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Initiierung, Einschüchterung, Stigmatisierung, Isolation, Hilflosigkeit und Selbstbeschuldigung basieren allesamt auf einer entsetzlichen Realität des sexuellen Missbrauchs von Kindern … »Mach dir wegen solcher Dinge keine Sorgen; so etwas könnte in unserer Familie niemals passieren.« – »Wie kannst du so etwas Entsetzliches auch nur denken!« – »Ich will nie mehr hören, dass du so etwas sagst!« Die meisten Kinder fragen nie und erzählen nie von solchen Dingen.

Roland Summit, The Child Sexual Abuse Accomodation Syndrome

Wie denken wir über Menschen wie Marilyn, Mary und Kathy, und was können wir tun, um ihnen zu helfen? Die Art, wie wir ihre Probleme definieren, also unsere Diagnose, entscheidet darüber, wie wir uns um sie kümmern. Solchen Patientinnen werden im Laufe ihrer psychiatrischen Behandlung oft fünf oder sechs völlig verschiedene Diagnosen gestellt. Konzentrieren sich die behandelnden Ärzte auf Stimmungsumschwünge, definieren sie das Problem als bipolare Störung und verschreiben Lithium oder Valproat. Lassen sie sich von der Verzweiflung der Patientinnen beeindrucken, wird von einer Major-Depression gesprochen, und man verschreibt Antidepressiva. Fällt den Ärzten Rastlosigkeit und Mangel an Aufmerksamkeit besonders auf, wird wahrscheinlich ADHS diagnostiziert und Ritalin oder ein anderes Stimulans verschrieben. Und falls das Klinikpersonal sich über das Vorliegen einer Traumavorgeschichte informiert hat und die betreffende Patientin die dafür erforderlichen Informationen tatsächlich preisgibt, kann die Diagnose auch PTBS lauten. Keine dieser Diagnosen ist völlig abwegig, aber keine beschreibt andererseits wirklich erhellend, wer die betreffenden Patienten sind und worunter sie leiden.

Die Psychiatrie als Spezialgebiet der Medizin versucht, eine psychische Krankheit so präzise wie beispielsweise Bauchspeicheldrüsenkrebs oder eine Streptokokkeninfektion der Lunge zu definieren. Doch weil Geist, Gehirn und Bindungssystem des Menschen so komplex sind, ist uns eine solche Präzisierung im Hinblick auf psychische Probleme bislang nicht einmal annähernd gelungen. Zu verstehen, was mit Menschen »nicht in Ordnung« ist, hängt momentan eher von der Geisteshaltung des behandelnden Arztes ab (sowie davon, wofür die Krankenversicherung des Patienten zu zahlen bereit ist) als von verifizierbaren objektiven Tatsachen.

Der erste ernsthafte Versuch, ein systematisches Handbuch psychiatrischer Diagnosen zu publizieren, fand im Jahre 1980 statt, als die dritte Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM -III ) erschien, das offizielle Kompendium aller von der American Psychiatric Association (APA ) anerkannten psychischen Krankheiten. Die Präambel des DSM -III weist ausdrücklich und warnend darauf hin, dass die Kategorien in diesem Buch für forensische Zwecke und für die Nutzung zur Klärung von Versicherungsfragen nicht präzise genug seien. Trotzdem ist das DSM im Laufe der Zeit zu einem ungeheuer machtvollen Instrument geworden: Versicherungen fordern eine Diagnose nach dem DSM , wenn sie Kosten erstatten sollen. Bis vor Kurzem wurden Forschungsgelder ausschließlich auf Basis von DSM -Kategorien vergeben, und diese Kategorien werden auch bei der Organisation von Ausbildungsprogrammen zugrunde gelegt. Auch in der Populärkultur haben sich die DSM -Kategorien schnell herumgesprochen. Beispielsweise weiß die Öffentlichkeit, dass Tony Soprano Panikattacken und Depressionen hat und dass Carrie Mathison aus der Serie Homeland unter einer bipolaren Störung leidet. Produktion und Vertrieb des DSM sind zu einem regelrechten Wirtschaftsunternehmen geworden, das der APA Einnahmen in Höhe von 100 Millionen Dollar beschert hat. 1 Fraglich ist, ob dieses Buch und das darin beschriebene Kategoriensystem den Patienten, um deren Wohl es ja eigentlich geht, echte Verbesserungen gebracht hat.

Eine psychiatrische Diagnose hat schwerwiegende Folgen: Sie zieht eine bestimmte Behandlung nach sich, und eine falsche Behandlung kann katastrophale Auswirkungen haben. Außerdem begleitet ein diagnostisches Etikett die Diagnostizierten oft ihr ganzes Leben und hat starken Einfluss auf ihre Selbstsicht. Viele Patienten, die ich kennengelernt habe, sagten, sie »seien« bipolar oder »hätten« eine Borderline-Störung oder PTBS , als seien sie dazu verurteilt, wie der Graf von Monte Christo den Rest ihres Lebens in einem unterirdischen Kerker zu verbringen.

Keine der genannten Diagnosen trägt den ungewöhnlichen Fähigkeiten Rechnung, die viele unserer Patienten entwickeln, oder den kreativen Energien, die sie aufgeboten haben, um überleben zu können. Nur zu oft sind Diagnosen nichts weiter als eine Ansammlung von Symptomen, und das hat zur Folge, dass Patientinnen wie Marilyn, Kathy und Mary wahrscheinlich als durchgedrehte Frauen angesehen werden, die »zurechtgestutzt« gehören.

Eine lexikalische Definition des Begriffs Diagnose lautet: »a. der Akt oder Prozess des Identifizierens oder Feststellens der Art oder Ursache einer Krankheit oder Verletzung mittels Evaluation der Vorgeschichte des Patienten, einer Untersuchung und der Berücksichtigung vorliegender Labordaten; b. die Meinung, die sich jemand aufgrund einer solchen Evaluation bildet«. 2 In diesem und im nächsten Kapitel werde ich mich mit der Diskrepanz zwischen offiziellen Diagnosen und dem, worunter unsere Patienten tatsächlich leiden, auseinandersetzen und erläutern, wie ich zusammen mit Kollegen versucht habe, die heute gängige Diagnose von Patienten, die chronische Traumata erlebt haben, zu verändern.

Was tut man bei einer Trauma-Anamnese?

Im Jahre 1985 begann ich eine Zusammenarbeit mit der Psychiaterin Judith Herman, die zu diesem Zeitpunkt gerade ihr erstes Buch, Father-Daughter Incest veröffentlicht hatte. Wir arbeiteten beide im Cambridge Hospital (einem Lehrkrankenhaus der Harvard University ), und da uns interessierte, wie sich Traumata auf das Leben unserer Patienten ausgewirkt hatten, machten wir es uns zur Gewohnheit, unsere Notizen miteinander zu vergleichen. Uns verblüffte, wie viele unserer Patienten, bei denen man eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS ) diagnostiziert hatte, uns Horrorgeschichten über ihre Kindheit erzählten. Charakteristisch für eine BPS sind das Festhalten an extrem instabilen Beziehungen, starke Stimmungsschwankungen und selbstschädigende Verhaltensweisen wie Selbstverletzungen und wiederholte Suizidversuche. Um herauszufinden, ob zwischen Kindheitstraumata und BPS tatsächlich eine Beziehung bestand, planten wir eine formelle wissenschaftliche Studie und beantragten dafür bei den National Institutes of Health eine Finanzierung. Doch der Antrag wurde abgelehnt.

Wir beschlossen daraufhin, die Studie selbst zu finanzieren; einen Verbündeten fanden wir in Chris Perry, dem Leiter der Forschungsabteilung des Cambridge Hospital , der von den NIMH ein Stipendium für die Erforschung der BPS und verwandter Diagnosen, der sogenannten Persönlichkeitsstörungen, erhalten hatte, für die er Probanden unter den Patienten des Cambridge Hospital rekrutierte. Chris hatte Unmengen wertvoller Ergebnisse zu dieser Thematik gesammelt, sich aber nie mit Missbrauch, Misshandlungen und Vernachlässigung in der Kindheit beschäftigt. Obwohl er aus seiner Skepsis unserem Vorhaben gegenüber nie ein Geheimnis machte, half er uns sehr großzügig und ermöglichte uns Interviews mit 55 Patienten der ambulanten Abteilung des Krankenhauses; außerdem erklärte er sich bereit, unsere Erkenntnisse mit dem Inhalt einer großen Datenbank, die er schon zusammengestellt hatte, zu vergleichen.

Die erste Frage, mit der wir uns beschäftigen mussten, lautete: »Was tut man bei einer Trauma-Anamnese?« Natürlich kann man Patienten schlicht und einfach fragen: »Sind Sie als Kind sexuell belästigt worden?« Oder: »Hat Ihr Vater Sie geschlagen?« Aber wie viele Probanden würden wohl einem völlig fremden Menschen so viel Vertrauen entgegenbringen, dass sie ihm so intime Fragen beantworten würden? Da uns klar war, dass sich Menschen ihrer traumatischen Erlebnisse im Allgemeinen schämen, entwickelten wir das Traumatic Antecedents Questionnaire (TAQ ). 3 Das Interview begann mit einigen sehr einfachen Fragen: »Wo leben Sie, und mit wem leben Sie zusammen?« – »Wer bezahlt die Rechnungen, und wer kocht und erledigt Reinigungsarbeiten?« Dann folgten allmählich immer persönlichere Fragen: »Auf wen verlassen Sie sich in Ihrem Alltagsleben?« Beispielsweise konkret: »Wenn Sie krank sind, wer kauft dann ein oder bringt Sie zum Arzt?« – »Mit wem reden Sie, wenn Sie innerlich aufgebracht sind?« Einige Patienten gaben auf diese Fragen recht überraschende Antworten wie: »mein Hund« oder »mein Therapeut« oder »niemand«.

Dann stellten wir ähnliche Fragen über die Kindheit: »Wer lebte im Haushalt Ihrer Familie? Wie oft sind Sie mit Ihrer Familie umgezogen? Wer war Ihre primäre Bezugsperson?« Viele Patienten berichteten über häufige Umzüge, die sie gezwungen hatten, mitten im Schuljahr die Schule zu wechseln. Einige hatten primäre Bezugspersonen, die eine Haftstrafe verbüßten, sich zur stationären Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus befanden oder zum Militärdienst einberufen worden waren. Andere waren von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht worden oder hatten nacheinander bei verschiedenen Verwandten gelebt.

Im nächsten Abschnitt des Fragebogens ging es um Beziehungen in der Kindheit: »Wer in Ihrer Familie hat sich Ihnen gegenüber liebevoll verhalten?« – »Wer hat Sie wie einen besonderen Menschen behandelt?« Darauf folgte eine sehr wichtige Frage, die meines Wissens bis zu diesem Zeitpunkt noch nie im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie gestellt worden war: »Gab es in Ihrer Kindheit und Jugend in Ihrer Umgebung jemanden, in dessen Gegenwart Sie sich sicher fühlten?« Einer von vier Interviewten konnte sich an keinen einzigen Menschen erinnern, bei dem er sich als Kind sicher gefühlt hatte. In solchen Fällen hakten wir auf unseren Fragebögen die Option »niemand« ab und sagten nichts dazu, waren aber ziemlich sprachlos. Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten als Kind niemanden, bei dem Sie sich sicher fühlten, sodass Sie ohne jeden Schutz und ohne von jemandem gesehen zu werden Ihren Weg in die Welt finden müssten.

Es folgten die Fragen: »Wer hat bei Ihnen zu Hause die Regeln festgelegt und Disziplin durchgesetzt?« – »Wie wurden in Ihrer Familie die Kinder erzogen – durch Reden, Schelte, Prügel, Schläge oder Einsperren?« – »Wie sind Ihre Eltern mit Meinungsverschiedenheiten umgegangen?« Wenn wir diesen Punkt erreicht hatten, hatten sich die Schleusen meist geöffnet, und viele Patienten gaben freiwillig detailliert Auskunft über die Situation, in der sie aufgewachsen waren. Eine Frau hatte mit angesehen, wie ihre kleine Schwester vergewaltigt worden war; eine andere berichtete, sie habe mit acht Jahren ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht – mit ihrem Großvater. Männer und Frauen erzählten, sie hätten nachts wach gelegen und gehört, wie Möbel umgeworfen worden seien und wie ihre Eltern sich angebrüllt hätten; ein junger Mann war in die Küche gekommen und hatte seine Mutter in einer Blutlache liegen sehen. Andere berichteten, sie seien von der Grundschule nicht abgeholt worden oder hätten zu Hause niemanden vorgefunden und die Nacht dort allein verbracht. Eine Frau, die ihren Lebensunterhalt als Köchin verdiente, hatte gelernt, für ihre Familie zu kochen, nachdem ihre Mutter in einem Drogenprozess zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Eine andere war neun Jahre alt gewesen, als sie in das Lenkrad eines Autos gegriffen hatte, um es zu stabilisieren, weil ihre betrunkene Mutter in der Rushhour auf einem vierspurigen Highway in Schlangenlinien gefahren war.

Unsere Probanden hatten nicht davonlaufen oder fliehen, sich an niemanden wenden und sich nirgendwo verbergen können. Trotzdem hatten sie mit ihrer schrecklichen Situation und ihrer Verzweiflung irgendwie fertigwerden müssen. Wahrscheinlich waren sie am nächsten Morgen zur Schule gegangen und hatten so getan, als sei alles in bester Ordnung. Judy und mir wurde klar, dass die Probleme der BPS -Gruppe – Dissoziation, verzweifeltes Anklammern an jeden, der ihnen Hilfe anbot – wahrscheinlich zunächst Versuche gewesen waren, mit überwältigenden Emotionen und unvermeidbarer Brutalität fertigzuwerden.

Nach unseren Interviews setzte ich mich mit Judy zusammen, um die Antworten der Patienten zu encodieren – sie in Zahlen zu übersetzen, die ein Computer analysieren konnte. Chris Perry verglich diese Daten mit den ausführlichen Informationen über die betreffenden Patienten, die auf dem Zentralrechner der Harvard University gespeichert waren. Dann bat er uns an einem Samstagmorgen im April in sein Büro. Wir fanden dort einen riesigen Stapel Computerausdrucke vor, auf den Chris einen Cartoon von Gary Larson gelegt hatte, in dem eine Gruppe von Delfinforschern ratlos vor »diesen merkwürdigen ›ha blah es span yol‹-Geräuschen« stand. Die Daten hatten ihn davon überzeugt, dass man die BPS nur verstehen konnte, wenn man sich mit der Sprache des Traumas und des Missbrauchs auskannte.

Wie wir später im American Journal of Psychiatry berichteten, hatten 81 Prozent der Patienten, bei denen im Cambridge Hospital eine BPS diagnostiziert worden war, über schwerwiegende Missbrauchs-, Misshandlungs- oder Vernachlässigungserlebnisse in der Kindheit berichtet, wobei die traumatisierende Erfahrung in den meisten Fällen vor Erreichen des Alters von sieben Jahren stattgefunden hatte. 4 Diese Entdeckung war insofern besonders wichtig, als sie darauf hindeutete, dass die Wirkung des Missbrauchs zumindest teilweise vom Alter, in dem er beginnt, abhängt. Spätere Untersuchungen von Martin Teicher im McLean Hospital zeigten, dass verschiedene Formen von Missbrauch/Misshandlung in verschiedenen Entwicklungsphasen unterschiedlich auf bestimmte Gehirnbereiche wirken. 5 Obwohl inzwischen zahlreiche Studien unsere Erkenntnisse repliziert haben, 6 werden mir nach wie vor regelmäßig wissenschaftliche Aufsätze zur Begutachtung vorgelegt, in denen Dinge zu lesen sind wie: »Es gibt die Hypothese, dass Borderline-Patienten in ihrer Kindheit Traumata erlebt haben.« Wann wird eine Hypothese zu einer wissenschaftlich anerkannten Tatsache?

Unsere Untersuchung stützte eindeutig John Bowlbys Schlussfolgerungen.

Wenn Kinder ständig wütend sind oder sich schuldig fühlen oder sich permanent fürchten, verlassen zu werden, haben sie diese Gefühle aus triftigen Gründen entwickelt, nämlich weil sie ihren Erlebnissen entsprachen. Fürchten sich Kinder beispielsweise davor, verlassen zu werden, so ist das keine Reaktion, die gegen ihre intrinsischen homizidalen Tendenzen gerichtet ist; wahrscheinlicher ist, dass sie tatsächlich physisch oder psychisch verlassen worden sind oder dass man ihnen wiederholt angedroht hat, sie zu verlassen. Wenn Kinder ständig in Rage sind, ist dies eine Folge von Zurückweisung oder brutaler Behandlung. Leiden sie unter starken inneren Konflikten wegen ihrer Wutgefühle, ist ihnen wahrscheinlich deren Ausdruck verboten worden oder dieser war oder ist für sie gefährlich.

Schon Bowlby war aufgefallen, dass Kinder, die einschneidende Erlebnisse ableugnen müssen, dadurch große Probleme bekommen, unter anderem »chronische[s] Misstrauen, mangelnde[s] Neugierverhalten und Zweifel […] an der eigenen Wahrnehmung bis zu Unwirklichkeitsgefühlen«. 7 Wir werden sehen, dass dies wichtige Implikationen für eine Behandlung hat.

Unsere Untersuchung mit BPS -Patienten erweiterte unsere Erkenntnisse über die Auswirkungen bestimmter entsetzlicher Ereignisse, den Fokus der PTBS -Diagnose, hinaus auf die langfristigen Folgen brutaler Behandlung und Vernachlässigung in Beziehungen zu Eltern und anderen Betreuern. Zudem warf diese neue Sichtweise auch noch eine andere wichtige Frage auf: Welche Therapien können Menschen helfen, die in ihrer Kindheit Missbrauch und Misshandlungen erlebt haben, insbesondere bei chronisch suizidgefährdeten und zu Selbstverletzungen neigenden Patienten?

Selbstschädigung

Während meiner Ausbildung wurde ich einmal drei Nächte in Folge gegen 3.00 Uhr morgens aus dem Bett geholt, um eine Frau zu nähen, die ihren Hals mit scharfen Gegenständen aufgeschlitzt hatte. Sie erklärte mir triumphierend, wenn sie sich Schnittwunden zufüge, fühle sie sich viel besser. Seither habe ich mich immer wieder gefragt, warum das so ist. Warum spielen einige Menschen drei Sätze Tennis, wenn sie aufgebracht sind, oder trinken einen Martini, und andere schlitzen sich mit Rasierklingen die Arme auf? Aus unserer Studie ging hervor, dass sexueller Missbrauch und körperliche Misshandlungen in der Kindheit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu wiederholten Suizidversuchen und Selbstverletzungen in Form von Schnitten führen. 8 Ich fragte mich, ob die Suizid-Grübeleien der Patientin begonnen hatten, als sie noch sehr jung gewesen war, und ob sie Trost darin gefunden hatte, sich ihre Flucht aus der Situation auszumalen, in der Hoffnung, sie werde sterben, wenn sie sich etwas antue. Sind Selbstschädigungen ein verzweifelter Versuch, einen gewissen Einfluss auf das eigene Leben zurückzugewinnen?

Chris Perrys Datenbank enthielt Informationen darüber, wie es den Patienten, die in der Ambulanz des Krankenhauses behandelt worden waren, in der Folgezeit ergangen war, wobei auch Berichte über Suizidalität und selbstschädigendes Verhalten einbezogen worden waren. Nach dreijähriger Therapie hatte sich der Zustand von annähernd zwei Dritteln der Patienten deutlich gebessert. Nun stellte sich die Frage, welche Patienten von der Therapie profitiert hatten und welche sich auch danach suizidal und selbstschädigend verhalten hatten. Ein Vergleich des laufenden Verhaltens mit den Resultaten unserer TAQ -Interviews lieferte die Antwort. Die Patienten, die sich weiter selbstschädigend verhielten, hatten uns gesagt, sie erinnerten sich nicht, sich als Kinder in Gegenwart eines anderen Menschen jemals sicher gefühlt zu haben: Sie hatten berichtet, sie seien verlassen worden, von einem Ort zum anderen gependelt und generell weitgehend sich selbst überlassen geblieben.

Daraus schloss ich, dass Menschen, die sich daran erinnern konnten, dass sie sich vor langer Zeit einmal in Gegenwart einer anderen Person sicher gefühlt hatten, die Spuren jener früheren Zuneigung im Erwachsenenalter in einer eingestimmten Beziehung reaktivieren können, unabhängig davon, ob eine solche Beziehung im Alltagsleben oder in einer Therapie entsteht. Bei denjenigen jedoch, die sich nicht daran erinnern konnten, dass sie sich in ihrer Kindheit jemals geliebt und sicher gefühlt hatten, haben sich im Gehirn die Rezeptoren, die auf menschliche Güte ansprechen, möglicherweise gar nicht erst entwickelt. 9 Wie können solche Menschen nun lernen, sich selbst zu beruhigen und sich in ihrem Körper geerdet zu fühlen? Weil auch dies wichtige Implikationen für eine Therapie hat, werde ich auf diese Frage in Teil V in Zusammenhang mit der Traumabehandlung zurückkommen.

Die Macht der Diagnose

Unsere Studie bestätigte auch die Existenz einer traumatisierten Population, die sich von Kriegsveteranen und Unfallopfern, für die man die PTBS -Diagnose entwickelt hatte, deutlich unterschied. Menschen wie Marilyn und Kathy sowie die von Judy und mir untersuchten Patienten und die Kinder in der ambulanten Praxis des MMHC , über die ich in Kapitel 7 berichtete, können sich an ihre Traumata nicht immer erinnern (was eines der Kriterien für die Diagnose PTBS ist) oder sind zumindest nicht ständig mit konkreten Erinnerungen an ihre traumatischen Erlebnisse beschäftigt, sondern verhalten sich weiter so, als wären sie immer noch in Gefahr. Sie fallen vom einen Extrem ins andere, haben Schwierigkeiten, sich auf eine bestimmte Aufgabe zu konzentrieren, und greifen sich selbst und andere Menschen ständig an. In gewisser Hinsicht überschneiden sich ihre Probleme mit denjenigen von Veteranen, aber sie unterscheiden sich andererseits auch insofern von diesen, als ihr Kindheitstrauma bei ihnen die Entwicklung jener mentalen Fähigkeiten verhindert hat, über die erwachsene Soldaten vor der Entstehung ihrer Traumata bereits verfügten.

Nachdem uns dies klar geworden war, machte sich eine Gruppe von uns 10 auf den Weg zu Robert Spitzer, der nach der Publikation des DSM -III dabei war, eine revidierte Ausgabe dieses Handbuchs vorzubereiten. Nachdem er sich genau angehört hatte, was wir ihm berichteten, sagte er, Kliniker, die ihre Zeit damit verbrächten, eine bestimmte Art von Patienten zu behandeln, verfügten wahrscheinlich über große Sachkenntnis bezüglich dessen, was diese Menschen plage. Er schlug uns vor, eine Studie, einen sogenannten Feldversuch, durchzuführen, um die Probleme unterschiedlich Traumatisierter miteinander zu vergleichen. 11 Spitzer übertrug mir die Verantwortung für dieses Projekt. Zunächst entwickelten wir eine Beurteilungsskala, die alle in der wissenschaftlichen Literatur erwähnten Traumasymptome umfasste; und dann interviewten wir an fünf Orten in den USA insgesamt 525 erwachsene Patienten, um festzustellen, ob bei verschiedenen Populationen unterschiedliche Konstellationen von Problemen auftraten. Unsere Untersuchungsteilnehmer ließen sich drei Gruppen zuordnen: der Gruppe derjenigen, die in ihrer Kindheit von ihren Betreuern körperlich misshandelt oder sexuell missbraucht worden waren, Opfer aktueller häuslicher Gewalt und Menschen, die vor Kurzem eine Naturkatastrophe miterlebt hatten.

Zwischen diesen drei Gruppen gab es deutlich erkennbare Unterschiede, insbesondere bei denen, die Extrempositionen auf dem Spektrum besetzten: Opfer von Kindesmissbrauch und Erwachsene, die eine Naturkatastrophe überlebt hatten. Erwachsene, die als Kinder missbraucht oder misshandelt worden waren, hatten oft Konzentrationsschwierigkeiten, klagten, sie befänden sich ständig am Rande ihrer Belastbarkeit, und quollen förmlich über vor Selbstekel. Ihnen fiel es sehr schwer, in intimen Beziehungen mit ihrem Partner zu verhandeln, und sie pendelten oft zwischen wahllosen, hochriskanten und unbefriedigenden sexuellen Beziehungen und völliger sexueller Enthaltsamkeit. Zudem hatten sie große Erinnerungslücken, neigten zu selbstschädigendem Verhalten und hatten viele gesundheitliche Probleme. Diese Symptome waren bei Überlebenden von Naturkatastrophen relativ selten.

Für jede der wichtigeren Diagnosen im DSM wurde eine Arbeitsgruppe gebildet, die damit beauftragt wurde, Änderungen für die Neuausgabe des Handbuchs vorzuschlagen. Ich präsentierte unserer PTBS -Arbeitsgruppe für das DSM -IV die Ergebnisse unseres Feldversuchs, und wir beschlossen daraufhin mit 19 zu 2 Stimmen, eine neue Traumadiagnose für die Opfer interpersonaler Traumata zu entwickeln: »Disorders of Extreme Stress, Not Otherwise Specified« (DESNOS ) oder kurz »Complex PTBS « . 12 13 Dann sahen wir der Publikation des DSM -IV im Mai 1994 erwartungsvoll entgegen. Doch zu unserer Überraschung war die Diagnose, die unsere Arbeitsgruppe mit überwältigender Mehrheit gebilligt hatte, im Endprodukt nicht zu finden, und niemand hatte es für nötig gehalten, uns darüber vorab in Kenntnis zu setzen.

Diese tragische Exklusion hatte zur Folge, dass eine große Zahl von Patienten weiterhin nicht akkurat diagnostiziert werden konnte und dass Kliniker und Forscher nicht in der Lage waren, auf wissenschaftlicher Grundlage geeignete Behandlungen für sie zu entwickeln. Man kann für ein Problem, das gar nicht existiert, keine Behandlung entwickeln. Wegen des Fehlens einer solchen Diagnose sehen sich Therapeuten heute mit einem ernsten Dilemma konfrontiert: Wie sollen sie Menschen behandeln, die mit dem Fallout von Missbrauch, Misshandlungen, Verrat und Verlassenwerden kämpfen, wenn sie gezwungen sind, bei ihnen eine Depression, eine Panikstörung, eine bipolare Störung oder eine Borderline-Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren, Diagnosen, die alle nicht adäquat erfassen, womit diese Menschen tatsächlich fertigzuwerden versuchen?

Die Folgen von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung durch die nächsten Bezugspersonen sind viel verbreiteter und komplexer als die Nachwirkungen von Hurrikanen oder Kfz-Unfällen. Doch diejenigen, die die Struktur unseres Diagnosesystems festgelegt haben, haben sich entschieden, die ihnen vorliegenden Belege für die Existenz und Relevanz komplexer Traumata nicht anzuerkennen. Bis heute, zwanzig Jahre und vier weitere Revisionen später, ignoriert das DSM und das gesamte auf ihm basierende System immer noch die Situation der Opfer von Misshandlungen, Missbrauch und Vernachlässigung im Kindesalter – so wie vor der Einführung der Diagnose PTBS im Jahre 1980 die Notlage der Veteranen ignoriert wurde.

Die verborgene Epidemie

Wie wird ein neugeborenes Baby mit all seinen Verheißungen und seinen unendlichen Möglichkeiten zu einem dreißigjährigen obdachlosen Alkoholiker? Der Internist Vincent Felitti fand die Antwort auf diese Frage rein zufällig.

Im Jahre 1985 war Felitti Leiter des Department of Preventive Medicine des Gesundheitsdienstleisters Kaiser Permanente in San Diego, zu jener Zeit der weltweit größte Anbieter medizinischer Versorgungsprogramme. Felitti leitete auch eine Klinik für Adipositas, in der eine Technik mit Namen »supplemented absolute fasting« benutzt wurde, um erhebliche Gewichtsreduktionen ohne chirurgische Eingriffe zu erzielen. Eines Tages kam eine 28-jährige Schwesternhelferin in sein Büro. Felitti glaubte ihr, dass Fettleibigkeit ihr vorrangiges Problem sei, wie sie sagte, und nahm sie in das Behandlungsprogramm auf. Im Laufe der nächsten 51 Wochen sank ihr Gewicht von 185 kg auf 60 kg.

Doch als Felitti sie ein paar Monate später wiedersah, hatte sie mehr zugenommen, als er in einer so kurzen Zeitspanne für biologisch möglich gehalten hätte. Was war passiert? Ihr neuer schlanker Körper hatte einen Arbeitskollegen angezogen, der mit ihr zu flirten anfing und ihr Sex vorschlug. Daraufhin ging sie nach Hause und stopfte sich den ganzen Tag über und auch nachts mit Essen voll. Als Felitti herauszufinden versuchte, wie diese extreme Reaktion zu erklären war, erzählte sie eine lange Geschichte über Inzest mit ihrem Großvater.

Dies war erst der zweite Fall von Inzest, mit dem Felitti in seiner 23-jährigen medizinischen Praxis konfrontiert worden war; aber schon zehn Tage später hörte er eine ähnliche Geschichte. Als er der Sache mit seinem Team intensiver nachging, stellte er entsetzt fest, dass die meisten ihrer krankhaft übergewichtigen Patienten als Kinder sexuell missbraucht worden waren. Durch die Nachforschungen kamen auch noch viele andere familiäre Probleme ans Licht.

Im Jahre 1990 präsentierte Felitti in Atlanta anlässlich einer Konferenz der North American Association for the Study of Obesity die Ergebnisse der ersten 286 Patienteninterviews seines Teams. Die schroff ablehnende Reaktion einiger Experten auf diese Präsentation verblüffte ihn: Man fragte ihn, warum er solchen Patienten glaube. Ob ihm nicht klar sei, dass sie jede denkbare Erklärung für ihr Scheitern im Leben anführen würden? Doch ein Epidemiologe der Centers for Disease Control and Prevention (CDC ) ermutigte Felitti, mit einer Stichprobe, die einen Bevölkerungsquerschnitt repräsentiere, eine wesentlich umfangreichere Studie durchzuführen, und er lud ihn zu einer Konferenz mit einer kleinen Forschergruppe im Rahmen der CDC ein. Das Ergebnis dieses Austauschs war eine monumentale Untersuchung schädlicher Kindheitserlebnisse (Adverse Childhood Experiences – heute als ACE -Studie bekannt), die in Zusammenarbeit der CDC mit Kaiser Permanente realisiert wurde, wobei Robert Anda, MD , und Vincent Felitti, MD , das Projekt gemeinsam leiteten.

Über 50 000 Patienten von Kaiser Permanente traten jährlich mit dem Department of Preventive Medicine in Kontakt, um eine Generaluntersuchung durchführen zu lassen, und bei diesem Anlass füllten sie einen umfassenden medizinischen Fragebogen aus. Felitti und Anda arbeiteten über ein Jahr lang an der Entwicklung von zehn neuen Fragen, 14 die sehr sorgfältig verschiedene Kategorien von schädlichen Kindheitserlebnissen definierten, darunter körperliche Misshandlungen, sexueller Missbrauch, körperliche und emotionale Vernachlässigung und dysfunktionale Familienstrukturen, beispielsweise weil die Eltern geschieden, psychisch krank oder substanzabhängig waren oder eine Gefängnisstrafe verbüßten. Anschließend baten die Forscher 25 000 nacheinander vorsprechende Patienten, ob sie bereit seien, Informationen über ihre Kindheit preiszugeben; 17 421 erklärten sich dazu bereit. Ihre Reaktionen wurden dann mit den detaillierten medizinischen Daten verglichen, die Kaiser Permanente von allen betreuten Versicherten zur Verfügung hatte.

Die ACE -Studie ergab, dass traumatische Erlebnisse in der Kindheit und Jugend wesentlich häufiger vorkommen, als man bis zu diesem Zeitpunkt angenommen hatte. Die Respondenten der Studie waren überwiegend weiß, Angehörige der Mittelklasse, mittleren Alters, gut ausgebildet und finanziell so abgesichert, dass sie sich eine gute Krankenversicherung leisten konnten; und doch berichtete nur ein Drittel von ihnen nicht über schädliche Kindheitserlebnisse.

21471.jpg Einer von zehn Teilnehmern der Studie bejahte die Frage: »Hat ein Elternteil oder ein anderer Erwachsener im Haushalt Ihrer Familie Sie oft oder sehr oft beschimpft, beleidigt oder schlechtgemacht?«

21473.jpg Über ein Viertel bejahten die Fragen »Hat ein Elternteil von Ihnen Sie oft oder sehr oft geschubst, gepackt, geschlagen oder einen Gegenstand nach Ihnen geworfen?« und »Hat ein Elternteil von Ihnen Sie oft oder sehr oft so heftig geschlagen, dass Sie Prellungen hatten oder verletzt waren?«. Demnach wurde wahrscheinlich mehr als ein Viertel der US -amerikanischen Bevölkerung in der Kindheit wiederholt körperlich misshandelt.

21476.jpg Auf die Fragen »Hat jemals ein Erwachsener oder jemand, der mindestens fünf Jahre älter als Sie war, Sie dazu gebracht, seinen/ihren Körper mit dem Ziel sexueller Stimulation zu berühren?« und »Hat jemals ein Erwachsener oder eine Person, die mindestens fünf Jahre älter als Sie war, versucht, Sie zu oralem, analem oder vaginalem Sex zu nötigen?« antworteten 28 Prozent der befragten Frauen und 16 Prozent der Männer mit Ja.

21479.jpg Einer von acht Teilnehmern der Studie bejahte die folgenden Fragen: »Haben Sie als Kind manchmal, oft oder sehr oft miterlebt, wie Ihre Mutter geschubst, gepackt oder geschlagen oder ein Gegenstand nach ihr geworfen wurde?« – »Haben Sie als Kind manchmal, oft oder sehr oft miterlebt, wie Ihre Mutter getreten, gebissen, mit einer Faust oder einem harten Gegenstand geschlagen wurde?« 15

Da jede Ja-Antwort mit einem Punkt bewertet wurde, konnte der ACE -Wert zwischen null und zehn liegen. Beispielsweise erreichte jemand, der häufig verbale Misshandlungen erlebt hatte, dessen Mutter Alkoholikerin gewesen war und dessen Eltern sich hatten scheiden lassen, einen ACE -Wert von drei Punkten. Von den zwei Dritteln der Respondenten, die über schädliche Kindheitserlebnisse berichteten, erreichten 87 Prozent einen Punktwert von zwei oder mehr Punkten. Und einer von sechs Befragten hatte einen ACE -Wert von vier oder höher.

Kurz gesagt, hatten Felitti und sein Team festgestellt, dass schädliche Kindheitserlebnisse verschiedener Art in einer Beziehung zueinander standen, aber meist separat untersucht wurden. Es kommt eher selten vor, dass Menschen in einer Familie aufwachsen, in der ein Bruder eine Haftstrafe abbüßt, aber alles andere in bester Ordnung ist. Sie leben gewöhnlich auch nicht in Familien, in denen zwar ihre Mutter regelmäßig geschlagen wird, aber sonst alles vorbildlich ist. Missbrauch und Misshandlungen sind nie das einzige Problem in einer Familie. Und durch jedes zusätzliche schädliche Kindheitserlebnis werden die späteren negativen Auswirkungen größer.

Felitti und sein Team stellten fest, dass die Auswirkungen von Kindheitstraumata zuerst in der Schule zutage treten. Über die Hälfte der Befragten mit einem ACE -Wert von vier oder mehr Punkten berichtete über Lern- oder Verhaltensprobleme, wohingegen es in der Gruppe derjenigen mit einem ACE -Wert von null Punkten nur drei Prozent waren. Als die Kinder älter wurden, war kein »Auswachsen« der Wirkungen der frühen Erlebnisse festzustellen. Felitti kommentiert: »Traumatische Erlebnisse geraten im Laufe der Zeit oft in Vergessenheit und werden unter Scham, Heimlichkeit und sozialen Tabus verborgen.« Aber die Studie zeigte auch, dass die Nachwirkungen der Traumata im ganzen weiteren Leben der Patienten eine Rolle spielten. Beispielsweise standen hohe ACE -Werte in einer Korrelation zu häufigem Fernbleiben von der Arbeit, finanziellen Problemen und einem generell niedrigeren Einkommen.

Hinsichtlich des persönlichen Leidens förderte die Studie erschreckende Fakten zutage. Mit der Höhe der ACE -Werte stieg auch die Zahl der chronischen Depressionen im Erwachsenenalter dramatisch. Bei Befragten mit einem ACE -Wert von vier oder mehr Punkten lag die Häufigkeit von Depressionen weiblicher Teilnehmer bei 66 Prozent und männlicher Teilnehmer bei 35 Prozent, wohingegen Depressionen bei einem ACE -Wert von null Punkten in 12 Prozent der Fälle vorkamen. Auch die Wahrscheinlichkeit der Einnahme von Antidepressiva und verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln stieg proportional zur Höhe des ACE -Punktwerts. Felitti hat darauf hingewiesen, dass wir heute möglicherweise Dinge behandeln, die Patienten vor fünfzig Jahren erlebt haben – wobei der Kostenaufwand mit der Zeitspanne, die seit der Verursachung vergangen ist, steigt. Antidepressiva und Schmerzmittel machen einen beträchtlichen Anteil unserer rapide steigenden nationalen Gesundheitsausgaben aus. 16 (Bemerkenswert ist, dass nach vorliegenden Untersuchungen Depressive, die in ihrer Kindheit weder Missbrauch noch Misshandlungen noch Vernachlässigung erlebt haben, deutlich besser auf Antidepressiva ansprechen als jene, die schädliche Kindheitserlebnisse dieser Art hatten. 17 )

Selbst eingestandene Suizidversuche nehmen mit steigenden ACE -Werten exponentiell zu. Vom ACE -Wert null bis zum Wert von sechs Punkten steigt die Wahrscheinlichkeit von Suizidversuchen um fünftausend Prozent. Je isolierter und ungeschützter ein Mensch sich fühlt, umso eher erscheint ihm der Tod als einzig möglicher Ausweg. Wenn entdeckt wird, dass ein Umweltfaktor für einen dreißigprozentigen Anstieg der Gefahr, an bestimmten Krebsarten zu erkranken, verantwortlich ist, steht das auf der ersten Seite der Zeitungen, aber wenn die hier referierten, wesentlich dramatischeren Zahlen in den Fachzeitschriften publiziert werden, wird das in der Öffentlichkeit völlig übersehen.

Im Rahmen ihrer medizinischen Untersuchung vor Beginn der Studie wurden die Teilnehmer gefragt: »Haben Sie sich schon jemals für einen Alkoholiker gehalten?« Diejenigen, bei denen später ein ACE -Wert von vier festgestellt wurde, waren siebenmal häufiger Alkoholiker als Erwachsene mit einem ACE -Wert von null Punkten. Auch der Gebrauch von Injektionsdrogen stieg parallel zum ACE -Wert exponentiell: Bei Teilnehmern mit einem ACE -Wert von sechs oder mehr Punkten war die Wahrscheinlichkeit intravenösen Drogenkonsums um 4 600 Prozent höher als bei denjenigen mit einem ACE -Wert von null Punkten.

Frauen, die an der Studie teilnahmen, wurden gefragt, ob sie im Erwachsenenalter Vergewaltigungen erlebt hätten. Bei denjenigen mit einem ACE -Wert von null Punkten lag das Vorkommen von Vergewaltigungen bei 5 Prozent; unter den weiblichen Teilnehmern mit einem ACE -Wert von vier und mehr Punkten hatten 33 Prozent als Erwachsene Vergewaltigungen erlebt. Warum werden missbrauchte oder vernachlässigte Mädchen später im Leben mit so stark erhöhter Wahrscheinlichkeit vergewaltigt? Die Antwort auf diese Frage hat Implikationen, die weit über das Problem der Vergewaltigungen hinausreichen. Beispielsweise geht aus zahlreichen Studien hervor, dass bei Mädchen, die in ihrer Familie Zeuginnen häuslicher Gewalt wurden, eine stark erhöhte Gefahr besteht, dass sie später selbst Beziehungen zu gewalttätigen Partnern eingehen, wohingegen bei Jungen, die Zeugen häuslicher Gewalt werden, die Gefahr, dass sie später ihre eigenen Partnerinnen misshandeln, siebenfach erhöht ist. 18 Über 12 Prozent der Studienteilnehmer hatten miterlebt, dass ihre Mütter geschlagen worden waren.

Die Liste riskanter Verhaltensweisen, die aufgrund der Höhe des ACE -Wertes vorausgesagt werden können, umfasst Rauchen, Fettleibigkeit, unbeabsichtigte Schwangerschaften, sexuelle Promiskuität und die Infektion mit Geschlechtskrankheiten. Außerdem traten die generell am häufigsten vorkommenden Krankheiten bei Teilnehmern mit hohen ACE -Werten erstaunlich oft auf: Diejenigen mit einem Wert von sechs Punkten oder mehr erkrankten mit 15 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit an einer der in den USA zehn häufigsten Todesursachen – wozu chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD ), ischämische Herzerkrankung und Lebererkrankungen zählen – als diejenigen mit einem ACE -Wert von null Punkten. Außerdem erkrankten die dieser Gruppe angehörenden Teilnehmer doppelt so häufig an Krebs und viermal so häufig an Emphysemen. Wenn der Körper ständig unter Stress steht, verlangt das seinen Preis.

Wenn Probleme in Wahrheit Lösungen sind

Zwölf Jahre nachdem Felitti die Frau behandelt hatte, deren dramatisches Abnehmen und blitzschnelles anschließendes Zunehmen ihn zu seiner Forschungsarbeit veranlasst hatte, traf er diese Frau wieder. Sie berichtete, sie habe sich einer Adipositas-Operation unterzogen, aber als sie daraufhin 43 kg abgenommen habe, sei sie suizidal geworden. Fünf stationäre psychiatrische Behandlungen und drei Serien von Elektroschocks waren erforderlich gewesen, um ihre Suizidalität unter Kontrolle zu bringen. Felitti weist darauf hin, dass Fettleibigkeit, die allgemein als großes und weitverbreitetes Gesundheitsproblem angesehen wird, für viele Betroffene in Wahrheit eine persönliche Lösung sein könnte. Man bedenke, was dies impliziert: Wenn Sie die Lösung, die jemand für sich persönlich gefunden hat, für ein Problem halten, das beseitigt werden muss, schlägt nicht nur die entsprechende Behandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit fehl, wie es oft bei Programmen zur Behandlung von Substanzabhängigkeiten zu beobachten ist, sondern es können außerdem weitere Probleme auftreten.

Eine vergewaltigte Frau erklärte Felitti: »Übergewicht zu haben bedeutet, dass ich nicht beachtet werde, und genau das ist wichtig für mich.« 19 Stark erhöhtes Gewicht kann auch Männern als Schutz dienen. Felitti erinnert sich an zwei Mitarbeiter eines staatlichen Gefängnisses, die an seinem Programm für Fettleibige teilgenommen hatten. Sie hatten das Gewicht, das sie zunächst verloren hatten, prompt wieder zugelegt, weil sie sich wesentlich sicherer fühlten, wenn sie die schwersten Kerle im Zellenblock waren. Ein anderer Patient hatte Fettleibigkeit entwickelt, nachdem sich seine Eltern hatten scheiden lassen und er zu seinem gewalttätigen und alkoholsüchtigen Großvater gezogen war. Er erklärte: »Es war nicht so, dass ich aß, weil ich hungrig war. Zu essen war für mich einfach eine Situation, in der ich mich sicher fühlte. Seit meiner Zeit in der Vorschule bin ich immer wieder verprügelt worden. Als ich dicker geworden war, passierte das nicht mehr.«

Die Forschergruppe der ACE -Studie kam zu folgendem Schluss: »Obwohl Adaptationen [wie Rauchen, Alkoholkonsum, Drogenkonsum und Fettleibigkeit] allgemein als gesundheitsschädigend angesehen werden, ist es erstaunlich schwer, sie aufzugeben. Hingegen wird wenig darüber nachgedacht, dass viele langfristige Gesundheitsrisiken für die Betroffenen kurzfristig auch positive Auswirkungen haben können. Wir hören von Patienten immer wieder von den Vorteilen solcher ›Gesundheitsrisiken‹. Die Idee, dass das Problem eine Lösung ist, wirkt zwar verständlicherweise auf viele zunächst irritierend, doch sie steht ganz sicher in Einklang mit der Tatsache, dass gegensätzliche Kräfte in biologischen Systemen häufig koexistieren … Was man sieht, der Vorstellungsgrund, ist oft nichts weiter als der Marker für das eigentliche Problem, das im Zeitkontinuum verborgen liegt, verdeckt unter Scham, Heimlichkeit und manchmal Amnesie des Patienten – und häufig durch das Unbehagen des Klinikers gehindert, zum Ausdruck zu gelangen.«

Misshandlung und Missbrauch von Kindern: das größte Gesundheitsproblem unserer Nation

Als ich Robert Anda das erste Mal die Resultate der ACE -Studie vorstellen hörte, konnte er seine Tränen nicht zurückhalten. Im Rahmen seiner Arbeit bei den CDC hatte er vorher in mehreren anderen wichtigen Risikobereichen gearbeitet, unter anderem in denjenigen der Tabakforschung und der kardiovaskulären Gesundheit. Doch als er die Resultate der ACE -Studie auf seinem Computerbildschirm sah, wurde ihm klar, dass er es nun mit dem schwerwiegendsten und kostspieligsten Gesundheitsproblem der USA überhaupt zu tun hatte: mit dem Missbrauch und der Misshandlung von Kindern. Er berechnete, dass die Gesamtkosten, die dieses Problem verursachte, diejenigen von Krebserkrankungen und Herzkrankheiten deutlich übertrafen und dass die Beseitigung von Problemen dieser Art in den USA die Zahl der Depressionen um mehr als die Hälfte, die des Alkoholismus um zwei Drittel und die der Suizide, des intravenösen Drogenkonsums und der häuslichen Gewalt sogar um drei Viertel verringern würde. 20 Außerdem hätte dies dramatische Auswirkungen auf die Arbeitsleistung und würde die Verhängung von Gefängnisstrafen stark verringern.

Der Bericht über Rauchen und Gesundheit des Surgeon General , der im Jahre 1964 veröffentlicht wurde, entfesselte eine jahrzehntelange juristische und medizinische Kampagne, die das Alltagsleben und die längerfristigen gesundheitlichen Perspektiven von Millionen von Menschen veränderte. Die Zahl der amerikanischen Raucher sank von 42 Prozent der Erwachsenen im Jahre 1965 auf 19 Prozent im Jahre 2010, und man schätzt, dass dadurch zwischen 1975 und 2000 fast 800 000 Todesfälle wegen Lungenkrebs verhindert wurden. 21

Die ACE -Studie jedoch hatte keine solche Wirkung. Follow-up-Studien und Aufsätze darüber werden nach wie vor auf der ganzen Welt publiziert, doch die Alltagsrealität von Kindern wie Marilyn und der Kinder in den ambulanten Kliniken und den stationären Behandlungszentren im ganzen Land hat sich praktisch nicht verändert. Nur erhalten sie heute hohe Dosen psychotroper Wirkstoffe, die sie zwar fügsamer machen, aber gleichzeitig auch ihre Fähigkeit einschränken, Freude und Neugier zu empfinden, sich emotional und intellektuell weiterzuentwickeln und als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft ihren ganz individuellen Beitrag zum Allgemeinwohl zu leisten.