Die Wurzeln der Resilienz … sind in dem Gefühl zu suchen, von Geist und Herz eines liebevollen, eingestimmten und selbstbeherrschten Anderen verstanden zu werden und darin geborgen zu sein.
Diana Fosha
Die Children’s Clinic des Massachusetts Mental Health Center war gefüllt mit gestörten und äußerst störenden Kindern. Diese wilden Geschöpfe konnten keinen Augenblick still sitzen und schlugen und bissen ständig andere Kinder und manchmal sogar das Personal der Klinik. Sie kamen plötzlich zu jemandem gerannt und klammerten sich an ihm fest, und im nächsten Augenblick liefen sie in einem Zustand des Schreckens wieder davon. Einige masturbierten zwanghaft; andere schlugen Gegenstände, Haustiere und sich selbst. Sie hungerten einerseits nach Zuneigung und waren andererseits wütend und widerspenstig. Insbesondere die Mädchen konnten auf eine geradezu schmerzhafte Weise gefügig sein. Ganz gleich, ob sich diese Kinder trotzig oder klettenhaft verhielten, sie waren offenbar alle nicht in der Lage, ihre Umgebung zu erkunden oder zu spielen, wie Kinder ihres Alters es eigentlich zu tun pflegen. Einige hatten kaum ein Selbstempfinden entwickelt — sie erkannten sich nicht einmal selbst in einem Spiegel.
Damals wusste ich ziemlich wenig über Kinder, einmal abgesehen von dem, was mir meine beiden eigenen Kinder im Vorschulalter beibrachten. Doch ich hatte das Glück, meine Kollegin Nina Fish-Murray kennenzulernen, die nicht nur fünf eigene Kinder großzog, sondern auch bei Jean Piaget in Genf studiert hatte. Piaget hatte seine Theorien über die kindliche Entwicklung aufgrund von sehr genauen direkten Beobachtungen von Kindern entwickelt, wobei er mit seinen eigenen Kindern begonnen hatte. Nina hatte diesen Geist in das damals gerade entstehende Trauma Center am MMHC mitgebracht.
Nina war mit dem ehemaligen Leiter der Abteilung für Psychologie der Harvard University , Henry Murray, verheiratet, einem der Pioniere der Persönlichkeitstheorie, und sie ermutigte sehr engagiert alle jüngeren Fakultätsmitglieder, die ihre Interessen mit ihr teilten. Sie war fasziniert von meinen Geschichten über Kriegsveteranen, weil diese sie an die gestörten Kinder erinnerten, mit denen sie in Schulen in Boston arbeitete. Ninas privilegierte Position und ihr persönlicher Charme erschlossen uns den Zugang zu der Kinderklinik, an der sie arbeitete, eine Institution, die von Kinderpsychiatern geleitet wurde, die sich für Traumata kaum interessierten.
Henry Murray war unter anderem deshalb berühmt geworden, weil er den Thematischen Apperzeptionstest (TAT ) entwickelt hatte. Dies ist ein projektiver Test, bei dem man mithilfe eines Satzes Karten herauszufinden versucht, wie die innere Realität von Menschen ihre Sicht der Welt prägt. Im Gegensatz zu den Rorschach-Karten, die wir bei der Arbeit mit den Veteranen benutzten, sind auf den TAT -Karten realistische, aber mehrdeutige und etwas beunruhigende Szenen zu sehen: ein Mann und eine Frau, die einander nicht anschauen und trübe in die Weite blicken, ein Junge mit einer zerbrochenen Geige. Die zu Testenden werden aufgefordert, über das, was auf den Fotos vor sich geht, Geschichten zu erzählen – was vor der abgebildeten Situation geschehen ist und was als Nächstes geschehen wird. In den meisten Fällen lassen die Deutungen schnell erkennen, was die Getesteten im Augenblick besonders beschäftigt.
Nina und ich beschlossen, eine Serie von Testkarten speziell für Kinder zusammenzustellen; sie sollten auf Bildern basieren, die wir aus im Wartezimmer der Klinik ausliegenden Magazinen ausschnitten. In unserer ersten Studie verglichen wir die Reaktionen von zwölf sechs- bis elfjährigen Patienten aus der Kinderklinik mit denjenigen einer Gruppe von Kindern aus einer Schule in der Nähe, die der Gruppe aus der Klinik hinsichtlich ihres Alters, ihrer Ethnizität, ihrer Intelligenz und der Familienkonstellation weitgehend entsprach. 1 Was die Patienten von den Schulkindern unterschied, waren die Traumata, die sie in ihren Familien erlitten hatten. Unter ihnen befand sich ein Junge, der von seiner Mutter wiederholt verprügelt worden war und sehr mitgenommen aussah; ein Mädchen, das von seinem Vater im Alter von vier Jahren sexuell belästigt worden war; zwei Jungen, die an einen Stuhl gefesselt und ausgepeitscht worden waren; und ein Mädchen, das im Alter von fünf Jahren hatte mit ansehen müssen, wie seine Mutter (eine Prostituierte) vergewaltigt, zerstückelt, verbrannt und in den Kofferraum eines Autos gelegt worden war. Der Zuhälter der Mutter wurde zudem verdächtigt, die Tochter sexuell missbraucht zu haben.
Die Kinder unserer Kontrollgruppe aus der Schule lebten in großer Armut und stammten aus einer heruntergekommenen Gegend Bostons, wo sie regelmäßig Zeugen entsetzlicher Gewalttätigkeit wurden. Während der Zeit, in der die Untersuchung durchgeführt wurde, übergoss ein Junge aus dieser Schule einen Klassenkameraden mit Benzin und zündete es an. Ein anderer Junge geriet auf dem Weg zur Schule zusammen mit seinem Vater und einem Freund in einen Schusswechsel. Er wurde in der Leiste getroffen, und sein Freund wurde getötet. Würden die Reaktionen dieser Schüler auf die Testkarten angesichts einer so starken Präsenz von Gewalttätigkeit in ihrem Umfeld sich von den Reaktionen der stationär behandelten Kinder merklich unterscheiden?
Eine der Testkarten zeigte eine Familienszene: Zwei lächelnde Kinder schauten zu, wie ihr Vater ein Auto reparierte. Alle Kinder, die sich dieses Foto anschauten, erklärten, dass der Mann, der halb unter dem Auto lag, in Gefahr sei. Allerdings erzählten die Kinder aus der Kontrollgruppe Geschichten mit positivem Ausgang – das Auto wurde repariert, und der Vater fuhr mit seinen Kindern beispielsweise zu McDonald’s –, wohingegen sich die traumatisierten Kinder ziemlich grauenhafte Geschichten ausdachten. Ein Mädchen sagte, das kleine Mädchen auf dem Bild werde im nächsten Moment mit seinem Hammer den Schädel des Vaters zertrümmern. Und ein neunjähriger Junge, der schwer misshandelt worden war, erzählte sehr detailreich, der Junge auf dem Bild habe den Wagenheber umgestoßen, und infolgedessen habe das Auto den Körper seines Vaters zerfetzt, und sein Blut sei in der ganzen Garage verspritzt worden.
Während unsere Patienten diese Geschichten erzählten, wurden sie in einen stark erregten und desorganisierten Zustand versetzt. Wir mussten danach eine ziemlich lange Pause einlegen, welche die Teilnehmer am Wasserspender verbrachten oder für Spaziergänge nutzten, bevor wir ihnen die nächste Karte zeigen konnten. Es ist kaum verwunderlich, dass bei den meisten von ihnen ADHS diagnostiziert worden war und dass fast alle Ritalin einnahmen – wobei anzumerken ist, dass das Mittel ihre Erregung in dieser Situation nicht beizulegen vermochte.
Ähnlich reagierten die missbrauchten/misshandelten Kinder auf ein allem Anschein nach harmloses Bild von der Silhouette einer schwangeren Frau, die vor einem Fenster stand. Als wir dieses Bild dem siebenjährigen Mädchen zeigten, das im Alter von vier Jahren sexuell missbraucht worden war, sprach es über Penisse und Vaginen und stellte Nina wiederholt Fragen wie: »Wie viele Männer hast du gebumst?« Wie einige andere sexuell missbrauchte Mädchen, die an der Studie teilnahmen, regte auch dieses Kind sich beim Anblick des Bildes so auf, dass wir die Arbeit unterbrechen mussten. Ein siebenjähriges Mädchen aus der Kontrollgruppe erfasste die schwermütige Atmosphäre des Bildes: Seine Geschichte handelte von einer verwitweten Frau, die traurig aus dem Fenster schaute, weil sie ihren Mann vermisste. Doch schließlich fand die Frau einen liebevollen Mann, der ihrem Kind ein guter Vater war.
Die Reaktionen auf die Karten zeigten in allen Fällen, dass die Kinder, die nicht missbraucht/misshandelt worden waren, noch Vertrauen zur essenziellen Gutartigkeit des Universums hatten; sie konnten sich vorstellen, wie man sich aus üblen Situationen befreien konnte. Sie fühlten sich in ihren Ursprungsfamilien geschützt und sicher und zumindest von einem Elternteil geliebt, und das schien sich auf ihre Bereitschaft, sich in der Schule zu engagieren und etwas zu lernen, entscheidend auszuwirken.
Hingegen waren die Reaktionen der Kinder aus der Klinik beunruhigend. Selbst die harmlosesten Bilder riefen bei ihnen starke Gefühle der Gefährdung, Aggression, sexuelle Erregung und Entsetzen hervor. Wir hatten die Fotos für die Kinder nicht nach dem Kriterium ausgewählt, ob sie irgendeine verborgene Bedeutung enthielten, die sich sensiblen Menschen erschließen würde; es handelte sich vielmehr um ganz normale Bilder aus dem Alltagsleben. So, wie die Kinder aus der Klinik sich verhielten, konnten wir nur schließen, dass für sie die ganze Welt voller Trigger war. Da sie sich in Reaktion auf relativ harmlose Situationen nur katastrophale Resultate vorstellen konnten, war für sie jedes Bild auf einer Leinwand oder auf einer Plakatwand ein Vorbote einer Katastrophe. In diesem Lichte betrachtet war das bizarre Verhalten der Kinder aus der Kinderklinik durchaus verständlich. 2
Zu meiner Verblüffung wurden die entsetzlichen Erlebnisse der Kinder und die Wirkung dieser Traumata auf ihre Gefühle, ihr Denken und ihre Selbstregulationsfähigkeit während der Mitarbeiterkonferenzen der Klinik so gut wie nie erwähnt. Ihre Krankenakten waren gefüllt mit diagnostischen Etiketten wie »Verhaltensstörung«, »oppositionelles Trotzverhalten« – wenn es sich um besonders wütende oder rebellische Kinder handelte – oder »bipolare Störung«. Fast immer wurde ADHS als »Komorbidität« genannt. Verdeckte dieses veritable Gewitter von Diagnosen das alldem zugrunde liegende Trauma?
Angesichts dieser Ergebnisse sahen wir uns mit zwei großen Herausforderungen konfrontiert. Die eine war, dass wir herausfinden mussten, ob der Grund für die Resilienz der normalen Kinder ihre andere Weltsicht war und, in tiefere Bereiche vorstoßend, wie ein Kind seine persönliche Landkarte (Beschreibung) der Welt entwickelt. Die zweite, ebenso wichtige Frage lautete: Kann man Geist und Gehirn brutal behandelter Kinder helfen, eine neue innere Landkarte zu entwickeln, und ihnen so ein Gefühl des Vertrauens in die Zukunft vermitteln?
Männer ohne Mütter
Der Anstoß zur wissenschaftlichen Erforschung der wichtigen Beziehung zwischen kleinen Kindern und ihren Müttern ging von Engländern der britischen Oberschicht aus, die als kleine Jungen aus ihren Familien gerissen und in Internatsschulen geschickt worden waren, wo sie ausschließlich in Gesellschaft von Menschen ihres Geschlechts erzogen wurden. Als ich das erste Mal die berühmte Tavistock Clinic in London besuchte, fiel mir dort eine Sammlung von Schwarzweißfotografien dieser großen Psychiater des 20. Jahrhunderts auf, die im Treppenhaus entlang der Haupttreppe des Gebäudes aufgereiht waren: John Bowlby, Wilfred Bion, Harry Guntrip, Ronald Fairbairn und Donald Winnicott. Sie alle hatten jeweils auf ihre spezielle Weise erforscht, wie unsere frühen Erlebnisse zu Prototypen für unsere sämtlichen späteren Beziehungen zu anderen Menschen werden und wie durch unseren Austausch mit unseren Bezugspersonen in jedem einzelnen Augenblick unser persönliches Selbstempfinden entsteht.
Wissenschaftler untersuchen in der Regel das, was sie am meisten verwirrt, und deshalb werden sie oft zu Experten für Themen, die andere Menschen für Binsenweisheiten halten. (Die Bindungsforscherin Beatrice Beebe hat einmal gesagt: »Der größte Teil der Forschung ist Ich-Forschung.«) Diese Männer, die es sich zur Aufgabe machten, die Rolle von Müttern im Leben ihrer Kinder wissenschaftlich zu erforschen, waren selbst in einem sehr verletzlichen Alter, irgendwann zwischen dem sechsten und zehnten Lebensjahr, in eine Schule fern von ihrem Elternhaus geschickt worden, lange bevor sie wirklich reif waren, der Welt allein entgegenzutreten. Bowlby selbst hat mir erzählt, George Orwell sei wahrscheinlich durch eigene Erlebnisse in einer Internatsschule dazu inspiriert worden, seinen Roman 1984 zu schreiben, in dem er brillant darstellte, wie man Menschen dazu bringen kann, alles, was ihnen lieb und teuer ist – einschließlich ihres Selbstempfindens –, zu opfern, um von einem anderen Menschen, der für sie eine Autorität darstellt, geliebt und gebilligt zu werden.
Da Bowlby eng mit den Murrays befreundet war, konnte ich anlässlich jedes seiner Besuche an der Harvard University mit ihm über seine Arbeit sprechen. Er war in eine aristokratische Familie hineingeboren worden (sein Vater war der Chirurg der Königsfamilie), und er erhielt in den Tempeln des britischen Establishments eine Ausbildung in Psychologie, Medizin und Psychoanalyse. Nach seinem Studium in Cambridge arbeitete er mit straffälligen Jugendlichen im Londoner East-End, einer Gegend mit hoher Kriminalität, in der es ganz generell ziemlich rau zuging und die durch deutsche Angriffe während des Zweiten Weltkriegs größtenteils zerstört wurde. Während und nach seinem Militärdienst beobachtete Bowlby die Auswirkungen der Evakuierungen im Krieg und der kriegsbedingten Trennung kleiner Kinder von ihren Familien. Auch befasste er sich mit den Auswirkungen von Krankenhausaufenthalten und wies nach, dass sogar kurze Trennungen (damals durften Eltern noch nicht über Nacht bei ihren Kindern in einer Klinik bleiben) das Leiden von Kindern verstärkte. Ende der 1940er-Jahre war Bowlby unter britischen Psychoanalytikern zur Persona non grata geworden, weil er auf dem Standpunkt beharrte, das gestörte Verhalten von Kindern sei eine Reaktion auf reale Erlebnisse – nämlich auf Vernachlässigung, Gewalttätigkeit und Trennung –, also kein Produkt kindlicher sexueller Fantasien. Unverdrossen widmete er sein ganzes weiteres Leben der Entwicklung der später so genannten Bindungstheorie. 3
Eine sichere Basis
Bei unserem Eintritt in die Welt schreien wir, um uns bemerkbar zu machen. Daraufhin kümmert sich sofort jemand um uns, badet uns, wickelt uns, gibt uns etwas zu essen, und, was das Beste ist, unsere Mutter legt uns auf ihren Bauch oder an ihre Brust, und wir erleben einen wonnevollen Kontakt von Haut zu Haut. Wir Menschen sind zutiefst soziale Wesen; unser Lebensziel ist, unseren Platz in der menschlichen Gemeinschaft zu finden. Ein Ausspruch des berühmten französischen Psychiaters Pierre Janet ist mir besonders ans Herz gewachsen: »Jedes Leben ist ein aus allen verfügbaren Mitteln geschaffenes Kunstwerk.«
Während wir erwachsen werden, lernen wir allmählich, sowohl physisch als auch emotional für uns selbst zu sorgen. Doch unsere erste Lektion in Selbstfürsorge erhalten wir durch die Art, auf die andere für uns sorgen. Ob es uns gelingt, die Kunst der Selbstregulation zu meistern, hängt größtenteils davon ab, wie harmonisch unsere frühen Interaktionen mit unseren engsten Bezugspersonen waren. Kinder, die darauf vertrauen konnten, dass ihre Eltern ihnen Trost und Geborgenheit gaben und sie stärkten, haben ihr ganzes Leben lang einen wichtigen Vorteil – eine Art Puffer gegen das Schlimmste, womit das Schicksal sie konfrontieren kann.
John Bowlby erkannte, dass Kinder von Gesichtern und Stimmen bezaubert sind und dass sie äußerst sensibel auf Gesichtsausdruck, Körperhaltung, Stimmcharakter, physiologische Veränderungen, Bewegungsgeschwindigkeiten und einsetzende Aktivität reagieren. Diese angeborene Fähigkeit hielt er für ein Resultat der Evolution, das für das Überleben dieser hilflosen Wesen sehr wichtig war. Kinder sind auch von Natur aus darauf programmiert, einen bestimmten Erwachsenen (oder höchstens einige wenige) auszuwählen, mit dem zusammen sie ihr natürliches Kommunikationssystem entwickeln. Dadurch entsteht eine primäre Bindungsbeziehung. Je offener dieser Erwachsene auf das Kind eingeht, umso tiefer wird die Bindung zwischen beiden und umso wahrscheinlicher entwickelt das Kind gesunde Reaktionen auf die Menschen in seiner Umgebung.
Bowlby besuchte in London oft den Regent’s Park und beobachtete dort systematisch die Interaktionen zwischen Kindern und ihren Müttern. Während die Mütter ruhig auf Parkbänken saßen und strickten oder in einer Zeitung lasen, entfernten sich die Kinder von ihnen, um die Umgebung zu erkunden, schauten aber hin und wieder hinter sich, um sich zu vergewissern, ob ihre Mami sie noch beobachtete. Wenn eine Nachbarin bei der Mutter stehen blieb und deren Aufmerksamkeit durch den neuesten Klatsch abgelenkt wurde, lief das betreffende Kind sofort zurück zu ihr und blieb in ihrer Nähe stehen, um sicher sein zu können, dass die Mutter ihm weiterhin Aufmerksamkeit schenkte. Wenn Babys und Kleinkinder merken, dass ihre Mütter mit ihrer Aufmerksamkeit anderswo sind, werden sie nervös. Und wenn die Mütter außer Sicht sind, fangen sie manchmal an zu weinen oder werden sogar untröstlich; taucht die Mutter wieder auf, beruhigen sie sich in der Regel und wenden sich wieder ihrem Spiel zu.
Bowlby sah die Bindung als sichere Basis, von der aus sich ein Kind in die Welt hinauswagt. Im Laufe der folgenden fünf Jahrzehnte haben wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt, dass die Existenz eines sicheren Hafens bei Kindern die Selbständigkeit fördert und bei ihnen Gefühle der Sympathie und Hilfsbereitschaft gegenüber leidenden anderen weckt. Durch das vertraute Geben und Nehmen in einer Bindungsbeziehung lernen Kinder, dass andere Menschen Gefühle und Gedanken haben, die ihren eigenen einerseits ähneln und sich andererseits von diesen unterscheiden. Sie entwickeln also Verständnis für ihre Umgebung und die Menschen darin sowie Selbstgewahrsein, Empathie, Impulskontrolle und Eigenmotivation, die es ihnen ermöglichen, ihren persönlichen Beitrag als Mitglieder des umfassenderen soziokulturellen Ganzen zu leisten. Diese Qualitäten fehlten den Kindern in unserer Klinik leider völlig.
Der Tanz der Einstimmung
Kinder entwickeln eine Bindung zu ihrer primären Bezugsperson. Ob diese Bindung sicher oder unsicher ist, wirkt sich auf das ganze Leben des Kindes sehr stark aus. Eine sichere Bindung entsteht, wenn die Bezugsperson auf emotionale Einstimmung achtet. Diese beginnt auf den subtilsten Ebenen der Interaktion und vermittelt dem Baby das Gefühl, in seinen Bedürfnissen wahrgenommen und verstanden zu werden. Der in Edinburgh beheimatete Bindungsforscher Colwyn Trevarthen schreibt: »Das Gehirn koordiniert die rhythmischen Körperbewegungen und sorgt dafür, dass sie im Einklang mit den Gehirnen anderer Menschen agieren. Kinder lernen Wohlklang schon vor ihrer Geburt kennen, wenn sie ihre Mutter sprechen hören.« 4
In Kapitel 4 habe ich auf die Entdeckung der Spiegelneuronen hingewiesen, der Verbindung von Gehirn zu Gehirn, die uns empathiefähig macht. Spiegelneuronen erfüllen direkt nach der Geburt ihre Funktion. Wenn der Forscher Andrew Meltzoff an der University of Oregon seine Lippen spitzte oder seine Zunge herausstreckte, spiegelten sechs Stunden alte Babys diese Verhaltensweisen prompt. 5 (Neugeborene können ihre Augen nur auf Objekte fokussieren, die 20–30 Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt sind – also nur bis zu der Person, die sie hält, sehen.) Nachahmung ist unsere wichtigste soziale Fertigkeit. Sie sorgt dafür, dass wir automatisch das Verhalten unserer Eltern, Lehrer und Altersgenossen aufgreifen und spiegeln.
Die meisten Eltern treten mit ihren Babys so spontan in Kontakt, dass ihnen gar nicht klar ist, wie der Zustand der Eingestimmtheit entsteht. Eine Einladung eines Freundes, des Bindungsforschers Ed Tronick, ermöglichte mir, diesen Prozess genauer zu beobachten. Im Laboratory of Human Development der Harvard University sah ich durch einen Einwegspiegel, wie eine Mutter mit ihrem zwei Monate alten Sohn spielte, der in einem Kindersitz saß und das Gesicht seiner Mutter zuwandte.
Sie »unterhielten sich« mit Koselauten und genossen den Austausch offensichtlich – bis die Mutter sich vorbeugte, um das Baby zu hätscheln, und dieses in seiner Begeisterung an ihrem Haar zog. Für die Mutter kam das so überraschend, dass sie vor Schmerz aufschrie, die Hand des Kindes wegstieß und in einem Anflug von Wut ihr Gesicht verzog. Das Baby ließ ihr Haar sofort los, und beide zogen sich physisch voneinander zurück. Die Quelle der Freude war für sie zu einer Quelle des Leids geworden. Das offensichtlich erschrockene Baby bedeckte sein Gesicht mit den Händen, um den Ausdruck der Wut seiner Mutter nicht zu sehen. Als der Mutter klar wurde, dass ihr Baby sich erschrocken hatte, fokussierte sie sich wieder auf das Kind und produzierte beruhigende Laute, um die Beziehung zu ihrem Kind wieder ins Lot zu bringen. Das Baby hielt zwar immer noch die Hände vors Gesicht, aber offenbar sehnte es sich schon bald wieder nach der Verbindung zu seiner Mutter. Deshalb spähte es durch seine Finger, um festzustellen, ob »die Luft rein« war, während seine Mutter mit besorgtem Gesicht vorsichtig wieder physischen Kontakt zu ihm aufnahm. Als sie anfing, den Bauch des Kindes zu kitzeln, ließ es die Arme sinken und fing an zu kichern. Die Harmonie zwischen Mutter und Kind war wiederhergestellt. Sie waren wieder aufeinander eingestimmt. Diese ganze Sequenz eines anfänglich freudigen Austauschs, der plötzlichen Unterbrechung dieser Verbindung, ihrer Wiederherstellung und des erneuten freudigen Austauschs dauerte nicht viel länger als zwölf Sekunden.
Tronick und andere Forscher haben inzwischen nachgewiesen, dass Babys und ihre primären Bezugspersonen im Zustand des Einklangs auf der emotionalen Ebene auch körperlich im Einklang sind. 6 Babys können ihren emotionalen Zustand noch nicht selbst regulieren, ganz zu schweigen von der Herzfrequenz, den Hormonspiegeln und der Aktivität des Nervensystems, die alle in einer Verbindung zu den Emotionen stehen. Befindet sich ein Kind mit seiner primären Bezugsperson in Einklang, spiegelt sich sein Gefühl der Freude und Verbundenheit in seinem regelmäßigen, ruhigen Herzschlag, seiner gleichförmigen Atmung und einem niedrigen Stresshormonspiegel. Sein Körper ist ebenso ruhig wie sein emotionaler Zustand. Wird diese »Musik« unterbrochen – was im Laufe eines normalen Tages häufig passiert –, verändern sich auch alle diese physiologischen Faktoren. Die Wiederherstellung emotionaler Ausgeglichenheit kann man an der Normalisierung der physiologischen Parameter erkennen.
Wir beruhigen Neugeborene, doch ihre Eltern beginnen schon bald nach der Geburt damit, den Kindern beizubringen, wie sie mit einer stärkeren Erregung fertigwerden können – eine Aufgabe, die häufig die Väter übernehmen. (Ich habe den Psychologen John Gottman einmal sagen hören: »Mütter streicheln und Väter stupsen.« (»Mothers stroke, and fathers poke.«) Die Fähigkeit, mit Erregungszuständen umzugehen, brauchen wir Menschen in unserem ganzen Leben, und Eltern helfen ihren Babys, dies zu schaffen, bevor die Kinder es selbst gelernt haben. Wenn ein Baby wegen eines nagenden Gefühls im Bauch zu weinen anfängt, ist prompt die Brust oder die Flasche da. Bekommt das Kind Angst, wird es von jemandem gehalten und durch Wiegen beruhigt. Ist seine Windel voll, kommt jemand und macht es sauber und trocken. Eine Verbindung zwischen starken Emotionen und Sicherheit, Behagen und Meisterung herzustellen ist die Grundlage der Fähigkeit zur Selbstregulation, Selbstberuhigung und Selbstnährung, eine Thematik, auf die ich in diesem Buch immer wieder zurückkommen werde.
Durch eine sichere Bindung in Kombination mit Kompetenzentwicklung entsteht eine innere Kontrollüberzeugung , und dass dies geschieht, ist die entscheidende Voraussetzung für die Fähigkeit, im gesamten weiteren Leben Probleme adäquat zu bewältigen. 7 Sicher gebundene Kinder lernen, was ihnen ein gutes Gefühl vermittelt; sie entdecken, weswegen sie (und andere Menschen) sich schlecht fühlen, und sie entwickeln das Gefühl, durch eigene Aktivität beeinflussen zu können, wie sie sich fühlen und wie andere auf sie reagieren. Sicher gebundene Kinder lernen Situationen, auf die sie Einfluss haben, von solchen, in denen sie Hilfe benötigen, zu unterscheiden. Sie lernen, bei Konfrontation mit einer schwierigen Situation aktiv Einfluss zu nehmen. Hingegen lernen Kinder, die Missbrauch, Misshandlungen oder Vernachlässigung erlebt haben, dass ihr Schrecken, ihre Bitten und ihr Weinen von ihren primären Bezugspersonen ignoriert werden. Nichts, was sie tun können, vermag die schlechte Behandlung, die sie erleben, zu stoppen oder ihnen Aufmerksamkeit und Hilfe zu verschaffen. So werden sie praktisch dazu konditioniert, bei Herausforderungen, mit denen sie später im Leben konfrontiert werden, aufzugeben.
Real werden
Bowlbys Zeitgenosse Donald Winnicott, ein Kinderarzt und Psychoanalytiker, ist der Begründer der modernen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Einstimmung. Den Anfang seiner minutiösen Auseinandersetzung mit dem Verhalten von Müttern und ihren Kindern bildete die Beobachtung dessen, wie Mütter ihre Babys halten. Er kam zu der Auffassung, dass diese physischen Interaktionen die Grundlage für das Selbstempfinden eines Babys schaffen – und damit auch für ein lebenslanges Identitätsempfinden. Der Art, wie eine Mutter ihr Kind hält, liegt »die Fähigkeit, den Körper als den Ort, wo die Psyche lebt, zu empfinden«, 8 zugrunde. Diese viszerale und kinästhetische Empfindung der Beschaffenheit unseres Körpers bildet das Fundament für das, was wir als »real« erleben. 9
Winnicott glaubte, dass die meisten Mütter hinreichend in der Lage seien, im Umgang mit ihren Babys einen Zustand der Einstimmung zu erreichen. – Nach seiner Auffassung erfordert es kein besonderes Talent, das zu sein, was er eine »normale, hingebungsvolle Mutter« 10 nannte. Allerdings kann es schweren Schaden anrichten, wenn Mütter nicht in der Lage sind, die physische Realität ihres Babys zu erfassen und adäquat darauf einzugehen. Vermag die Mutter nicht adäquat auf die Impulse und Bedürfnisse ihres Babys zu reagieren, lernt das Baby zu werden, wie seine Mutter ihr Baby gern hätte. Weil das Kind seine eigenen Empfindungen ignorieren und versuchen muss, sich an die Bedürfnisse seiner primären Bezugsperson anzupassen, gewinnt es den Eindruck, dass daran, wie es ist, »irgendetwas nicht in Ordnung ist«. Bei Kindern, die das Gefühl physischen Einklangs mit ihrer primären Bezugsperson nicht ausreichend erlebt haben, besteht die Gefahr, dass sie das direkte Feedback ihres Körpers, der sie Freude und Sinn erleben lässt und ihnen eine Orientierung gibt, völlig abschalten.
In den Jahren, die vergangen sind, seit Bowlby und Winnicott ihre Ideen entwickelten, haben Bindungsforscher auf der ganzen Welt gezeigt, dass die meisten Kinder sicher gebunden sind. Wenn sie erwachsen werden, hilft ihnen die Tatsache, dass sie verlässliche und einfühlsame Fürsorge erlebt haben, ihre Furcht und Angst zu bezwingen. Gelingt es ihnen auf diese Weise, das Einwirken eines überwältigenden Ereignisses, eines Traumas, das ihr Selbstregulationssystem funktionsunfähig macht, zu verhindern, können sie ihr ganzes Leben lang einen grundlegenden Zustand emotionaler Sicherheit aufrechterhalten. Eine sichere Bindung ist auch eine gute Voraussetzung für den Aufbau von Beziehungen. Sie spüren, was andere fühlen, und lernen schon früh, ein Spiel von der Realität zu unterscheiden, und außerdem entwickeln sie einen guten »Riecher« für Situationen, in denen »etwas faul« ist, sowie für gefährliche Menschen. Sicher gebundene Kinder sind in der Regel angenehme Spielkameraden, und dies ermöglicht ihnen viele selbstbestätigende Erlebnisse mit Gleichaltrigen. Wenn sie gelernt haben, sich mit anderen Menschen in Einklang zu bringen, können sie subtile Veränderungen des Ausdrucks von Stimmen und Gesichtern besser erkennen und ihr Verhalten dementsprechend anpassen. Sie lernen, mit anderen ein bestimmtes Verständnis der Welt zu teilen, und werden wahrscheinlich zu geschätzten Mitgliedern der Gemeinschaft, in der sie leben.
Diese positive Entwicklungsperspektive kann durch Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung ins Negative gewendet werden. Missbrauchte/misshandelte Kinder registrieren Veränderungen des stimmlichen und mimischen Ausdrucks oft sehr genau, neigen aber dazu, diese als Gefahren wahrzunehmen, statt sie als Signale aufzufassen, die ihnen helfen, mit anderen Menschen in Einklang zu bleiben. Dr. Seth Pollak von der University of Wisconsin führte einer Gruppe normaler achtjähriger Kinder eine Serie von Gesichtern vor und verglich deren Reaktionen auf die Fotos mit denjenigen einer Gruppe missbrauchter oder misshandelter Kinder gleichen Alters. Diese zweite Gruppe registrierte die geringsten Anzeichen von Wut und Ärger auf den Gesichtern. 11
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Dies ist einer der Gründe dafür, dass missbrauchte oder misshandelte Kinder so leicht defensiv reagieren oder Angst bekommen. Stellen Sie sich vor, Sie gehen auf dem Korridor einer Schule durch ein Meer von Gesichtern und wollen herausfinden, wer Sie angreifen könnte. Kinder, die auf die Aggression Gleichaltriger überreagieren, die Bedürfnisse anderer Kinder nicht erkennen und sich schnell verschließen oder leicht die Kontrolle über ihre Impulse verlieren, werden von Mitschülern gemieden und nicht zum Spielen oder zu Übernachtungsbesuchen eingeladen. Manchmal lernen sie mit der Zeit, ihre Furcht zu verbergen, indem sie sich als besonders »harte Jungs« aufspielen. Oder sie verbringen zunehmend Zeit allein vor dem Fernsehen oder mit Computerspielen, wodurch sie hinsichtlich ihrer interpersonalen Fertigkeiten und der Fähigkeit zu emotionaler Selbstregulation noch größere Schwierigkeiten bekommen.
Das Bedürfnis nach Bindungserlebnissen lässt nie nach. Die meisten Menschen können es nicht ertragen, länger ohne andere Menschen auskommen zu müssen. Diejenigen, die keine Möglichkeit haben, in ihrem beruflichen Umfeld, mit Freunden oder in ihrer Familie Gebundenheit zu erleben, suchen diese oft auf andere Weise, beispielsweise in Form von Krankheiten, Gerichtsprozessen oder Familienfehden. Alles ist dem unerträglichen Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit und der Entfremdung vorzuziehen.
Vor einigen Jahren wurde ich am 24. Dezember in das Gefängnis von Suffolk County gerufen, um dort einen vierzehnjährigen Jungen zu untersuchen. Jack war inhaftiert worden, weil er in das Haus von Nachbarn, die gerade in Urlaub waren, eingebrochen war. Als die Polizei ihn im Wohnzimmer des Hauses fand, heulte die Alarmanlage.
Die erste Frage, die ich Jack stellte, war, was er glaube, wer ihn zu Weihnachten im Gefängnis besuchen würde. Er antwortete: »Niemand. Um mich kümmert sich doch sowieso nie jemand.« Wie sich herausstellte, war er schon etliche Male bei Einbrüchen erwischt und verhaftet worden. Er kannte die Polizisten, und sie kannten ihn. Mit deutlichem Vergnügen erzählte er, als die Polizisten ihn im Wohnzimmer des Nachbarhauses entdeckt hätten, hätten sie gebrüllt: »Ach du Sch…, schon wieder Jack, dieses kleine A…!« Jemand hatte ihn erkannt; jemand kannte seinen Namen. Ein wenig später gestand Jack: »Wissen Sie, deshalb ist die Sache doch nur der Mühe wert.« Kinder würden fast alles tun, wenn es für sie wichtig ist, sich gesehen und verbunden zu fühlen.
Mit den Eltern, die man hat, leben
Kinder haben einen biologischen Instinkt, der sie eine Bindung suchen lässt – sie haben gar keine andere Wahl, als dies zu tun. Ob ihre Eltern oder Betreuer liebevoll und fürsorglich oder distanziert und unsensibel sind und sie zurückweisen oder gar misshandeln oder missbrauchen, sie entwickeln in jedem Fall eine Methode, mit ihrer Situation fertigzuwerden, wobei sie von dem Bemühen angetrieben werden, dafür zu sorgen, dass ihre Bedürfnisse zumindest zum Teil erfüllt werden.
Wir verfügen heute über zuverlässige Möglichkeiten, diese Bewältigungs- oder Coping-Stile zu erschließen und zu identifizieren, und dass wir dies können, ist größtenteils der Arbeit zweier amerikanischer Wissenschaftlerinnen zu verdanken, Mary Ainsworth und Mary Main, die mit Kollegen über viele Jahre Tausende von Stunden lang Mutter-Kind-Paare beobachtet haben. Auf der Grundlage dieser Studien entwickelte Ainsworth ein Forschungswerkzeug, das sie den »Fremde Situation«-Test nannte und das sehr genau untersucht, wie Babys auf eine zeitweilige Trennung von ihrer Mutter reagieren. Bowlby hatte beobachtet, dass sicher gebundene Kinder Kummer empfinden, wenn ihre Mutter sie verlässt, dass sie sich freuen, wenn die Mutter zurückkehrt, und dass sie sich nach einer kurzen Phase der Wiederherstellung ihrer Selbstsicherheit wieder beruhigen und dann mit ihrem Spiel fortfahren.
Bei unsicher gebundenen Kindern jedoch ist das Bild komplexer. Wenn die primäre Bezugsperson unzugänglich ist oder sich ablehnend verhält, lernen Kinder, mit ihrer Angst auf zwei Arten umzugehen. Den Forschern fiel auf, dass einige dieser Kinder ihren Müttern gegenüber ständig aufgebracht waren und sich fordernd verhielten, während andere eher passiv und verschlossen wirkten. In beiden Gruppen beruhigte der wiederhergestellte Kontakt zur Mutter die Kinder nicht – sie kehrten nicht zufrieden zu ihrem Spiel zurück, wie sicher gebundene Kinder es zu tun pflegen.
Kinder mit einer bestimmten Art von Bindungsmuster, »vermeidende Bindung« genannt, wirken, als könnte nichts sie beunruhigen – sie weinen nicht, wenn ihre Mutter sie verlässt, und sie reagieren auch nicht, wenn sie wieder zu ihnen zurückkommt. Das bedeutet jedoch nicht, dass das, was geschieht, sie nicht berührt. Vielmehr zeigt ihre chronisch erhöhte Herzfrequenz, dass sie sich ständig in einem Zustand starker Erregung befinden. Meine Kollegen und ich nennen dieses Muster »dealing but not feeling« (»sich mit etwas beschäftigen, aber dabei nichts empfinden«). 12 Die meisten Mütter vermeidend gebundener Kinder scheinen ihre Kinder nicht gern zu berühren. Es fällt ihnen schwer, die Babys zu liebkosen und zu halten, und sie nutzen ihren Gesichtsausdruck und ihre Stimme nicht, um einen für sie selbst und das Kind angenehmen Austausch zu initiieren.
Im Falle eines anderen Musters mit Namen »ängstliche oder ambivalente Bindung« versuchen die Kinder ständig, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem sie sich anklammern, schreien oder brüllen. Für dieses Muster gibt es den Merkspruch »feeling but not dealing« (»etwas empfinden, aber sich nicht damit beschäftigen«). 13 Kinder dieser Art scheinen der Überzeugung zu sein, dass niemand sie beachten wird, wenn sie sich nicht lautstark bemerkbar machen. Wenn sie nicht wissen, wo ihre Mutter ist, werden sie sehr aufgebracht, doch wenn die Mutter zurückkehrt, beruhigt sie das kaum. Und obwohl sie die Anwesenheit ihrer Mutter nicht zu genießen scheinen, bleiben sie passiv oder wütend auf diese fokussiert, sogar selbst in Situationen, in denen andere Kinder eher spielen würden. 14
Bindungsforscher nehmen an, dass die drei »organisierten« Bindungsstrategien (die der sicheren, der vermeidenden und der ängstlich-ambivalenten Bindung) deshalb »funktionieren«, weil die Kinder in diesen Fällen von ihren primären Bezugspersonen die bestmögliche Art der Zuwendung erhalten. Und wenn Kinder ein konsistentes Muster elterlicher Betreuung erleben – selbst wenn für dieses emotionale Distanziertheit und Gefühllosigkeit charakteristisch sind –, können sie sich an das Muster anpassen und so die Beziehung aufrechterhalten. Natürlich heißt das nicht, dass solche Beziehungen keine Probleme hervorrufen: Bindungsmuster bleiben oft im Erwachsenenalter weiter bestehen. Ängstliche Kleinkinder wachsen zu ängstlichen Erwachsenen heran, und vermeidende Kleinkinder haben als Erwachsene wahrscheinlich weder Kontakt zu ihren eigenen Gefühlen noch zu den Gefühlen anderer Menschen. (Das kommt dann häufig in Ansichten wie der folgenden zum Ausdruck: »Gegen eine anständige Tracht Prügel ist nichts zu sagen. Ich habe auch Prügel bekommen, und dem habe ich meinen heutigen Erfolg zu verdanken.«) In der Schule tyrannisieren vermeidend gebundene Kinder andere Kinder häufig, wohingegen ängstlich gebundene Kinder zu den Opfern Ersterer werden. 15 Doch die Entwicklung eines Menschen ist kein linear verlaufender Prozess, und Resultate wie die genannten können durch viele Erlebnisse verändert werden.
Es gibt aber auch eine Gruppe, die weniger stabil angepasst ist, und aus ihr stammen die meisten Kinder, die wir behandeln, und auch ein großer Teil der Erwachsenen, die in psychiatrischen Kliniken behandelt werden. Vor etwa 20 Jahren identifizierten Mary Main und ihre Kollegen von der University of California in Berkeley eine Gruppe von Kindern (circa 15 Prozent aller von ihnen untersuchten), die nicht in der Lage zu sein schienen herauszufinden, wie sie mit ihren primären Bezugspersonen am besten umgingen. Wie sich herausstellte, bestand das entscheidende Problem darin, dass die Bezugspersonen selbst bei den Kindern Schmerz oder sogar Entsetzen hervorriefen. 16
Kinder in solch einer Situation haben niemanden, an den sie sich wenden können, und sehen sich mit einem unlösbaren Dilemma konfrontiert: Einerseits brauchen sie ihre Mütter, um überleben zu können, und andererseits rufen diese bei den Kindern Furcht hervor. 17 Sie »können sich weder annähern (was den ›Strategien‹ der sicheren und der ambivalenten Bindung entspräche) noch ihre Aufmerksamkeit umorientieren (die › Strategie‹ des Vermeidens) noch fliehen«. 18 Wenn man solche Kinder in einem Kindergarten oder in einem Labor für Bindungsstudien beobachtet, sieht man, dass sie ihre Eltern, wenn diese den Raum betreten, kurz anschauen und dann rasch den Blick abwenden. Weil sie sich nicht entscheiden können, ob sie die Nähe ihrer Eltern suchen oder diese meiden wollen, bewegen sie stereotyp Hände und Knie, wirken wie in Trance, erstarren mit erhobenen Armen oder stehen auf, um die Eltern zu begrüßen, und lassen sich gleich anschließend auf den Boden fallen. Weil sie nicht wissen, bei wem sie in Sicherheit sind und zu wem sie gehören, sind sie völlig Fremden gegenüber manchmal sehr herzlich, schenken aber andererseits niemandem wirklich Vertrauen. Main nennt dieses Bindungsmuster »desorganisierte Bindung«. Man kann es auch als »Furcht ohne jede Aussicht auf eine Auflösung« (»fright without solution«) 19 charakterisieren.
Wie ein desorganisierter innerer Zustand entsteht
Pflichtbewusste Eltern reagieren oft sehr beunruhigt, wenn sie die Bindungsforschung entdecken. Sie sorgen sich dann, dass ihre gelegentliche Ungeduld oder ihr manchmal mangelnder Einklang mit ihren Kindern deren dauerhafte Schädigung zur Folge haben könnte. Im realen Leben sind gelegentliche Missverständnisse, ungeschickte Reaktionen und Kommunikationspannen unvermeidbar. Weil Mütter und Väter Signale übersehen oder einfach mit anderen Dingen beschäftigt sind, bleibt es den Kindern vielfach selbst überlassen herauszufinden, wie sie sich beruhigen können. Solange dies nicht überhandnimmt, ist es unproblematisch. Kinder müssen lernen, mit Frustration und Enttäuschung fertigzuwerden. Wenn ihre primären Bezugspersonen »hinreichend gut« für sie sorgen, lernen sie, dass Brüche in ihrer Beziehung zu ihren Eltern geheilt werden können. Entscheidend ist dabei, ob sie sich auf das Gefühl verlassen können, dass sie bei ihren Eltern oder anderen Betreuern »viszeral sicher« sind. 20
In einer Studie über die Bindungsmuster von mehr als 2000 Kindern aus »normalen« Mittelklassefamilien wurde – jeweils gerundet – bei 62 Prozent der Teilnehmer eine sichere Bindung vorgefunden, bei 15 Prozent eine vermeidende Bindung, bei 9 Prozent eine ängstliche (auch ambivalent genannte) Bindung und bei 15 Prozent eine desorganisierte Bindung. 21 Interessanterweise ging aus dieser großen Studie hervor, dass das Geschlecht der Kinder und ihr Temperament so gut wie keinen Einfluss auf den Bindungsstil haben; beispielsweise entwickeln Kinder mit einem »schwierigen« Temperament nicht häufiger als andere eine desorganisierte Bindung. Bei Kindern aus schlechter gestellten sozioökonomischen Gruppen, deren Eltern aufgrund von ökonomischer und familiärer Instabilität oft besonders gestresst sind, kommt eine desorganisierte Bindung häufiger vor. 22
Kinder, die sich in der frühen Kindheit nicht sicher fühlen, haben später Schwierigkeiten, ihre Stimmungen und emotionalen Reaktionen zu regulieren. Wenn desorganisiert gebundene Kinder das Vorschulalter erreichen, sind sie oft entweder aggressiv oder teilnahmslos, und im Laufe der Zeit entstehen bei ihnen viele psychische Probleme. 23 Außerdem lassen sie mehr physiologische Anzeichen für Stress erkennen, beispielsweise in Form eines Anstiegs der Herzfrequenz und von Veränderungen der Herzratenvariabilität (HRV ) 24 , und ihr Immunsystem ist nur eingeschränkt funktionsfähig. 25 Normalisiert sich diese biologische Dysregulation automatisch wieder, wenn das Kind erwachsen wird oder in eine sichere Umgebung wechselt? Soweit wir bis heute wissen, ist das nicht der Fall.
Missbrauch und Misshandlungen durch die eigenen Eltern sind nicht die einzigen Ursachen für desorganisierte Bindungen: Auch Eltern, die stark mit eigenen Traumata beschäftigt sind, beispielsweise weil sie häusliche Gewalt oder eine Vergewaltigung erlebt haben oder weil ihr Partner oder sogar ein eigenes Kind kürzlich gestorben ist, können emotional zu instabil sein und sich zu widersprüchlich verhalten, als dass sie ihren Kindern die notwendige Geborgenheit und ausreichenden Schutz bieten könnten. 26 – 27 Zwar benötigen grundsätzlich alle Eltern so viel Hilfe wie möglich, um ihre Kinder adäquat aufziehen zu können, doch muss insbesondere traumatisierten Eltern geholfen werden, sich in die Bedürfnisse ihrer Kinder einzufühlen.
Primären Bezugspersonen ist oft nicht klar, dass ihr Umgang mit ihrem Kind nicht dem entspricht, was das Kind tatsächlich braucht. Ich erinnere mich noch sehr gut an eine Videoaufnahme, die mir Beatrice Beebe vorführte. 28 Sie zeigte eine junge Mutter, die mit ihrem drei Monate alten Kind spielte. Alles verlief völlig normal, bis sich das Baby plötzlich zurückzog, indem es seinen Kopf abwendete und so signalisierte, dass es eine Verschnaufpause brauchte. Doch die Mutter verstand dieses Signal nicht und intensivierte ihre Bemühungen, die Aufmerksamkeit des Kindes zu gewinnen, indem sie ihr Gesicht näher an das des Kindes heranbrachte und lauter mit ihm sprach. Als der kleine Junge sich daraufhin noch stärker zurückzog, intensivierte die Mutter ihre Bemühungen erneut und machte sich noch hektischer an dem Kind zu schaffen. Schließlich fing der Junge an zu schreien, woraufhin die Mutter ihn absetzte und sich niedergeschlagen entfernte. Ganz offensichtlich fühlte sie sich schrecklich, obwohl nichts weiter geschehen war, als dass sie die entscheidenden Signale des Kindes nicht erkannt hatte. Man kann sich leicht vorstellen, wie die mangelnde Einstimmung, die dieses Kind erlebt, sofern sie sich häufiger wiederholt, allmählich zu einer chronischen Störung seiner Beziehung zu seiner Mutter führen kann. (Wer schon einmal ein zu Koliken neigendes oder hyperaktives Kind aufgezogen hat, weiß, wie schnell Stress eskaliert, wenn alle Bemühungen um eine Verbesserung der aktuellen Situation scheitern.) Gelingt es einer Mutter wiederholt nicht, ihr Baby zu beruhigen und eine für beide Seiten erfreuliche Interaktion zu initiieren, gelangt die Mutter wahrscheinlich irgendwann zu der Überzeugung, sie habe ganz einfach ein »schwieriges« Kind, das ihr das Gefühl vermittle, als Mutter eine Versagerin zu sein, und deshalb stellt sie ihre Bemühungen, das Kind zu beruhigen, völlig ein.
In der Praxis ist es oft schwer, die durch eine desorganisierte Bindung entstehenden Probleme von auf Traumata beruhenden zu unterscheiden, weil beide Ursachen in vielen Fällen miteinander verflochten sind. Meine Kollegin Rachel Yehuda hat die Stärke von PTBS -Erkrankungen bei erwachsenen New Yorkern, die überfallen oder vergewaltigt worden waren, untersucht. 29 In der Untergruppe der Probanden, deren Mütter den Holocaust überlebt hatten und die unter PTBS litten, lag die Zahl derer, bei denen nach den traumatischen Erlebnissen schwere psychische Probleme aufgetreten waren, deutlich höher. Die plausibelste Erklärung hierfür ist, dass sie aufgrund ihrer Erziehung und der Situation, in der sie aufgewachsen waren, physiologisch weniger resilient waren und dass es ihnen deshalb schwerer fiel, nach den Gewalttaten, die sie erlebt hatten, die innere Balance wiederzufinden. Eine ähnliche Verletzlichkeit stellte Yehuda bei Kindern von schwangeren Frauen fest, die an jenem schrecklichen 11. September im Jahre 2001 im World Trade Center gewesen waren. 30
Auch die Reaktionen von Kindern auf schmerzhafte Ereignisse werden großenteils dadurch determiniert, wie ruhig oder wie gestresst ihre Eltern sind. Mein ehemaliger Student Glenn Saxe, der mittlerweile Leiter des Department of Child and Adolescent Psychiatry an der New York University ist, wies nach, dass man bei Kindern, die wegen schwerer Verbrennungen stationär behandelt wurden, die Wahrscheinlichkeit einer PTBS -Erkrankung anhand dessen voraussagen konnte, wie sicher sie sich im Umgang mit ihren Müttern fühlten. 31 Die Sicherheit ihrer Bindungsbeziehung zu ihren Müttern ließ Aussagen über die Morphinmenge zu, die erforderlich war, um ihren Schmerz zu neutralisieren – je sicherer die Bindung der Kinder, umso weniger Morphin war erforderlich.
Ein anderer Kollege, Claude Chemtob, der das Family Trauma Research Program am medizinischen Zentrum der NYU in Langone leitet, untersuchte 112 Kinder aus New York City, die Zeugen der Terrorangriffe vom 11. September geworden waren. 32 Wenn bei ihren Müttern in der Follow-up-Sitzung eine PTBS oder Depression diagnostiziert wurde, bestanden bei den Kindern mit erhöhter Wahrscheinlichkeit starke emotionale Probleme, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie hyperaggressiv auf das Erlebte reagierten, war elffach höher. Kinder, deren Vater an PTBS erkrankt war, litten zwar ebenfalls unter starken emotionalen Problemen, aber dieser Effekt wirkte, wie Chemtob feststellte, indirekt und wurde vonseiten der Mutter übermittelt. (Mit einem aufbrausenden, verschlossenen oder verängstigten Ehemann zusammenzuleben erlegt der Partnerin in der Regel eine schwere psychische Last auf, was eine Depression einschließen kann.)
Wenn Menschen sich nicht sicher fühlen, ist es für sie schwer, zwischen Sicherheit und Gefahr zu unterscheiden. Wenn Menschen sich ständig wie betäubt fühlen, vermitteln potenziell gefährliche Situationen ihnen manchmal das Gefühl, lebendig zu sein. Und wenn Menschen davon überzeugt sind, dass sie schrecklich sein müssen (denn weshalb sonst hätten ihre Eltern sie so schlecht behandelt?), entwickeln sie auch die Erwartung, dass andere Menschen sie schrecklich behandeln werden. Wahrscheinlich – so mögen sie denken – haben sie gar nichts anderes verdient, und außerdem können sie es sowieso nicht verhindern. Wenn desorganisiert gebundene Menschen sich so wahrnehmen, werden sie mit ziemlicher Sicherheit durch spätere Erlebnisse traumatisiert. 33
Die langfristigen Auswirkungen einer desorganisierten Bindung
Anfang der 1980er-Jahre fing meine Kollegin Karlen Lyons-Ruth, eine an der Harvard University arbeitende Bindungsforscherin, an, Blickinteraktionen zwischen Müttern und ihren Babys im Alter von sechs, zwölf und achtzehn Monaten auf Video aufzuzeichnen. Sie wiederholte die Aufnahmen, als die Kinder fünf Jahre alt waren, und später noch einmal, als sie sieben oder acht Jahre alt waren. 34 Alle Teilnehmer dieser Untersuchung stammten aus Hochrisikofamilien: Hundert Prozent erfüllten die Armutskriterien der amerikanischen Bundesregierung, und fast die Hälfte der Mütter erzog ihre Kinder ohne Partner.
Desorganisierte Bindungen waren an zwei unterschiedlichen Kriterien zu erkennen: Eine Gruppe von Müttern war offenbar zu stark mit eigenen Problemen beschäftigt, als dass sie sich ausreichend um ihre Kinder kümmern konnten. Diese Mütter wirkten oft zudringlich und feindselig; sie verhielten sich den Kindern gegenüber entweder zurückweisend oder so, als erwarteten sie, dass diese auf ihre Bedürfnisse eingingen. Eine zweite Gruppe von Müttern wirkte hilflos und ängstlich. Auf den ersten Blick erschienen sie oft nett oder fragil, aber sie wussten nicht, wie sie in ihrer Beziehung zu ihrem Kind die Rolle der Erwachsenen spielen sollten, und schienen von diesem zu erwarten, dass es ihnen Trost und Geborgenheit vermittelte. Sie versäumten, ihr Kind nach einer Trennung zu begrüßen, und sie merkten nicht, wann es dem Kind nicht gut ging. Die Mütter taten diese Dinge wohl nicht absichtlich, wussten aber einfach nicht, wie sie es anstellen sollten, sich mit ihren Kindern zusammen in einen Zustand des Einklangs zu versetzen, und deshalb gelang es ihnen nicht, ihnen Trost und Geborgenheit zu vermitteln und sie zu beruhigen. Die feindseligen/zudringlichen Mütter hingegen waren entweder selbst in ihrer Kindheit körperlich misshandelt worden und/oder hatten häusliche Gewalt erlebt, wohingegen die zurückgezogenen/abhängigen Mütter eher sexuell missbraucht worden waren oder einen Elternteil verloren (aber keine körperlichen Misshandlungen erlebt) hatten. 35
Ich habe mich immer gefragt, was Eltern dazu bringt, ihre Kinder schlecht zu behandeln. Schließlich steht das Aufziehen von Nachfahren im Mittelpunkt unserer Suche nach einem Sinn und einem Leben, das zu führen uns als lohnend erscheint. Was könnte Eltern dazu treiben, ihre Kinder absichtlich zu verletzen oder sie zu vernachlässigen? Karlens Untersuchung lieferte mir eine Antwort auf diese Frage: Auf ihren Videos sah ich, wie Kinder ihren fehleingestimmten Müttern gegenüber immer untröstlicher, missmutiger oder aufsässiger wurden. Gleichzeitig wirkten die Mütter in ihren Interaktionen immer frustrierter, niedergeschlagener und hilfloser. Sobald eine Mutter ihr Kind nicht mehr als Partner in einer auf Eingestimmtheit basierenden Beziehung sieht, sondern als frustrierend, wütend machend und ihr völlig fremd, sind alle Voraussetzungen für eine schlechte Behandlung des Kindes gegeben.
Ungefähr 18 Jahre später, als diese Kinder etwa 20 Jahre alt waren, führte Lyons-Ruth eine Follow-up-Studie durch, um festzustellen, wie sie inzwischen im Leben zurechtkamen. Die Babys, deren emotionale Kommunikationsmuster im Kontakt mit ihren Müttern im Alter von 18 Monaten schwer gestört gewesen waren, waren nun junge Erwachsene mit einem instabilen Selbstempfinden, mit selbstschädigender Impulsivität (unter anderem in Form von exzessivem Kaufzwang, promiskuitivem Sexualverhalten, Drogenmissbrauch, rücksichtslosem Autofahren und Esssucht), unverhältnismäßig starken Wutgefühlen und wiederholtem suizidalem Verhalten.
Karlen und ihre Kollegen hatten erwartet, dass das feindselige/zudringliche Verhalten der Mütter der zuverlässigste Prädiktor für mentale Instabilität bei den erwachsen gewordenen Kindern sein werde; doch sie entdeckten etwas anderes. Die tiefreichendste und dauerhafteste Wirkung hatte der emotionale Rückzug. Emotionale Distanziertheit und Rollenumkehr waren bei diesen Probanden mit aggressivem Verhalten sich selbst und anderen jungen Erwachsenen gegenüber verbunden.
Dissoziation: Wissen und Nichtwissen
Lyons-Ruth interessierte sich ganz besonders für das Phänomen der Dissoziation, das seinen Ausdruck darin findet, dass die Betroffenen sich verloren, überwältigt, verlassen, nicht mit der Welt verbunden, ungeliebt, leer, hilflos, gefangen und niedergedrückt fühlen. Die Forscher entdeckten einen »auffälligen und unerwarteten« Zusammenhang zwischen mütterlicher Distanziertheit und Fehleingestimmtheit in den ersten beiden Lebensjahren und dissoziativen Symptomen in der frühen Kindheit. Lyons-Ruth gelangte zu dem Schluss, dass Babys, die von ihren Müttern nicht wirklich gesehen und gekannt werden, »Gefahr laufen, als Jugendliche selbst nicht in der Lage zu sein, andere Menschen zu sehen und zu (er)kennen«. 36
Babys, die in einer sicheren Bindungsbeziehung aufwachsen, lernen, nicht nur ihre Frustration und ihr Leid zu kommunizieren, sondern auch ihre entstehende Individualität – ihre Interessen, Vorlieben und Ziele. Kinder (und Erwachsene), die eine sympathische Reaktion erleben, werden dadurch vor extrem starken angstbasierten Erregungszuständen geschützt. Doch wenn die wichtigsten Bezugspersonen die Bedürfnisse eines kleinen Kindes ignorieren oder ihm verübeln, dass es überhaupt existiert, lernt es, Zurückweisung und Rückzug kommen zu sehen, und versucht dann, mit dem, was ihm unvermeidlich bevorsteht, so gut wie möglich fertigzuwerden, indem es die Feindseligkeit oder Vernachlässigung der Mutter weitgehend ausblendet und so tut, als spiele sie keine Rolle. Der Körper des Kindes jedoch verbleibt in solch einem Fall wahrscheinlich in einem Zustand hoher Wachsamkeit, jederzeit bereit, Schläge, Deprivation und Verlassenwerden abzuwehren. Dissoziation bedeutet, gleichzeitig zu wissen und nicht zu wissen. 37
Bowlby hat geschrieben: »Was man der Mutter (bzw. dem anderen) nicht mitteilen kann, kann man auch sich selbst nicht mitteilen.« 38 Wenn wir nicht ertragen können, was wir wissen oder wovon wir spüren, dass wir es fühlen, bleibt uns nur noch die Möglichkeit, es zu leugnen oder zu dissoziieren. 39 Die vielleicht verheerendste langfristige Auswirkung dieses Sichverschließens ist, dass man sich selbst innerlich als unwirklich empfindet, ein Zustand, den wir bei den Kindern in der Kinderklinik beobachtet hatten und den wir auch bei den Kindern und Erwachsenen, die uns im Trauma Center aufsuchen, immer wieder sehen. Wenn Menschen das Gefühl haben, sie selbst seien nicht real, spielt für sie nichts mehr eine Rolle, und dies ermöglicht ihnen, sich vor Gefahren zu schützen. Manchmal nehmen sie auch zu extremen Verhaltensweisen Zuflucht, um zumindest nur irgendetwas zu spüren – und sei es, indem sie sich mit einer Rasierklinge Schnittverletzungen zufügen oder sich auf einen Faustkampf mit Fremden einlassen.
Karlens Untersuchung zeigte, dass Menschen früh zu dissoziieren lernen: Spätere Missbrauchserlebnisse und andere Traumata riefen bei den betroffenen jungen Erwachsenen keine dissoziativen Symptome hervor. 40 Missbrauch/Misshandlung und Traumata verursachten bei ihnen zwar viele andere Probleme, aber keine chronische Dissoziation und keine Autoaggression. Die entscheidende Ursache für die Probleme früh traumatisierter Patienten war, dass sie nicht wussten, was sie tun konnten, um sich sicher zu fühlen. Mangel an Sicherheit in der frühen Fürsorgebeziehung hatte eine Beeinträchtigung des inneren Wirklichkeitsempfindens zur Folge, weiterhin exzessives Anklammern sowie selbstschädigendes Verhalten: Hingegen erwiesen sich Armut, die schwierige Situation Alleinerziehender sowie Indizien für eine psychische Störung bei der Mutter nicht als zuverlässige Prädiktoren für dissoziative Tendenzen.
Damit soll nicht impliziert werden, dass die schlechte Behandlung kleiner Kinder keine Rolle spiele, 41 sondern es geht darum, dass die Qualität der frühen elterlichen Fürsorge unabhängig vom Vorliegen anderer Traumata 42 von besonderer Bedeutung ist, wenn man die Entstehung psychischer Probleme verhindern will. Deshalb sollte sich eine Behandlung niemals nur auf die spezifischen Folgen traumatischer Ereignisse beziehen, sondern sie muss auch berücksichtigen, dass die Betroffenen von ihren Eltern nicht gespiegelt wurden, nicht mit ihnen im Einklang waren und von ihnen nicht zuverlässig betreut wurden. Diese Mängel elterlicher Fürsorge führen bei den betroffenen Kindern zu Dissoziation und zum Verlust der Selbstregulationsfähigkeit.
Wiederherstellen der Synchronie
Durch unsere frühen Bindungsmuster entstehen jene inneren Landkarten, die unsere Beziehungen im ganzen Leben beschreiben, und zwar nicht nur hinsichtlich der Erwartungen, die wir an andere Menschen richten, sondern auch hinsichtlich unserer mehr oder minder ausgeprägten Fähigkeit, in ihrer Gegenwart Geborgenheit und Freude zu empfinden. Ich bezweifle, dass der Dichter E. E. Cummings seine freudigen Zeilen »Ich mag meinen Körper, wenn er mit deinem Körper ist … Muskeln besser und Nerven mehr«* geschrieben hätte, wenn seine frühesten Erlebnisse erstarrte Gesichter und feindselige Blicke gewesen wären. 43 Unsere Beziehungsbeschreibungen sind implizit, dem emotionalen Gehirn eingeprägt, und lassen sich nicht ohne Weiteres revidieren, indem wir verstehen, wie sie entstanden sind. Wenn Ihnen klar wird, dass Ihre Angst vor Intimität mit der Post-partum-Depression Ihrer Mutter oder mit Ihren eigenen Missbrauchserlebnissen in der Kindheit zusammenhängt, so ermöglicht Ihnen diese Erkenntnis allein wahrscheinlich nicht, selbst glückliche und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen.
* E. E. Cummings, Erotische Gedichte. Beck, textura, übers. Lars Vollert, 2011, S. 58 f.
Die Erkenntnis kann Ihnen allerdings helfen, andere Möglichkeiten, in Beziehungen Verbundenheit zu erleben, zu erforschen – sowohl um Ihrer selbst willen als auch, um zu verhindern, dass Sie Ihre eigene unsichere Bindung an Ihre Kinder weitergeben. In Teil V dieses Buches stelle ich verschiedene Heilmethoden vor, die mangelnde Einstimmung durch das Üben rhythmischen Verhaltens und von Reziprozität heilen. 44 Um mit uns selbst und anderen im Einklang sein zu können, müssen wir unsere physischen Sinne – den Lichtsinn, den Gehörsinn, das Tastempfinden und das Gleichgewichtsgefühl – integrieren. Geschieht dies nicht schon im Babyalter und in der frühen Kindheit, besteht die Gefahr, dass wir später beim Bemühen um sensorische Integration Probleme haben (die keineswegs nur durch Traumata und Vernachlässigung entstehen können).
Im Einklang zu sein bedeutet, mittels verbindender Geräusche und Bewegungen zu resonieren, die in die täglichen sensorischen Rhythmen des Kochens und Saubermachens, Zubettgehens und Aufwachens eingebettet sind. Im Einklang zu sein kann auch bedeuten, dass wir komische Grimassen oder Umarmungen austauschen, im richtigen Moment Begeisterung oder Missbilligung zum Ausdruck bringen, Bälle werfen oder gemeinsam singen. Im Trauma Center haben wir Programme entwickelt, die Eltern zu lernen helfen, wie sie eine Verbindung zu ihren Kindern aufbauen und den Zustand der Einstimmung erreichen können. Meine Patienten haben mir auch über viele weitere Möglichkeiten berichtet, den Zustand der Eingestimmtheit zu erreichen, ob durch gemeinsames Singen von Chorälen, durch Gesellschaftstanz, die Mitgliedschaft in einem Basketball-Team, das Musizieren in einer Jazzband oder einem Kammermusikensemble. Alle diese Aktivitäten fördern Eingestimmtheit und ermöglichen das gemeinsame Erleben von Freude.