Ich möchte Sie … bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben … Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.
Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter
Sherry kam mit hängenden Schultern in meinen Behandlungsraum. Ihr Kinn berührte fast die Brust. Wir hatten noch kein Wort miteinander gesprochen, als ihr Körper mir schon mitgeteilt hatte, dass sie Angst vor jeder Konfrontation mit der Welt hatte. Auch fiel mir auf, dass ihre langen Ärmel den Schorf an ihren Unterarmen nur teilweise verdeckten. Nachdem sie Platz genommen hatte, erzählte sie mir mit hoher, monotoner Stimme, sie könne sich nicht davon abbringen, die Haut an ihren Armen und ihrer Brust so lange zu kratzen, bis sie blute.
Soweit Sherry sich zurückerinnern konnte, hatte ihre Mutter ein Pflegeheim betrieben. In ihrem Haus hatten sich oft bis zu fünfzehn merkwürdige, verhaltensauffällige, verängstigte und furchterregende Kinder aufgehalten, die ebenso schnell wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Sherry hatte sich als Kind ständig um diese jeweils nur kurz anwesenden Kinder kümmern müssen, und sie hatte immer unter dem Gefühl gelitten, für sie selbst und ihre Bedürfnisse sei kein Raum vorhanden. Sie erklärte: »Ich weiß, dass ich unerwünscht war. Ich kann mich zwar nicht mehr daran erinnern, wann mir das aufgegangen ist, aber ich habe über vieles nachgedacht, was meine Mutter zu mir gesagt hat, und es gab immer Anzeichen dafür, dass sie mich nicht mochte. Beispielsweise sagte sie zu mir Dinge wie: ›Weißt du, ich glaube, du gehörst gar nicht in diese Familie. Ich vermute, dass man uns das falsche Baby mitgegeben hat.‹ So etwas sagte sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Natürlich ist mir klar, dass Menschen oft so tun, als sei etwas ein Scherz, obwohl ihnen das, was sie sagen, völlig ernst ist.«
Im Laufe der Jahre hatte unser Forschungsteam immer wieder festgestellt, dass emotionale Misshandlungen und Vernachlässigung ebenso verheerend wirken können wie körperliche Misshandlungen und sexueller Missbrauch. 1 Sherry erwies sich als lebendes Beispiel für diese Erkenntnisse: Nicht gesehen und anerkannt zu werden und sich nirgendwo sicher fühlen zu können ist in jedem Alter eine sehr üble Erfahrung, aber auf Kinder, die noch versuchen, ihren Platz in der Welt zu finden, wirkt es besonders destruktiv.
Sherry hatte ihren College-Abschluss geschafft. Ihre Arbeit in einem kirchlichen Rahmen machte ihr wenig Freude. Sie lebte nur mit ihren Katzen zusammen und hatte keine engen Freunde. Nach ihren Erfahrungen mit Männern gefragt, berichtete sie, sie habe nur einmal eine »Beziehung« zu einem Mann gehabt, der sie während eines Urlaubs in der College-Zeit in Florida gekidnappt habe. Er hatte sie fünf Tage lang gefangen gehalten und sie in dieser Zeit mehrmals vergewaltigt. Sie hatte während ihrer Gefangenschaft die meiste Zeit über entsetzt und erstarrt zusammengerollt dagelegen, bis ihr klar geworden war, dass sie zu fliehen versuchen könnte. Das tat sie dann auch, indem sie einfach das Haus verließ, als ihr Peiniger auf der Toilette war. Als sie daraufhin ihre Mutter angerufen und gebeten hatte, die Kosten für ein R-Gespräch zu übernehmen, hatte diese es abgelehnt, ihr zu helfen. Schließlich war es Sherry gelungen, mit Unterstützung eines Hilfszentrums für Opfer häuslicher Gewalt nach Hause zu kommen.
Sherry berichtete, sie habe begonnen, ihre Haut zu zerkratzen, weil sie sich dann weniger empfindungslos gefühlt habe. Die physische Empfindung des Schmerzes bewirkte, dass sie sich lebendiger fühlte; andererseits schämte sie sich deswegen aber auch zutiefst – ihr war klar, dass sie eine Art Abhängigkeit von diesen selbstschädigenden Aktivitäten entwickelt hatte, konnte aber trotzdem nicht damit aufhören. Bevor sie sich an mich wandte, hatte sie schon mit einigen anderen Psychotherapeuten und Psychiatern gesprochen, und immer wieder hatten diese sie nach »suizidalem Verhalten« gefragt. Ein Psychiater hatte sie gegen ihren Willen stationär behandeln lassen, nachdem sie ihm nicht hatte versprechen wollen, sich nie mehr zu kratzen. Allerdings sind Patienten wie Sherry, die sich Schnitt- oder Kratzverletzungen zufügen, nur selten suizidal; sie versuchen vielmehr nur, auf die einzige ihnen bekannte Art dafür zu sorgen, dass sie sich besser fühlen.
Dies zu verstehen fällt vielen Menschen schwer. Ich erwähnte schon im vorigen Kapitel, dass die häufigste Reaktion auf belastende Erlebnisse darin besteht, dass wir bei Menschen, die wir mögen und denen wir vertrauen, Hilfe und Ermutigung suchen. Manchmal versuchen wir auch, uns zu beruhigen, indem wir uns einer körperlichen Aktivität wie Fahrradfahren oder einem Training in einem Fitness-studio widmen. Diese Möglichkeiten, unsere Gefühle zu beeinflussen, erlernen wir, sobald uns jemand etwas zu essen gibt, wenn wir hungrig sind, uns Kleidung gibt, wenn uns kalt ist, oder unseren Körper beruhigend wiegt, wenn wir verletzt sind oder Angst haben.
Doch wenn niemand Sie jemals liebevoll angeschaut oder freundlich angelächelt hat und Ihnen noch nie jemand zu Hilfe geeilt ist (sondern Sie stattdessen nur Dinge zu hören bekommen haben wie: »Hör endlich auf zu heulen, sonst sorge ich dafür, dass du wirklich einen Grund zum Heulen hast!«), sind Sie gezwungen, andere Möglichkeiten, für sich selbst zu sorgen, zu finden. Wahrscheinlich experimentieren Sie dann mit allem Möglichen – mit Drogen, Alkohol, übermäßigem Essen oder Selbstverletzungen –, was Ihnen irgendeine Art von Linderung in Aussicht stellt.
Obwohl Sherry pflichtbewusst zu jedem unserer Sitzungstermine erschien und meine Fragen sehr aufrichtig beantwortete, hatte ich nicht das Gefühl, dass zwischen uns jene wichtige Verbindung entstand, die erforderlich ist, damit eine Therapie ihre Funktion erfüllen kann. Weil mir auffiel, dass sie sehr starr und verspannt war, empfahl ich ihr, Liz, eine Massagetherapeutin, aufzusuchen, mit der ich schon mehrfach zusammengearbeitet hatte. Bei der ersten Behandlung bat Liz Sherry, sich auf den Massagetisch zu legen. Dann begab sie sich zum Fußende des Tisches und hielt sanft Sherrys Füße. Als Sherry so mit geschlossenen Augen dalag, schrie sie plötzlich in Panik auf: »Wo sind Sie?« Irgendwie hatte sie den Kontakt zu Liz verloren, obwohl diese ihre Füße hielt.
Sherry war eine der ersten Patientinnen, bei denen mir jene extreme Störung des Kontakts zum eigenen Körper auffiel, die bei so vielen Menschen besteht, die schwere Traumata und extreme Vernachlässigung erlebt haben. Mir wurde klar, dass meine Ausbildung mit ihrem Schwerpunkt auf Verstehen und Einsicht die Bedeutung des lebenden, atmenden Körpers, der Grundlage unserer Existenz, weitgehend ignoriert hatte. Sherry wusste, dass das Aufkratzen ihrer Haut ein destruktiver Akt war und dass diese Aktivität mit der Vernachlässigung durch ihre Mutter zusammenhing; aber dass ihr die Ursache ihres selbstschädigenden Impulses klar war, erleichterte ihr nicht, diese Neigung zu überwinden.
Den eigenen Körper verlieren
Nachdem mir dieser Zusammenhang aufgegangen war, merkte ich zu meinem Erstaunen, dass viele meiner Patienten mir berichteten, sie könnten ganze Bereiche ihres Körpers nicht spüren. Manchmal bat ich die Betreffenden, die Augen zu schließen und mir zu sagen, was ich ihnen in ihre ausgestreckte Hand gelegt hätte. Ganz gleich, ob es sich dabei um Autoschlüssel, eine kleine Münze oder einen Dosenöffner handelte, sie sahen sich oft nicht in der Lage, auch nur zu raten, was sie in Händen hielten, weil ihre sensorische Wahrnehmung völlig versagte.
Ich sprach mit meinem Freund Alexander McFarlane in Australien über dieses Phänomen, das auch er beobachtet hatte. Er hatte sich in seinem Forschungslabor in Adelaide mit der Frage beschäftigt, woher wir, ohne hinzuschauen, wissen können, dass wir einen Autoschlüssel in der Hand halten. Ein Objekt auf unserer Handfläche zu erkennen erfordert, dass wir seine Form, sein Gewicht, seine Temperatur, seine Oberflächenstruktur und seine Lage identifizieren. Diese unterschiedlichen sensorischen Erlebnisse werden in verschiedene Bereiche des Gehirns übermittelt und müssen dann zu einer einzigen Wahrnehmung zusammengefasst werden. McFarlane stellte fest, dass Menschen mit einer PTBS oft Schwierigkeiten haben, diese Integration ihrer verschiedenartigen Sinneseindrücke zu bewerkstelligen. 2
Wenn unsere Sinne unscharf werden, fühlen wir uns nicht mehr völlig lebendig. In einem Aufsatz mit dem Titel »Was ist eine Emotion?« (1884) 3 berichtete William James, der Gründervater der amerikanischen Psychologie, über einen verblüffenden Fall von »sensorischer Unempfindlichkeit« bei einer Frau, die er befragte. Sie sagte zu ihm: »Ich habe … keine menschlichen Empfindungen. [Ich bin] umgeben von allem, was das Leben glücklich und angenehm machen kann, und doch kann ich keine Freude empfinden oder auch nur irgendetwas spüren … Jeder meiner Sinne, jeder Teil von mir ist, als wäre er von mir getrennt und als könnte er mir kein Gefühl welcher Art auch immer zumuten. Dieses Unvermögen scheint mit einer Empfindung der Leere im vorderen Bereich meines Kopfes zusammenzuhängen, und sie scheint auf der Verringerung der Empfindungsfähigkeit der gesamten Oberfläche meines Körpers zu beruhen, denn es ist für mich so, als ob ich die Objekte, die ich berühre, nie wirklich erreiche. All dies wäre nicht erwähnenswert, wenn es nicht so entsetzliche Folgen hätte. Es ist mir nämlich völlig unmöglich, irgendetwas zu fühlen oder mich an etwas zu erfreuen, obwohl ich das Bedürfnis und den Wunsch nach solchen Empfindungen verspüre. Dies macht mein Leben zu einer unvorstellbaren Folter.«
Diese Reaktion auf ein Trauma warf eine wichtige Frage auf: Wie können Traumatisierte lernen, gewöhnliche Sinneswahrnehmungen so zu integrieren, dass für sie ein Leben mit dem natürlichen Fluss der Gefühle wieder möglich wird und sie sich in ihrem Körper wieder sicher und als ein Ganzes fühlen können?
Woran erkennen wir, dass wir leben?
Die frühesten Neuroimaging-Untersuchungen an Traumatisierten ähnelten denjenigen, die in Kapitel 3 beschrieben wurden. In ihnen sollte geklärt werden, wie Probanden auf bestimmte Reize reagierten, die sie an ihr traumatisches Erlebnis erinnerten. Im Jahre 2004 stellte meine Kollegin Ruth Lanius, die das Gehirn von Stan und Ute Lawrence gescannt hatte, eine neue Frage: Was geschieht im Gehirn von Traumatisierten, wenn sie nicht an das denken, was sie in der Vergangenheit erlebt haben? Mit ihren Untersuchungen über das müßige Gehirn, das »default state network« (DSN ), begann ein völlig neues Kapitel im Bemühen um die Klärung der Frage, wie Traumata sich auf das Selbstgewahrsein und speziell auf die sensorische Selbstwahrnehmung auswirken. 4
Dr. Lanius stellte eine Gruppe von sechzehn »normalen« Kanadiern zusammen, die sie bat, sich in einen Gehirnscanner zu legen und an nichts Spezielles zu denken. Das ist für niemanden besonders leicht, denn solange wir wach sind, ist unser Gehirn ständig mit etwas beschäftigt; doch sie forderte die Probanden auf, ihre Aufmerksamkeit auf die Atmung zu richten und ihren Geist so weit wie möglich zu leeren. Dieses Experiment wiederholte sie anschließend mit achtzehn Probanden, die in ihrer Kindheit schwerwiegende und chronische Missbrauchs-/Misshandlungserlebnisse gehabt hatten.
Was tut unser Gehirn, wenn wir nicht über etwas Bestimmtes nachdenken? Wie wir inzwischen wissen, richten wir unsere Aufmerksamkeit dann auf uns selbst: Im default state werden die Gehirnbereiche aktiviert, die an der Erzeugung eines »Selbst«-Empfindens beteiligt sind.
Als Ruth sich die Scans der »normalen« Probanden anschaute, stellte sie fest, dass bei ihnen genau die DSN -Regionen aktiviert waren, über die Forscher schon früher berichtet hatten. Ich nenne diesen Bereich als Ganzes den »Irokesenschnitt« des Selbstgewahrseins, weil es sich um Strukturen in der Mitte des Gehirns handelt, die unmittelbar über unseren Augen ansetzend über den Schädel zur Rückseite des Kopfes verlaufen. Alle diese an der Schädelmittellinie liegenden Strukturen spielen bei der Entstehung unseres Selbstempfindens eine Rolle. Der größte auf den Scans aufleuchtende Bereich an der Rückseite des Gehirns ist das posteriore Cingulum, das uns eine physische Empfindung dessen, wer wir sind, vermittelt – dies ist sozusagen unser inneres GPS . Der Bereich ist eng mit dem medialen Präfrontalkortex (MPFK ) verbunden, dem »Wachturm«, von dem in Kapitel 4 die Rede war. (Diese Verbindung ist auf dem Scan nicht zu erkennen, weil das fMRT sie nicht messen kann.) Außerdem ist er mit Gehirnbereichen verbunden, die aus dem übrigen Körper stammende Empfindungen registrieren: mit der Insel, die Botschaften aus den inneren Organen in die für Emotionen zuständigen Gehirnzentren übermittelt; mit den Parietallappen, die sensorische Informationen integrieren; und mit dem anterioren Cingulum, das Emotionen und Denken koordiniert. Alle diese Bereiche tragen zur Entstehung von Bewusstsein bei.
Lokalisieren des Selbst. Der »Irokesenschnitt« des Selbstgewahrseins besteht, beginnend von der Vorderseite des Gehirns (links), aus dem orbitalen und medialen Präfrontalkortex, dem anterioren und posterioren Cingulum und der Insel. Bei Menschen, die schwere chronische Traumata erlebt haben, ist die Aktivität in diesen Bereichen stark eingeschränkt, was es erschwert, innere Zustände zu registrieren und die persönliche Bedeutung eintreffender Informationen richtig einzuschätzen.
Der Kontrast zwischen den Scans »normaler« Probanden und derjenigen, die in früher Kindheit traumatisiert wurden, war erstaunlich. Bei Letzteren war in den für das Selbstempfinden wichtigen Gehirnbereichen fast keine Aktivierung festzustellen: Der MPFK , das anteriore Cingulum, der parietale Kortex und die Insel leuchteten auf den Aufnahmen überhaupt nicht auf; der einzige Bereich, der eine leichte Aktivierung erkennen ließ, war das posteriore Cingulum, das die grundlegende räumliche Orientierung organisiert.
Für die Resultate konnte es nur eine Erklärung geben: Diese Patienten hatten in Reaktion auf das Trauma selbst und in ihrem noch lange nach der realen Gefahr anhaltenden Bemühen, mit der Situation fertigzuwerden, gelernt, die Gehirnbereiche, die mit Entsetzen einhergehende viszerale Empfindungen und Emotionen übermitteln, abzuschalten. Doch im Alltagsleben registrieren diese Bereiche das gesamte Spektrum der Emotionen und Empfindungen, die unserem Selbstgewahrseins zugrunde liegen, unserem Empfinden dessen, wer wir sind. Was wir entdeckt hatten, war eine tragisch zu nennende Adaptation: Um entsetzliche Empfindungen abblocken zu können, hatten die Betroffenen auch ihre Fähigkeit, sich lebendig zu fühlen, ausgeschaltet.
Der Ausfall der Aktivierung des medialen Präfrontalkortex konnte erklären, warum so viele Traumatisierte ihr Sinngefühl und ihre Orientierung verlieren. Mich hatte immer wieder verblüfft, wie oft meine Patienten mich wegen der alltäglichsten Dinge um Rat baten und wie selten sie meine Ratschläge dann befolgten. Nun wurde mir klar, dass der Grund dafür eine Störung ihrer Beziehung zu ihrer eigenen inneren Realität war. Wie konnten sie Entscheidungen fällen oder einen Plan umsetzen, wenn sie nicht definieren konnten, was sie wollten, oder genauer, was die Empfindungen in ihrem Körper, die Grundlage aller Emotionen, ihnen mitzuteilen versuchten.
Opfern chronischer Traumatisierung in der Kindheit mangelt es manchmal so sehr an Selbstgewahrsein, dass die Betreffenden sich nicht einmal selbst im Spiegel erkennen. Gehirnscans belegen, dass dies nicht die Folge bloßer Unaufmerksamkeit ist: Die für die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen, zuständigen Strukturen sind manchmal zusammen mit denjenigen, die für das Selbsterleben zuständig sind, abgeschaltet.
Als Ruth Lanius mir ihre Studie vorstellte, fiel mir ein Satz ein, den ich im Rahmen meiner klassischen Highschool-Erziehung kennengelernt hatte. Als der Mathematiker Archimedes seinen Schülern die Hebelwirkung erklärte, soll er gesagt haben: »Gib mir einen Punkt, wo ich sicher stehen kann, und ich bewege die Erde.« Und ein großer Körpertherapeut des 20. Jahrhunderts, Moshé Feldenkrais, hat gesagt: »Man kann nicht tun, was man will, bis man weiß, was man tut.« Was dieses Zitat impliziert, liegt auf der Hand: Um sich präsent zu fühlen, muss man wissen, wo man ist, und sich darüber im Klaren sein, was um einen her geschieht. Versagt das für das Selbstempfinden zuständige System, müssen wir nach Möglichkeiten suchen, es zu reaktivieren.
Das für das Selbstempfinden zuständige System
Es war faszinierend zu beobachten, wie sehr Sherry von der Massagetherapie profitierte. Sie fühlte sich entspannter und abenteuerlustiger in ihrem Alltagsleben und war auch mir gegenüber offener und entspannter. Sie arbeitete in ihrer Therapie sehr engagiert mit und war generell sehr neugierig, wenn es um ihr Verhalten, ihre Gedanken und ihre Gefühle ging. Sie hörte auf, ihre Haut zu zerkratzen, und als der Sommer kam, setzte sie sich häufig auf die Treppe, die zum Eingang ihrer Wohnung führte, und plauderte mit Nachbarn. Sie schloss sich sogar einem Kirchenchor an, was für sie ein wunderbares Erlebnis der Synchronie einer Gruppe war.
Ungefähr zu dieser Zeit lernte ich Antonio Damasio in einem kleinen Thinktank kennen, den Daniel Schacter, der Leiter der Psychologieabteilung der Harvard University, organisiert hatte. In einer Reihe brillanter wissenschaftlicher Artikel und Bücher hatte Damasio die Beziehung zwischen Körperzuständen, Emotionen und Überleben erklärt. Als Neurologe, der Hunderte von Menschen mit verschiedenen Formen von Hirnschädigungen behandelt hatte, war er vom Bewusstsein fasziniert, und er begeisterte sich für die Identifizierung der Gehirnbereiche, die uns ermöglichen zu wissen, was wir fühlen. Ziel seiner gesamten Arbeit ist herauszufinden, was uns ermöglicht, uns selbst zu erleben. Ich fühle, also bin ich (The feeling of what happens) ist nach meiner Auffassung Damasios wichtigstes Buch, und es zu lesen war für mich eine Offenbarung. 5 Damasio verweist darin zunächst auf die tiefe Kluft zwischen unserem Selbstempfinden und den sensorischen Empfindungen unseres Körpers. Er erklärt in einem geradezu poetischen Stil: »Manchmal benutzen wir unseren Geist nicht, um Tatsachen zu entdecken, sondern um sie zu verstecken. […] Eines der Dinge, die der Schirm mit gutem Erfolg verhüllt, ist der Körper, unser eigener Körper, womit ich all das meine, was sich in seinem Inneren befindet. Wie ein Schleier, der über die Haut geworfen wird, um dem Schamgefühl Rechnung zu tragen, aber nicht zu gründlich, so entzieht der Schirm dem Geist den Zugriff auf die inneren Zustände des Körpers, die alltäglichen Lebensabläufe.« 6
Er beschreibt weiter, wie dieser »Schirm« unseren Interessen gerecht werden kann, indem er uns ermöglicht, uns um dringende Probleme in der äußeren Welt zu kümmern. Doch das hat seinen Preis: »Wir sind dadurch nicht mehr in der Lage, den Ursprung und die Beschaffenheit dessen zu fühlen, was wir Selbst nennen.« 7 Auf dem vor mehr als einem Jahrhundert entstandenen Werk von William James aufbauend, vertritt Damasio die Auffassung, dass das Zentrum unseres Selbstgewahrseins in den physischen Empfindungen zu suchen ist, die uns über die inneren Zustände unseres Körpers informieren:
[Die ursprünglichen Gefühle] sorgen für die direkte Erfahrung des eigenen lebendigen Körpers, wortlos, schnörkellos und mit nichts anderem als der puren Existenz verknüpft. In diesen ursprünglichen Gefühlen spiegelt sich der augenblickliche Zustand des Körpers in verschiedenen Dimensionen wider, beispielsweise auf der Skala, die von der Lust bis zum Schmerz reicht; ihren Ursprung haben sie nicht in der Großhirnrinde, sondern auf der Ebene des Hirnstamms. Alle Gefühle von Emotionen sind komplexe Variationen der ursprünglichen Gefühle. 8
Unsere Sinnesempfindungen nehmen schon vor unserer Geburt Gestalt an. Im Mutterschoß spüren wir auf unserer Haut das Fruchtwasser, wir hören schwach die Geräusche fließenden Blutes und der Aktivität des Verdauungstrakts, und wir werden durch die Bewegungen unserer Mutter hin und her bewegt. Nach der Geburt definieren physische Empfindungen unsere Beziehung zu uns selbst und unserer Umgebung. Wir fangen dann an, unsere Nassheit, unser Hunger, unsere Sättigung und unsere Müdigkeit zu sein . Eine Kakofonie unverständlicher Geräusche und Bilder bedrängt unser noch völlig unerfahrenes Nervensystem. Sogar noch nachdem wir ein Bewusstsein entwickelt und eine Sprache erlernt haben, liefern uns unsere physischen Sinneswahrnehmungen ein wichtiges Feedback über unseren Zustand in jedem Augenblick. Sie weisen uns auf Veränderungen im Inneren unseres Körpers sowie in der Muskulatur des Gesichts, des Rumpfes und der Gliedmaßen hin, die Schmerz und Behagen signalisieren, sowie auf drängende Empfindungen, wie sie durch Hunger und sexuelle Erregung hervorgerufen werden. Was in unserer Umgebung geschieht, beeinflusst auch unsere körperlichen Empfindungen. Wenn wir jemanden wiedererkennen, wenn wir bestimmte Geräusche oder Klänge hören – ein Musikstück oder eine Sirene – und wenn wir eine Temperaturveränderung spüren, so wirkt sich all dies auf den Fokus unserer Aufmerksamkeit aus und beeinflusst, ohne dass uns dies bewusst wird, unsere anschließenden Gedanken und Handlungen.
Wie wir gesehen haben, hat das Gehirn die Aufgabe, ständig zu überwachen und zu beurteilen, was in uns und in unserer Umgebung vor sich geht. Diese Einschätzungen werden durch chemische Botenstoffe in den Blutkreislauf und durch elektrische Botschaften in die Nervenzellen übermittelt, was subtile oder auch dramatische Veränderungen im gesamten Körper und im Gehirn zur Folge haben kann. Diese Veränderungen treten gewöhnlich ohne bewussten Input und ohne Beteiligung des bewussten Gewahrseins ein: Die subkortikalen Regionen des Gehirns regulieren verblüffend effizient die Atmung, die Herzfrequenz, Verdauung und Hormonproduktion und das Immunsystem. Allerdings können diese Systeme durch eine anhaltende Bedrohung oder wenn wir auch nur glauben, in Gefahr zu sein, überlastet werden. Dies ist der Ursprung vieler körperlicher Probleme, die Forscher bei Traumatisierten vorgefunden haben.
Unser Bewusstsein spielt aber auch bei der Aufrechterhaltung einer inneren Balance eine wichtige Rolle. Wenn wir die Sicherheit unseres Körpers gewährleisten wollen, müssen wir unsere physischen Empfindungen registrieren und ihnen gemäß handeln. Merken wir, dass uns kalt ist, zwingt uns das, uns wärmere Kleidung anzuziehen; verspüren wir Hunger oder fühlen uns benommen, erkennen wir, dass unser Blutzuckerspiegel niedrig ist, und dies treibt uns dazu, etwas zu essen; wenn unsere volle Blase drückt, suchen wir die Toilette auf. Damasio weist darauf hin, dass alle Strukturen des Gehirns, die Hintergrundempfindungen registrieren, in der Nähe von Bereichen liegen, die organisatorische Funktionen erfüllen, etwa die Steuerung der Atmung, des Appetits, der Ausscheidung und des Schlaf-wach-Zyklus: »Die Konsequenzen von Emotion und Aufmerksamkeit stehen nämlich in engem Zusammenhang mit der fundamentalen Aufgabe, das Leben im Organismus zu regulieren, während es andererseits nicht möglich ist, das Leben zu regulieren und das homöostatische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, ohne dass Daten über den aktuellen Zustand des Körpers im engeren Sinn vorliegen.« 9 Damasio nennt diese Bereiche im Gehirn das »Proto-Selbst«, weil sie das »wortlose Wissen« kreieren, das unserem bewussten Selbstempfinden zugrunde liegt.
Das Selbst in Gefahr
Im Jahre 2000 veröffentlichten Damasio und Kollegen in der angesehensten naturwissenschaftlichen Zeitschrift Science einen Aufsatz, in dem berichtet wird, dass das Wiedererleben einer starken negativen Emotion signifikante Veränderungen in Gehirnbereichen verursacht, die Nervensignale von den Muskeln, den inneren Organen und der Haut empfangen – also in Bereichen, die für die Regulierung der grundlegenden Körperfunktionen besonders wichtig sind. Die Gehirnscans des Teams zeigten, dass das Erinnern eines emotionalen Ereignisses das Wiedererleben der viszeralen Empfindungen während des ursächlichen Erlebnisses zur Folge hat. Jede Art von Emotion erzeugte ein bestimmtes Muster, das sich von allen anderen deutlich unterschied. Beispielsweise war ein bestimmter Teil des Hirnstamms »aktiv bei Traurigkeit und Wut, aber nicht bei Glücksgefühlen oder Furcht«. 10 Obwohl sich alle diese Gehirnregionen unterhalb des limbischen Systems befinden, das traditionell als Ursprung der Emotionen bezeichnet wird, dokumentieren wir ihre Beteiligung jedes Mal, wenn wir eine der allgemein bekannten Redensarten benutzen, die starke Emotionen mit dem Körper in Verbindung bringen: »Du machst mich krank!« – »Das ist mir unter die Haut gegangen.« – »Da ist mir die Luft weggeblieben.« – »Mir ist das Herz in die Hose gerutscht.« – »Wenn ich ihn sehe, sträuben sich mir die Haare.«
Das elementare Selbstsystem im Hirnstamm und im limbischen System wird stark aktiviert, wenn Menschen mit der Gefahr der Vernichtung ihrer Existenz konfrontiert werden – wodurch ein überwältigendes Gefühl der Furcht und des Schreckens entsteht, verbunden mit einem Zustand starker physiologischer Erregung. Wenn Menschen ein Trauma wieder erleben, begreifen sie nicht, was vor sich geht. Sie sind dann in einer Situation gefangen, in der es für sie um Leben und Tod geht, in einem Zustand lähmender Furcht oder blinder Wut. Ihr Geist und Körper sind permanent stark erregt, als befänden sie sich in unmittelbarer Gefahr. Sie erschrecken beim leisesten Geräusch, und schon die geringsten Irritationen rufen bei ihnen starke Frustration hervor. Sie leiden ständig unter Schlafstörungen und empfinden die Nahrungsaufnahme häufig nicht mehr als angenehmes sinnliches Erlebnis. Und dieser Zustand kann bei ihnen verzweifelte Versuche hervorrufen, Gefühle dieser Art durch Erstarren oder Dissoziation zu unterbinden. 11
Wie könnte es Menschen gelingen, ihr Leben wieder in die eigenen Hände zu nehmen, wenn ihr tierisches Gehirn im Kampf ums Überleben gefangen ist? Wenn Vorgänge tief in unserem Tierhirn darüber entscheiden, wie wir uns fühlen, und wenn unsere Körperempfindungen durch subkortikale (unterbewusste) Gehirnstrukturen vermittelt werden – in welchem Maße können wir unser Leben dann überhaupt beeinflussen?
Agency: Das Leben in die eigenen Hände nehmen
Agency (Handlungsfähigkeit) ist der Fachbegriff für das Gefühl, das eigene Leben selbst steuern zu können: dafür, dass wir wissen, wo wir stehen, dass wir auf unser Erleben zumindest einen gewissen Einfluss haben und dass unsere Lebensumstände sich nicht völlig unserem Einfluss entziehen. Die Veteranen, die im VA -Zentrum mit ihren Fäusten eine Trockenbauwand durchschlagen hatten, hatten auf diese Weise versucht, ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen – zu zeigen, dass sie etwas bewirken konnten. Aber sie hatten danach noch stärker als vorher das Gefühl gehabt, keinen Einfluss zu haben; und viele dieser früher einmal so selbstsicheren Männer waren in einem Teufelskreis des ständigen Wechsels zwischen hektischer Aktivität und Erstarren gefangen.
Handlungsfähigkeit setzt voraus, was Wissenschafter Interozeption nennen: das Gewahrsein unserer subtilen sensorischen, körperbasierten Gefühle. Je umfassender dieses Gewahrsein ist, umso mehr Einfluss haben wir auf unser Leben. Zu wissen, was wir fühlen, ist der erste Schritt, wenn wir herausfinden wollen, warum wir uns so und nicht anders fühlen. Wenn wir uns der unablässigen Veränderungen in uns selbst und in der Außenwelt bewusst sind, können wir uns mobilisieren, um mit ihnen zurechtzukommen. Doch das können wir nicht, wenn unser Wachturm, der MPFK , nicht zu beobachten lernt, was in uns vorgeht. Deshalb ist die Achtsamkeitsübung, die den MPFK stärkt, ein wichtiger Bestandteil jeder Traumatherapie. 12
Der wunderbare Film Die Reise der Pinguine ließ mich an einige meiner Patienten denken. Pinguine sind stoisch und liebenswert, und es ist ein geradezu tragischer Aspekt ihres Lebens, dass sie seit unvordenklicher Zeit vom Meer aus unter unvorstellbaren Mühen mehrere Kilometer ins Land watscheln, um ihre Brutplätze zu erreichen, dabei viele kostbare Eier verlieren und sich anschließend, fast verhungernd, wieder zum Meer schleppen. Hätten Pinguine unsere Frontallappen, würden sie ihre kleinen Schwimmflossen benutzen, um sich Iglus zu bauen, sie hätten eine bessere Arbeitsteilung entwickelt und würden ihre Nahrungsvorräte anders organisieren. Viele meiner Patienten haben durch ungeheuren Mut und große Beharrlichkeit zwar ihre Traumata überlebt, sind aber danach immer wieder in ähnliche Schwierigkeiten geraten. Das Trauma hat ihren inneren Kompass ausgeschaltet und ihnen die Fähigkeit geraubt, sich vorzustellen, dass sie etwas Besseres schaffen müssen.
Die Neurowissenschaft des Selbstempfindens und der Handlungsfähigkeit bestätigt den Wert somatischer Therapien wie der von Peter Levine 13 und Pat Ogden 14 entwickelten. Auf diese und andere sensumotorische Behandlungsansätze werde ich in Teil V dieses Buches ausführlicher eingehen. Grundsätzlich verfolgen sie alle drei Zielsetzungen:
Sie sollen die durch das traumatische Erlebnis blockierten und erstarrten sensorischen Informationen wieder nutzbar machen.
Sie sollen den Patienten helfen, sich mit den durch das innere Erlebnis freigesetzten Energien vertraut zu machen.
Sie sollen die selbsterhaltenden körperlichen Aktivitäten zum Abschluss bringen, die vereitelt wurden, als die Betroffenen in eine für sie ausweglose Situation gerieten oder aufgrund von Entsetzen erstarrten.
Unsere Bauchgefühle signalisieren uns, was ungefährlich ist und unser Leben erhält und was bedrohlich ist, selbst wenn wir nicht erklären können, warum wir dieses Gefühl haben. Unser Sensorium übermittelt uns ständig subtile Botschaften über die Bedürfnisse unseres Organismus. Bauchgefühle können uns außerdem einzuschätzen helfen, was in unserer Umgebung vor sich geht. Sie warnen uns, wenn jemand, der uns näher kommt, unheimlich wirkt, aber sie übermitteln uns auch, dass ein Raum mit einem Fenster nach Westen mit einem Ausblick auf Taglilien uns in einen heiteren Zustand versetzt. Wenn Sie eine gute Verbindung zu Ihren inneren Empfindungen haben – wenn Sie darauf vertrauen können, dass diese Ihnen zutreffende Informationen übermitteln –, haben Sie das Gefühl, Einfluss auf Ihren Körper, Ihre Gefühle und sich selbst zu haben.
Traumatisierte hingegen fühlen sich in ihrem Körper chronisch unwohl: Ihre Vergangenheit begleitet sie in Form nagenden Unbehagens. Ihr Körper wird permanent mit viszeralen Warnsignalen bombardiert, und weil sie sich bemühen, diese Vorgänge unter Kontrolle zu behalten, werden sie oft sehr versiert darin, ihre Bauchgefühle zu ignorieren und sich den Vorgängen in ihrem Inneren gegenüber taub zu stellen. Sie lernen, sich vor sich selbst zu verstecken.
Je hartnäckiger Menschen versuchen, innere Warnzeichen zu überspielen oder zu ignorieren, umso wahrscheinlicher ist, dass diese die Führung übernehmen und die Betroffenen fassungslos, verwirrt und beschämt hinterlassen. Menschen, die nicht mit Behagen registrieren können, was in ihnen vor sich geht, reagieren oft auf jede sensorische Veränderung, indem sie diese entweder »ausschalten« oder indem sie in Panik verfallen – sie entwickeln Angst vor der Angst.
Mittlerweile ist bekannt, dass Paniksymptome hauptsächlich dadurch aufrechterhalten werden, dass die Betroffenen Furcht vor den mit Panikattacken verbundenen Körperempfindungen entwickeln. Auch wenn die Attacke durch etwas ausgelöst wird, dessen Irrationalität den Betroffenen bewusst ist, bewirkt ihre Furcht vor den damit einhergehenden Empfindungen, dass ihr Körper in eine heftige Notfallreaktion verfällt. Der Ausdruck »starr vor Angst« erfasst genau, wie sich Entsetzen und das Erleben eines Traumas anfühlen. Dies ist die viszerale Grundlage solcher Zustände. Furcht entsteht durch eine primitive Art der Reaktion auf eine Gefahr, wenn es aus irgendeinem Grunde unmöglich ist zu fliehen. Das Leben der Betroffenen bleibt so lange im Banne der Furcht, bis sich ihr viszerales Erleben verändert.
Der Preis für das Ignorieren oder Verzerren der Botschaften des Körpers ist die Unfähigkeit herauszufinden, was wirklich gefährlich oder schädlich ist und – ein ebenso großes Handicap – was ungefährlich und förderlich ist. Ohne diese Informationen müssen wir damit vorliebnehmen, unseren Zustand nur mithilfe äußerer Mittel regulieren zu können – durch Medikamente, Drogen wie Alkohol, ständiges Bemühen um Bestätigung oder durch zwanghafte Bereitschaft, die Wünsche anderer Menschen zu erfüllen.
Viele meiner Patienten reagieren auf Stress nicht, indem sie diesen als solchen erkennen und bezeichnen, sondern indem sie Migränekopfschmerzen oder Asthmaanfälle bekommen. 15 Sandy, eine Gemeindeschwester mittleren Alters, sagte mir, sie sei als Kind ständig verängstigt und einsam gewesen und von ihren Eltern, beide Alkoholiker, nicht wahrgenommen worden. Sie hatte damit fertigzuwerden versucht, indem sie sich gegenüber jedem, von dem sie sich abhängig fühlte (und das galt auch für mich, ihren Therapeuten), besonders ehrerbietig verhielt. Machte ihr Mann eine unsensible Bemerkung, bekam sie einen Asthmaanfall. Dass sie keine Luft bekam, merkte sie in der Regel erst, wenn es zu spät war, um einen Inhalator zu benutzen, sodass sie schleunigst in eine Notaufnahme gebracht werden musste.
Die Unterdrückung unserer inneren Hilferufe hält die Stresshormone nicht davon ab, unseren Körper zu mobilisieren. Sandy hatte zwar gelernt, ihre Beziehungsprobleme zu ignorieren und körperliche Signale für Belastungszustände abzublocken, aber diese meldeten sich dann in Form von Symptomen, die sie zwangen, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Ihre Therapie konzentrierte sich darauf, die Verbindung zwischen ihren körperlichen Empfindungen und ihren Emotionen zu identifizieren, und ich empfahl ihr außerdem, sich für einen Kurs in Kickboxen anzumelden. Während der drei Jahre, in denen sie bei mir in Behandlung war, brauchte sie kein einziges Mal in die Notaufnahme gebracht zu werden.
Somatische Symptome ohne eindeutige körperliche Ursache kommen bei traumatisierten Kindern und Erwachsenen recht häufig vor. Sie können sich in Form chronischer Schmerzen im Hals- und Nackenbereich äußern oder als Fibromyalgie, Migräne, Verdauungsstörung, Reizdarm, chronische Erschöpfung und Asthma zum Ausdruck kommen. 16 Unter traumatisierten Kindern ist die Zahl der Asthmatiker fünfzigmal so hoch wie unter nichttraumatisierten. 17 Untersuchungen haben ergeben, dass viele Kinder und Erwachsene, die schwere Asthmaanfälle bekommen, vor diesen Anfällen gar nichts von ihren Atemproblemen wussten.
Alexithymie: Keine Worte für Gefühle
Ich hatte eine verwitwete Tante, die ein schreckliches Trauma erlebt hatte. Sie kam häufig zu Besuch in unsere Familie und wurde für unsere Kinder zu einer Art »Ehrengroßmutter«. Wenn sie uns besuchte, wurde immer viel getan und gearbeitet – Vorhänge wurden genäht, Küchenregale umorganisiert und Kinderkleidung hergestellt –, nur geredet wurde wenig. Sie war stets bemüht, es allen recht zu machen, doch es war schwer herauszufinden, was ihr Freude machte. Nachdem einige Tage mit dem Austausch von Höflichkeiten vergangen waren, kam das Gespräch mit ihr meist völlig zum Erliegen, und ich musste mir große Mühe geben, um zu verhindern, dass die langen Schweigepausen allzu peinlich wurden. Am letzten Tag ihrer Besuche fuhr ich sie zum Flughafen, wo sie mich zum Abschied etwas steif umarmte, während ihr Tränen über das Gesicht strömten. Ohne jede Spur von Selbstironie klagte sie dann, der kalte Wind auf dem Logan International Airport treibe ihr das Wasser in die Augen. Ihr Körper verspürte eine Traurigkeit, die ihr Geist nicht zu erkennen vermochte – sie verließ unsere junge Familie, ihre nächsten noch lebenden Verwandten.
Psychiater bezeichnen dieses Phänomen als Alexithymie – das griechische Wort dafür, dass Menschen ihre Gefühle nicht in Worte fassen können. Viele traumatisierte Kinder und Erwachsene können nicht beschreiben, was sie fühlen, weil sie nicht wissen, was ihre physischen Empfindungen bedeuten. Sie mögen so aussehen, als ob sie wütend wären, leugnen dies aber; sie mögen entsetzt wirken, sagen aber, alles sei in Ordnung. Weil sie nicht unterscheiden können, was in ihrem Körper vor sich geht, haben sie keinen Kontakt zu ihren Bedürfnissen. Deshalb fällt es ihnen schwer, adäquat mit ihren Bedürfnissen umzugehen, ganz gleich, ob es darum geht, zum richtigen Zeitpunkt die richtige Menge zu essen, oder darum, den notwendigen Schlaf zu bekommen.
Wie meine Tante nutzen Alexithymiker die »Sprache des Handelns« statt der »Sprache der Emotionen«. Auf die Frage »Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie einen Lastwagen mit 130 km/h auf sich zukommen sähen?« würden die meisten Menschen antworten: »Ich wäre entsetzt« oder »Ich würde vor Angst erstarren«. Ein Alexithymiker hingegen würde in solch einem Fall antworten: »Wie ich mich fühlen würde? Ich weiß nicht … Ich würde mich in Sicherheit bringen.« 18 Alexithymiker neigen dazu, Emotionen als körperliche Probleme zu registrieren statt als Signale, die sie darauf hinweisen, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas richten müssen. Statt sich wütend oder traurig zu fühlen, empfinden sie Muskelschmerzen, Verdauungsprobleme oder andere Symptome ohne feststellbare Ursache. Etwa drei Viertel der Patienten mit Anorexia nervosa und über die Hälfte aller Bulimiker werden durch ihre Emotionen in Verwirrung gebracht, und es fällt ihnen sehr schwer, diese zu beschreiben. 19 Als Forscher einmal Alexithymikern Bilder von Gesichtern zeigten, die Wut oder Verzweiflung ausdrückten, vermochten die Probanden nicht zu sagen, was die abgebildeten Personen empfanden. 20
Einer der Ersten, die mir etwas über Alexithymie beibrachten, war der Psychiater Henry Krystal. Er hat mit über tausend Holocaust-Überlebenden gearbeitet und sich in diesem Rahmen bemüht, schwere psychische Traumata zu verstehen. 21 Krystal, der selbst in einem KZ gewesen war, fiel auf, dass viele seiner Patienten beruflich erfolgreich waren, wohingegen ihre intimen Beziehungen freudlos und distanziert waren. Die Unterdrückung ihrer Gefühle hatte ihnen ermöglicht, in ihrem Beruf erfolgreich zu sein, aber dies hatte für sie einen Preis gehabt. Sie hatten gelernt, ihre ehemals überwältigenden Emotionen »abzuschalten«, doch die Folge war, dass sie nicht mehr erkennen konnten, was sie empfanden. Nur wenige von ihnen waren überhaupt an einer Therapie interessiert.
Paul Frewen führte an der University of Western Ontario Gehirnscans an PTBS -Kranken durch, die unter Alexithymie litten. Einer der Teilnehmer dieser Untersuchungen sagte zu ihm: »Ich weiß nicht, was ich fühle. Es ist, als wären mein Kopf und mein Körper nicht miteinander verbunden. Ich lebe in einem Tunnel, einem Nebel; und ganz egal, was passiert, ich reagiere immer gleich darauf – nämlich gefühllos, also praktisch gar nicht. Ob ich ein Schaumbad nehme, mir eine Verbrennung zuziehe oder vergewaltigt werde, für mich ist es immer das gleiche Gefühl. Mein Gehirn fühlt nicht.« Frewen und seine Kollegin Ruth Lanius stellten fest, dass die Aktivität in den für das Selbstempfinden zuständigen Gehirnbereichen um so schwächer war, je weniger Kontakt die Untersuchten zu ihren Gefühlen hatten. 22
Weil Traumatisierte oft nicht spüren, was in ihrem Körper vor sich geht, sind sie zu nuancierten Reaktionen auf Frustration häufig nicht in der Lage. Deshalb reagieren sie auf Stress entweder, indem sie »abtreten« oder indem sie übertrieben wütend werden. Und völlig unabhängig davon, wie sie reagieren, sind sie oft nicht in der Lage zu sagen, was sie in Rage gebracht hat. Der mangelnde Kontakt zu ihrem Körper trägt zu ihrem wohlbekannten Mangel an Selbstschutz und zu der hohen Zahl von Reviktimisierungen in dieser Gruppe bei 23 sowie zu den großen Schwierigkeiten mit dem Empfinden von Freude und Sinnlichkeit sowie zur Störung ihres Sinngefühls.
Die Situation von Alexithymikern kann sich nur bessern, wenn sie lernen, die Verbindung zwischen ihren physischen Empfindungen und ihren Emotionen zu erkennen, so wie Farbblinde zur farbigen Welt nur in Kontakt treten können, indem sie lernen, Grauschattierungen zu unterscheiden. Wie meine Tante und Henry Krystals Patienten sträuben sie sich jedoch gewöhnlich, sich damit zu beschäftigen: Die meisten scheinen sich unbewusst für die Auffassung entschieden zu haben, es sei für sie besser, weiter Ärzte aufzusuchen, die ihnen nicht helfen können, und Krankheiten zu behandeln, die nicht heilen, als sich der schmerzhaften Konfrontation mit den Dämonen ihrer Vergangenheit zu stellen.
Depersonalisation
Einen Schritt weiter abwärts auf dem Weg in die Selbstvergessenheit liegt die Depersonalisation – der Verlust des Selbstempfindens. Utes Gehirnscan, mit dem wir uns in Kapitel 4 beschäftigt haben, ist ein anschauliches Beispiel für Depersonalisation. Im Laufe traumatischer Erlebnisse tritt das Phänomen Depersonalisation häufig auf. Als ich einmal spätabends in einem Park in der Nähe meines Hauses überfallen wurde, sah ich mich von oben mit einer kleinen Kopfwunde im Schnee liegen, umringt von drei Messer schwingenden Teenagern. Ich dissoziierte den Schmerz, der von den Stichwunden an meinen Händen ausging, und empfand nicht die geringste Angst, während ich mit den Jugendlichen ruhig darüber verhandelte, dass sie mir meine geleerte Geldbörse zurückgeben sollten.
Dass bei mir keine PTBS entstand, lag meiner Meinung nach teilweise daran, dass ich sehr neugierig darauf war, etwas zu erleben, womit ich mich bei anderen Menschen so intensiv befasst hatte, und teilweise daran, dass ich irrigerweise glaubte, ich könnte eine Zeichnung von den Tätern anfertigen und diese der Polizei geben. Obwohl sie natürlich nie gefasst wurden, muss meine Rachefantasie mir das befriedigende Gefühl gegeben haben, etwas Sinnvolles tun zu können.
Traumatisierte können sich in der Regel weniger glücklich schätzen, und sie fühlen sich von ihrem Körper getrennt. Eine besonders gute Beschreibung der Depersonalisation stammt von dem deutschen Psychoanalytiker Paul Schilder, der im Jahre 1922 24 in Berlin schrieb: »Den Depersonalisierten erscheint die Welt fremd, eigentümlich, unheimlich, wie traumhaft. Die Gegenstände erscheinen manchmal sonderbar verkleinert, manchmal flach. Klänge kommen aus der Ferne … Das Gefühlsleben zeigt gleichfalls schwere Störungen. Die Patienten klagen, sie könnten weder Lust noch Unlust empfinden, … ihre Klagen gipfeln darin, sie seien sich selbst fremd geworden.«
Ich war fasziniert, als ich erfuhr, dass eine Gruppe von Neurowissenschaftlern an der Universität Genf 25 ähnliche Erlebnisse des Austretens aus dem eigenen Körper hatte hervorrufen können, indem sie eine bestimmte Region im Gehirn, den temporoparietalen Übergang , mit einem leichten elektrischen Strom stimuliert hatten. Eine Probandin hatte infolge dieser Behandlung das Gefühl gehabt, sie hinge unter der Decke und schaue auf ihren eigenen Körper hinab; bei einer anderen Untersuchungsteilnehmerin stellte sich das unheimliche Gefühl ein, jemand stehe hinter ihr. Diese Untersuchung hat etwas bestätigt, was uns immer wieder Patienten berichten: dass sich das Selbst vom Körper lösen und eine eigenständige Phantomexistenz entwickeln kann. Auch Lanius und Frewen sowie eine Gruppe von Forschern an der Universität Groningen in den Niederlanden 26 haben bei Menschen Gehirnscans durchgeführt, die ihr Entsetzen dissoziiert hatten. Die Forscher stellten bei diesen Untersuchungen fest, dass die Furchtzentren im Gehirn schlicht abschalten, wenn sie sich an das auslösende Ereignis erinnern.
Mit dem eigenen Körper Freundschaft schließen
Traumatisierte können erst genesen, wenn sie sich mit den Empfindungen in ihrem Körper vertraut gemacht und mit ihnen Freundschaft geschlossen haben. Wütende Menschen leben in einem wütenden Körper. Der Körper von Menschen, die als Kinder missbraucht oder misshandelt wurden, ist angespannt und defensiv, bis die Betreffenden eine Möglichkeit finden, sich zu entspannen und sich wieder sicher zu fühlen. Menschen können sich erst verändern, wenn sie ihrer Empfindungen und der Interaktion ihres Körpers mit seiner Umgebung gewahr sind. Körperliches Selbstgewahrsein ist der erste Schritt auf dem Weg zur Befreiung von der Tyrannei der Vergangenheit.
Wie können Menschen sich die innere Welt ihrer Empfindungen und Emotionen erschließen? Im Rahmen meiner therapeutischen Arbeit versuche ich meinen Patienten zunächst zu helfen, die Empfindungen in ihrem Körper zu registrieren, und dann, diese zu beschreiben – damit meine ich nicht Emotionen wie Wut, Angst oder Furcht, sondern die physischen Empfindungen, die den Emotionen zugrunde liegen: Druck, Wärme, Muskelanspannung, Kribbeln, das Gefühl, einzusinken, hohl zu sein usw. Außerdem versuche ich herauszufinden, welche Empfindungen für bestimmte Patienten mit Entspannung oder Freude verbunden sind. Ich helfe ihnen, ihrer Atmung sowie ihrer Gesten und Bewegungen gewahr zu werden. Ich fordere sie auf, die subtilen Veränderungen in ihrem Körper zu registrieren, beispielsweise Angespanntheit im Brustbereich oder ein nagendes Gefühl im Bauch, wenn sie über negative Ereignisse sprechen, von denen sie behaupten, diese machten ihnen nichts aus.
Empfindungen zum ersten Mal zu bemerken kann sehr belastend sein und Flashbacks hervorrufen, auf die Betroffene manchmal reagieren, indem sie sich »einigeln« oder sich in eine andere Defensivhaltung versetzen. Dies sind somatische Reinszenierungen eines unverarbeiteten Traumas, und mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich um Haltungen der Betroffenen zum Zeitpunkt des Traumas. In solchen Fällen können Patienten von Vorstellungsbildern und physischen Empfindungen überflutet werden, und der Therapeut muss die Fluten der Empfindungen und Emotionen eindämmen können, um zu verhindern, dass infolge des erneuten Kontakts mit dem früher Erlebten eine Retraumatisierung stattfindet. (Lehrer, Pflegepersonal und Polizisten sind oft sehr erfahren in der Beruhigung bei Schreckensreaktionen, weil sie fast täglich auf Menschen treffen, die außer sich und infolge schrecklicher und schmerzhafter Erlebnisse völlig desorganisiert sind.)
Doch nur zu oft werden solchen Patienten Psychopharmaka wie Abilify, Zyprexa und Seroquel verschrieben, statt dass man ihnen beibringt, mit solchen unangenehmen körperlichen Reaktionen umzugehen. Natürlich betäuben chemische Mittel die Empfindungen nur und tragen nicht zu ihrer Auflösung oder zur Verwandlung der toxischen Stoffe in Verbündete bei.
Die natürlichste Art, auf die Menschen sich beruhigen können, besteht darin, sich an einem anderen Menschen festzuhalten. Doch Patienten, die körperlich misshandelt oder sexuell missbraucht worden sind, befinden sich diesbezüglich in einem Dilemma: Sie sehnen sich verzweifelt nach Berührung, schrecken aber gleichzeitig vor jedem Körperkontakt zurück. Ihr Geist muss wieder in die Lage versetzt werden, körperliche Empfindungen zu spüren, und ihr Körper muss wieder lernen, die angenehme Wirkung von Berührungen zuzulassen und zu genießen. Menschen, denen es an emotionalem Gewahrsein mangelt, können durch entsprechende Übung lernen, ihre körperlichen Empfindungen mit psychischen Ereignissen in Verbindung zu bringen. Und nachdem ihnen dies gelungen ist, können sie allmählich die Verbindung zu sich selbst wiederherstellen. 27
Kontakt zu uns selbst und anderen herstellen
Zum Schluss dieses Kapitels werde ich noch eine letzte Studie vorstellen, aus der hervorgeht, welchen Preis Menschen zahlen, wenn sie ihren Körper bzw. den Kontakt zu ihm verlieren. Nachdem Ruth Lanius und ihre Gruppe das Gehirn im untätigen Zustand gescannt hatten, konzentrierten sich die Forscher auf eine andere Frage aus dem Alltagsleben: Was passiert bei chronisch Traumatisierten, wenn sie zu anderen Menschen in Blickkontakt treten?
Viele Patienten, die mich aufsuchen, sind nicht in der Lage, Blickkontakt herzustellen. Ich erkenne sofort, wie schlecht es ihnen geht, wenn ich merke, wie schwer es ihnen fällt, meinem Blick zu begegnen. In solchen Fällen stellt sich gewöhnlich heraus, dass sie sich als ekelhaft empfinden und es nicht ertragen können, dass ich sehe, wie abscheulich (aus ihrer Sicht) sie sind. Mir war nie der Gedanke gekommen, dass sich solche starken Schamgefühle in einer abnormen Aktivierung des Gehirns spiegeln könnten. Ruth Lanius wies auch bei dieser Untersuchung nach, dass Geist und Gehirn sich nicht voneinander trennen lassen – was in einem von beiden geschieht, wird im anderen registriert.
Ruth kaufte sich ein teures Gerät, das einem Probanden, der in einem Gehirnscanner liegt, in einem Video eine Figur vorführt. (Im konkreten Fall ähnelte die Gestalt einem freundlichen Richard Gere.) Diese Figur konnte sich dem Probanden entweder frontal nähern (wobei sie ihn direkt anschaute) oder in einem Winkel von 45 Grad mit abgewandtem Blick. Dies ermöglichte, die Wirkung von direktem Blickkontakt auf die Gehirnaktivierung mit derjenigen eines abgewandten Blicks zu vergleichen. 28
Der auffälligste Unterschied zwischen normalen Probanden und chronisch traumatisierten bestand in der Aktivierung des Präfrontalkortex in Reaktion auf direkten Blickkontakt. Der PFK hilft uns normalerweise, eine Person, die auf uns zukommt, einzuschätzen, und mithilfe unserer Spiegelneuronen können wir dann die Intentionen des Betreffenden erkennen. Da jedoch bei Probanden mit einer PTBS kein Teil des Frontallappens aktiviert wurde, waren diese offenbar nicht in der Lage, an der fremden Person irgendwelche Auffälligkeiten zu erkennen. Sie reagierten auf die Begegnung lediglich mit einer starken Aktivierung tief in den für Emotionen zuständigen Arealen ihres Gehirns, den primitiven Bereichen, die unter dem Namen zentrales Höhlengrau (Substantia grisea centralis ) bekannt sind und die Erschrecken, Hypervigilanz, Niederkauern und andere dem Selbstschutz dienende Verhaltensweisen initiieren. Bei den traumatisierten Probanden war keine Aktivierung in irgendeinem der für soziales Engagement wichtigen Gehirnbereiche zu erkennen. Wenn jemand sie anschaute, wechselten sie stereotyp in den überlebenssichernden Verhaltensmodus.
Wie wirkt sich dies auf die Fähigkeit solcher Menschen, Freunde zu finden und mit anderen Menschen zurechtzukommen, aus? Und was bedeutet es für ihre Therapie? Können Patienten mit einer PTBS einem Therapeuten ihre tiefsten Ängste anvertrauen? Um eine wirklich tiefe Beziehung aufbauen zu können, muss man andere Menschen als eigenständige Wesen erleben können, die spezielle Motive und eigene Intentionen haben. Man muss einerseits eine eigene Position vertreten können, aber andererseits auch (an)erkennen, dass andere Menschen eigene Ziele verfolgen. Ein Trauma kann all dies als unklar und grau erscheinen lassen.