisch zusammengebrochen. Zwei waren in Panik verfallen und noch lange nach Beginn ihrer Behandlung bei mir in einem sehr aufgebrachten Zustand verblieben. Zwei waren ruhig und handlungsfähig geblieben und hatten geholfen, andere Passagiere aus dem brennenden Wrack zu retten. Ich habe ein ähnliches Spektrum unterschiedlicher Reaktionen bei Patienten, die vergewaltigt worden waren, einen Autounfall überlebt hatten oder gefoltert worden waren, vorgefunden. Im vorigen Kapitel wurden die völlig unterschiedlichen Reaktionsweisen von Stan und Ute bei der Reinszenierung ihres gemeinsam erlebten Autounfalls auf dem Highway beschrieben. Wie lässt sich diese Vielfalt der Reaktionen erklären? Reaktionen fokussierter Aktivität, des Zusammenbruchs und rasender, verzweifelter Aktivität?

Stephen Porges gibt mit seiner Theorie eine Antwort auf diese Frage: Das autonome Nervensystem kann drei grundlegende physiologische Zustände initiieren. Der Sicherheitsgrad einer Situation ist entscheidend dafür, welche der drei Reaktionsweisen zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiviert wird. Wenn wir uns bedroht fühlen, wenden wir uns instinktiv zunächst der ersten Reaktionsebene zu: der des sozialen Engagements . Wir bemühen uns um Hilfe und Unterstützung und suchen Trost bei den Menschen in unserer Umgebung. Kommt uns jedoch niemand zu Hilfe oder sind wir in unmittelbarer Gefahr, schaltet unser Organismus auf eine primitivere Art der Überlebenssicherung um: auf Kampf oder Flucht . Wir kämpfen dann gegen den Angreifer oder fliehen an einen sicheren Ort. Schlägt auch dieser Versuch fehl – weil wir es nicht schaffen zu fliehen, weil wir festgehalten werden oder eingesperrt sind –, versucht der Organismus, sich zu retten, indem er »abschaltet« und so wenig Energie wie möglich verbraucht. Wir befinden uns dann in einem Zustand der Erstarrung oder des Kollabierens .

Hier kommt der verzweigte Vagusnerv ins Spiel, und ich werde nun kurz seine anatomische Beschaffenheit beschreiben, weil sie für die Art, wie Menschen mit Traumata umgehen, von zentraler Bedeutung ist. Das System soziales Engagement basiert auf Nerven, die von den Steuerungszentren im Hirnstamm ausgehen, primär vom Vagus, der auch als zehnter Kranialnerv bezeichnet wird – in Verbindung mit den benachbarten Nerven, welche die Muskeln des Gesichts, Rachens, Mittelohrs und Kehlkopfs aktivieren. Gibt der ventral-vagale Komplex (VVK ) den Ton an, lächeln wir, sobald andere uns anlächeln, wir nicken, wenn wir zustimmen, und wir runzeln die Stirn, wenn Freunde uns von ihren Missgeschicken erzählen. Ist der VVK aktiv, übermittelt er auch Signale an Herz und Lunge, um den Herzschlag zu verlangsamen und den Atem tiefer werden zu lassen. Wir fühlen uns dann ruhig und entspannt, zentriert oder angenehm erregt.

Jede Gefahr für unsere Sicherheit oder unsere sozialen Beziehungen führt zu Veränderungen in den vom VVK innervierten Bereichen unseres Körpers. Passiert etwas Belastendes, signalisieren wir durch unseren Gesichtsausdruck und den Ton unserer Stimme automatisch unsere Aufgebrachtheit – Veränderungen, die andere Menschen dazu bringen sollen, uns zu helfen. 11 Reagiert niemand auf den Hilferuf, wird das Bedrohungsgefühl stärker, und das ältere limbische System wird aktiv. Das SNS übernimmt das Kommando und mobilisiert Muskeln, Herz und Lunge für Kampf oder Flucht. 12 Wir sprechen dann schneller und lauter, und unser Herz pumpt schneller. Ist ein Hund im Raum, läuft er unruhig umher und knurrt, weil er die Aktivierung unserer Schweißdrüsen riecht.

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Mit freundl. Genehmigung von Ned Kalin, MD

Drei Arten der Reaktion auf Bedrohung

1. System soziales Engagement: Ein beunruhigter Affe signalisiert Gefahr und ruft nach Hilfe. VVK.

2. Kampf oder Flucht: Das Tier zeigt seine Zähne, und sein Gesicht bringt Wut und Entsetzen zum Ausdruck. SNS.

3. Erstarren/Zusammenbruch: Der Körper signalisiert eine Niederlage und zieht sich zurück. DVK.



Gibt es keinen Ausweg, und wir können nichts tun, um das Unvermeidliche abzuwenden, aktivieren wir unser drittes und letztes Notfallsystem: den dorsal-vagalen Komplex (DVK ). Dieses System wirkt bis unterhalb des Zwerchfells in Magen, Nieren und Darm hinein und reduziert die Stoffwechselaktivität im gesamten Körper drastisch. Die Herzfrequenz sinkt stark (wir haben das Gefühl, dass uns »das Herz in die Hose fällt«), wir können nicht atmen, und unser Verdauungstrakt stellt seine Tätigkeit ein oder entleert sich (die Angst bringt unsere Verdauung dann auf Hochtouren). An diesem Punkt »schalten wir ab« – wir kollabieren und erstarren.

Kampf oder Flucht im Gegensatz zum Erstarren

Wie Stans und Utes Gehirn-Scans zeigen, kann ein Trauma nicht nur in Form von Kampf oder Flucht, sondern auch in Form von Abschalten und mangelndem Engagement in der Gegenwart zum Ausdruck kommen. Bei den genannten Reaktionsweisen spielen verschiedene Arten von Gehirnaktivität eine Rolle: das Kampf-oder-Flucht-System des Säugetierhirns, das schützend wirkt und uns davon abhält, abzuschalten, und das Reptilienhirn, das die Erstarrungsreaktion hervorruft. Den Unterschied zwischen diesen beiden Systemen kann man in jeder großen Tierhandlung beobachten. Junge Katzen, Hunde, Mäuse und Wüstenmäuse spielen ständig, und wenn sie müde sind, kuscheln sie sich aneinander. Schlangen und Echsen hingegen liegen reglos in einer Ecke ihres Käfigs und reagieren nicht auf die Umgebung. 13 Diese Art des Erstarrens, die vom Reptilienhirn ausgeht, ist für viele chronisch traumatisierte Menschen typisch. Dem Säugetierhirn hingegen entsprechen Panik und Wut, die kürzlich Traumatisierte verängstigt und beängstigend wirken lassen.

Wie sich die Kampf-/Fluchtreaktion anfühlt, ist wohl fast jedem bekannt: Eine plötzlich auftauchende Gefahr löst einen starken Impuls aus, sich zu bewegen und zum Angriff überzugehen. Durch die Gefahr wird unser System soziales Engagement abgeschaltet, unsere Reaktion auf die menschliche Stimme wird verringert, und unsere Empfindlichkeit gegenüber bedrohlich wirkenden Geräuschen wird verstärkt. Doch für viele Menschen sind Panik und Wut erstrebenswerter als deren Gegenteil: sich zu verschließen und damit für die Welt wie tot zu sein. Die Kampf-/Fluchtreaktion mobilisiert ihre Energie. Deshalb fühlen sich so viele missbrauchte, misshandelte und anderweitig traumatisierte Menschen erst angesichts von Gefahr völlig lebendig, wohingegen sie in komplexeren, aber objektiv ungefährlichen Situationen – wie Geburtstagspartys und Festessen der Familie – in einen Zustand der Gefühlstaubheit verfallen.

Wenn es durch Kampf oder Flucht nicht gelingt, eine Gefahr zu neutralisieren, aktivieren wir unsere letzte Zuflucht – das Reptilienhirn, unser ultimatives Notfallsystem. Dieses wird in der Regel aktiv, wenn wir physisch bewegungsunfähig sind, beispielsweise weil uns ein Angreifer festhält oder weil sich ein Kind einer Bezugsperson nicht durch Flucht entziehen kann. Zusammenbruch und Rückzug obliegen dem DVK , einem entwicklungsgeschichtlich alten Teil des PNS , der Verdauungssymptome wie Durchfall und Übelkeit hervorrufen kann. Außerdem wird in diesem Zustand der Herzschlag verlangsamt, und die Atmung wird flacher. Sobald dieses System die Kontrolle übernimmt, spielen andere Menschen und sogar wir selbst keine Rolle mehr. Das Gewahrsein wird abgeschaltet, und möglicherweise registrieren wir nicht einmal mehr körperlichen Schmerz.

Wie wir Menschen werden

Der von Porges entwickelten Großtheorie zufolge entwickelte sich der VVK bei den Säugetieren zur Förderung eines immer komplexer werdenden Soziallebens. Alle Säugetiere, einschließlich des Menschen, tun sich zusammen, um sich zu paaren, ihre Jungen zu ernähren, sich gegen gemeinsame Feinde zu verteidigen und die Jagd und andere Formen der Nahrungssuche zu koordinieren. Je effizienter der VVK die Aktivität des SNS und PNS synchronisiert, umso besser wird die Physiologie des betreffenden Menschen auf die der übrigen Mitglieder der betreffenden sozialen Gruppe abgestimmt.

Wenn man den VVK in diesem Lichte betrachtet, wird klar, wie Menschen ihren Kindern natürlicherweise helfen, eine Selbstregulation zu entwickeln. Neugeborene sind nicht besonders sozial; sie schlafen meist und werden wach, wenn sie Hunger haben oder nass sind. Nachdem sie Nahrung zu sich genommen haben, schauen sie vielleicht eine Weile um sich, quengeln ein wenig oder starren vor sich hin, doch meist schlafen sie bald wieder ein. Sie orientieren sich an ihrem eigenen inneren Rhythmus. Zu Beginn ihres Lebens sind sie ziemlich stark den Gezeiten ihres SNS und PNS ausgeliefert, und was in ihrem Leben geschieht, steuert größtenteils ihr Reptilienhirn.

Doch indem wir Babys anlächeln und mit ihnen kuscheln, fördern wir die Entwicklung der Synchronizität im entstehenden VVK . Interaktionen helfen, den emotionalen Erregungszustand unseres Babys mit seiner Umgebung in Einklang zu bringen. Der VVK beeinflusst das Saugen, das Schlucken, den Gesichtsausdruck und die Produktion von Geräuschen durch den Kehlkopf. Werden diese Funktionen bei einem Säugling stimuliert, rufen sie Gefühle der Freude und Sicherheit hervor, was die Entstehung einer Grundlage für alle zukünftigen sozialen Verhaltensweisen begünstigt. 14 Mein Freund Ed Tronick hat mir vor langer Zeit erklärt, dass das Gehirn ein »kulturelles Organ« ist – und dass das Erleben das Gehirn formt.

Uns mithilfe des VVK mit anderen Mitgliedern unserer Spezies in Einklang zu versetzen ist für uns alle sehr wichtig. Was als Spiel von Mutter und Kind im Zustand des Einklangs beginnt, findet in der Rhythmik eines guten Basketballspiels, der Synchronizität des Tangotanzens und der Harmonie des Choralgesangs oder des Spielens von Jazz oder Kammermusik seine Fortsetzung – dies alles sind Aktivitäten, die ein tiefes Gefühl der Freude und Verbundenheit fördern.

Von einem Trauma können wir sprechen, wenn dieses System versagt: wenn Sie um Ihr Leben betteln und der Angreifer dies ignoriert; wenn Sie als Kind entsetzt sind, im Bett liegen und Ihre Mutter schreien hören, die von ihrem Freund verprügelt wird; wenn Sie einen Freund unter einer Metallkonstruktion gefangen sehen, die Sie nicht anheben können, weil Sie dazu nicht genug Kraft haben; wenn Sie den Priester, der Sie missbrauchen will, wegstoßen wollen, aber fürchten, dann bestraft zu werden. Erstarren ist der Ursprung der meisten Traumata. Tritt dies ein, übernimmt meist der DVK die Führung: Ihr Herz schlägt dann langsamer, Ihre Atmung wird flach, und Sie verlieren den Kontakt zu sich selbst und Ihrer Umgebung. Sie dissoziieren, fallen in Ohnmacht und erleben einen Zusammenbruch.

Verteidigen oder entspannen?

Stephen Porges half mir zu erkennen, dass es für Säugetiere normal ist, ständig ein wenig auf der Hut zu sein. Doch wenn wir uns einem anderen Menschen emotional nahe fühlen wollen, müssen wir unser Defensivsystem zeitweise abschalten. Wenn wir spielen, uns paaren und unsere Jungen ernähren können wollen, muss unser Gehirn seine natürliche Wachsamkeit außer Funktion setzen.

Viele Traumatisierte sind aufgrund ihrer Hypervigilanz nicht in der Lage, die normalen Freuden, die uns das Leben zu bieten hat, zu genießen, wohingegen andere zu gefühlstaub sind, um neue Erlebnisse aufnehmen zu können – oder um gegenüber Anzeichen für reale Gefahren wachsam sein zu können. Wenn die Rauchmelder unseres Gehirns nicht richtig funktionieren, laufen wir nicht um unser Leben, wenn wir eigentlich zu fliehen versuchen müssten, und wir setzen uns nicht zur Wehr, wenn es notwendig wäre. Die bahnbrechende Studie über schädliche Erlebnisse in der Kindheit (ACEAdverse Childhood Experiences ), mit der ich mich in Kapitel 9 eingehender auseinandersetzen werde, hat gezeigt, dass Frauen, die in ihrer Kindheit Missbrauch, Misshandlungen oder Vernachlässigung erlebt hatten, mit siebenfach erhöhter Wahrscheinlichkeit im Erwachsenenalter vergewaltigt wurden. Bei Frauen, die als Kinder Gewalttätigkeit ihren Müttern gegenüber mit angesehen hatten, bestand eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass sie später selbst Opfer häuslicher Gewalt wurden. 15

Viele Menschen fühlen sich sicher, solange sie ihre sozialen Kontakte auf oberflächliche Gespräche beschränken können, wohingegen körperlicher Kontakt bei ihnen sehr starke Reaktionen auslösen kann. Porges hat erklärt, dass die Fähigkeit zu jeder Form von tiefer Intimität – enge Umarmungen, Schlafen im gleichen Bett mit einem Partner und Sex – voraussetzt, dass man in der Lage ist, den Zustand der Immobilität zuzulassen, ohne sich zu fürchten. 16 Traumatisierte haben besonders große Schwierigkeiten zu unterscheiden, wann sie wirklich sicher sind und wann sie wegen einer sich ankündigenden Gefahr ihre Abwehrsysteme aktivieren müssen. Dies können sie nur, wenn sie Situationen erleben, die ihr Gefühl körperlicher Sicherheit wiederherstellen – ein Thema, mit dem wir uns in den folgenden Kapiteln immer wieder beschäftigen werden.

Neue Ansätze der Traumabehandlung

Wenn uns klar ist, dass traumatisierte Kinder und Erwachsene im Kampf-/Fluchtmodus oder im Zustand chronischer Erstarrung verharren, wie können wir ihnen dann helfen, diese Defensivreaktionen, die einmal ihr Überleben gesichert haben, zu überwinden?

Einige Therapeuten, die mit Traumatisierten arbeiten, wissen intuitiv, wie sie dies erreichen können. Steve Gross hat im Trauma Center ein Spielprogramm geleitet. Er ging oft mit einem Strandball in leuchtenden Farben durch die Klinik, und sobald er im Warteraum wütende oder erstarrte Kinder sah, warf er ihnen ein breites Lächeln zu. Die Kinder reagierten darauf nur selten. Etwas später kam er zu ihnen zurück und ließ in ihrer Nähe seinen Ball fallen, woraufhin ein Kind ihn meist halbherzig zurückwarf. Allmählich erweiterte Steve diesen Kontakt zu einem Geben-und-nehmen-Spiel, und sobald er das geschafft hatte, dauerte es meist nicht lange, bis sich auf beiden Gesichtern – seinem eigenen und dem des Kindes – ein Lächeln zeigte.

Auf diese Weise schuf Steve aus einfachen, rhythmischen Bewegungen im Zustand der Einstimmung einen kleinen sicheren Ort, an dem das System soziales Engagement allmählich wieder seine Funktion erfüllen konnte. Ebenso können stark Traumatisierte davon profitieren, wenn sie vor einer Gruppensitzung mithelfen, Stühle in einer bestimmten Anordnung aufzustellen, oder wenn sie mit anderen zusammen einen bestimmten Rhythmus auf den Sitzflächen ihrer Stühle klopfen, als wenn sie auf den Stühlen sitzen und über die Misserfolge, die sie erlebt haben, sprechen.

Eins ist in jedem Fall klar: Wenn man jemanden anbrüllt, der ohnehin schon die Kontrolle verloren hat, so kann das nur die Dysregulation verstärken. So wie Ihr Hund sich duckt und mit dem Schwanz wedelt, wenn Sie ihn mit hoher Stimme ansprechen, reagieren auch wir Menschen auf ungehaltene stimmliche Äußerungen mit Angst, Wut oder Abschalten, wohingegen ein ansprechend freundlicher stimmlicher Ausdruck uns dazu animiert, uns zu öffnen und zu entspannen. Wir können es einfach nicht verhindern, dass wir auf solche Indikatoren für Sicherheit oder Gefahr reagieren.

Bedauerlicherweise ignorieren unser Erziehungssystem und viele Methoden, die angeblich der Traumabehandlung dienen, das System emotionales Engagement und sprechen stattdessen die kognitiven Fähigkeiten an. Trotz der gut dokumentierten Auswirkungen von Wut, Furcht und Angst auf die Denkfähigkeit ignorieren viele Behandlungsprogramme immer noch, dass das Sicherheitssystem des Gehirns in die Arbeit einbezogen werden muss, bevor man versucht, neue Denkweisen zu fördern. Aus den Stundenplänen von Schulen sollte man in keinem Fall den Chor, die Körpererziehung, die Pausen und alles, was mit Bewegung und Spiel verbunden ist und Freude weckt, entfernen. Wenn Kinder trotzig, defensiv, wie betäubt oder wütend sind, ist es auch wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass solch »schlechtes Benehmen« Handlungsmuster aufgreift, die angesichts starker Bedrohungen entwickelt wurden und die uns in der gegenwärtigen Situation als sehr ärgerlich oder abstoßend erscheinen mögen.

Die Arbeit von Stephen Porges hatte tief reichende Auswirkungen auf die Art, wie ich zusammen mit meinen Kollegen vom Trauma Center die Behandlung missbrauchter oder misshandelter Kinder und traumatisierter Erwachsener organisiert habe. Wir hätten zwar wahrscheinlich ohnehin irgendwann ein therapeutisches Yoga-Programm für Frauen entwickelt, da Yoga sich als so nützlich erwiesen hatte bei unseren Bemühungen, sie zu beruhigen und sie wieder mit ihrem dissoziierten Körper in Kontakt zu bringen. Und wir hätten wahrscheinlich auch irgendwann in den Schulen problematischer Viertel von Boston mit einem Theaterprogramm experimentiert, ein Karateprogramm für Vergewaltigte mit Namen Impact Model Mugging entwickelt und Spieltechniken und Methoden der Körperarbeit wie Sensorische Stimulation erprobt, die mittlerweile auf der ganzen Welt bei der Behandlung Traumatisierter benutzt werden. (All dies und vieles andere mehr wird in Teil V dieses Buches ausführlich erläutert.)

Doch die Polyvagal-Theorie hat uns zu verstehen und zu erklären geholfen, warum diese so unterschiedlichen und unkonventionellen Techniken so gut wirken. Sie ermöglichte uns, bewusster Top-down -Ansätze (zur Aktivierung des sozialen Engagements) mit Bottom-up -Methoden (für den Abbau körperlicher Anspannung) zu kombinieren. Aufgrund des Einflusses der Polyvagal-Theorie wurden wir aufgeschlossener für den Wert anderer uralter, nicht pharmakologischer Behandlungsansätze, die man außerhalb der westlichen Medizin seit Langem nutzt, beginnend mit Atemübungen (Pranayama) und Gesang (Mantra-Rezitation) über Kampfkünste wie Qigong bis hin zum Trommeln, zum Gruppengesang und zum Tanz. Bei all diesen Praktiken spielen interpersonale Rhythmen, Gewahrsein der eigenen somatischen Reaktionen und Kommunikation mithilfe von Stimme und Mimik eine Rolle, die alle uns Menschen helfen, den Kampf-/Fluchtzustand zu verlassen, unsere Gefahrenwahrnehmung zu reorganisieren und unsere Fähigkeit zu einem für uns erfreulichen Leben in Beziehungen zu verbessern.

Der Körper vergisst nicht. 17 Wird die Erinnerung an ein Trauma im Körper in Form herzzerreißender und qualvoller Emotionen, Autoimmunkrankheiten und muskulo-skelettaler Probleme encodiert und ist andererseits die Kommunikation zwischen Geist, Gehirn und Körper der Königsweg zur Emotionsregulation, so müssen wir die Voraussetzungen unseres therapeutischen Handelns radikal überdenken und verändern.