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Es ist seltsam, dass alle Erinnerungen, die kommen, zwei Eigenschaften haben. Sie sind immer voll Stille, das ist das Stärkste an ihnen, und selbst dann, wenn sie es nicht in dem Maße in Wahrheit waren, wirken sie so. Sie sind lautlose Erscheinungen, die zu mir sprechen mit Blicken und Gebärden, wortlos und schweigend – und ihr Schweigen ist das Erschütternde, das mich zwingt, meinen Ärmel anzufassen und mein Gewehr, um mich nicht vergehen zu lassen in dieser Auflösung und Lockung, in der mein Körper sich ausbreiten und sanft zerfließen möchte zu den stillen Mächten hinter den Dingen.

Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues

Im Frühjahr 2002 wurde ich gebeten, einen jungen Mann zu untersuchen, der behauptete, er sei von Paul Shanley, einem katholischen Priester, der in seiner Pfarrei in Newton, Massachusetts, tätig gewesen war, missbraucht worden. Der Mann war mittlerweile 25 Jahre alt, und er hatte das Missbrauchserlebnis offenbar vergessen, bis er hörte, dass gegen den Priester eine Untersuchung wegen der sexuellen Belästigung von Jungen eingeleitet worden war. Die Frage, die ich klären sollte, lautete: Waren die Erinnerungen dieses jungen Mannes glaubwürdig, obwohl er den Missbrauch nach dessen Beendigung offenbar mehr als ein Jahrzehnt lang »unterdrückt« hatte? Und würde ich dies vor Gericht bezeugen?

Ich werde nun aufgrund meiner Fallnotizen berichten, was der Mann, den ich Julian nennen werde, mir erzählte. (Obwohl sein Name in der Öffentlichkeit bekannt geworden ist, verwende ich hier ein Pseudonym, weil ich hoffe, dass es ihm inzwischen gelungen ist, seine Privatsphäre wiederherzustellen und einen gewissen Frieden zu finden. 1 )

Julians Geschichte veranschaulicht die Komplexität von Traumaerinnerungen. Die Kontroversen in Zusammenhang mit dem Skandal um Father Shanley sind typisch für die leidenschaftliche Debatte, die um diese Thematik entbrannt ist, seit das ungewöhnliche Wesen traumatischer Erinnerungen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erstmals beschrieben wurde.

Überflutet von Empfindungen und Bildern

Am 11. Februar 2001 war Julian als Militärpolizist auf einer Luftwaffenbasis im Dienst. Als er wie jeden Tag mit seiner Freundin Rachel telefonierte, erwähnte diese, sie habe am Morgen im Boston Globe gelesen, ein Priester mit Namen Shanley stehe im Verdacht, Kinder sexuell belästigt zu haben. Ob Julian nicht einmal von einem Father Shanley gesprochen hätte, der in Newton Priester gewesen war? »Hat er dir jemals etwas angetan?« Julian erinnerte sich an Father Shanley in erster Linie als einen freundlichen Mann, der ihn nach der Scheidung seiner Eltern sehr unterstützt hatte. Im weiteren Verlauf des Gesprächs geriet er in Panik. Plötzlich sah er Shanleys Silhouette im Türrahmen vor sich, die Hände im Winkel von 45 Grad gebeugt, wie er ihm, Julian, beim Urinieren zugeschaut hatte. Von Emotionen überwältigt, sagte Julian zu Rachel: »Ich muss da auch hin.« Er rief seinen Vorgesetzten herbei, der in Begleitung des Hauptfeldwebels kam. Nach einem Gespräch mit beiden brachten sie ihn zum Militärseelsorger des Stützpunkts. Julian erinnerte sich, dass er zu diesem Priester gesagt hatte: »Wissen Sie, was in Boston los ist? Das, worum es dort geht, habe ich auch erlebt.« Als er sich dies aussprechen hörte, war er sich sicher, dass Shanley ihn sexuell belästigt hatte – aber er konnte sich nicht mehr an Details erinnern. Julian war es sehr peinlich, so emotional zu reagieren; er hatte sich immer als stark gezeigt und Dinge, die ihn beschäftigten, mit sich selbst ausgemacht.

In der folgenden Nacht hatte er vornübergebeugt auf der Bettkante gesessen und geglaubt, er verliere den Verstand, weil er fürchtete, man werde ihn einsperren. In den folgenden Wochen wurde sein Geist immer wieder von Bildern überspült, und er glaubte, er werde völlig zusammenbrechen. Er hatte sogar darüber nachgedacht, sich mit einem Messer in ein Bein zu stechen, um die Bilderflut, die ihn peinigte, durch Schmerz zu neutralisieren. Dann suchten ihn Panikattacken heim, begleitet von Krampfanfällen, die er »epileptische Anfälle« nannte. Er kratzte seinen Körper, bis er blutete. Und er fühlte sich ständig erhitzt, verschwitzt und aufgebracht. Zwischen den Panikattacken fühlte er sich »wie ein Zombie«; er beobachtete sich aus der Ferne, als ob das, was er erlebte, in Wahrheit einem anderen widerfuhr.

Im April wurde er aus dem Militärdienst entlassen, zehn Tage bevor er einen Anspruch auf eine Unterstützung gehabt hätte.

Als Julian fast ein Jahr danach mein Büro betrat, stand ein attraktiver, muskulöser junger Mann vor mir, der deprimiert und niedergeschlagen wirkte. Er sagte, er fühle sich schrecklich, weil er die Luftwaffe verlassen habe. Er habe dort Karriere machen wollen, und seine Beurteilungen seien ausgezeichnet gewesen. Die Herausforderungen dort und die Arbeit in einem Team hätten ihm gefallen, und er vermisse die starke Strukturierung des Lebens beim Militär.

Julian war in der näheren Umgebung von Boston als zweitältestes von fünf Kindern aufgewachsen. Sein Vater hatte die Familie verlassen, als Julian ungefähr sechs Jahre alt gewesen war, weil er das Zusammenleben mit Julians emotional labiler Mutter nicht mehr ertragen hatte. Julian und sein Vater kamen gut miteinander aus, nur machte er dem Vater manchmal Vorwürfe, weil dieser zu hart gearbeitet habe, um seine Familie zu ernähren, und weil er ihn seiner labilen Mutter ausgeliefert habe. Julians Eltern und Geschwister waren nie in psychiatrischer Behandlung gewesen und hatten nie Drogen konsumiert.

Julian war in der Highschool ein beliebter Sportler gewesen. Er hatte viele Freunde gehabt, sich aber trotzdem nicht besonders wohl in seiner Haut gefühlt, und seine schlechten schulischen Leistungen hatte er durch »Heldentaten« beim Trinken und auf Partys auszugleichen versucht. Er schämte sich, aus seiner Popularität und seinem guten Aussehen Nutzen gezogen zu haben, indem er mit möglichst vielen Mädchen Sex gehabt hatte. Er erwähnte sogar, er wolle einige anrufen, um sich bei ihnen zu entschuldigen, weil er sie schlecht behandelt hatte.

Er erinnerte sich, dass er seinen Körper immer gehasst hatte. In der Highschool-Zeit hatte er Steroide eingenommen, um sich »aufzupumpen«, und er hatte fast täglich Marihuana geraucht. Nach der Highschool war er nicht auf ein College gewechselt, sondern ein Jahr lang praktisch obdachlos gewesen, weil er es nicht mehr hatte ertragen können, bei seiner Mutter zu wohnen. Seine Verpflichtung zum Militärdienst war ein Versuch gewesen, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Julian hatte Father Shanley im Alter von sechs Jahren kennengelernt, als er in dessen Pfarrei an einem Katechismuskurs teilgenommen hatte. Er erinnerte sich an ein Gespräch mit ihm außerhalb des Unterrichts anlässlich einer Beichte. Shanley hatte nur selten eine Soutane getragen, und Julian konnte sich an seine dunkelblaue Cordhose erinnern. Sie waren bei solchen Anlässen in einen großen Raum gegangen, in dem zwei Stühle einander gegenüberstanden und wo sich außerdem eine Gebetsbank zum Knien befand. Die Stühle waren mit rotem Stoff bezogen gewesen, und die Kniebank hatte ein rotes Polster gehabt. Sie hatten Karten gespielt, ein Spiel, das sich unversehens in einen Strip-Poker verwandelt hatte. Dann erinnerte er sich, in jenem Raum vor einem Spiegel gestanden zu haben. Father Shanley hatte ihn aufgefordert, sich vorzubeugen, und dann habe der Priester ihm einen Finger in den Anus gesteckt. Julian glaubte nicht, dass Shanley ihn jemals mit seinem Penis penetriert hatte, doch habe er häufig einen Finger in seinen Anus gesteckt.

Abgesehen von diesen Episoden hatte Julian nur sehr unzusammenhängende und bruchstückhafte Erinnerungen. Er sah in Flashbacks Shanleys Gesicht und bestimmte Szenen: wie Shanley im Türrahmen der Toilette gestanden hatte; wie der Priester sich vor ihm niedergekniet und »ihn« mit seiner Zunge hin und her bewegt hatte. Wie alt er zu diesem Zeitpunkt gewesen war, vermochte er nicht zu sagen. Er erinnerte sich, dass der Priester ihm beigebracht hatte, was man beim Oralsex machte, aber er wusste nicht, ob er dies auch tatsächlich getan hatte. Er erinnerte sich, dass er in der Kirche Zettel ausgelegt hatte und dass Father Shanley anschließend in einer Kirchenbank neben ihm gesessen, ihn mit einer Hand gestreichelt und mit der anderen Julians Hand an seinen eigenen Körper herangeführt hatte. Er erinnerte sich auch, dass Father Shanley, als er älter gewesen war, sehr dicht an ihm vorbeigegangen war und seinen Penis berührt hatte. Julian hatte das nicht gemocht, aber er hatte auch nicht gewusst, wie er es hätte verhindern können. Er sagte: »Schließlich war Father Shanley dort, wo ich wohnte, der Mensch, der Gott am nächsten stand.«

Außer diesen Erinnerungsbruchstücken waren Spuren von sexuellem Missbrauch aktiviert und reinszeniert worden. Beim Sex mit seiner Freundin hatte ihm manchmal plötzlich das Bild des Priesters vor Augen gestanden und hatte ihn aus dem sexuellen Erleben herausgerissen. Eine Woche vor unserem Gespräch hatte seine Freundin ihm einen Finger in den Mund gestoßen und scherzend gesagt: »Du kannst bestimmt gut einen blasen.« Julian war daraufhin aufgesprungen und hatte gebrüllt: »Wenn du so etwas noch einmal sagst, bringe ich dich um!« Dann hatten beide entsetzt geweint. Darauf folgte einer jener von Julian so genannten »epileptischen Anfälle«, bei denen er sich in einer Fötushaltung zusammenkrümmte und zitterte und wimmerte wie ein Baby. Als Julian mir dies erzählte, wirkte er sehr jung und verängstigt.

Julians Gefühle schwankten zwischen Mitleid mit dem alten Mann, der Father Shanley mittlerweile war, und dem Bedürfnis, »ihn irgendwohin in einen Raum zu bringen und zu töten«. Außerdem erklärte er wiederholt, er schäme sich sehr, und es falle ihm schwer, sich einzugestehen, dass er sich nicht habe schützen können. »Normalerweise wagt es niemand, sich mit mir anzulegen, und jetzt muss ich Ihnen das hier erzählen.« Sein Selbstbild war das eines großen und starken Mannes.

Wie können wir eine Geschichte wie die Julians verstehen: Auf jahrelanges scheinbares Vergessen folgen das Auftauchen bruchstückhafter verstörender innerer Bilder, dramatischer körperlicher Symptome und plötzlicher Reinszenierungen? Als Therapeut geht es mir bei der Behandlung von Menschen mit einer Traumavorgeschichte nicht in erster Linie darum herauszufinden, was genau diese Patienten erlebt haben, sondern ich versuche ihnen zu helfen, ihre Empfindungen, Emotionen und Reaktionen zu ertragen, ohne ständig unter ihnen zu leiden. Wenn das Thema Schuld zur Sprache kommt, geht es meist in erster Linie um Selbstbeschuldigungen, und die Patienten müssen lernen zu akzeptieren, dass sie das Trauma nicht selbst verschuldet haben, dass es nicht aufgrund eines Mangels von ihnen entstanden ist und dass kein Mensch das, was sie erlebt haben, jemals hätte verdient haben können.

Im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung jedoch hat die Feststellung einer Schuld oberste Priorität, und damit wird die Frage der gerichtlichen Verwertbarkeit (bzw. Zulässigkeit) von Beweisen vorrangig. Vor meiner Arbeit mit Julian hatte ich zwölf Menschen untersucht, die als Kinder in einem katholischen Waisenhaus in Burlington, Vermont, sadistisch missbraucht worden waren. Sie hatten sich mehr als vier Jahrzehnte später (ebenso wie viele andere) über die Vorfälle geäußert, und obwohl vor der ersten Klage keiner von ihnen zu den übrigen in irgendeiner Form Kontakt gehabt hatte, waren ihre Erinnerungen an die Missbrauchserlebnisse einander erstaunlich ähnlich: Sie alle nannten die gleichen Namen und die speziellen Arten des Missbrauchs und der Misshandlung durch bestimmte Nonnen und Priester und beschrieben die gleichen Räume, die gleiche Möblierung und die gleichen Alltagssituationen, in denen die Vorfälle stattgefunden hatten. Die meisten Geschädigten hatten später eine von der Diözese vorgeschlagene außergerichtliche Einigung akzeptiert.

Bevor ein Fall vor Gericht kommt, findet ein sogenanntes Daubert-Hearing statt, in dem Standards für Expertenaussagen für die Jury festgelegt werden. In einem Fall im Jahre 1996 hatte ich das Bundesberufungsgericht in Boston davon überzeugt, dass Traumatisierte oft jede Erinnerung an ein traumatisches Ereignis verlieren und diese erst viel später bruchstückhaft wieder zurückgewinnen. So war es natürlich auch bei Julian. Meine Stellungnahme für seine Anwälte musste natürlich vertraulich bleiben, doch sie basierte auf jahrzehntelanger klinischer Erfahrung und Forschungsarbeit zum Thema traumatische Erinnerungen unter Berücksichtigung der Arbeit einiger großer Pioniere der modernen Psychiatrie.

Was normale von traumatischen Erinnerungen unterscheidet

Wir alle wissen, wie launisch das Gedächtnis ist; unsere Geschichten verändern sich ständig, weil sie revidiert und aktualisiert werden. Wenn ich mit meinen Brüdern und Schwestern über Ereignisse aus unserer gemeinsamen Kindheit rede, haben wir am Ende jedes Mal das Gefühl, in verschiedenen Familien aufgewachsen zu sein, weil so viele unserer Erinnerungen einfach nicht übereinstimmen. Solche autobiografischen Erinnerungen sind keine präzisen Spiegelungen der Realität, sondern Geschichten, die wir erzählen, um unsere persönliche Sicht dessen, was wir erlebt haben, darzustellen.

Die außerordentliche Fähigkeit des menschlichen Geistes, Erinnerungen umzugestalten, veranschaulicht die Grant Study of Adult Development , die systematisch die psychische und körperliche Gesundheit von über zweihundert Harvard-Absolventen von ihrem zweiten Studienjahr (1939–44) bis in die Gegenwart verfolgte. 2 Natürlich konnten die Wissenschaftler, die diese Studie planten, nicht voraussehen, dass die meisten ihrer Probanden im Zweiten Weltkrieg kämpfen würden. Die Männer wurden 1945/1946 gründlich über ihre Kriegserlebnisse befragt und dann 1989/1990 noch einmal interviewt. Viereinhalb Jahrzehnte nach dem ersten Interview stellten die meisten die Erlebnisse, über die sie in der Befragung nach dem Krieg berichtet hatten, völlig anders dar: Nach der langen Zeitspanne hatten die Kriegserlebnisse für sie ihre stark negative emotionale Qualität verloren. Im Gegensatz dazu hatten Traumatisierte unter ihnen, die später eine PTBS entwickelt hatten, ihre Erzählungen nicht modifiziert; ihre Erinnerungen waren 45 Jahre nach Kriegsende praktisch noch unverändert.

Ob wir uns an ein bestimmtes Ereignis überhaupt erinnern und wie genau unsere Erinnerungen daran sind, hängt weitgehend von dessen Bedeutung für uns persönlich und von der Stärke unserer damit verbundenen Emotionen in der ursprünglichen Situation ab. Entscheidend ist dabei die Stärke unserer Erregung. Wir alle haben Erinnerungen an bestimmte Menschen, Songs, Geräusche und Orte, die uns lange Zeit begleiten. Die meisten von uns erinnern sich noch genau daran, wo sie am Dienstag, dem 11. September 2001 waren und was sie an diesem Tag gesehen haben; doch nur wenige können sich an etwas Konkretes vom 10. September 2001 erinnern.

Die meisten Alltagserlebnisse vergessen wir sofort. Über einen normalen Arbeitstag haben wir nicht viel zu berichten, wenn wir abends nach Hause kommen. Die Aktivität unseres Geistes basiert auf Schemata oder »Landkarten« (Beschreibungen), und Ereignisse, die solchen bereits bestehenden Mustern nicht entsprechen, wecken am ehesten unser Interesse. Wenn wir eine Gehaltserhöhung bekommen oder wenn uns ein Freund eine aufregende Neuigkeit erzählt, merken wir uns die Einzelheiten des betreffenden Augenblicks zumindest eine Zeit lang. Am besten erinnern wir uns gewöhnlich an Beleidigungen und Verletzungen: Das Adrenalin, das wir ausschütten, um uns gegen empfundene Bedrohungen zur Wehr zu setzen, macht es wahrscheinlicher, dass sich solche Ereignisse in unserem Geist festsetzen. Und selbst wenn die Erinnerung an den konkreten Inhalt einer abfälligen Äußerung verblasst, bleibt unsere Abneigung gegenüber der Person, von der sie stammt, bestehen.

Wenn etwas Schreckliches passiert – beispielsweise wenn wir miterleben, wie ein Kind oder ein Freund bei einem Unfall verletzt wird –, erinnern wir uns lange sehr intensiv und weitgehend zutreffend an dieses Ereignis. James McGaugh und Kollegen haben gezeigt, dass die Erinnerung umso präziser bleibt, je mehr Adrenalin in der ursprünglichen Situation ausgeschüttet wurde. 3 Aber das trifft nur bedingt zu. Wenn wir mit einer Entsetzen verursachenden Situation konfrontiert werden – und insbesondere wenn das Entsetzen durch einen »unausweichlichen Schock« verursacht wird –, funktioniert dieser Mechanismus nicht mehr.

Natürlich ist es nicht möglich, das Geschehen in einer traumatischen Situation wissenschaftlich zu beobachten; wir können ein Trauma aber in einer Laborsituation reaktivieren, so wie es bei den in Kapitel 3 und 4 beschriebenen Gehirnscans geschah. Sobald die Erinnerungsspuren der ursprünglichen Geräusche, Bilder und Empfindungen reaktiviert werden, schaltet der Frontallappen ab, und zwar – wie wir gesehen haben – einschließlich der Region, die Gefühle in Worte umwandelt, 4 als auch derjenigen, die unser Zeit- und Ortsgefühl produziert, und des Thalamus, der die Rohdaten eintreffender Empfindungen verarbeitet. Ist dieser Punkt erreicht, übernimmt das emotionale Gehirn die Führung, das nicht der Kontrolle des Bewusstseins unterliegt und nicht verbal kommunizieren kann. Es umfasst den limbischen Bereich und den Hirnstamm und bringt die Modifikation seiner Aktivierung in Form von Veränderungen der emotionalen Erregung, der Körperphysiologie und der muskulären Aktivität zum Ausdruck. Gewöhnlich arbeiten diese beiden Erinnerungssysteme – das rationale und das emotionale – zusammen und produzieren eine integrierte Reaktion. Doch starke Erregungszustände verändern nicht nur die Balance zwischen ihnen, sondern machen auch andere Gehirnbereiche unzugänglich, die für eine adäquate Speicherung und für die Integration neu eintreffender Informationen wichtig sind, z. B. den Hippocampus und den Thalamus. 5 Dies hat zur Folge, dass die durch traumatische Erlebnisse hervorgerufenen Eindrücke nicht als kohärente logische Erzählungen organisiert werden, sondern in Form bruchstückhafter sensorischer und emotionaler Spuren: als fragmentarische Bilder, Geräusche und physische Empfindungen. 6 Julian hatte einen Mann mit vorgestreckten Armen gesehen, eine Kirchenbank, eine Treppe, ein Strip-Pokerspiel; er hatte eine Empfindung in seinem Penis gespürt und panisches Entsetzen empfunden. Aber eine zusammenhängende Erzählung konnte er nicht aus seinem Gedächtnis abrufen.

Die Geheimnisse des Traumas enthüllen

Als die Medizin gegen Ende des 19. Jahrhunderts anfing, sich gründlicher mit psychischen Problemen auseinanderzusetzen, stand das Wesen traumatischer Erinnerung im Mittelpunkt dieser Bemühungen. In Frankreich und England erschien damals eine große Zahl von Artikeln über ein Syndrom, das man »railway spine« nannte, eine Bezeichnung für eine psychische Nachwirkung von Eisenbahnunfällen, die unter anderem in Form von Gedächtnisverlust zum Ausdruck kam.

Die größten Fortschritte bei der Erforschung psychischer Probleme ergaben sich jedoch aus dem Studium der Hysterie, einer psychischen Störung, die mit starken Emotionsausbrüchen, Anfälligkeit für Suggestionen sowie Muskelkontraktionen und -lähmungen einherging, wobei Letztere sich nicht allein anatomisch erklären ließen. 7 Die Hysterie, die man lange für ein Leiden instabiler oder hypochondrisch veranlagter Frauen gehalten hatte (der Bezeichnung liegt das griechische Wort für »Mutterschoß« zugrunde), wurde nun zu einem Fenster, das Einblicke in die Geheimnisse des Geistes und des Körpers ermöglichte. Mit der Entdeckung, dass die Wurzel der Hysterie ein Trauma ist, und zwar speziell das Trauma eines in der Kindheit erlebten sexuellen Missbrauchs, sind die Namen einiger der größten Wegbereiter der Neurologie und Psychiatrie, darunter Jean-Martin Charcot, Pierre Janet und Sigmund Freud, verbunden. 8 Diese Pioniere bezeichneten Erinnerungen an Traumata als »pathogene Geheimnisse« 9 oder als eine Art psychischer Parasiten, 10 weil die Leidenden das Erlebte zwar nur zu gern vergessen hätten, die Erinnerung daran sich aber immer wieder in ihr Bewusstsein drängte und sie in einer sich ständig erneuernden Gegenwart existenziellen Entsetzens gefangen hielt. 11

Das Interesse an der Hysterie war in Frankreich besonders stark, und wie so häufig war dies in der damaligen politischen Situation begründet. Jean-Martin Charcot, der weithin als Vater der Neurologie angesehen wird und dessen Schüler, unter anderem Gilles de la Tourette, den zahlreichen neurologischen Erkrankungen ihre Namen gegeben haben, war auch politisch aktiv. Nachdem Napoleon III . im Jahre 1870 zurückgetreten war, kam es zu einem Kampf zwischen den Monarchisten (den vom Klerus unterstützten Vertretern der alten Ordnung) und den Befürwortern der jungen französischen Republik, die an die Wissenschaft und die säkulare Demokratie glaubten. Nach Charcots Auffassung spielten in diesem Kampf Frauen die entscheidende Rolle, und er glaubte, seine Untersuchung über die Hysterie liefere »eine wissenschaftliche Erklärung für Phänomene wie Besessenheit von Dämonen, Zauberei, Exorzismus und religiöse Ekstase«. 12

Charcot führte akribische Untersuchungen über die physiologischen und neurologischen Korrelate der Hysterie bei Männern und Frauen durch, bei denen stets die körperlichen Ausdrucksformen der Erinnerung und die mangelnde Fähigkeit der Betroffenen, das Erlebte sprachlich auszudrücken, im Vordergrund standen. Beispielsweise publizierte er im Jahre 1889 den Fall eines Patienten mit Namen LeLog, dessen Beine nach einem Unfall mit einer Pferdekutsche gelähmt waren. LeLog war auf den Boden gefallen und hatte das Bewusstsein verloren, doch seine Beine schienen nicht verletzt worden zu sein, und es lagen auch keine neurologischen Anzeichen für eine physische Verursachung seiner Lähmung vor. Charcot entdeckte, dass LeLog unmittelbar vor seiner Ohnmacht die Räder der Kutsche auf sich zukommen sah und dass er glauben musste, er werde überrollt. Er schrieb: »Der Patient … hat keine Erinnerung an den Vorfall … Fragen, die ihm zu diesem Punkt gestellt werden, vermag er nicht zu beantworten. Er weiß nichts oder fast nichts.« 13 Wie viele andere Patienten der Salpêtrière brachte auch LeLog sein Erlebnis in Form körperlicher Symptome zum Ausdruck: Statt sich an den Unfall zu erinnern, entwickelte er eine Lähmung der Beine. 14

Aus meiner Sicht ist der eigentliche Held dieser Geschichte Pierre Janet, der Charcot half, ein Forschungslabor aufzubauen, dessen Arbeit sich auf die Erforschung der Hysterie konzentrierte. Im Jahre 1889, in dem auch der Eiffelturm erbaut wurde, veröffentlichte Janet die erste wissenschaftliche Abhandlung in Buchform über traumatischen Stress: L’automatisme psychologique . 15 Er vertrat darin die These, dass der Ursprung dessen, was wir heute PTBS nennen, das Erleben »starker Emotionen« oder starker emotionaler Erregung sei. Seine Abhandlung erklärte, dass Menschen nach einer Traumatisierung automatisch bestimmte mit dem Trauma zusammenhängende Handlungen, Emotionen und Empfindungen wiederholen. Und im Gegensatz zu Charcot, der sich hauptsächlich für die Messung und Dokumentation der körperlichen Symptome seiner Patienten interessierte, redete Janet unzählige Stunden lang mit ihnen, weil er so herauszufinden hoffte, was in ihrem Geist vor sich ging. Janets vorrangiges Ziel war – ebenfalls im Gegensatz zu Charcot, dessen Forschungsarbeit sich darauf konzentrierte, das Phänomen Hysterie zu verstehen –, seine Patienten zu behandeln. Deshalb habe ich mich sehr gründlich mit seinen Fallberichten beschäftigt, und so ist er zu einem meiner wichtigsten Lehrer geworden. 16

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Jean-Martin Charcot präsentiert den Fall einer Patientin mit Hysterie. Charcot verwandelte die Salpêtrière, ein altes Asyl für die Armen von Paris, in ein modernes Krankenhaus. Man beachte die dramatische Haltung der Patientin. Gemälde von André Brouillet.

Amnesie, Dissoziation und Reenactment

Janet hat als Erster auf den Unterschied zwischen dem »narrativen Gedächtnis« – den Geschichten, die Menschen über ihre Traumata erzählen – und der Traumaerinnerung selbst hingewiesen. Eine seiner Fallgeschichten handelt von Irène, einer jungen Frau, die stationär behandelt wurde, nachdem ihre Mutter an Tuberkulose gestorben war. 17 Irène hatte ihre Mutter viele Monate lang gepflegt und war gleichzeitig weiter einer Erwerbsarbeit nachgegangen, um ihren Vater, einen Alkoholiker, unterstützen und für die medizinische Versorgung ihrer Mutter aufkommen zu können. Als die Mutter schließlich starb, mühte sich Irène – erschöpft durch Stress und Schlafmangel – mehrere Stunden lang damit ab, die Verstorbene wiederzubeleben, indem sie nach ihrer Mutter rief und ihr Medikamente einzuflößen versuchte. Irgendwann fiel der leblose Körper der Mutter vom Bett, während Irènes betrunkener Vater bewusstlos in der Nähe lag. Selbst nach Eintreffen einer Tante, die anfing, das Begräbnis vorzubereiten, leugnete Irène den Tod der Mutter weiter. Es erwies sich als schwierig, sie zur Teilnahme an der Trauerfeier zu bewegen, und sie lachte während des ganzen Gottesdienstes. Einige Wochen danach wurde sie in die Salpêtrière gebracht, und Janet übernahm ihre Behandlung.

Abgesehen von der Amnesie, die den Tod ihrer Mutter betraf, litt Irène auch unter einem anderen Symptom: Mehrmals wöchentlich starrte sie wie in Trance ein leeres Bett an, ignorierte in dieser Zeit alle Vorgänge in ihrer Umgebung und fing an, sich um eine imaginäre Person zu kümmern. Sie reproduzierte die Einzelheiten des Todes ihrer Mutter zwar sorgfältig, konnte sich aber nicht an diese Situation erinnern.

Traumatisierte erinnern sich gleichzeitig an zu viel und an zu wenig. Einerseits hatte Irène keine bewusste Erinnerung an den Tod ihrer Mutter – sie hätte nicht berichten können, was tatsächlich geschehen war. Andererseits fühlte sie sich gezwungen, die Ereignisse anlässlich des Todes ihrer Mutter physisch auszuagieren. Janets Begriff »Automatismus« weist auf die unwillkürliche, unbewusste Natur ihrer Handlungen hin.

Janet behandelte Irène mehrere Monate lang hauptsächlich mit Hypnose. Dann fragte er sie erneut nach dem Tod ihrer Mutter. Irène fing daraufhin an zu weinen und sagte: »Erinnern Sie mich nicht an diese schrecklichen Dinge … Meine Mutter war tot und mein Vater völlig betrunken, wie immer. Ich musste mich die ganze Nacht lang um ihren toten Körper kümmern. Ich habe eine Menge dumme Dinge getan, um sie wieder zum Leben zu erwecken … Am Morgen bin ich ohnmächtig geworden.« Irène konnte nun nicht nur die Geschichte der Ereignisse erzählen, sondern sie hatte auch den Kontakt zu ihren Emotionen wiederhergestellt: »Ich fühle mich sehr traurig und alleingelassen.« Janet bezeichnete ihre Erinnerung nun als »vollständig«, weil sie mit adäquaten Gefühlen verbunden war.

Janet erkannte wichtige Unterschiede zwischen normalen und traumatischen Erinnerungen. Letztere werden durch bestimmte Trigger aktiviert. In Julians Fall hatten die anzüglichen Bemerkungen der Freundin als Trigger gewirkt; bei Irène war es ein Bett gewesen. Wird ein Element eines traumatischen Erlebnisses durch einen Trigger aktiviert, weitet sich die Aktivierung wahrscheinlich automatisch auf andere Elemente aus.

Traumatische Erinnerungen sind nicht verdichtet: Irène brauchte drei bis vier Stunden, um ihre Geschichte zu reinszenieren; doch als sie schließlich erzählen konnte, was geschehen war, brauchte sie dafür nicht einmal eine Minute. Die Trauma-Reinszenierung erfüllt keine nützliche Funktion. Normale Erinnerungen hingegen wirken adaptiv; unsere Geschichten sind flexibel, und wir können sie den jeweiligen Umständen entsprechend modifizieren. Normale Erinnerungen haben eine soziale Funktion; wir übermitteln sie in Form von Geschichten, mit denen wir einen bestimmten Zweck verfolgen: Irène wollte sich die Hilfe ihres Arztes und seinen Trost sichern; Julian wollte mich gewinnen, um seine Vorstellungen von Gerechtigkeit und Rache realisieren zu können. Traumatische Erinnerungen hingegen erfüllen keine soziale Funktion. Julians Wut auf die Bemerkung seiner Freundin erfüllte keinen positiven Zweck. Reenactments verändern sich nicht; es handelt sich stets um einsame Erlebnisse, die demütigend und entfremdend wirken.

Janet führte zur Bezeichnung der Abspaltung und Isolation von Gedächtnisspuren, die er bei seinen Patienten erkannte, den Begriff »Dissoziation« ein. Ihm war auch klar, dass die Patienten für ihre Bemühungen, diese traumatischen Erinnerungen unter Kontrolle zu behalten, einen hohen Preis bezahlten. Später schrieb er, wenn Patienten ihr traumatisches Erlebnis dissoziierten, würden sie »mit einem unüberwindbaren Hindernis unauflöslich verbunden«: 18 »Unfähig, ihre traumatischen Erinnerungen zu integrieren, scheinen sie auch die Fähigkeit zur Assimilation neuer Erlebnisse zu verlieren. Es ist, … als wäre ihre Persönlichkeit an einem bestimmten Punkt definitiv zum Stillstand gekommen und könnte nicht mehr durch das Hinzufügen neuer Elemente erweitert werden.« 19 Er sagte voraus, wenn es diesen Patienten nicht gelinge, der abgespaltenen Elemente bewusst zu werden und sie in eine Geschichte zu integrieren, die etwas in der Vergangenheit Geschehenes, das nun vorüber sei, beschreibe, werde ihre persönliche und berufliche Funktionsfähigkeit allmählich verfallen. Dieses Phänomen konnte durch Untersuchungen in unserer Zeit verifiziert werden. 20

Janet entdeckte, dass Menschen, die unter einer PTBS leiden, das tatsächliche traumatische Erlebnis, die Ursache der traumatischen Erinnerungen, nicht hinter sich lassen können. Dies ist ein völlig anderes Phänomen als die normale Veränderung und Verzerrung von Erinnerungen, die im Laufe der Zeit stattfindet. Dissoziation verhindert die Integration eines Traumas in das autobiografische Gedächtnis mit seinen sich ständig verändernden Inhalten, und das bedeutet im Grunde, dass durch die Traumatisierung ein duales Gedächtnissystem entsteht. Das normale Gedächtnis integriert die Elemente jedes Erlebnisses mittels eines komplexen Assoziationsprozesses in den kontinuierlichen Fluss des Selbsterlebens; man stelle sich ein dichtes, aber flexibles Netzwerk vor, in dem jedes Element auf viele andere einen subtilen Einfluss ausübt. Bei Julian jedoch waren die Empfindungen, Gedanken und Emotionen, die sich auf das Trauma bezogen, separat als starre und kaum noch zu verstehende Fragmente gespeichert. Ist das Problem bei einer PTBS eine Dissoziation , muss das Behandlungsziel die Assoziation sein: die Integration der abgespaltenen Elemente des Traumas in die fortlaufende Erzählung des Lebens, sodass das Gehirn erkennen kann, dass »jenes damals war und dies jetzt ist.«

Die Ursprünge der »Redekur«

Die Psychoanalyse wurde auf den Stationen der Salpêtrière geboren. Im Jahre 1885 kam Freud nach Paris, um bei Charcot zu studieren, und später nannte er seinen Erstgeborenen zu Ehren Charcots Jean-Martin. Im Jahre 1893 zitierten Freud und sein Wiener Mentor Josef Breuer sowohl Charcot als auch Janet in einem brillanten Aufsatz über die Ursachen der Hysterie. »[D]er Hysterische leidet größtenteils an Reminiszenzen «, erklärten sie und fuhren fort, dass die betreffenden Erinnerungen nicht dem »allgemeinen Verwischen der Eindrücke, jenem Ablassen der Erinnerungen, welches wir ›vergessen‹ nennen«, unterliegen, sondern »sich in wunderbarer Frische und mit ihrer vollen Affektbetonung durch lange Zeit erhalten haben«. Auch hätten Traumatisierte keinen Einfluss darauf, wann diese Erinnerungen auftauchen: »Wir müssen aber eine weitere auffällige und späterhin verwertbare Tatsache erwähnen, dass die Kranken nicht etwa über diese Erinnerungen wie über andere ihres Lebens verfügen. Im Gegenteil, diese Erlebnisse fehlen dem Gedächtnisse der Kranken in ihrem gewöhnlichen Zustand völlig oder sind nur höchst summarisch darin vorhanden 21 (Alle Hervorhebungen in der zitierten Passage stammen von Breuer und Freud selbst.)

Breuer und Freud glaubten, traumatische Erinnerungen seien dem normalen Bewusstsein deshalb nicht zugänglich, weil entweder »die sozialen Verhältnisse eine Reaktion unmöglich machten« oder weil sie »in schweren lähmenden Affekten, wie z. B. Schreck, entstanden sind oder direkt in abnormen psychischen Zuständen«. Im Jahre 1896 erklärte Freud kühn, die ultimative Ursache der Hysterie sei immer die Verführung des Kindes durch einen Erwachsenen. 22 Doch angesichts seiner eigenen Beweise für ein geradezu epidemisches Vorkommen von sexuellem Missbrauch in den besten Familien Wiens – was, wie er selbst einmal erwähnte, sogar seinen eigenen Vater betraf – vertrat er diese Position nicht besonders lange. Daraufhin konzentrierte sich die Psychoanalyse auf unbewusste Wünsche und Fantasien, wobei Freud auch weiterhin die Realität sexuellen Missbrauchs gelegentlich erwähnte und zugestand. 23 Nachdem er durch die Schrecken des Ersten Weltkriegs mit der Realität der Kriegsneurosen konfrontiert worden war, bekräftigte er noch einmal seine Auffassung, nach der das Fehlen verbaler Erinnerungen für Traumata von zentraler Bedeutung ist und dass Menschen, die sich nicht erinnern können, wahrscheinlich ausagieren: »Er reproduziert das Erlebte nicht als Erinnerung, sondern als Aktivität; er wiederholt es, natürlich ohne zu wissen, dass er es wiederholt, und am Ende verstehen wir, dass dies seine Art des Erinnerns ist.« 24

Das dauerhafte Erbe von Breuers und Freuds Abhandlung aus dem Jahre 1895 ist das, was wir heute »Redekur« nennen: »Wir fanden nämlich, anfangs zu unserer großen Überraschung, dass die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne jede Wiederkehr verschwanden, wenn es uns gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab. (Hervorhebung wie im Original) Affektloses Erinnern ist fast immer völlig wirkungslos.« (Freud 1895, S. 85)

Die beiden Autoren erklären uns, bei Ausbleiben einer »energischen Reaktion« auf das traumatische Ereignis bleibe der Affekt »mit der Erinnerung verbunden« und könne nicht entladen werden. Die Reaktion könne durch eine Aktion entladen werden – »vom Weinen bis zum Racheakt« (a. a. O., S. 87). Aber die Sprache fungiere als Ersatz für eine Aktion; mit ihrer Hilfe könne ein Affekt fast ebenso effektiv abreagiert werden. – Breuer und Freud schließen: »Es ist nun verständlich, wieso die hier von uns dargelegte Methode der Psychotherapie heilend wirkt. Sie hebt die Wirksamkeit der ursprünglich [d. h. zum Zeitpunkt der Traumatisierung] nicht abreagierten Vorstellung dadurch auf, dass sie dem eingeklemmten Affekt derselben den Ablauf durch die Rede gestattet, und bringt sie zur assoziativen Korrektur, indem sie dieselbe ins normale Bewusstsein zieht. « (a. a. O., S. 97)

Obwohl die Psychoanalyse heute eine weniger wichtige Rolle spielt, lebt die »Redekur« weiter, und viele Psychologen sind nach wie vor der Meinung, das detaillierte Erzählen der Geschichte eines Traumas helfe Menschen, ein Erlebnis dieser Art hinter sich zu lassen. Dies ist auch eine der grundlegenden Prämissen der kognitiv-behavioralen Therapie (KBT ), die auf der ganzen Welt gelehrt wird.

Die diagnostischen Etiketten mögen sich verändert haben, doch immer noch kommen Patienten zu uns, die den von Charcot, Janet und Freud beschriebenen ähneln. Im Jahre 1986 habe ich zusammen mit Kollegen den Fall einer Frau beschrieben, die im Jahre 1942 im Cocoanut-Grove -Nachtklub in Boston als Zigarettenverkäuferin arbeitete, als der Klub abbrannte. 25 In den 1970er- und 1980er-Jahren reinszenierte diese Frau jedes Jahr auf der Newbury Street, die wenige Blocks vom ursprünglichen Standort des Klubs entfernt liegt, ihre Flucht. Deshalb war sie immer wieder mit Diagnosen wie Schizophrenie und Bipolare Störung in psychiatrische Institutionen eingewiesen worden. Im Jahre 1989 berichtete ich über einen Vietnamveteranen, der jedes Jahr an dem Tag, an dem ein Freund von ihm in Vietnam ums Leben gekommen war, einen »bewaffneten Raubüberfall« veranstaltete. 26 Er steckte dann einen Finger in seine Hosentasche, behauptete, dies sei eine Pistole, und befahl einem Ladeninhaber, seine Kasse zu leeren – wobei er dem Mann genug Zeit ließ, um die Polizei zu alarmieren. Dieser unbewusste Versuch, »Selbstmord mithilfe eines Bullen« zu begehen, endete, nachdem ein Richter den Mann zur Behandlung zu mir geschickt hatte. Nachdem er sich mit seinen Schuldgefühlen wegen des Todes seines Freundes auseinandergesetzt hatte, braucht er die Reinszenierungen nicht mehr.

Vorfälle dieser Art werfen eine wichtige Frage auf: Wie können Ärzte, Polizisten oder Sozialarbeiter erkennen, dass jemand unter traumatischem Stress leidet, solange er das Erlebte reinszeniert, statt sich daran zu erinnern? Wie können die Patienten die Ursache ihres Verhaltens selbst erkennen? Wenn ihre Vorgeschichte nicht bekannt ist, werden sie eher als verrückt eingestuft oder als Kriminelle bestraft, statt dass man ihnen hilft, ihre Vergangenheit zu integrieren.

Traumatische Erinnerungen auf dem Prüfstand

Mindestens zwei Dutzend Männer hatten erklärt, sie seien von Paul Shanley sexuell belästigt worden, und viele von ihnen ließen sich auf einen außergerichtlichen Vergleich mit der Erzdiözese Boston ein. Julian wurde in Shanleys Prozess als einziges Opfer als Zeuge vorgeladen. Im Februar 2005 wurde der ehemalige Priester in zwei Fällen für schuldig befunden, ein Kind vergewaltigt zu haben, und in zwei Fällen wurde ihm ein Angriff auf ein Kind und Körperverletzung zur Last gelegt. Er wurde zu zwölf bis fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt.

Im Jahre 2007 beantragte Shanleys Anwalt, Robert F. Shaw jr., ein Wiederaufnahmeverfahren, wobei er Shanleys Verurteilung als Fehlurteil bezeichnete. Er argumentierte, dass die Möglichkeit der Existenz »unterdrückter Erinnerungen« von Wissenschaftlern nicht generell anerkannt werde, weshalb das Urteil gegen Shanley aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar sei, zumal man die Frage der wissenschaftlichen Vertretbarkeit unterdrückter Erinnerungen vor dem Urteil nicht intensiv genug recherchiert habe. Der Revisionsantrag wurde vom ursprünglichen Richter zurückgewiesen, aber zwei Jahre später kam es zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens durch den Supreme Judicial Court of Massachusetts . Fast hundert führende Psychiater und Psychologen aus den Vereinigten Staaten und acht anderen Ländern unterzeichneten eine Amicus-Curiae -Stellungnahme des Inhalts, man habe die Existenz »unterdrückter Erinnerungen« nie nachweisen können und möge sie deshalb als Beweis vor Gericht nicht gelten lassen. Am 10. Januar 2010 jedoch bestätigte das Gericht Shanleys Urteil einstimmig mit folgender Begründung: »Der Feststellung des Richters, der Mangel an wissenschaftlichen Belegen mache die Theorie, dass ein Mensch eine dissoziative Amnesie erleben könne, nicht unglaubwürdig, wurde im Urteil Rechnung getragen … Von einem Missbrauch des Ermessens bei der Zulassung von Expertenzeugnissen bezüglich der Frage des Vorliegens einer dissoziativen Amnesie kann keine Rede sein.«

Auch im nächsten Kapitel werde ich mich mit Erinnerung und Vergessen befassen sowie damit, wie sich die Debatte über unterdrückte Erinnerungen, die mit Freud begann und die noch immer nicht abgeschlossen ist, weiterentwickelt hat.