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Die Vorstellung, dass schädliche Erlebnisse in der frühen Kindheit zu erheblichen Entwicklungsstörungen führen können, entspringt eher der klinischen Intuition, als dass es eine durch die Forschung überprüfte Tatsache ist.

Aus dem ablehnenden Bescheid der American Psychiatric Association vom Mai 2011 bezüglich der Aufnahme der Diagnose »Entwicklungsbezogene Traumafolgestörung« in das DSM

Untersuchungen über die Auswirkungen früher dysfunktionaler Behandlung von Kindern erzählen eine andere Geschichte: Frühe schlechte Behandlung wirkt sich negativ auf die Entwicklung des Gehirns aus, mit dauerhaft negativen Folgen. Unser Gehirn wird durch frühe Erlebnisse geformt. Schlechte Behandlung wirkt wie ein Meißel, der das Gehirn so formt, dass es mit seinen Blessuren fertigwerden kann, allerdings um den Preis tiefer und dauerhafter Verletzungen. Über Missbrauch und Misshandlungen in der Kindheit kann man nicht »hinwegkommen«. Wir müssen dieses Übel als gegeben anerkennen und uns mit ihm konfrontieren, wenn wir am ungebremsten Kreislauf der Gewalt in diesem Land etwas ändern wollen.

Martin Teicher , MD, PhD, Scientific American

Es gibt Hunderttausende von Kindern wie diejenigen, deren Situation ich im Folgenden beschreiben werde, und sie binden enorme Ressourcen, oft ohne spürbare positive Auswirkungen. Irgendwann füllen sie unsere Gefängnisse und Krankenhäuser oder werden zu Empfängern staatlicher Hilfeleistungen. Die Öffentlichkeit kennt sie meist nur in Form von Statistiken. Zehntausende von Lehrern, Bewährungshelfern, Sozialarbeitern, Richtern, Psychiatern und Psychologen verbringen ihre Zeit mit Bemühungen, ihnen zu helfen, und die Steuerzahler kommen für all dies auf.

Anthony war erst zweieinhalb Jahre alt, als er von einem Kinderbetreuungszentrum in unser Trauma Center überwiesen wurde, weil seine Betreuer wegen seines ständigen Beißens und Schubsens, seiner Weigerung, einen Mittagsschlaf zu machen, und seines störrischen Weinens, Kopfschlagens und Schaukelns nicht mehr weiter wussten. Er fühlte sich bei keinem Betreuer wohl und pendelte zwischen äußerster Niedergeschlagenheit und wütendem Trotz.

Als er mit seiner Mutter das erste Mal zu uns kam, klammerte er sich ängstlich an sie und verbarg sein Gesicht, und sie sagte immer wieder: »Sei doch nicht so ein Baby!« Wenn irgendwo auf dem Flur eine Tür zugeschlagen wurde, erschrak er jedes Mal und vergrub sich noch tiefer im Schoß seiner Mutter. Stieß sie ihn daraufhin von sich, setzte er sich in eine Ecke und schlug seinen Kopf gegen die Wand. Das kommentierte die Mutter: »Das macht er nur, um mich zu nerven.« Als wir sie nach ihrer eigenen Lebensgeschichte fragten, berichtete sie, ihre Eltern hätten sie im Stich gelassen, und sie sei dann bei verschiedenen Verwandten aufgewachsen, die sie geschlagen, ignoriert und im Alter von dreizehn Jahren sexuell missbraucht hätten. Ein betrunkener Freund hatte sie geschwängert und sie verlassen, als sie ihm dies gesagt hatte. Sie erklärte, Anthony sei ein Tunichtgut wie sein Vater. Sie hatte später auch einige gewalttätige Auseinandersetzungen mit Freunden gehabt, war sich aber sicher, dass Anthony dies nicht gehört habe, weil es zu spät abends geschehen sei.

Wäre Anthony in eine psychiatrische Klinik aufgenommen worden, hätte man bei ihm wahrscheinlich eine ganz Reihe psychischer Störungen diagnostiziert: Depression, oppositionelles Trotzverhalten, Angst, reaktive Bindungsstörung, ADHS und PTBS . Aber keine dieser Diagnosen hätte geklärt, welches Problem Anthony tatsächlich hatte: dass er sich zu Tode ängstigte, um sein Leben kämpfte und nicht darauf vertraute, dass seine Mutter ihm helfen könnte.

Dann war da noch Maria, eine fünfzehnjährige Latina, eines der mehr als eine halbe Million Kinder in den Vereinigten Staaten, die in Pflegefamilien und residentiellen Betreuungsprogrammen aufwachsen. Maria war fettleibig und aggressiv. Sie war sexuell missbraucht und körperlich und emotional misshandelt worden und hatte seit ihrem achten Lebensjahr im Laufe der Zeit in mehr als zwanzig Pflegeverhältnissen und Pflegeeinrichtungen gelebt. In der umfangreichen Krankenakte, die mit ihr bei uns eintraf, wurde sie als still, rachsüchtig, impulsiv, leichtsinnig und zu selbstschädigendem Verhalten neigend beschrieben, und ihr wurden extreme Stimmungsumschwünge und ein explosives Temperament bescheinigt. Sie selbst bezeichnete sich als »Müll, wertlos, zurückgewiesen«.

Nach mehreren Suizidversuchen wurde Maria in einem unserer stationären Behandlungszentren untergebracht. Anfangs war sie dort sehr still und zurückgezogen, aber sie wurde gewalttätig, wenn Menschen ihr zu nahe kamen. Nachdem sich einige Behandlungsversuche als unwirksam erwiesen hatten, wurde sie in ein Programm für Therapie mit Pferden aufgenommen, wo sie jeden Tag ihr Pferd striegelte und einfache Dressuren erlernte. Zwei Jahre später sprach ich mit Maria anlässlich ihres Highschool-Abschlusses. Sie hatte mit einem vierjährigen Collegestudium begonnen. Auf meine Frage, was ihr am meisten geholfen habe, antwortete sie: »Das Pferd, für das ich gesorgt habe.« Sie habe sich in Gegenwart ihres Pferdes zum ersten Mal sicher gefühlt; das Tier sei jeden Tag für sie da gewesen, habe geduldig auf sie gewartet und sich allem Anschein nach gefreut, wenn sie gekommen sei. Sie hatte erstmals eine viszerale Verbindung zu einem anderen Lebewesen empfunden und mit ihm wie mit einem Freund geredet. Nach einer Weile hatte sie dann auch mit den anderen Kindern in diesem Programm und mit dem Betreuer geredet.

Virginia war ein dreizehnjähriges weißes Mädchen. Man hatte sie von ihrer biologischen Mutter, die drogenabhängig war, entfernt. Nach dem Tod ihrer ersten Adoptivmutter war sie von Pflegefamilie zu Pflegefamilie gewandert, bis sie schließlich erneut adoptiert worden war. Virginia verhielt sich gegenüber Männern, denen sie begegnete, generell verführerisch, und sie berichtete über sexuellen Missbrauch und körperliche Misshandlungen verschiedener Babysitter und Pflegeeltern. In unser stationäres Behandlungsprogramm kam sie nach dreizehn vorangegangenen stationären Behandlungen wegen Suizidversuchen. Die Mitarbeiter der Einrichtung beschrieben sie als isoliert, kontrollbesessen, aufbrausend, sexualisiert, zudringlich, rachsüchtig und narzisstisch. Sie selbst bezeichnete sich als widerwärtig und erklärte, sie wünsche sich, tot zu sein. In ihrer Krankenakte waren die Diagnosen bipolare Störung, Störung der Impulskontrolle, reaktive Bindungsstörung, Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS ), hyperaktiver Subtyp, Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten sowie Substanzmissbrauchstörung genannt. Doch wer war Virginia wirklich? Wie konnten wir ihr helfen, ein Leben zu führen, das ihr selbst als lebenswert erschiene? 1

Wir können nur dann hoffen, die Probleme solcher Kinder zu lösen, wenn wir korrekt erfassen, was in ihnen vor sich geht, und wenn wir mehr tun, als neue Medikamente zu entwickeln, die nichts weiter bewirken, als ihren Zustand unter Kontrolle zu halten, und wenn wir nicht nur versuchen, »das« Gen zu finden, das für ihre »Störung« verantwortlich ist. Es mag schwierig sein, solchen Menschen zu helfen, ein produktives Leben zu führen, doch ließen sich dadurch Hunderte von Millionen Dollar Steuergelder einsparen. Am Anfang dieses Prozesses steht in jedem Fall eine Bestandsaufnahme der Fakten.

Schlechte Gene?

Bei so gewaltigen Problemen und so deutlichen Mängeln der elterlichen Fürsorge ist natürlich die Versuchung groß, die Probleme »schlechten Genen« zuzuschreiben. Weil neue Techniken immer zur Entstehung neuer Forschungsrichtungen führen, machte sich die psychiatrische Forschung, nachdem genetische Untersuchungen möglich geworden waren, daran, die genetischen Ursachen psychischer Krankheiten zu erforschen. Eine genetische Komponente zu identifizieren schien insbesondere im Falle der Schizophrenie wichtig zu sein, einer (bei einem Prozent der Gesamtbevölkerung) ziemlich weitverbreiteten schweren und verwirrenden Form psychischer Krankheit, die zudem in bestimmten Familien eindeutig gehäuft vorkommt. Doch ist es trotz dreißigjähriger Forschungsarbeit bei einem Aufwand von vielen Millionen Dollar an Forschungsgeldern nicht gelungen, konsistente genetische Muster für Schizophrenie zu finden – was im Übrigen auch für andere psychische Krankheiten gilt. 2 Einige meiner Kollegen haben sich auch sehr bemüht, genetische Faktoren zu entdecken, die Menschen prädisponieren, an traumatischem Stress zu erkranken. 3 Diese Bemühungen sind noch nicht abgeschlossen, aber bisher deutet noch nichts darauf hin, dass es irgendwann zuverlässige Antworten auf die Fragen nach der genetischen Verursachung von PTBS geben wird. 4

Dem aktuellen Forschungsstand gemäß können wir uns zumindest von der simplen Vorstellung, wenn man ein bestimmtes Gen »habe«, müsse man mit einem bestimmten Resultat rechnen, getrost verabschieden. Mittlerweile ist nämlich klar, dass viele Gene zusammen ein bestimmtes Resultat produzieren. Wichtiger noch ist, dass Gene nicht unverändert bleiben. Durch Lebensereignisse können biochemische Botschaften aktiviert werden, die bestimmte Gene ein- oder ausschalten, indem sie an die Außenseite des Gens bestimmte Methylgruppen heften, einen Cluster aus Kohlenstoff- und Sauerstoffatomen (ein DNA -Methylierung genannter Prozess), was das betreffende Gen für Botschaften des Körpers mehr oder weniger empfänglich macht. Lebensereignisse können zwar das Verhalten eines Gens verändern, jedoch nicht dessen Grundstruktur. Aber auch Methylierungsmuster können an die Nachkommen weitergegeben werden – dieses Phänomen wird Epigenetik genannt. Obwohl es hier um die tiefsten Strukturen des menschlichen Organismus geht, zeigt sich auch darin die Verkörperung des Schreckens.

Eines der am häufigsten erwähnten Experimente im Bereich der Epigenetik wurde von Michael Meaney, einem Forscher der McGill University , mit neugeborenen Ratten und ihren Müttern durchgeführt. 5 Er entdeckte, dass die Art, wie eine Rattenmutter ihre Jungen in den ersten zwölf Stunden nach deren Geburt leckt und putzt, dauerhaft die chemische Reaktion des Gehirns auf Stress beeinflusst – und die Konfiguration von über tausend Genen verändert. Rattenjunge, die von ihren Müttern intensiv geleckt werden, sind unerschrockener und produzieren unter Stress geringere Mengen Stresshormone als Ratten mit weniger aufmerksamen Müttern. Außerdem erholen sich Erstere von solchen Belastungen schneller – und diese Gelassenheit bewahren sie in ihrem ganzen Leben. In ihrem Hippocampus, einem für Lernen und Gedächtnis wichtigen Gehirnzentrum, entstehen dickere Verbindungen, und sie erzielen im Finden eines Weges durch ein Labyrinth, einer für Nagetiere wichtigen Fertigkeit, bessere Resultate.

Wir haben gerade erst angefangen zu erforschen, inwieweit belastende Erlebnisse auch bei Menschen die Genexpression beeinflussen. Bei Kindern, deren Mütter in der Schwangerschaft während eines längeren Eissturms in Quebec in einem ungeheizten Haus festsaßen, wurden, verglichen mit den Kindern von Müttern, deren Haus innerhalb eines Tages wieder beheizbar war, starke epigenetische Veränderungen festgestellt. 6 McGill-Forscher Moshe Szyf verglich die epigenetischen Profile Hunderter Kinder in Großbritannien, die den beiden Extrempunkten der Skala sozialer Privilegierung zuzuordnen waren, und maß die Auswirkungen von Missbrauch und Misshandlungen bei Kindern beider Gruppen. Unterschiede hinsichtlich der gesellschaftlichen Klassenzugehörigkeit korrelierten mit deutlich unterschiedlichen epigenetischen Profilen, doch bei den missbrauchten oder misshandelten Kindern beider Gruppen waren bestimmte Modifikationen an 73 Genen identisch. Szyf erklärte: »Zu tief reichenden Veränderungen unseres Körpers kann es nicht nur durch chemische Stoffe und Toxine kommen, sondern auch durch die Art, wie zwischen der sozialen Welt und der ›fest vernetzten‹ Welt Kommunikation stattfindet.« 7 8

Affen beantworten alte Fragen der Nature-Nurture-Debatte

Eine der klarsten Beschreibungen dessen, wie die Qualität elterlicher Fürsorge und die Umgebung die Genexpression beeinflussen, stammt von Stephen Suomi, dem Leiter des Laboratory of Comparative Ethology der National Institutes of Health. 9 Seit über vierzig Jahren beschäftigt sich Suomi mit der Transmission der Persönlichkeit von Rhesusaffen über Generationen hinweg, deren Gene zu 95 Prozent mit den menschlichen identisch sind – ein Wert, der nur von Schimpansen und Bonobos übertroffen wird. Wie Menschen leben auch Rhesusaffen in großen sozialen Gruppen mit komplexen Allianzen und Statusbeziehungen, in denen nur Mitglieder, die ihr Verhalten mit den Erfordernissen der eigenen sozialen Gruppe in Einklang bringen können, überleben und gedeihen.

Auch hinsichtlich ihrer Bindungsmuster gleichen Rhesusaffen Menschen. Ihre Kinder sind auf engen physischen Kontakt zu ihren Müttern angewiesen, und so wie Bowlby es bei Menschen beobachtete, entwickeln auch sie sich, indem sie ihre Umgebung erforschen und jedes Mal zu ihren Müttern zurückkehren, wenn sie sich erschrecken oder die Orientierung verloren haben. Sobald sie unabhängiger werden, ist das Spiel mit Gleichaltrigen die für sie wichtigste Art zu lernen, mit dem Leben zurechtzukommen.

Suomi identifizierte unter Rhesusaffen zwei Persönlichkeitstypen, die immer wieder in Schwierigkeiten gerieten: verkrampfte, ängstliche Affen, die sogar in Situationen Angst bekamen, sich zurückzogen oder depressiv wurden, in denen andere Affen spielten und ihre Umgebung erforschten, und hochaggressive »Mönche«, die so viele Probleme produzierten, dass sie von ihren Artgenossen oft gemieden, verprügelt oder sogar getötet wurden. Affen mit diesen beiden Charakteristiken unterschieden sich in ihren biologischen Grundlagen von ihren Altersgenossen. Abweichungen bezüglich der Basis des Arousals, der Stresshormonspiegel und des Gehirnstoffwechsels (z. B. beim Serotonin) können schon in den ersten Wochen des Lebens festgestellt werden, und weder diese biologischen Charakteristika noch das Verhalten der beiden genannten Gruppen verändern sich mit zunehmender Reife. Suomi identifizierte ein großes Spektrum genetisch gesteuerter Verhaltensweisen. Beispielsweise konsumieren die »überspannten« Affen (die sowohl aufgrund ihres Verhaltens als auch ihres hohen Kortisolspiegels im Alter von sechs Monaten so klassifiziert wurden) in Experimentalsituationen mehr Alkohol als andere Affen, wenn sie das Alter von vier Jahren erreichen. Zwar konsumieren auch die genetisch aggressiven Affen mehr Alkohol, und zwar so viel, dass sie den Zustand der Bewusstlosigkeit erreichen, aber die »überspannten« Affen scheinen eher mit dem Ziel, sich zu beruhigen, zu trinken.

Doch auch die soziale Umgebung trägt stark zur Ausprägung des Verhaltens und der biologischen Grundlagen bei. Die »verspannten«, ängstlichen weiblichen Affen haben Schwierigkeiten, mit anderen Tieren zu spielen, es mangelt ihnen beim Gebären an sozialer Unterstützung, und es besteht erhöhte Gefahr, dass sie ihre Erstgeborenen vernachlässigen oder misshandeln. Gehören diese weiblichen Tiere jedoch einer stabilen sozialen Gruppe an, werden sie oft gewissenhafte Mütter, die sorgsam über ihre Jungen wachen. Unter gewissen Umständen kann es dringend notwendigen Schutz bieten, als Mutter ängstlich zu sein. Aggressive Affenmütter hingegen verschaffen ihrem Nachwuchs keine sozialen Vorteile: Sie bestrafen ihre Jungen oft durch Schlagen, Treten und Beißen. Überleben die Jungen diese Behandlung, hindern ihre Mütter sie gewöhnlich, mit Altersgenossen Freundschaft zu schließen.

Im realen Leben lässt sich schwer sagen, ob das aggressive oder verspannte Verhalten von Menschen das Resultat der genetischen Anlagen ihrer Eltern ist oder ob die Betreffenden von ihrer Mutter früh schlecht behandelt wurden – oder ob beides der Fall ist. In einem Labor hingegen kann man neugeborene Affen mit ungünstigen genetischen Anlagen von ihren biologischen Müttern trennen und sie bei unterstützenden Müttern oder in Spielgruppen mit Gleichaltrigen aufwachsen lassen.

Junge Affen, die direkt nach ihrer Geburt von ihren Müttern getrennt werden und dann ausschließlich unter Gleichaltrigen leben, entwickeln eine starke Bindung zu diesen. Sie klammern sich regelrecht an ihre Altersgenossen und lösen sich nicht ausreichend von der Gruppe, um sich auf gesunde, entwicklungsfördernde Weise der Exploration und dem Spiel widmen zu können. Wenn sie spielen – was sie eher selten tun – fehlt ihrem Spiel die für normale Affen typische Komplexität und Fantasie. Werden diese Affen erwachsen, reagieren sie auf Situationen, die ihnen neu sind, verängstigt, und es fehlt ihnen an Neugier. Unabhängig von ihrer genetischen Prädisposition reagieren unter Gleichaltrigen aufgewachsene Affen übermäßig stark auf geringe Stressfaktoren: Ihr Kortisolspiegel steigt in Reaktion auf laute Geräusche wesentlich stärker als der von Affen, die von ihren Müttern aufgezogen wurden. Ihr Serotoninstoffwechsel ist noch abnormer als bei Affen mit genetischer Prädisposition zur Aggressivität, die aber von ihren Müttern aufgezogen wurden. Dies führt zu dem Schluss, dass jedenfalls bei Affen frühe Erlebnisse mindestens ebenso stark wie die genetische Prädisposition auf die biologischen Grundlagen einwirken.

Bei Affen und Menschen existieren die gleichen beiden Varianten des Serotonin-Gens (kurze und lange Serotonin-Transporter-Allele genannt). Wenn die kurze Variante bei Menschen vorkommt, wird sie mit Impulsivität, Aggression, Sensationslüsternheit, Suizidalität und schweren Depressionen in Verbindung gebracht. Suomi hat gezeigt, dass zumindest bei Affen sich die Umgebung darauf auswirkt, wie diese Gene das Verhalten beeinflussen. Affen mit der kurzen Version des Gens, die von einer Mutter aufgezogen wurden, die ihre Aufgabe zuverlässig erfüllte, verhielten sich normal und wiesen hinsichtlich ihres Serotoninstoffwechsels kein Defizit auf. Hingegen wurden Affen mit diesem Gen, die in einer Gruppe Gleichaltriger aufwuchsen, zu aggressiven Gefahrensuchern. 10 Alec Roy, ein neuseeländischer Forscher, hat herausgefunden, dass Menschen mit dem kurzen Allel häufiger unter Depressionen litten als diejenigen mit der langen Version des Gens, dass dies aber nur dann zutraf, wenn die Betreffenden außerdem in ihrer Kindheit missbraucht, misshandelt oder vernachlässigt worden waren. Welchen Schluss wir daraus ziehen müssen, ist klar: Bei Kindern, die das Glück haben, mit einer auf sie eingestimmten und sorgsamen Mutter oder primären Bezugsperson aufzuwachsen, entsteht dieses genetisch bedingte Problem nicht. 11

Suomis Arbeit bestätigt alles, was unsere Kollegen im Zuge ihrer Studien über die menschliche Bindung gelernt und was unsere eigenen klinischen Untersuchungen ergeben haben: Sichere frühe Beziehungen schützen Kinder vor lebenslangen Problemen. Und Eltern mit eigenen genetisch bedingten Schwächen können diesen Schutz an die nächste Generation weitergeben, wenn sie in ihrem Bemühen adäquat unterstützt werden.

Das National Child Traumatic Stress Network

Für fast jede körperliche Krankheit, vom Krebs bis zur Netzhautentzündung, gibt es eine Interessengruppe, die sich für ihre Erforschung und Behandlung einsetzt. Doch bis zur Gründung des National Child Traumatic Stress Network im Jahre 2001 als Folge eines entsprechenden Bundesgesetzes gab es keine übergeordnete Organisation, die sich der Erforschung und Behandlung von Traumata bei Kindern widmete.

Im Jahre 1998 rief mich Adam Cummings von der Nathan Cummings Foundation an und teilte mir mit, die Stiftung interessiere sich für die Erforschung der Wirkung von Traumata auf das Lernen. Ich sagte ihm, zu dieser Thematik seien zwar einige sehr gute Untersuchungen durchgeführt worden, 12 aber es gebe kein Forum, das die bereits vorliegenden Erkenntnisse in der Praxis nutzen könne. Die mentale, biologische oder moralische Entwicklung traumatisierter Kinder werde in der Jugendhilfe Tätigen und Kinderärzten ebenso wenig systematisch nahegebracht, wie diese Erkenntnisse in Fachschulen für Psychologie oder Sozialarbeit vermittelt würden.

Wir waren uns einig, dass wir uns um dieses Problem kümmern müssten. Ungefähr acht Monate später riefen wir Repräsentanten des U. S. Department of Health and Human Services , des U. S. Department of Justice , Senator Ted Kennedys Berater für Gesundheitsfragen und eine Gruppe von Kollegen, die sich auf Kindheitstraumata spezialisiert hatten, zu einem Thinktank zusammen. Wir alle kannten die grundlegenden Fakten über die Wirkung von Traumata auf Geist und Gehirn in der Entwicklungszeit, und uns allen war klar, dass sich die Wirkung von Kindheitstraumata sehr stark von der Wirkung von traumatischem Stress unterscheidet, den voll entwickelte Erwachsene erleben. Die Gruppe war sich einig, dass wir, um das Problem der Kindheitstraumata fest im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern, eine landesweite Organisation gründen müssten, die sowohl die wissenschaftliche Erforschung von Kindheitstraumata als auch die entsprechende Information und Weiterbildung von Lehrern, Richtern, Priestern, Pflegeeltern, Ärzten, Bewährungshelfern, Krankenpflegern sowie Psychiatern und Psychologen hinsichtlich dieser Thematik vorantreiben müsste – sich also an alle wenden müsste, die beruflich mit missbrauchten, misshandelten und traumatisierten Kindern zu tun haben.

Ein Mitglied unserer Gruppe, Bill Harris, der Experte für Kinder betreffende Gesetze war, machte sich zusammen mit Senator Kennedys Mitarbeitern daran, unsere Ideen in Form eines Gesetzes zu realisieren. Das Gesetz, das zur Gründung des National Child Traumatic Stress Network (NCTSN ) führte, wurde vom Senat mit überwältigender parteiübergreifender Mehrheit verabschiedet, und das Network, das zunächst Einrichtungen an 17 Standorten einbezog, hat sich seit 2001 zu einer Organisation entwickelt, der landesweit 150 Institutionen angehören. Das NCTSN wird von Zentren an der Duke University und der UCLA koordiniert und schließt Universitäten, Krankenhäuser, Stammesvertretungen, Drogenrehabilitationsprogramme, psychiatrische Kliniken und Graduiertenschulen ein. Alle diese Institutionen arbeiten mit lokalen Schulsystemen, Krankenhäusern, Sozialämtern, Obdachlosenunterkünften, Programmen für jugendliche Straftäter und Frauenhäusern zusammen, und die Gesamtzahl der mit dem Netzwerk verbundenen Partner liegt bei 8 300.

Sobald der NCTSN seine Aufgaben wahrnahm, verfügten wir über Möglichkeiten, überall in den USA ein klareres Profil traumatisierter Kinder zu entwickeln. Mein Kollege Joseph Spinazzola vom Trauma Center führte eine Untersuchung durch, in der die Akten von fast zweitausend Kindern und Jugendlichen aus Institutionen verschiedenster Art, die dem Netzwerk angehörten, ausgewertet wurden. 13 Schon bald bestätigte sich, was wir vermutet hatten: Die meisten dieser Kinder stammten aus extrem dysfunktionalen Familien. Über die Hälfte war emotional misshandelt worden und/oder hatte eine primäre Bezugsperson, die selbst zu gestört war, um die Bedürfnisse des Kindes erfüllen zu können. Fast 50 Prozent der in der Auswertung Berücksichtigten waren zeitweise von ihren wichtigsten Bezugspersonen getrennt gewesen, weil diese eine Gefängnisstrafe absaßen, stationär behandelt wurden oder ihren Militärdienst ableisteten, weshalb die Kinder von Fremden, Pflegeeltern oder entfernten Verwandten betreut wurden. Etwa die Hälfte der Untersuchungsteilnehmer waren Zeugen häuslicher Gewalt geworden, und ein Viertel hatte außerdem selbst sexuellen Missbrauch und/oder körperliche Misshandlungen erlebt. Die Kinder und Jugendlichen, deren Daten in der Studie ausgewertet wurden, waren somit Spiegelbilder jener der Mittelklasse angehörigen Kaiser-Permanente -Patienten mittleren Alters mit hohen ACE -Werten, die Vincent Felitti in der Studie über schädliche Kindheitserlebnisse (Adverse Childhood ExperiencesACE ) untersucht hatte.

Die Macht der Diagnose

In den 1970er-Jahren fehlte die Möglichkeit, die vielfältigen Symptome Hunderttausender heimkehrender Vietnamveteranen zu klassifizieren. In den ersten Kapiteln dieses Buches wurde beschrieben, dass die Kliniker durch diesen Umstand gezwungen wurden, bei der Behandlung ihrer Patienten zu improvisieren. Sie konnten nicht systematisch untersuchen, welche Behandlungsansätze wirklich von Nutzen waren. Die Aufnahme der Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS ) in das DSM -III im Jahre 1980 hatte intensive wissenschaftliche Studien zur Folge und führte zur Entwicklung von Behandlungsmethoden, die sich nicht nur bei der Arbeit für Veteranen bewährten, sondern auch den Opfern vieler anderer traumatischer Vorfälle wie Vergewaltigungen, Überfällen und Auto- und Motorradunfällen halfen. 14 Ein Beispiel für die weitreichenden Auswirkungen der Existenz einer spezifischen Diagnose ist die Tatsache, dass das Department of Defense in der Zeit von 2007 bis 2010 über 2.7 Milliarden für die Behandlung von PTBS bei Kriegsveteranen und für die Erforschung ihrer Probleme aufwendete, wohingegen im Fiskaljahr 2009 schon allein das Department of Veterans Affairs 24,5 Millionen Dollar für hausinterne PTBS -Forschung aufwendete.

Die im DSM präsentierte Definition der PTBS ist ziemlich simpel: Ein Mensch erlebt ein entsetzliches Ereignis, das mit »dem Tod oder der Androhung des Todes, einer schweren Verletzung oder einer anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder eines anderen Menschen« einhergeht, was bei den Betroffenen »intensive Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen« auslöst. Einem solchen Erlebnis können vielfältige Auswirkungen folgen: intrusives Wiedererleben des Ereignisses (Flashbacks, schlechte Träume, das Gefühl, das Geschehene wiederhole sich), anhaltendes und lähmendes Vermeiden (von mit dem Trauma assoziierten Menschen, Orten, Gedanken oder Gefühlen, manchmal in Verbindung mit einer Amnesie, die wichtige Teile des Traumas betrifft) und verstärktes Arousal (Schlaflosigkeit, Hypervigilanz oder gesteigerte Reizbarkeit). Diese Beschreibung suggeriert einen klaren Handlungsverlauf: Ein Mensch wird plötzlich und unerwartet von einem entsetzlichen Ereignis getroffen und ist danach nie mehr derjenige, der er vorher war. Das Trauma mag vorüber sein, aber es wird in wiederkehrenden Erinnerungen und einem durch das Erlebnis grundsätzlich veränderten Nervensystem unablässig wiederholt.

Wie wichtig war diese Definition für die Kinder, die wir behandelten? Nach einem einmaligen traumatischen Ereignis – etwa einem Hundebiss, einem Unfall oder dem Miterleben einer Schießerei in einer Schule – können Kinder tatsächlich grundlegende PTBS -Symptome entwickeln, die denjenigen von Erwachsenen ähneln, auch wenn sie in einer für sie sicheren und sie unterstützenden Familie leben. Weil wir die PTBS -Diagnose haben, können wir die grundlegenden PTBS -Symptome heute sehr effektiv behandeln.

Bei Kindern, die in ihren Familien Missbrauch, Misshandlungen und Vernachlässigung erlebt haben und deshalb in Kliniken, Schulen, Krankenhäuser und Polizeistationen kommen, sind die traumatischen Wurzeln ihres Verhaltens weniger deutlich zu erkennen, vor allem deshalb, weil sie nur selten darüber sprechen, dass sie geschlagen, im Stich gelassen oder missbraucht worden sind, auch wenn man sie danach fragt. 82 Prozent der traumatisierten Kinder, die bei dem NCTSN angehörenden Institutionen vorsprechen, erfüllen nicht die diagnostischen Kriterien für eine PTBS . 15 Weil sie oft verschlossen, misstrauisch oder aggressiv sind, stellt man ihnen eine jener pseudowissenschaftlichen Diagnosen wie »Störung mit oppositionellem Trotzverhalten«, was im Grunde bedeutet: »Weil dieses Kind mich nun einmal nicht ausstehen kann, würde es niemals etwas tun, was ich von ihm fordere.« Oder: »Disruptive Affektregulationsstörung« [aus dem neuen DSM -V : Dysruptive Mood Dysregulation Disorder ], was nichts anderes heißt, als dass dieses Kind Wutanfälle bekommt. Und weil solche Kinder so viele Probleme haben, sammeln sich in ihren Krankenakten im Laufe der Zeit die verschiedensten Diagnosen. Bevor sie zwanzig Jahre alt sind, hat man vielen von ihnen schon vier, fünf, sechs oder noch mehr dieser zwar eindrucksvoll klingenden, aber letztlich nichtssagenden Etiketten verpasst. Falls sie überhaupt irgendwie behandelt werden, dann nach der Methode, die gerade als »letzter Schrei« propagiert wird: mit bestimmten neuen Medikamenten, mit Verhaltensmodifikation oder mit einer Expositionstherapie. Diese erfüllen nur selten ihren Zweck und vergrößern oft sogar den schon angerichteten Schaden noch.

Als die Zahl der Kinder, die von Einrichtungen des NCTSN behandelt wurden, immer größer wurde, wurde klar, dass wir eine Diagnose brauchten, die der Realität des Erlebens dieser Kinder gerecht wurde. Wir stellten zu diesem Zweck zunächst eine Datenbank mit Informationen über fast 20 000 Kinder zusammen, die im Rahmen des Netzwerks an verschiedenen Orten in Behandlung (gewesen) waren, und sammelten alle wissenschaftlichen Artikel über Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern. Diese Literatur wurde gesichtet, und aus ihr wurden 130 besonders wichtige Untersuchungen ausgewählt, die über insgesamt mehr als 100 000 Kinder und Jugendliche weltweit berichteten. Im Anschluss daran kam eine zentrale Arbeitsgruppe von zwölf Klinikern und Forschern, die sich auf Kindheitstraumata spezialisiert hatten, 16 vier Jahre lang zweimal jährlich zusammen, um einen Vorschlag für eine adäquate Diagnose zu entwickeln, den wir »Entwicklungsbezogene Traumafolgestörung« (Developmental Trauma Disorder) zu nennen beschlossen. 17

Bei der Sichtung unserer Ergebnisse entdeckten wir ein konsistentes Profil: (1) Stets war Dysregulation im Spiel, (2) es lagen Probleme vor, die die Aufmerksamkeit und Konzentration betrafen, und (3) die Betroffenen hatten Schwierigkeiten, mit sich selbst und anderen Menschen zurechtzukommen. Die Stimmungen und Gefühle dieser Kinder schlugen rasch von einem Extrem ins andere um – von Wutanfällen und Panik zu Entrücktheit, Ausdruckslosigkeit und Dissoziation. Wenn sie sich in einem aufgebrachten Zustand befanden (was meist der Fall war), konnten sie sich weder beruhigen noch beschreiben, was sie fühlten.

Wenn ein biologisches System ständig Stresshormone ausschüttet, um mit realen oder vorgestellten Gefahren fertigzuwerden, entstehen physische Probleme: Schlafstörungen, Kopfschmerzen, unerklärliche Schmerzen und Hypersensibilität gegenüber Berührungen oder Geräuschen. Menschen, die sehr aufgebracht sind oder völlig verschlossen, sind nicht in der Lage, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren und sich zu konzentrieren. Um ihre Anspannung zu verringern, entwickeln sie Aktivitäten wie chronische Masturbation, Wiegebewegungen des Körpers oder selbstschädigende Verhaltensweisen (sie beißen sich selbst, fügen sich Schnittverletzungen oder Brandwunden zu, schlagen sich, reißen sich Haare aus oder kratzen sich, bis die Haut blutet). Außerdem können durch längeren Stress die Sprachverarbeitung und die Feinmotorik beeinträchtigt werden. Weil die Betreffenden ihre gesamte Energie darauf verwenden, die Kontrolle zu behalten, fällt es ihnen oft schwer, sich auf Dinge zu konzentrieren, die für ihr Überleben nicht unmittelbar wichtig sind, etwa auf Schularbeiten, und aufgrund ihrer ständig stark erhöhten Erregung lassen sie sich leicht ablenken.

Weil sie oft ignoriert oder verlassen wurden, bleiben sie in einer anklammernden und bedürftigen Haltung, sogar gegenüber denjenigen, die sie misshandelt oder missbraucht haben. Weil sie immer wieder geschlagen, sexuell belästigt oder in anderer Hinsicht schlecht behandelt worden sind, können sie nicht anders, als sich als unzulänglich und wertlos zu sehen. Zu ihrem Selbstekel, ihrem Unzulänglichkeits- und Wertlosigkeitsgefühl sind sie auf authentische Weise gelangt. War es wirklich überraschend, dass sie niemandem vertrauten? Schließlich machte die Kombination von tiefem Selbstekel und Überreaktionen auf die geringsten Frustrationen es ihnen sehr schwer, Freundschaften zu schließen.

Wir veröffentlichten die ersten Artikel über unsere Forschungsergebnisse, entwickelten eine validierte Messskala 18 und sammelten Daten von ca. 350 Kindern und ihren Eltern bzw. Pflegeeltern, um zu belegen, dass die Diagnose »Entwicklungsbezogene Traumafolgestörung« das gesamte Spektrum dessen, was mit diesen Kindern nicht stimmte, erfasste. Dies gab uns die Möglichkeit, die Probleme der Kinder mit einer Diagnose zu erfassen, also nicht wie vorher viele verschiedene Etiketten zu benötigen, und wir konnten den Ursprung ihrer Schwierigkeiten eindeutig in einem Zusammenwirken traumatischer Erlebnisse und gestörter Bindungsbeziehungen lokalisieren.

Im Februar 2009 reichten wir unseren Antrag auf Einführung der neuen Diagnose »Entwicklungsbezogene Traumafolgestörung« bei der American Psychiatric Association (APA ) ein und fügten ihm einen Brief folgenden Inhalts bei:

Kindern, die sich im Kontext permanenter Gefahr, schlechter Behandlung und dysfunktionaler elterlicher Betreuung entwickeln, ist mit dem heutigen Diagnosesystem schlecht gedient, weil es einer Verbesserung der Verhaltenskontrolle Priorität einräumt, ohne den Gegebenheiten interpersonaler Traumata gerecht zu werden. Untersuchungen über die Folgen von Kindheitstraumata im Kontext von Missbrauch, Misshandlungen oder Vernachlässigung durch die primären Bezugspersonen deuten immer wieder auf chronische und schwerwiegende Probleme hinsichtlich der Emotionsregulierung, der Impulskontrolle, der Aufmerksamkeit und Kognition, dissoziativer Tendenzen, interpersonaler Beziehungen sowie der Schemata hin, welche die Kinder selbst und ihre Beziehungen betreffen. Weil eine einfühlsame traumaspezifische Diagnose fehlt, werden bei solchen Kindern zurzeit durchschnittlich drei bis acht komorbide Störungen diagnostiziert. Doch die Praxis, traumatisierten Kindern zahlreiche komorbide Diagnosen zu stellen, hat schwerwiegende Konsequenzen: Sie widerspricht dem Prinzip der Sparsamkeit der Argumente, beeinträchtigt die ätiologische Klarheit und läuft Gefahr, die Behandlung und die Auswahl der Interventionen auf einen Teilaspekt der Psychopathologie des Kindes zu beschränken, statt einen umfassenden Behandlungsansatz zu fördern.

Kurz nachdem wir unseren Antrag eingereicht hatten, hielt ich in Washington D. C. auf einer Konferenz der Mental Health Commissioner aus dem ganzen Land einen Vortrag über die entwicklungsbezogene Traumafolgestörung. Die Gastgeber boten uns an, unsere Initiative mit einem Brief an die APA zu unterstützen. In diesem Brief wurde darauf hingewiesen, dass die National Association of State Mental Health Program Directors jährlich 6,1 Millionen Menschen bei einem Budget von 29,5 Milliarden Dollar versorgt. Der Brief endete: »Wir empfehlen der APA dringend, die ›Entwicklungsbezogene Traumafolgestörung‹ ihrer Liste priorisierter Bereiche hinzuzufügen, um ihren Verlauf und ihre klinischen Folgen klären und besser beschreiben zu lassen und um zu unterstreichen, dass ein starkes Bedürfnis besteht, die Problematik von Entwicklungstraumata in die Beurteilung von Patienten einzubeziehen.«

Ich war recht zuversichtlich, dass dieser Brief die APA dazu bewegen würde, unseren Antrag ernst zu nehmen. Doch einige Monate später informierte uns Matthew Friedman, der geschäftsführende Leiter des National Center for PTSD und Vorsitzende des für unser Anliegen zuständigen DSM -Subkomitees, dass die »Entwicklungsbezogene Traumafolgestörung« wahrscheinlich nicht in das DSM -5 aufgenommen werde. Innerhalb des Subkomitees sei man zu der Auffassung gelangt, zum Füllen einer bisher »übersehenen diagnostischen Nische« sei keine neue Diagnose erforderlich. Eine Million Kinder, die Jahr für Jahr in den Vereinigten Staaten missbraucht, misshandelt und vernachlässigt werden, sollten eine »diagnostische Nische« sein?

In Friedmans Brief hieß es weiter: »Die Vorstellung, dass schädliche Erlebnisse in der frühen Kindheit zu erheblichen Entwicklungsstörungen führen können, entspringt eher der klinischen Intuition, als dass es eine durch die Forschung überprüfte Tatsache ist. Diese Auffassung wird zwar immer wieder vertreten, sie ist aber nicht durch prospektive Studien belegt.« Natürlich hatten wir unserem Antrag die Resultate mehrerer prospektiver Studien beigefügt. Mit zweien davon werden wir uns im Folgenden beschäftigen.

Wie Beziehungen die menschliche Entwicklung beeinflussen

Seit 1975 und fast dreißig Jahre lang hat Alan Sroufe mit Kollegen im Rahmen der Minnesota Longitudinal Study of Risk and Adaptation das Leben von 180 Kindern und ihren Familien verfolgt. 19 Als die Arbeit im Rahmen dieser Studie begann, fand eine intensive Debatte über den Einfluss von Vererbung und Erziehung (nature/nurture) sowie von Temperament und Umgebung auf die menschliche Entwicklung statt – Fragen, die mithilfe der Studie beantwortet werden sollten. Traumata waren damals noch kein in der Öffentlichkeit diskutiertes Thema, und Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern standen nicht im Mittelpunkt der Studie – zumindest am Anfang nicht, denn letztlich erwiesen sich diese Faktoren als wichtigste Prädiktoren für die Funktionsfähigkeit der Untersuchten im Erwachsenenalter.

In Zusammenarbeit mit lokalen medizinischen und sozialen Institutionen wählten die Forscher für ihre Studie (weiße) Schwangere, die so arm waren, dass sie Anspruch auf staatliche Unterstützung hatten, die aber aus recht unterschiedlichen Situationen kamen und die bei der Betreuung ihrer Kinder auf Unterstützung unterschiedlicher Art und unterschiedlichen Umfangs zurückgreifen konnten. Die Studie begann drei Monate vor der Geburt der Kinder und verfolgte ihre Entwicklung und ihr Leben dreißig Jahre lang, wobei alle wichtigen Aspekte der Funktionsfähigkeit und alle signifikanten Lebensumstände dokumentiert und, soweit relevant, gemessen wurden. Sie beschäftigte sich mit verschiedenen grundsätzlichen Fragen: Wie lernen Kinder, aufmerksam zu sein und gleichzeitig ihren Erregungszustand zu regulieren (d. h., extreme Hochgefühle und Niedergeschlagenheit zu vermeiden), und wie kontrollieren sie ihre Impulse? Welche Arten von Unterstützung brauchen sie und wann?

Nach ausgiebigen Interviews und Tests mit den werdenden Müttern begann die eigentliche Studie auf der Entbindungsstation, wo die Forscher die Neugeborenen beobachteten und die Kinderschwestern, die sie betreuten, interviewten. Sieben und zehn Tage nach der Geburt besuchten die Forscher die Mütter zu Hause. Bevor die Kinder in die erste Schulklasse kamen, wurden sie und ihre Eltern insgesamt fünfzehn Mal sorgfältig untersucht. Danach wurden die Kinder bis zum Erreichen des Alters von 28 Jahren in regelmäßigen Abständen interviewt und getestet, und auch ihre Mütter und Lehrer wurden regelmäßig befragt.

Sroufe und seine Kollegen stellten eine enge Verknüpfung zwischen der Qualität der elterlichen Fürsorge und biologischen Faktoren fest. Es ist faszinierend, dass die Resultate der Minnesota-Studie bestätigen, was Stephen Suomi in seinem Primaten-Labor herausgefunden hatte, es allerdings auch wesentlich komplexer darstellen. Die Studie zeigte, dass nichts unabänderlich ist. Weder die Persönlichkeit der Mutter noch neurologische Anomalien zum Zeitpunkt der Geburt noch der IQ und auch nicht das Temperament – einschließlich des Aktivitätsniveaus und der Reaktivität hinsichtlich Stress – gaben zuverlässig Aufschluss darüber, ob ein Kind in der Adoleszenz schwerwiegende Verhaltensprobleme entwickeln würde. 20 Entscheidend war die Art der Eltern-Kind-Beziehung: wie Eltern sich im Kontakt mit ihren Kindern fühlten und wie sie mit ihnen interagierten. Wie bei Suomis Affen resultierten aus der Kombination verletzlicher Babys und unflexibler Eltern mit absoluter Sicherheit anklammernde und verspannte Kinder. Unsensibles, aggressives und zudringliches Verhalten der Eltern zu der Zeit, zu der die Kinder sechs Monate alt waren, führte zielsicher zu Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsproblemen im Vorschulalter und darüber hinaus. 21

Indem Sroufe und Kollegen die vielen Facetten der kindlichen Entwicklung beleuchteten – insbesondere die Beziehungen zu den primären Bezugspersonen, zu Lehrern und zu Gleichaltrigen –, stellten sie fest, dass Betreuer nicht nur das Erregungsniveau in Grenzen halten, sondern den Kindern auch helfen, die Fähigkeit zur Selbstregulation ihrer Erregungszustände zu entwickeln. Kinder, die ständig in Zustände starker Erregung und der Desorganisation getrieben wurden, schaften es nicht, ihre inhibitorischen und exzitatorischen Gehirnsysteme adäquat einzustimmen, und sie wuchsen in der Erwartung auf, sie würden die Kontrolle verlieren, wenn sie in starke Erregung versetzt würden. Von dieser sehr verletzlichen Population litt in der späten Adoleszenz die Hälfte unter diagnostizierbaren psychischen Problemen. Man konnte deutliche Muster erkennen: Kinder, die von ihren primären Bezugspersonen zuverlässig betreut wurden, entwickelten eine gute Regulationsfähigkeit, wohingegen eine unzuverlässige Betreuung dazu führte, dass die Kinder sich physiologisch ständig in einem erhöhten Erregungszustand befanden. Kinder unzuverlässiger Eltern bemühten sich oft lautstark, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und sie waren bei den geringsten Herausforderungen schnell sehr frustriert. Aufgrund ihrer anhaltenden starken Erregung waren sie ständig verängstigt. Ihr unablässiges Bemühen um Bestätigung hinderte sie daran, zu spielen und ihre Umgebung zu erforschen, weshalb sie in einem Zustand permanenter Nervosität und wenig unternehmungslustig aufwuchsen.

Frühe elterliche Vernachlässigung und wenig verständnisvolle Behandlung der Kinder führten zu Verhaltensproblemen in der Schule, Schwierigkeiten im Umgang mit Gleichaltrigen und Mangel an Empathie dem Leid anderer gegenüber. 22 So entstand ein Teufelskreis: Aufgrund der ständig starken Erregung in Verbindung mit mangelnder elterlicher Unterstützung wurden sie unberechenbar, trotzig und aggressiv. Andauernd störende und aggressive Kinder sind nicht besonders beliebt und provozieren durch ihr Verhalten weitere Zurückweisungen und Bestrafung, nicht nur durch ihre primären Bezugspersonen, sondern auch durch ihre Lehrer und Altersgenossen. 23

Sroufe fand auch eine Menge über Resilienz heraus: über die Fähigkeit, widrige Situationen unbeschadet durchzustehen. Als der bei Weitem wichtigste Prädiktor dafür, wie gut Menschen mit den unvermeidlichen Enttäuschungen zurechtkommen, die das Leben mit sich bringt, erwies sich die Stärke der Sicherheit, die diese Kinder in den ersten beiden Lebensjahren im Kontakt mit ihren primären Bezugspersonen erlebt hatten. Sroufe teilte mir informell mit, er nehme an, Resilienz im Erwachsenenalter lasse sich aufgrund dessen voraussagen, als wie liebenswert Mütter ihre Kinder im Alter von zwei Jahren einschätzten. 24

Die langfristigen Auswirkungen von Inzest

Im Jahre 1986 initiierten Frank Putnam und Penelope Trickett, seine Kollegin am National Institute of Mental Health , die erste Longitudinalstudie über die Wirkung von sexuellem Missbrauch auf die Entwicklung von Frauen. 25 Bis zur Veröffentlichung der Resultate dieser Studie basierten unsere Kenntnisse von den Auswirkungen von Inzest ausschließlich auf den Berichten von Kindern, die sich kürzlich über ihre Inzesterlebnisse geäußert hatten, sowie auf Berichten Erwachsener, die Jahre oder sogar Jahrzehnte nach den realen Inzesterlebnissen rekonstruierten, wie sich diese auf ihr Leben ausgewirkt hatten. Keine Studie hatte jemals vorher Mädchen in ihrer Entwicklungszeit begleitet, um zu untersuchen, wie sich Erlebnisse sexuellen Missbrauchs auf die schulischen Leistungen, die Beziehungen zu Gleichaltrigen, das Selbstkonzept und das spätere Dating-Verhalten auswirkten. Putnam und Trickett verfolgten auch Veränderungen des Stresshormonspiegels ihrer Probandinnen, weiterhin solche der Fortpflanzungshormone, der Immunfunktion und anderer physiologischer Parameter. Des Weiteren untersuchten sie Schutzfaktoren wie Intelligenz und Unterstützung der Familie und Gleichaltriger.

Die Forscher wählten sorgfältig 84 Mädchen aus einer vom District of Columbia Department of Social Services vorgeschlagenen Gruppe aus, die erklärt hatten, sie seien von einem Mitglied ihrer eigenen Familie sexuell missbraucht worden. Diesen wurde eine Vergleichsgruppe von 84 Mädchen gleichen Alters, gleicher ethnischer und sozialer Situation zur Seite gestellt, die nicht missbraucht worden waren. Das Durchschnittsalter aller Probandinnen lag zu Beginn der Studie bei elf Jahren. In den folgenden zwanzig Jahren wurden diese beiden Gruppen insgesamt sechsmal gründlich evaluiert, in den ersten drei Jahren einmal jährlich und dann wieder im Alter von 18–19 und 25 Jahren. Ihre Mütter nahmen an der ersten Untersuchung teil, und die späteren Kinder der Mädchen wurden in die letzte Untersuchung einbezogen. Erstaunliche 96 Prozent der Mädchen, die mittlerweile erwachsene Frauen geworden waren, haben an der Studie von Anfang bis Ende teilgenommen.

Die Ergebnisse waren eindeutig: Verglichen mit Mädchen gleichen Alters und gleicher ethnischer und sozialer Situation litten die sexuell missbrauchten Teilnehmerinnen unter den verschiedensten stark negativen Effekten, darunter kognitiven Defiziten, Depressionen, dissoziativen Symptomen, Störungen der sexuellen Entwicklung, oft an Fettleibigkeit, und neigten häufig zu Selbstverletzungen. Sie brachen öfter die Highschool ab als die Mitglieder der Kontrollgruppe, litten häufiger unter schweren Krankheiten und nutzten intensiver ärztliche Dienstleistungen. Außerdem wurden bei ihnen Abnormitäten des Stresshormonspiegels beobachtet, die Pubertät hatte früher eingesetzt, und ihre Krankenakte enthielt ein Sammelsurium unterschiedlichster und scheinbar völlig zusammenhangloser Diagnosen.

Die Follow-up-Untersuchungen gaben Aufschluss über viele Details bezüglich der Wirkung von Missbrauch in der frühen Kindheit auf die menschliche Entwicklung. Beispielsweise wurden die Mädchen beider Gruppen anlässlich jeder Untersuchung aufgefordert, über das Schlimmste, was sie im vergangenen Jahr erlebt hatten, zu berichten. Während sie ihre Geschichten erzählten, beobachteten die Forscher beim Messen physiologischer Faktoren, wie sehr die Mädchen sich aufregten. Bei der ersten Untersuchung reagierten alle Mädchen bekümmert. Drei Jahre später zeigten diejenigen, die keinen sexuellen Missbrauch erlebt hatten, in Reaktion auf die gleiche Frage erneut Anzeichen von Bekümmerung, wohingegen die missbrauchten Mädchen völlig verschlossen waren und wie betäubt wirkten. Ihre biologischen Befunde entsprachen den sichtbaren Reaktionen: Anlässlich der ersten Untersuchung kam es bei allen Mädchen zu einem Anstieg des Kortisolspiegels; drei Jahre später war der Kortisolspiegel der missbrauchten Mädchen während ihres Berichts über das belastendste Ereignis im vergangenen Jahr niedriger. Der Körper passt sich an ein chronisches Trauma allmählich an. Eine der Konsequenzen dieses Abstumpfens ist, dass Lehrer, Freunde und andere wahrscheinlich nicht merken, wenn ein traumatisiertes Mädchen aufgebracht ist; manchmal merken es nicht einmal die Mädchen selbst. Indem sie gefühlstaub werden, reagieren sie auf ihr Leid nicht mehr, wie es eigentlich angemessen wäre, beispielsweise indem sie sich aktiv vor dem Missbrauch schützen.

Putnams Studie gab auch Einblick in die langfristigen Auswirkungen von Inzest auf Freundschaften und die Partnerwahl. Vor Beginn der Pubertät haben Mädchen, die keinen Missbrauch erlebt haben, gewöhnlich mehrere Freundinnen sowie einen Freund, der als eine Art Spion fungiert und sie darüber informiert, was es mit diesen merkwürdigen Geschöpfen, die Jungen in ihren Augen sind, eigentlich auf sich hat. Nach Erreichen der Adoleszenz nehmen ihre Kontakte zu Jungen allmählich zu. Missbrauchte Mädchen hingegen haben vor der Pubertät nur selten enge Freunde, weder weibliche noch männliche, doch in der Adoleszenz erleben sie viele chaotische und oft traumatische Kontakte zu Jungen.

Mangel an Freunden in der Grundschule hat erhebliche Auswirkungen. Heute wissen wir, wie grausam Mädchen in der dritten, vierten und fünften Klasse sein können. Dies ist eine sehr komplizierte und harte Zeit, in der Freunde plötzlich zu Feinden werden und Allianzen sich unerwartet auflösen und durch Exklusion und Verrat abgelöst werden können. Allerdings gibt es auch einen positiven Aspekt: Wenn Mädchen das mittlere Schulalter erreichen, haben die meisten von ihnen begonnen, eine Reihe sozialer Fertigkeiten zu meistern, wozu auch zählt, dass sie sich darüber klar werden, was sie fühlen, dass sie in Beziehungen zu verhandeln lernen, dass sie vorgeben können, Menschen zu mögen, obwohl das nicht der Fall ist, und dergleichen mehr. Und die meisten haben sich ein zuverlässiges Unterstützungsnetzwerk von Mädchen aufgebaut, die bei Stress als ihr Debriefing-Team fungieren. Während diese Mädchen allmählich die Welt des Sex und des Datings kennenlernen, geben die Beziehungen zu Freundinnen ihnen den Raum für Reflexion, Klatsch und Diskussionen über die Bedeutung all der neuen Dinge, die sie kennenlernen.

Bei den sexuell missbrauchten Mädchen verläuft die Entwicklung völlig anders. Sie haben keine Freunde und Freundinnen, weil sie niemandem vertrauen können; sie hassen sich, und ihre biologischen Systeme machen ihnen das Leben schwer, weil sie bei ihnen Überreaktionen hervorrufen oder sie gefühlstaub werden lassen. An den normalen neidgetriebenen Inklusions-/Exklusionsspielen, in denen die Mitspieler unter Stress cool bleiben müssen, können sie nicht teilnehmen. Andere Kinder wollen in der Regel nichts mit ihnen zu tun haben – diesen sind sie einfach zu »schräg«.

Aber das ist nur der Anfang der Schwierigkeiten. Missbrauchte und isolierte Mädchen mit einer Inzestvorgeschichte reifen sexuell eineinhalb Jahre früher als nicht missbrauchte Altersgenossinnen. Sexueller Missbrauch beschleunigt ihre biologische Uhr und die Produktion von Sexualhormonen. Schon früh in der Pubertät haben missbrauchte Mädchen einen drei- bis fünffach höheren Testosteron- und Androstenedionspiegel – Hormone, die das sexuelle Verlangen aktivieren – als die Mädchen in der Kontrollgruppe.

Die Resultate der Studie von Putnam und Trickett sind noch nicht vollständig publiziert, aber was davon schon bekannt ist, ist für Kliniker, die sexuell missbrauchte Mädchen behandeln, von unschätzbarem praktischem Wert. Am Trauma Center beispielsweise berichtete eine unserer Therapeutinnen an einem Montagmorgen, eine Patientin namens Ayesha sei im Laufe des vergangenen Wochenendes erneut vergewaltigt worden. Sie war um fünf Uhr nachmittags am Samstag aus der Wohnung ihrer Wohngruppe weggelaufen und hatte einen Ort in Boston aufgesucht, wo sich Drogensüchtige treffen. Dort hatte sie ein wenig Haschisch geraucht und andere Drogen konsumiert und war schließlich mit ein paar männlichen Jugendlichen in einem Auto weggefahren. Am Sonntag um fünf Uhr morgens hatten diese Ayesha gemeinsam vergewaltigt. Wie so viele Jugendliche, die zu uns kommen, kann Ayesha nicht artikulieren, was sie will oder braucht, und nicht durchdenken, wie sie sich schützen könnte. Sie lebt in einer von Handlungen geprägten Welt. Versuche, ihr Verhalten im Sinne von Opfer/Täter zu erklären, sind ebenso wenig von Nutzen, wie ihre Situation mithilfe von Diagnosen wie »Depression«, »oppositionelles Trotzverhalten«, »Störung der Impulskontrolle«, »bipolare Störung« oder irgendwelchen anderen Etiketten aus unseren Diagnosehandbüchern zu erfassen. Putnams Arbeit hat uns zu verstehen geholfen, wie Ayesha die Welt erlebt – warum sie uns nicht sagen kann, was in ihr selbst vor sich geht, warum sie so impulsiv ist, weshalb sie sich nicht selbst schützen kann und warum sie uns als beängstigend und zudringlich sieht, nicht als Menschen, die ihr helfen können.

Das DSM-5: Ein veritables Smørgåsbord der »Diagnosen«

Als im Mai 2013 das DSM -5 veröffentlicht wurde, enthielt es auf seinen 945 Seiten etwa dreihundert Störungen. Es bietet ein regelrechtes Smørgåsbord von Etiketten für Probleme, die mit schweren frühkindlichen Traumatisierungen verbunden sind, darunter auch einige neue wie »Disruptive Affektregulationsstörung«, 26 »Nichtsuizidale Selbstverletzung«, »Intermittierende explosible Störung«, »Disruptive Impulskontroll- und Sozialverhaltensstörung«. 27

Vor Ende des 19. Jahrhunderts klassifizierten Ärzte Krankheiten anhand ihres äußeren Erscheinungsbildes, beispielsweise aufgrund von Fieber und Pusteln. Dies war keineswegs unvernünftig, denn sie hatten kaum eine andere Möglichkeit. 28 Dies änderte sich, als Wissenschaftler wie Louis Pasteur und Robert Koch entdeckten, dass viele Krankheiten durch für das bloße Auge unsichtbare Bakterien verursacht wurden. Aufgrund ihrer Bemühungen versuchte dann die Medizin, Möglichkeiten zu finden, diese Organismen zu entfernen, statt nur die durch die Krankheitserreger entstandenen äußeren Manifestationen und das Fieber zu behandeln. Mit dem DSM -5 kehrt die Psychiatrie deutlich zur medizinischen Praxis des 19. Jahrhunderts zurück. Obwohl wir den Ursprung vieler Probleme, welche die Neuauflage beschreibt, kennen, skizzieren diese »Diagnosen« lediglich oberflächliche Erscheinungen und ignorieren deren Ursachen völlig.

Schon vor dem Erscheinen des DSM -5 publizierte das American Journal of Psychiatry die Resultate von Validitätstests für einige der neuen Diagnosen, und diese legen nahe, dass es dem DSM deutlich an dem fehlt, was in der Welt der Wissenschaft »Reliabilität« genannt wird – an der Fähigkeit, konsistente, replizierbare Resultate zu erzielen. Mit anderen Worten fehlt es dem DSM -5 an wissenschaftlicher Validität. Merkwürdigerweise hat dieser Mangel an Reliabilität und Validität die Herausgeber des DSM -5 nicht davon abgehalten, das Buch zum vorgesehenen Termin auf den Markt zu bringen, obwohl in Fachkreisen fast einhellig die Meinung herrscht, dass die Neuausgabe gegenüber der Vorgängerversion keinerlei Verbesserungen enthält. 29 Könnte die Tatsache, dass die APA mit dem DSM -IV hundert Millionen Dollar eingenommen hat und mit dem DSM -5 einen ähnlichen Betrag erwirtschaften möchte (weil alle im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie Tätigen sowie viele Anwälte und andere Freiberufler gezwungen sind, die Neuausgabe zu kaufen), der Grund für die Entwicklung dieses neuen Diagnosesystems gewesen sein?

Diagnostische Reliabilität ist kein abstraktes Thema: Wenn Ärzte sich nicht darüber einigen können, was ihren Patienten hilft, haben sie keine Möglichkeit, eine sachgerechte Behandlung durchzuführen. Wenn zwischen Diagnose und Heilung keine Beziehung besteht, wird aus einem falsch diagnostizierten Patienten zwangsläufig ein falsch behandelter Patient. Niemand würde sich am Blinddarm operieren lassen wollen, wenn er unter einem Nierenstein leidet. Und man würde kaum jemanden als »oppositionell« bezeichnen, wenn sein Verhalten in Wahrheit eine Konsequenz seines Bemühens ist, sich vor einer realen Gefahr zu schützen.

In einer Mitteilung vom Juni 2011 beklagte sich die British Psychological Society bei der APA darüber, dass die Ursachen psychischen Leidens im DSM -5 als »in den Individuen lokalisiert« bezeichnet werden, wobei die »kaum zu leugnende soziale Verursachung vieler Probleme dieser Art übersehen wird«. 30 Dieser Einwand ergänzte die Flut von Protesten amerikanischer Fachleute, unter denen sich die Leiter der American Psychological Association und der American Counseling Association befanden. Warum wird der Einfluss von Beziehungen und sozialen Bedingungen auf die psychische Situation von Menschen in der Neuauflage des DSM völlig übergangen? 31 Wenn man nur biologische Defizite und defekte Gene als Ursachen psychischer Probleme im Blick hat und Verlassenwerden, Missbrauch/Misshandlung und Deprivation ignoriert, verläuft man sich wahrscheinlich in ebenso vielen Sackgassen wie frühere Generationen, indem sie alle Probleme entsetzlichen Müttern anlasteten.

Die verblüffendste Ablehnung des neuen DSM -5 stammt vom National Institute of Mental Health , dem wichtigsten Finanzier psychiatrischer Forschung in den USA . Im April 2013, wenige Wochen vor der offiziellen Markteinführung des DSM -5, verkündete der NIMH -Direktor Thomas Insel, seine Behörde könne die »symptombasierten Diagnosen« des DSM nicht mehr unterstützen. 32 Stattdessen werde sich das Institut bei der Vergabe seiner Fördergelder nun an sogenannten Research Domain Criteria (RD oC) orientieren, 33 um eine Förderungsgrundlage für Studien zu schaffen, die sich mit den aktuellen Diagnosekriterien des DSM nicht vereinbaren ließen. Beispielsweise bezieht sich eine der NIMH -Domänen auf »Arousal–/Modulationssysteme (Arousal, zirkadianer Rhythmus, Schlaf und Wachheit)«, die bei vielen Patienten in mehr oder minder starkem Maße gestört sind.

Wie das DSM -5 versteht auch der RD oC-Rahmen psychische Krankheiten ausschließlich als das Gehirn betreffende Störungen. Demzufolge werden sich Forschungsstipendien in Zukunft auf die Erforschung von Gehirnschaltkreisen »und auf andere neurobiologische Maße« konzentrieren, die psychische Probleme verursachen. Insel sieht darin einen ersten Schritt hin zu einer Art von »Präzisionsmedizin, wie sie die Diagnose und Behandlung von Krebs transformiert hat«. Doch psychische Krankheiten sind mit Krebserkrankungen ganz und gar nicht zu vergleichen: Menschen sind soziale Wesen, und psychische Probleme beinhalten, dass jemand nicht in der Lage ist, mit anderen Menschen zurechtzukommen, sich in soziale Zusammenhänge einzufügen, dazuzugehören und sich ganz generell auf die Wellenlänge anderer Menschen einzustellen.

Alles an uns – Gehirn, Geist und Körper – ist auf Zusammenarbeit in sozialen Systemen angelegt. Dies ist unsere wirksamste Überlebensstrategie, der Schlüssel zum Erfolg unserer Spezies, und genau dies fällt bei den meisten Formen psychischen Leidens aus. Wie wir im zweiten Teil dieses Buches gesehen haben, sind die neuronalen Verbindungen zwischen Gehirn und Körper von größter Bedeutung für das Verständnis menschlichen Leidens; allerdings darf man dabei die Grundlagen unserer menschlichen Existenz nicht ignorieren: Beziehungen und Interaktionen, die unseren Geist und unser Gehirn formen, wenn wir noch jung sind, und die unserem ganzen Leben Substanz und einen Sinn geben.

Menschen, die missbraucht, misshandelt oder vernachlässigt worden sind oder in starkem Maße Deprivation erlebt haben, bleiben rätselhaft und weitgehend unbehandelt, es sei denn, wir beherzigen die Ermahnung von Alan Sroufe: »Um völlig zu verstehen, wie wir zu den Menschen werden, die wir sind – um die komplexe, schrittweise Entwicklung unserer Orientierungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen über die Zeit zu begreifen –, benötigen wir mehr als nur eine Liste von Zutaten, so wichtig jede einzelne von diesen auch sein mag. Vielmehr erfordert dies ein Verständnis des Entwicklungsprozesses und des permanenten Zusammenwirkens aller dieser Faktoren.« 34

Psychotherapeuten und sozialpsychologische Helfer, also diejenigen, die sich an vorderster Front mit den Problemen auseinandersetzen müssen, meist unterbezahlte Sozialarbeiter und Therapeuten, scheinen sich unserer Auffassung anzuschließen. Kurz nachdem die APA es abgelehnt hatte, die entwicklungsbezogene Traumafolgestörung in das DSM aufzunehmen, überwiesen Tausende von Klinikern aus dem ganzen Land kleine Spenden an das Trauma Center , um uns zu ermöglichen, eine große wissenschaftliche Studie durchzuführen, einen Feldversuch zur weiteren Erforschung der entwicklungsbezogenen Traumafolgestörung. Diese Unterstützung hat uns ermöglicht, in den letzten Jahren mithilfe neu entwickelter Interviewwerkzeuge Hunderte von Kindern, Eltern, Pflegeeltern, Psychotherapeuten und psychologischen Sozialarbeitern an fünf verschiedenen Standorten des Netzwerks zu interviewen. Die ersten Resultate dieser Studie werden jetzt veröffentlicht, und weitere Publikationen werden nach der Drucklegung dieses Buches folgen. 35

Was würde die Anerkennung der Diagnose »Entwicklungsbezogene Traumafolgestörung« verändern?

Eine Antwort auf diese Frage lautet, dass sich Forschung und Behandlung (ganz zu schweigen von der Förderung) dann auf die zentralen Prinzipien konzentrieren würden, die den vielgestaltigen Symptomen chronisch traumatisierter Kinder und Erwachsener zugrunde liegen: auf die allgegenwärtige biologische und emotionale Dysregulation, die völlig gescheiterte oder stark gestörte Bindung, auf Probleme hinsichtlich der Fähigkeit zu fokussieren und sich zu konzentrieren und auf das sehr beeinträchtigte Empfinden persönlicher Identität und eigener Kompetenz. Diese Themen spielen in fast allen diagnostischen Kategorien eine Rolle, aber wenn eine Behandlung ihnen nicht oberste Priorität einräumt, scheitert sie höchstwahrscheinlich. Die große Herausforderung, mit der wir uns konfrontiert sehen, besteht darin, die Neuroplastizität, die Flexibilität der Gehirnschaltkreise, zu nutzen, um Gehirn und Geist eines Menschen neu zu organisieren, nachdem sie vom Leben selbst so programmiert worden sind, dass die Betroffenen andere Menschen als Bedrohung und sich selbst als hilflos erleben.

Soziale Unterstützung ist eine biologische Notwendigkeit, keine Option, und diese Tatsache sollte das Rückgrat aller Prävention und Behandlung sein. Die tief reichenden Auswirkungen von Traumata und Deprivation auf die kindliche Entwicklung zu erkennen und anzuerkennen muss nicht automatisch dazu führen, dass man die Eltern beschuldigt. Wir können davon ausgehen, dass Eltern immer das Beste tun, das ihnen möglich ist. Doch alle Eltern brauchen bei der Betreuung ihrer Kinder Hilfe. Fast alle Industrieländer außer den USA erkennen dies an und unterstützen Familien deshalb in der einen oder anderen Form. James Heckman, der im Jahre 2000 den Nobelpreis für Ökonomie erhielt, hat gezeigt, dass sich qualitativ hochwertige Frühförderungsprogramme, die auch die Eltern einbeziehen und bei benachteiligten Kindern grundlegende Fertigkeiten fördern, aufgrund ihrer Resultate mehr als bezahlt machen. 36

Anfang der 1970er-Jahre arbeitete der Psychologe David Olds in einem Tagesbetreuungszentrum, das viele Kinder im Vorschulalter besuchten, die aus Haushalten kamen, in denen Armut, häusliche Gewalt und Drogenkonsum Normalität waren. Weil ihm klar war, dass sich die familiäre Situation nicht verbessern ließe, wenn er sich ausschließlich auf die Probleme der Kinder in der Schule konzentrierte, entwickelte er ein Hausbesuchsprogramm, in dem erfahrene Pflegerinnen den Müttern halfen, für ihre Kinder eine sichere und anregende Umgebung zu schaffen. Im Laufe dieser Arbeit lernten sie auch, sich eine bessere Zukunft für sich selbst vorzustellen. Zwanzig Jahre später waren die Kinder dieser Mütter nicht nur gesünder, sondern sie waren auch seltener wegen Missbrauch, Misshandlungen oder Vernachlässigung aufgefallen als die Kinder einer ähnlichen Gruppe, deren Mütter nicht an dem Hausbesuchsprogramm teilgenommen hatten. Außerdem hatten deutlich mehr Kinder der erstgenannten Gruppe einen Schulabschluss geschafft, sie waren seltener zu Gefängnisstrafen verurteilt worden und arbeiteten in besser bezahlten Arbeitsverhältnissen. Ökonomen haben berechnet, dass jeder Dollar, der in qualitativ hochwertige Hausbesuche, Tagesbetreuung und Vorschulprogramme investiert wird, die Einsparung von sieben Dollar an Unterstützungsgeldern, Gesundheitskosten, Behandlungen wegen Substanzmissbrauch und Gefängnisaufenthalten ermöglicht, ganz zu schweigen von den höheren Steuereinnahmen aufgrund der Möglichkeit, besser bezahlte Arbeiten zu übernehmen. 37

Wenn ich in Europa lehre, treten in den skandinavischen Ländern sowie in Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden häufig Vertreter von Gesundheitsministerien an mich heran und bitten mich, sie einen Nachmittag lang über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich der Behandlung traumatisierter Kinder und Jugendlicher und ihrer Familien zu informieren. Vielen meiner Kollegen ergeht es ähnlich. Die genannten Länder haben eine öffentliche Gesundheitsfürsorge, sie garantieren ihren Bürgern einen Mindestlohn, sie finanzieren beiden Eltern nach der Geburt eines Kindes eine Elternzeit, und alle arbeitenden Mütter kommen in den Genuss einer qualitativ hochwertigen Kinderbetreuung.

Könnte dieser Umgang mit Fragen der nationalen Gesundheit in einem Zusammenhang mit den Tatsachen stehen, dass die Zahl der Gefängnisstrafen in Norwegen bei 71 pro 100 000 Einwohnern, in den Niederlanden bei 81 pro 100 000 Einwohnern, in den USA hingegen bei 781 pro 100 000 Einwohnern liegt, dass die Zahl der Straftaten in den genannten europäischen Ländern deutlich niedriger ist als in den USA und die Kosten für die medizinische Versorgung bei der Hälfte des US -amerikanischen Werts liegen? 70 Prozent der Strafgefangenen in Kalifornien haben ihre Kindheit und Jugend in Pflegeeinrichtungen verbracht. Die Vereinigten Staaten wenden jährlich 84 Milliarden Dollar für die Unterbringung von Straftätern in Gefängnissen auf, pro Inhaftiertem 44 000 Dollar jährlich. Die nordeuropäischen Länder kommen mit einem Bruchteil dieses Budgets aus. Stattdessen helfen sie Eltern, ihre Kinder in einer sicheren und berechenbaren Umgebung aufzuziehen. Das deutlich höhere Niveau der schulischen Ausbildung und die wesentlich geringere Zahl der Verbrechen in diesen Ländern scheinen mir den Erfolg dieser Politik zu bestätigen.