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Unsere Körper sind die Texte, die Erinnerungen befördern, und deshalb ist Erinnern nicht weniger als eine Reinkarnation.

Katie Cannon

Das wissenschaftliche Interesse an Traumata war in den letzten 150 Jahren starken Schwankungen unterworfen. Charcots Tod 1893 und Freuds Verlagerung seines Hauptinteresses auf innere Konflikte, Abwehrmechanismen und Triebe als Wurzeln psychischen Leidens entsprachen einem Trend des damaligen medizinischen Mainstreams, der das Interesse an der Traumathematik verloren hatte. Die Psychoanalyse wurde schnell sehr populär. 1911 klagte der Bostoner Psychiater Morton Prince, der bei William James und Pierre Janet studiert hatte, diejenigen, die sich für die Nachwirkungen von Traumata interessierten, seien wie »Venusmuscheln, die im Hafen von Boston von der Flut angespült werden«.

Doch das Interesse an Traumata erlahmte nur für wenige Jahre, weil der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 Medizin und Psychologie erneut mit Hunderttausenden von Männern mit merkwürdigen psychischen Symptomen, unerklärlichen körperlichen Störungen und Erinnerungsverlusten konfrontierte. Die damals neue Technik der »bewegten Bilder« ermöglichte es, diese Soldaten zu filmen, und heutzutage können wir auf YouTube ihre bizarren Körperhaltungen, ihre merkwürdigen verbalen Äußerungen, ihren entsetzten Gesichtsausdruck und ihre Tics betrachten – den körperlichen bzw. verkörperten Ausdruck ihrer Traumata: eine Erinnerung, die gleichzeitig in Form von inneren Bildern und Worten in den Geist und in den Körper eingeschrieben wird. 1

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs entwickelten die Briten die Diagnose »Granatschock« (shell shock) , die Kriegsveteranen zum Bezug einer Erwerbsunfähigkeitsrente berechtigte. Eine Diagnose ähnlichen Inhalts war »Neurasthenie«, doch wenn sie gestellt wurde, erhielten die Betroffenen weder eine Behandlung noch eine Rente. Es blieb völlig dem Gutdünken des behandelnden Arztes überlassen, welche dieser beiden Diagnosen ein Soldat erhielt. 2

Mehr als eine Million britischer Soldaten war im Ersten Weltkrieg zu jeder Zeit an der Westfront im Einsatz. Allein in den ersten Stunden des 1. Juli 1916 in der Somme-Schlacht hatte die britische Armee den Ausfall von 57 470 Kämpfern zu beklagen, von denen 19 240 starben. Dies war der blutigste Tag in der Geschichte des Ersten Weltkriegs. Der Historiker John Keegan schreibt über ihren Befehlshaber, Field Marshal Douglas Haig, dessen Statue heute Whitehall in London, einst Zentrum des Britischen Empire, überragt, dass »in dessen öffentlichem Auftreten und privaten Tagebüchern keinerlei Teilnahme am menschlichen Leiden sichtbar wurde oder wird« (S. 404). An der Somme »war aufgrund seiner Einsatzbefehle die Blüte der britischen Jugend getötet und verstümmelt worden«. 3

Im weiteren Verlauf des Krieges beeinträchtigte das Phänomen Granatschock die Kampfkraft der Truppen immer stärker. Mit dem Dilemma konfrontiert, einerseits das Leiden der Soldaten ernst zu nehmen und andererseits den Sieg über die Deutschen anzustreben, erließ der britische Generalstab im Juni 1917 die General Routine Order Number 2384 , in der es hieß: »Unter keinen Umständen, welcher Art sie auch sein mögen, wird der Ausdruck ›Granatschock‹ fortan mündlich oder schriftlich in irgendeiner Verlustmeldung, ob von einem Regiment oder von einer anderen Einheit, und auch in keinem Lazarettbericht und keinem anderen ärztlichen Dokument erwähnt.« Alle Soldaten mit psychischen Problemen sollten ein und dieselbe Diagnose erhalten: »NYDN « (Not Yet Diagnosed, Nervous) . 4 Im November 1917 untersagte der Generalstab Charles Samuel Myers, der vier Lazarette für verwundete Soldaten leitete, die Veröffentlichung eines Aufsatzes über Granatschock im British Medical Journal . Die Deutschen gingen mit diesem Problem noch rigoroser um, indem sie den Granatschockopfern einen Charaktermangel unterstellten, den sie mit verschiedenen besonders schmerzhaften Behandlungsmethoden bekämpften, unter anderem mit Elektroschocks.

Im Jahre 1922 veröffentlichte die britische Regierung den Southborough Report , der zum Ziel hatte, die Diagnose Granatschock in möglichen zukünftigen Kriegen völlig zu unterbinden und allen zukünftigen Entschädigungsansprüchen die Grundlage zu entziehen. Der Bericht empfahl die vollständige Tilgung des Begriffs Granatschock aus der offiziellen Nomenklatur und beharrte darauf, dass Fälle dieser Art weder »als Kriegsfolge noch als Krankheiten eingestuft werden sollten«. 5 Der offiziellen Sicht gemäß konnten gut ausgebildete und richtig geführte Soldaten nicht unter Granatschock leiden, weshalb diejenigen, die sich diese Störung zugezogen hatten, undiszipliniert und unkooperativ sein mussten. Zwar hielt die politische Auseinandersetzung über die Legitimität der Granatschock-Diagnose noch einige Jahre an, doch verschwanden Berichte darüber, wie man dieses Problem am besten behandeln könnte, allmählich aus der wissenschaftlichen Literatur. 6

Auch in den Vereinigten Staaten war das Schicksal der Veteranen alles andere als unproblematisch. Als sie 1918 von den Schlachtfeldern in Frankreich und Flandern zurückgekehrt waren, hatte man sie als Nationalhelden gefeiert und willkommen geheißen, genauso wie man es mit den Soldaten zu tun pflegt, die heutzutage aus dem Irak und aus Afghanistan zurückkehren. Im Jahre 1924 beschloss der amerikanische Kongress, den Veteranen eine Prämie von 1,25 Dollar für jeden Tag, den sie in Europa im Krieg verbracht hatten, zu gewähren, deren Auszahlung allerdings bis nach 1945 aufgeschoben wurde.

Die USA befanden sich 1932 mitten in der Großen Depression, und im Mai jenes Jahres kampierten ca. 15 000 arbeitslose und mittellose Veteranen auf der National Mall in Washington D. C. , um die sofortige Auszahlung ihrer Kriegsboni durchzusetzen. Der Senat lehnte ein Gesetz zur Erhöhung der Auszahlung mit 62 zu 18 Stimmen ab. Einen Monat später gab Präsident Hoover der Armee den Befehl, das Veteranencamp aufzulösen. Der Stabschef der Armee, General Douglas MacArthur, leitete diesen Einsatz, unterstützt von sechs Panzern. Major Dwight D. Eisenhower war Verbindungsoffizier zur Polizei von Washington, und Major George Patton war für die Kavallerie zuständig. Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten griffen an und warfen Tränengas in die Menge der Veteranen. Am nächsten Morgen war die Mall verlassen, und das Camp stand in Flammen. 7 Die Veteranen haben die versprochenen Entschädigungen nie erhalten.

Während Politiker und Ärzte den heimkehrenden Soldaten den Rücken zuwandten, wurden die Schrecken des Krieges in der Literatur und in der bildenden Kunst anschaulich dokumentiert. In dem Roman Im Westen nichts Neues 8 von Erich Maria Remarque, einem deutschen Schriftsteller, in dem das Leben der Soldaten an der Front geschildert wird, spricht der Protagonist, Paul Bäumer, für eine ganze Generation: »Heute merke ich, dass ich, ohne es zu wissen, zermürbter geworden bin. Ich finde mich hier nicht mehr zurecht, es ist eine fremde Welt … Am liebsten bin ich allein, da stört mich keiner … Sie reden mir zu viel. Sie haben Sorgen, Ziele, Wünsche, die ich nicht so auffassen kann wie sie.« 9 Dieser 1929 veröffentlichte Roman wurde sofort zum internationalen Bestseller und in 25 Sprachen übersetzt. Die Filmversion, die in Hollywood produziert wurde, gewann im Jahre 1930 einen Oscar.

Als dann einige Jahre später Hitler an die Macht kam, zählte Im Westen nichts Neues zu den ersten »degenerierten« Büchern, die von den Nationalsozialisten auf dem Platz vor der Humboldt-Universität in Berlin verbrannt wurden. 10 Offenbar sahen sie es als bedrohlich an, sich zu vergegenwärtigen, wie verheerend sich ein Krieg auf den Geist der kämpfenden Soldaten auswirkt, und sie fürchteten, dies könne sich auf ihr Vorhaben, einen neuen Krieg zu initiieren, verheerend auswirken.

Durch das Leugnen der Folgen eines Traumas kann das soziale Gefüge einer Gesellschaft sehr stark geschädigt werden. Die Weigerung, sich mit den durch den Krieg verursachten Schädigungen auseinanderzusetzen, und Intoleranz gegenüber »Schwäche« spielte in den 1930er-Jahren beim Aufstieg des Faschismus und Militarismus auf der ganzen Welt eine wichtige Rolle. Die im Versailler Vertrag festgelegten erdrückenden Reparationsforderungen demütigten das ohnehin am Boden liegende Deutschland noch mehr. Und die deutsche Gesellschaft ging mit ihren traumatisierten Kriegsveteranen meist mitleidslos um; man behandelte sie wie minderwertige Kreaturen. Die zunehmende Demütigung Machtloser schuf die Voraussetzung für die völlige Entwertung der Menschenrechte in der Zeit des Naziregimes – die moralische Rechtfertigung für die Starken, die Schwachen zu überwältigen – und damit die Grundlage für den folgenden Krieg.

Das neue Gesicht des Traumas

Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs veranlasste Charles Samuel Myers und den amerikanischen Psychiater Abram Kardiner, Berichte über ihre Arbeit mit Soldaten und Veteranen des Ersten Weltkriegs zu veröffentlichen. Die beiden Bücher Shell Shock in France 1914–1918 (1940) 11 und The Traumatic Neuroses of War (1941) 12 dienten Psychiatern als Anleitung für die Behandlung der an dem neuen Krieg beteiligten Soldaten, die unter »Kriegsneurosen« litten. Das Engagement der USA in diesem Krieg war gewaltig, und die Fortschritte der Frontpsychiatrie spiegelten dies. Auf YouTube ist ein weiteres »Fenster in die Vergangenheit« zu finden: John Hustons Dokumentarfilm Let There Be Light (1946) zeigt, wie damals Kriegsneurosen hauptsächlich behandelt wurden: mit Hypnose. 13

Hustons Film entstand, als der Regisseur im Army Signal Corps diente. Die Ärzte treten darin noch sehr patriarchalisch auf, und die Patienten sind noch erschrockene junge Männer. Ihre Traumata unterscheiden sich von denjenigen der Teilnehmer des Ersten Weltkriegs: Diese schlugen um sich, hatten Gesichts-Tics und brachen mit paralysiertem Körper zusammen, wohingegen die Generation, die im Zweiten Weltkrieg diente, sprach und sich duckte. Trotzdem zeigt der Körper dieser Männer, dass er nicht vergisst: Sie leiden unter Magenbeschwerden, ihr Herz rast, und sie bekommen Panikattacken. Doch das Trauma wirkte nicht nur auf ihren Körper. Der durch Hypnose induzierte Trancezustand ermöglichte ihnen, Worte für Dinge zu finden, an die sich zu erinnern sie sich gefürchtet hatten: an ihr Entsetzen, ihre Überlebendenschuldgefühle und ihre Loyalitätskonflikte. Mich verblüffte auch, dass diese Soldaten ihre Wut und Feindseligkeit viel besser unter Kontrolle behielten als die jüngeren Veteranen, mit denen ich gearbeitet hatte. Die Kultur wirkt sich auf den Ausdruck von traumatischem Stress aus.

Die feministische Theoretikerin Germaine Greer schrieb über die Behandlung der PTBS ihres Vaters nach dem Zweiten Weltkrieg: »Wenn [die Militärärzte] Männer untersuchten, bei denen schwere Störungen aufgetreten waren, suchten sie die Ursachen dieser Probleme fast immer in den Vorkriegserlebnissen der Patienten, wodurch diesen Kranken von vornherein abgesprochen wurde, erstklassige Kämpfer gewesen zu sein … Das Militär verbreitete gezielt die Auffassung, dass nicht der Krieg die Männer krank mache, sondern dass kranke Männer nicht für den Kampf geeignet seien.« 14 Es ist kaum anzunehmen, dass die Ärzte Germaine Greers Vater in irgendeiner Weise haben helfen können, aber die Bemühungen seiner Tochter, sein Leiden zu verstehen, halfen ihr, sich mit allen hässlichen Facetten sexueller Dominanz auseinanderzusetzen, wie sie in Form von Vergewaltigungen, Inzest und häuslicher Gewalt zum Ausdruck kommen.

Als ich für die Veterans Administration arbeitete, verblüffte mich, dass die meisten Patienten, die in unsere psychiatrische Ambulanz kamen, junge, erst kürzlich aus dem Armeedienst entlassene Vietnamveteranen waren, wohingegen sich auf den Fluren und in den Aufzügen, die zu den medizinischen Abteilungen der Einrichtung führten, alte Männer drängten. Durch diesen krassen Gegensatz neugierig geworden, führte ich eine Umfrage unter Veteranen des Zweiten Weltkriegs durch, die 1983 die medizinische Betreuung der VA in Anspruch nahmen. Bei den meisten zeigten meine Bewertungsskalen positive Werte für das Bestehen einer PTBS , obwohl sie auf physische Erkrankungen statt auf psychische Probleme hin behandelt wurden. Diese Veteranen kommunizierten ihr Leiden in Form von Magenkrämpfen und Brustschmerzen statt in Form von Albträumen oder Wutgefühlen, unter denen sie allerdings, wie meine Untersuchung zeigte, ebenfalls litten. Ärzte beeinflussen, wie ihre Patienten ihr Leiden mitteilen: Wenn ein Patient über entsetzliche Albträume klagt und sein Arzt daraufhin eine Röntgenaufnahme des Brustbereichs anordnet, wird dem Patienten schnell klar, dass er eine bessere Betreuung erhalten wird, wenn er sich auf seine körperlichen Gebrechen konzentriert. Ebenso wie meine Verwandten, die im Zweiten Weltkrieg kämpften oder in Gefangenschaft gerieten, waren auch diese Männer meist extrem unwillig, über ihre Erlebnisse zu berichten. Mein Eindruck war, dass sich weder die Ärzte noch ihre Patienten noch einmal mit dem Krieg auseinandersetzen wollten.

Doch sowohl die militärischen als auch die zivilen Führungspersönlichkeiten zogen aus dem Zweiten Weltkrieg wichtige Lehren, die der Generation des Ersten Weltkriegs noch nicht klar gewesen waren. Nach dem Sieg über Nazi-Deutschland und Japan unterstützten die Vereinigten Staaten den Wiederaufbau Europas mithilfe des Marshallplans, der die ökonomische Grundlage für die relativ friedlichen nächsten fünfzig Jahre schuf. Im eigenen Land ermöglichte das GI -Gesetz Millionen amerikanischer Veteranen eine Ausbildung und den Kauf eines Hauses mithilfe spezieller Hypotheken, was sowohl das allgemeine ökonomische Wohl als auch die Entstehung einer großen und gut ausgebildeten ökonomischen Mittelklasse förderte. Das Militär übernahm auch hinsichtlich der Integration und Gleichstellung der verschiedenen Ethnien eine Vorbildfunktion. Die VA baute im ganzen Land Institutionen auf, die Kriegsveteranen helfen sollten, ihre Gesundheit zu erhalten. Doch trotz all dieser Bemühungen um das Wohl der aus dem Kampf zurückgekehrten Veteranen blieben die psychischen Narben des Krieges unerkannt, und die traumabasierten Neurosen verschwanden völlig aus der offiziellen psychiatrischen Nomenklatur. Die letzte wissenschaftliche Abhandlung über Kriegstraumata nach dem Zweiten Weltkrieg erschien im Jahre 1947. 15

Die Wiederentdeckung des Traumas

Wie ich bereits erwähnte, gab es zu der Zeit, als ich mit Vietnamveteranen zu arbeiten anfing, in der Bibliothek der VA kein einziges Buch über Kriegstraumata. Der Vietnamkrieg jedoch inspirierte zu zahlreichen Untersuchungen, zur Gründung wissenschaftlicher Organisationen und zur Aufnahme einer Traumadiagnose, der PTBS , in die Fachliteratur. Zur gleichen Zeit entwickelte auch die Öffentlichkeit zunehmend Interesse an Traumata.

Im Jahre 1974 hieß es im Comprehensive Textbook of Psychiatry von Freedman und Kaplan: »Inzest kommt extrem selten vor, nämlich höchstens einmal bei 1,1 Millionen Menschen.« 16 Wie wir schon aus Kapitel 2 wissen, wird in diesem anerkannten Lehrbuch der Psychiatrie anschließend auch noch auf die angeblich positiven Auswirkungen von Inzest hingewiesen: »Solche inzestuösen Aktivitäten verringern bei den Betroffenen die Gefahr der Erkrankung an einer Psychose, und sie ermöglichen ihnen eine bessere Anpassung an die Außenwelt … Den meisten geht es infolge des Erlebten nicht schlechter.«

Wie verfehlt diese Äußerungen waren, wurde klar, als vor dem Hintergrund eines zunehmenden Gewahrseins der Traumatisierung vieler in die Heimat zurückkehrender Vietnamveteranen die neu entstehende feministische Bewegung Zehntausende von Menschen, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden waren, unter häuslicher Gewalt gelitten hatten oder vergewaltigt worden waren, dazu ermutigte, ihre Erlebnisse öffentlich zu machen. In der Folge dieser Initiative entstanden viele bewusstseinsfördernde Gruppen und Überlebendengruppen, und es erschienen zahlreiche populäre Bücher zu dieser Thematik, unter anderem von Ellen Bass The Courage to Heal (Trotz allem – Wege zur Selbstheilung für sexuell missbrauch te Frauen) (1988, dt. 1990), ein sehr erfolgreiches Selbsthilfebuch für Frauen, die Inzest erlebt haben, und von Judith Herman Trauma and Recovery (Die Narben der Gewalt) (1992, dt. 1998), in denen die Möglichkeiten der Behandlung von Nachwirkungen solcher Erlebnisse sehr detailliert beschrieben wurden.

Misstrauisch aufgrund meiner Kenntnis der Vorgeschichte fragte ich mich, ob uns hinsichtlich der Anerkennung der Realität von Traumata erneut ein Rückschlag wie jene der Jahre 1895, 1917 und 1947 erwartete. Diese Befürchtung erwies sich als berechtigt, denn seit Beginn der 1990er-Jahre häuften sich in der Presse in den USA wie in Europa Artikel über das sogenannte False Memory Syndrome , demzufolge Patienten mit psychischen Störungen falsche Erinnerungen über sexuellen Missbrauch »fabrizierten«, von denen sie behaupteten, diese seien ihnen viele Jahre lang nicht zugänglich gewesen, bis sie sich nun wieder daran erinnert hätten.

Auffällig an diesen Zeitungsartikeln war, mit welcher Bestimmtheit sie konstatierten, es gebe keinerlei Beweise dafür, dass Menschen sich an Traumata anders erinnerten als an andere Ereignisse. Ich kann mich noch sehr genau an den Telefonanruf eines bekannten Wochenmagazins aus London erinnern, in dem mir mitgeteilt wurde, man plane für die nächste Ausgabe einen Artikel über traumatische Erinnerungen, und ich gefragt wurde, ob ich etwas zu dieser Thematik zu sagen hätte. Ich war sehr erfreut über dieses Interesse und erklärte, der Verlust traumatischer Erinnerungen sei erstmals in England vor mehr als einem Jahrhundert untersucht worden. Ich erwähnte die Arbeit von John Eric Erichsen und Frederic Myers über Eisenbahnunfälle in den 1860er- und 1870er-Jahren und die ausgiebigen Untersuchungen von Charles Samuel Myers und W. H. R. Rivers über Störungen der Erinnerungsfähigkeit bei Soldaten des Ersten Weltkriegs. Außerdem empfahl ich den Journalisten, sich einen in der Zeitschrift The Lancet im Jahre 1944 publizierten Artikel anzuschauen, in dem die Nachwirkungen der Rettung der gesamten britischen Armee vom Strand bei Dünkirchen im Jahre 1940 beschrieben wurden. Mehr als zehn Prozent der Soldaten, die an dieser Untersuchung teilgenommen hatten, hatten nach der Evakuierung unter starkem Erinnerungsverlust gelitten. 17 In der nächsten Ausgabe erklärte das Magazin seinen Lesern, es gebe keinerlei Beweise dafür, dass Menschen nach traumatischen Erlebnissen manchmal jede Erinnerung an das Erlebte verlören.

Das Phänomen der verzögerten Erinnerung an erlebte Traumata war nicht besonders umstritten gewesen, als Myers und Kardiner es in ihren Büchern über Kriegsneurosen im Ersten Weltkrieg erstmals beschrieben hatten, als nach der Evakuierung der britischen Armee aus Dünkirchen Erinnerungsverluste beobachtet worden waren und als ich über Vietnamveteranen und die Überlebende des Feuers im Cocoanut-Grove -Nachtklub geschrieben hatte. Doch als dann in den 1980er- und 1990er-Jahren ähnliche Gedächtnisprobleme bei Frauen und Kindern in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt dokumentiert wurden, gelangte die Thematik aus dem Bereich der Wissenschaft in den der Politik und der Rechtsprechung, weil die Opfer sich juristisch gegen die mutmaßlichen Täter zur Wehr zu setzen begannen. Dies wiederum wurde zum Startsignal für die Aufdeckung der Pädophilenskandale in der katholischen Kirche, die dazu führten, dass in den USA und später auch in Europa und Australien Experten für Gedächtnisfragen vor Gericht mit gegensätzlichen Gutachten gegeneinander zum Kampf antraten.

Von der Kirche beauftragte Experten behaupteten, Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit seien bestenfalls unzuverlässig, und die von angeblichen Opfern vorgetragenen Behauptungen beruhten eher auf falschen Erinnerungen, die den Klägern von übertrieben mitfühlenden, gutgläubigen oder eigene Ziele verfolgenden Therapeuten eingeredet worden seien. In dieser Zeit untersuchte ich mehr als fünfzig Erwachsene, die sich wie Julian daran erinnerten, von Priestern missbraucht worden zu sein. In etwa der Hälfte der Fälle wurden ihre Aussagen vor Gericht nicht anerkannt.

Die Wissenschaft von den unterdrückten Erinnerungen

Tatsächlich wurden im Laufe von mehr als einem Jahrhundert buchstäblich Hunderte von wissenschaftlichen Abhandlungen über die Unterdrückung traumatischer Erinnerungen und deren Wiederauftauchen nach Jahrzehnten publiziert. 18 Gedächtnisverluste wurden dokumentiert bei Menschen, die Naturkatastrophen, Unfälle, Kriegstraumata, Entführungen, Folter, Konzentrationslager sowie körperliche Misshandlungen und sexuellen Missbrauch erlebt hatten. Zu einem Verlust sämtlicher Erinnerungen kommt es am häufigsten nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit, wobei die Häufigkeit je nach Untersuchung mit einer Spannweite von 19 bis 38 Prozent angegeben wird. 19 Dieses Phänomen ist nicht sonderlich umstritten. Schon im DSM -III , das im Jahre 1980 erschien, wurde der Verlust von Erinnerungen bei traumatischen Erlebnissen in den diagnostischen Kriterien für dissoziative Amnesie aufgeführt: »eine Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern, gewöhnlich traumatischer oder belastender Natur, die zu umfassend ist, als dass man sie mit normaler Vergesslichkeit erklären könnte«. Erinnerungsverlust war außerdem seit der Einführung der Diagnose eines der Kriterien für das Vorliegen einer PTBS .

Eine der interessantesten Untersuchungen über unterdrückte Erinnerungen führte Dr. Linda Meyer Williams durch; sie begann damit in den 1970er-Jahren als graduierte Studentin der Soziologie an der University of Pennsylvania . Williams befragte 206 Mädchen im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren, die nach einem Erlebnis sexuellen Missbrauchs in einer Notaufnahme behandelt worden waren. Die Laboruntersuchungen und die Aufzeichnungen von Interviews mit den Kindern und ihren Eltern wurden in den Krankenakten der Klinik, in der die Mädchen behandelt worden waren, aufbewahrt. Siebzehn Jahre später gelang es Williams, 136 dieser inzwischen erwachsenen »Kinder« wiederzufinden und mit ihnen umfangreiche Follow-up-Interviews durchzuführen. 20 Mehr als ein Drittel der Frauen (38 Prozent) konnte sich an den Missbrauch, der in der Krankenakte eindeutig dokumentiert worden war, nicht mehr erinnern; doch nur 15 Frauen (12 Prozent) erklärten, sie seien als Kinder nie missbraucht worden. Mehr als zwei Drittel (68 Prozent) berichteten über weitere Vorfälle von sexuellem Missbrauch in der Kindheit. Frauen, die zum Zeitpunkt des Vorfalls jünger gewesen waren, und diejenigen, die von einem Menschen, den sie kannten, missbraucht worden waren, hatten das Missbrauchserlebnis häufiger vergessen als die anderen.

Diese Studie beschäftigte sich auch mit der Zuverlässigkeit wieder zugänglich gewordener Erinnerungen. Eine von zehn Frauen (16 Prozent derjenigen, die sich an das Missbrauchserlebnis erinnern konnten) berichtete, sie hätte das Erlebte in der Vergangenheit eine Zeit lang vergessen, sich aber später wieder daran erinnert. Verglichen mit den Frauen, die sich zu jeder Zeit an ihr traumatisches Erlebnis hatten erinnern können, waren diejenigen, die dieses eine Zeit lang vergessen hatten, zum Zeitpunkt des Missbrauchs jünger gewesen und waren von ihren Müttern eher nicht unterstützt worden. Williams stellte auch fest, dass die wieder zugänglich gemachten Erinnerungen fast genauso akkurat waren wie die nie vergessenen: Alle Erinnerungen der Untersuchungsteilnehmerinnen trafen hinsichtlich der zentralen Tatsachen zu, aber keine ihrer Geschichten bestätigte in jeder Hinsicht genau die in der Krankenakte dokumentierten Einzelheiten. 21

Die Erkenntnisse von Williams werden durch neuere neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse bestätigt, denen zufolge wieder zugänglich gemachte Erinnerungen in der Regel verändert in die Gedächtnisspeicher zurückgeschrieben werden. 22 Solange eine Erinnerung unzugänglich ist, kann der Geist sie nicht verändern. Doch sobald eine Geschichte erzählt wird – und insbesondere wenn dies wiederholt geschieht –, verändert sie sich – der Vorgang des Erzählens selbst verändert die Geschichte. Der Geist kann nicht anders, als aus dem, was er weiß, einen Sinnzusammenhang zu entwickeln, und der Sinn, den wir unserem Leben zuschreiben, verändert, wie und an was wir uns erinnern.

Angesichts der zahlreichen Beweise dafür, dass Traumata vergessen werden und Jahre später wiedererinnert werden können, müssen wir uns fragen, warum fast hundert angesehene Gedächtnisforscher aus verschiedenen Ländern das Gewicht ihrer Reputation dafür einsetzen, Father Shanleys Verurteilung zu verhindern, indem sie behaupten, das Phänomen »unterdrückter Erinnerungen« basiere auf »junk science« . Weil der Verlust von Erinnerungen und die verzögerte Erinnerung an traumatische Erlebnisse nie in einem wissenschaftlichen Laboratorium dokumentiert worden war, leugneten einige kognitive Wissenschaftler hartnäckig, dass diese Phänomene überhaupt existierten 23 oder dass wieder zugänglich gemachte traumatische Erinnerungen zutreffen könnten. 24 Aber das, womit Ärzte in Notaufnahmen, auf den Stationen psychiatrischer Krankenhäuser und auf Schlachtfeldern konfrontiert werden, unterscheidet sich natürlich zwangsläufig stark von dem, was Wissenschaftler in ihren sicheren und gut organisierten Laboratorien beobachten.

Schauen wir uns beispielsweise das berühmte »Lost in the mall« -Experiment an. Psychologische Forscher haben gezeigt, dass man Menschen Erinnerungen an Ereignisse, die nie stattgefunden haben, relativ leicht »einpflanzen« kann, beispielsweise dass jemand als Kind in einem großen Einkaufszentrum plötzlich ohne seine Eltern dastand. 25 Etwa 25 Prozent der Teilnehmer solcher Studien »erinnern« sich später daran, dass sie in dieser Situation große Angst gehabt hätten, und sie ergänzen sogar Details, die ihnen niemand »eingepflanzt« hatte. Solche falschen Erinnerungen sind allerdings nicht mit dem viszeralen Entsetzen verbunden, das ein Kind in solch einer Situation tatsächlich erleben würde.

Eine andere Art von Untersuchungen hat die Unzuverlässigkeit der Angaben von Augenzeugen dokumentiert. Dabei wurde den Teilnehmern beispielsweise ein Video von einem auf einer Straße fahrenden Auto vorgeführt, und anschließend wurden sie gefragt, ob sie ein Stoppzeichen oder eine Ampel gesehen hätten; und Kinder fragte man beispielsweise, wie ein männlicher Besucher ihrer Schulklasse gekleidet gewesen sei. Andere Experimente mit Augenzeugen demonstrierten, dass Fragen, die Zeugen gestellt wurden, das, woran sie sich zu erinnern behaupteten, verändern konnten. Diese Untersuchungen waren insofern sehr wertvoll, als sie viele bei der Polizei und vor Gericht üblichen Praktiken infrage stellten; doch bezogen auf traumatische Erinnerungen haben sie wenig Bedeutung.

Das Grundproblem ist: Ereignisse, die in einem Laboratorium stattfinden, kann man nicht mit den Bedingungen vergleichen, unter denen traumatische Erinnerungen entstehen. Das Entsetzen und die Hilflosigkeit, die Menschen in Zusammenhang mit einer PTBS erleben, lassen sich einfach nicht neu in einen Kontext »einpflanzen«. Wir können die Wirkungen existierender Traumata in einem Laboratorium untersuchen, so wie wir es in unseren skriptbasierten Imaging-Studien über Flashbacks getan haben, aber die ursprüngliche Prägung des Traumas kann dort nicht dokumentiert werden. Dr. Roger Pitman führte an der Harvard University eine Studie durch, in der er College-Studenten den Film Faces of Death (dt. Gesichter des Todes ) vorführte, der Wochenschaumaterial über gewaltsame Todesfälle und Exekutionen enthielt. Dieser zwischenzeitlich immer wieder verbotene Film ist so extrem, dass ein institutionelles Kontrollgremium seine Vorführung mit gewissen Einschränkungen gerade noch erlaubte, doch er rief bei Pitmans normalen Untersuchungsteilnehmern keine PTBS -Symptome hervor. Will man traumatische Erinnerungen studieren, muss man sich mit den Erinnerungen von Menschen befassen, die tatsächlich traumatisiert wurden.

Interessant ist, dass die Kontroverse wegen »falscher Erinnerungen« in dem Moment abflaute, als die Begeisterung angesichts dieser Thematik und die Möglichkeit, durch gerichtliche Gutachten davon zu profitieren, deutlich nachließen. Danach blieb es wieder einzig und allein den Klinikern überlassen, sich mit den Folgen traumatischer Erinnerungen auseinanderzusetzen.

Normale Erinnerungen im Gegensatz zu traumatischen

Im Jahre 1994 beschloss ich zusammen mit meinem Kollegen am Massachusetts General Hospital , in einer systematischen Studie zu vergleichen, wie Menschen sich an gutartige und entsetzliche Erlebnisse erinnern. Wir setzten Anzeigen in Lokalzeitungen und hängten Informationsblätter in Waschsalons und an universitären Schwarzen Brettern auf. Darauf stand: »Haben Sie etwas Schreckliches erlebt, das Ihnen nicht aus dem Sinn geht? Wenn ja, rufen Sie die Nummer 727 5500 an; wir zahlen Ihnen 10 Dollar für die Teilnahme an dieser Studie.« Auf diese Anzeige hin gewannen wir unsere ersten 76 freiwilligen Studienteilnehmer. 26

Nachdem wir uns vorgestellt hatten, fragten wir jeden Teilnehmer zunächst: »Können Sie uns von einem Ereignis in Ihrem Leben berichten, von dem Sie glauben, dass Sie sich zeitlebens daran erinnern werden, das aber nicht traumatisch war?« Einer der Teilnehmer antwortete strahlend: »Der Tag, an dem meine Tochter geboren wurde«, andere erwähnten ihren Hochzeitstag, einen Sieg ihrer Mannschaft in einem sportlichen Wettkampf oder ihren Auftritt als Festredner anlässlich ihres Highschool-Abschlusses. Anschließend wurden die Teilnehmer gebeten, über die spezifischen sensorischen Einzelheiten dieser Ereignisse zu berichten, beispielsweise in Form der Frage: »Kommt es vor, dass Ihnen plötzlich ein lebhaftes Bild dessen vor Augen steht, wie Ihr Mann an Ihrem Hochzeitstag aussah?« Die Antworten fielen immer negativ aus. »Oder erinnern Sie sich vielleicht noch daran, wie sich der Körper Ihres Mannes in Ihrer Hochzeitsnacht anfühlte?« (Auf diese Frage hin schauten uns einige Teilnehmer ziemlich merkwürdig an.) Wir fragten: »Kommt es vor, dass Sie sich lebhaft und genau an die Rede erinnern, die Sie zum Highschool-Abschluss gehalten haben?« – »Haben Sie manchmal starke Empfindungen, wenn Sie sich an die Geburt Ihres ersten Kindes erinnern?« Die Antworten waren in allen Fällen Verneinungen.

Dann befragten wir die Teilnehmer über die Traumata, derentwegen sie sich für die Studie gemeldet hatten – in vielen Fällen waren es Vergewaltigungen. »Kommt es vor, dass Sie sich plötzlich daran erinnern, wie der Vergewaltiger roch?« Und: »Haben Sie manchmal die gleichen körperlichen Empfindungen wie während der Vergewaltigung?« Fragen dieser Art riefen starke emotionale Reaktionen hervor: »Deshalb kann ich keine Partys mehr besuchen. Der Geruch von Alkohol im Atem eines Anwesenden löst in mir das Gefühl aus, ich könnte erneut vergewaltigt werden.« Oder: »Ich kann mit meinem Mann nicht mehr sexuell verkehren, denn wenn er mich auf eine bestimmte Art berührt, habe ich das Gefühl, wieder vergewaltigt zu werden.«

Zwischen den Äußerungen der Teilnehmer über ihre Erinnerungen an positive und traumatische Erlebnisse gab es zwei wichtige Unterschiede: (1) die Art, wie die Erinnerungen organisiert waren, und (2) ihre körperlichen Reaktionen auf die Erinnerungen. Hochzeiten, Geburten und Schulabschlüsse wurden als in der Vergangenheit liegende Ereignisse betrachtet, als Geschichte mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Kein Teilnehmer sagte, er hätte diese Ereignisse zeitweilig völlig vergessen.

Im Gegensatz dazu waren traumatische Erinnerungen desorganisiert. Unsere Untersuchungsteilnehmer erinnerten sich an einige Details nur zu klar (z. B. an den Geruch des Vergewaltigers oder an die klaffende Wunde auf der Stirn eines toten Kindes), konnten sich aber an die Ereignisfolge oder an andere wichtige Einzelheiten nicht erinnern (z. B. daran, wer als Erstes auftauchte, um zu helfen, oder daran, ob sie in einer Ambulanz oder einem Polizeiwagen zum Krankenhaus gebracht worden waren).

Wir fragten die Probanden auch, wie sie sich an ihr Trauma zu drei Zeitpunkten erinnert hätten: unmittelbar nach dem Geschehen, als sie mit ihren Symptomen die größten Schwierigkeiten gehabt hatten und in der Woche vor Beginn der Studie. Alle traumatisierten Teilnehmer sagten, sie seien unmittelbar nach dem Erlebnis nicht in der Lage gewesen, einem anderen Menschen genau zu schildern, was geschehen sei. (Dies würde wohl niemanden überraschen, der einmal in einer Notaufnahme oder in einem Ambulanzfahrzeug gearbeitet hat: Menschen, die nach einem Autounfall, bei dem eines ihrer Kinder oder ein Freund getötet wurde, in die Notaufnahme gebracht werden, sitzen meist völlig stumm da, sprachlos vor Entsetzen.) Fast alle hatten wiederholt Flashbacks gehabt: Sie waren von Bildern, Geräuschen, Empfindungen und Emotionen überwältigt worden. Im Laufe der Zeit wurden noch mehr Details und Gefühle reaktiviert, aber den meisten Teilnehmern gelang es allmählich, alle diese Informationen in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Sie fingen an zu »wissen«, was geschehen war, und sie konnten dies anderen in Form einer Geschichte erzählen, die wir »die Erinnerung an das Trauma« nennen.

Allmählich tauchten die Bilder und Flashbacks seltener auf, doch die wichtigste Verbesserung war, dass die Teilnehmer allmählich lernten, die Einzelheiten in einen Zusammenhang zu bringen und sie in der richtigen Reihenfolge anzuordnen. Gegen Ende unserer Studie waren 85 Prozent der Teilnehmer in der Lage, eine zusammenhängende Geschichte mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende zu erzählen. Nur wenigen fehlten noch wichtige Einzelheiten. Bei den fünf Teilnehmern, die angaben, sie seien als Kinder missbraucht worden, fielen die Erzählungen weiterhin am bruchstückhaftesten aus – ihre Erinnerungen manifestierten sich nach wie vor als Bilder, Körperempfindungen und starke Emotionen.

Im Grunde bestätigte unsere Studie das duale Gedächtnissystem, das Pierre Janet und seine Kollegen an der Salpêtrière schon vor über hundert Jahren beschrieben hatten: Traumatische Erinnerungen unterscheiden sich grundsätzlich von den Geschichten, die wir über die Vergangenheit erzählen. Sie sind dissoziiert: Die verschiedenen Empfindungen, die zum Zeitpunkt des Traumas das Gehirn erreichten, lassen sich nicht zu einer sinnvollen Geschichte, einem Teil der autobiografischen Erinnerung, verbinden.

Die vielleicht wichtigste Entdeckung im Rahmen unserer Studie war, dass das Erinnern eines Traumas mit allen damit verbundenen Affekten dieses nicht, wie Breuer und Freud im Jahre 1893 behauptet hatten, zwangsläufig auflösen. Unsere Untersuchung bestätigte nicht die Auffassung, dass die Sprache das Handeln ersetzen kann. Die meisten Teilnehmer unserer Studie konnten eine zusammenhängende Geschichte erzählen und den mit ihr verbundenen Schmerz erleben, wurden aber trotzdem weiter von unerträglichen Bildern und Körperempfindungen gequält. Untersuchungen über die heutige Expositionstherapie, eine Spezialität der kognitiv-behavioralen Therapie, sind zu ähnlich enttäuschenden Resultaten gelangt: Bei den meisten nach dieser Methode behandelten Patienten wurden drei Monate nach Behandlungsende weiterhin starke PTBS -Symptome beobachtet. 27 Wie wir sehen werden, kann es transformierend wirken, Worte für das Erlebte zu finden, aber dies reicht nicht immer aus, um die Flashbacks zu unterbinden oder die Konzentrationsfähigkeit zu verbessern, die Lebensfreude zu heben oder Hypersensibilität gegenüber Enttäuschungen und wahrgenommenen Verletzungen zu verringern.

Überlebenden zuhören

Niemand möchte sich an ein Trauma erinnern. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Gesellschaft nicht von den Traumatisierten selbst. Wir alle wollen in einer Welt leben, die sicher, beherrschbar und berechenbar ist, und Traumatisierte erinnern uns daran, dass dies nicht immer zutrifft. Um Traumata zu verstehen, müssen wir unseren natürlichen Widerwillen überwinden, uns mit dieser Realität auseinanderzusetzen, und wir müssen den Mut entwickeln, uns die Zeugnisse von Traumaüberlebenden anzuhören. In seinem Buch Holocaust Testimonies: The Ruins of Memory (1991) beschreibt Lawrence Langer seine Arbeit im Fortunoff Video Archive der Yale University : »Indem wir uns Berichte über Holocaust-Erlebnisse anhören, graben wir ein Mosaik von Beweisen aus, das ständig in bodenlose Schichten der Unvollständigkeit zu verschwinden droht. Wir ringen mit den Anfängen einer dauerhaft unbeendeten Geschichte, voller unvollständiger Abschnitte, konfrontiert mit dem Anblick eines stammelnden Zeugen, dessen Äußerungen angesichts des Andrängens überwältigender tiefer Erinnerungen oft zu einem schmerzlichen Schweigen verebben.« 28 Einer der Zeugen sagte: »Jemandem, der nicht dort war, zu beschreiben, was man erlebt hat, ist nur schwer möglich. Wie Menschen unter Stress funktionieren, ist eine Sache, und wenn man dies dann jemandem mitteilen will, der nicht die geringste Ahnung davon hat, dass eine solche Brutalität überhaupt möglich ist, kommt man dem Bereich der Fantasie leicht ziemlich nahe.«

Eine andere Überlebende, Charlotte Delbo, beschreibt ihre duale Existenz nach Auschwitz: »Das ›Selbst‹, das in jenem Lager war, das bin ich nicht, das ist nicht die Person, die Ihnen hier gegenübersitzt. Nein, das ist zu unglaublich. Und alles, was dieses andere ›Selbst‹ erlebt hat, dasjenige, das in Auschwitz war, berührt mich jetzt nicht, mich , es betrifft mich nicht, so unterschiedlich sind das tiefe Gedächtnis und das normale Gedächtnis … Ohne diese Trennung wäre es mir nicht möglich gewesen, ins Leben zurückzukehren.« 29 Sie erläutert, dass für sie sogar Worte eine duale Bedeutung haben: »Andernfalls könnte jemand, der [in den Lagern] wochenlang durch Durst gefoltert wurde, nie mehr sagen: ›Ich habe Durst. Lass uns einen Tee machen.‹ Durst ist [nach dem Krieg] wieder zu einem normal benutzten Begriff geworden. Wenn ich hingegen von dem Durst träume, den ich in Birkenau empfunden habe [wo die Tötungsanlagen des Lagers Auschwitz lagen], sehe ich mich so, wie ich damals war, ausgezehrt, ohne jede Vernunft, torkelnd.« 30

Langer kommt beschwörend zum Abschluss: »Wer vermöchte ein angemessenes Grab für solche beschädigten Mosaike des Geistes zu finden, in dem sie in Bruchstücken ruhen können? Das Leben geht weiter, aber es bewegt sich zeitlich in zwei Richtungen zugleich, wobei die Zukunft dem Würgegriff einer Erinnerung, die von Trauer erfüllt ist, nicht zu entfliehen vermag.« 31

Die Essenz des Traumas ist, dass es überwältigend, unglaublich und unerträglich ist. Wir müssen unsere eigene Auffassung darüber, was normal ist, bei jedem dieser Patienten außer Kraft setzen und akzeptieren, dass wir es mit einer dualen Realität zu tun haben: mit der Realität einer relativ sicheren und voraussehbaren Gegenwart, die Seite an Seite mit einer bruchstückhaften, ständig präsenten Vergangenheit lebt.

Nancys Geschichte

Nur wenige Patienten haben diese Dualität so anschaulich in Worte gefasst wie Nancy, die Leiterin der Krankenpflege in einem Krankenhaus im Mittleren Westen, die mehrmals zu Konsultationen zu mir nach Boston kam. Kurz nach der Geburt ihres dritten Kindes hatte Nancy sich einer normalerweise ambulant durchgeführten Routineoperation unterzogen, einer laparoskopischen Abbindung der Eileiter zur Verhinderung weiterer Schwangerschaften. Aufgrund einer unzureichenden Anästhesie war die Patientin jedoch nach Beginn der Operation aufgewacht und fast bis zu deren Ende in einem »leichten Schlaf« oder Traumzustand verblieben, wobei ihr die entsetzliche Realität dieser Situation zeitweise bewusst geworden war. Sie hatte das OP -Team nicht durch Bewegungen oder Schreien auf ihren Zustand aufmerksam machen können, weil man ihr wie üblich ein Muskelrelaxans gegeben hatte, um Muskelkontraktionen während der Operation zu verhindern.

Mittlerweile geht man davon aus, dass in den Vereinigten Staaten jährlich bei ungefähr 30 000 Operationen die Patienten den Zustand intraoperativer Wachheit (anesthesia awareness) erleben, 32 und ich hatte, bevor Nancy sich bei mir meldete, schon einige Male für Menschen, die durch solch ein Erlebnis traumatisiert worden waren, ein Gutachten erstellt. Doch Nancy wollte ihren Chirurgen oder Anästhesisten nicht verklagen. Ihr ging es einzig und allein darum, sich die Realität ihres Traumas bewusst zu machen, um sich von dessen Intrusionen im Alltagsleben befreien zu können. Ich werde zum Abschluss dieses Kapitels einige Passagen aus einer bemerkenswerten Serie von E-Mails zitieren, in denen Nancy ihren strapaziösen Weg zur Genesung beschreibt.

Anfangs war Nancy nicht klar, was mit ihr geschehen war.

Als wir nach Hause fuhren, war ich noch ziemlich benebelt. Ich tat dann die typischen Dinge, die man in einem Haushalt erledigen muss, ohne wirklich das Gefühl zu haben, dass ich lebendig war oder dass das, was geschah, real war. In der darauffolgenden Nacht hatte ich Schlafschwierigkeiten. Ich blieb tagelang in meiner eigenen kleinen separaten Welt. Ich konnte keinen Föhn, keinen Toaster, keinen Herd und auch kein anderes Gerät, das Wärme erzeugte, benutzen. Ich konnte mich nicht auf das konzentrieren, was andere Menschen taten oder zu mir sagten. Mir war all das einfach gleichgültig. Und ich wurde immer ängstlicher. Und schlief immer weniger. Mir war klar, dass ich mich merkwürdig verhielt, und ich bemühte mich immer wieder zu verstehen, was mir solche Angst machte.

In der vierten Nacht nach der Operation wurde mir gegen 3.00 Uhr morgens klar, dass der Traum, in dem ich die ganze Zeit über gelebt hatte, mit den Gesprächen zusammenhing, die ich im OP -Saal gehört hatte. Plötzlich fühlte ich mich dorthin zurückversetzt, und ich spürte, wie mein gelähmter Körper versengt wurde. Ich versank in einer Welt des Entsetzens und Schreckens.

Von diesem Zeitpunkt an, so sagte Nancy, tauchten Erinnerungsfragmente und Flashbacks in ihrem Leben auf.

Es war, als sei eine Tür einen Spaltbreit geöffnet worden und hätte so das Eindringen der Erinnerungen ermöglicht. Ich empfand eine Mischung aus Neugier und dem Wunsch zu vermeiden. Die irrationalen Ängste hielten weiter an. Ich fürchtete mich sehr vor dem Schlaf; und wenn ich irgendwo die Farbe Blau sah, überfiel mich tiefes Entsetzen. Leider war mein Mann der Hauptleidtragende meiner Probleme. Ich fuhr ihn viele Male an, obwohl ich das wirklich nicht wollte. Ich schlief höchstens zwei bis drei Stunden pro Nacht, und tagsüber erlebte ich buchstäblich stundenlang Flashbacks. Ich blieb chronisch überwach, fühlte mich von meinen eigenen Gedanken bedroht und wollte ihnen entfliehen. Ich habe in dieser Zeit innerhalb von drei Wochen 20 Pfund abgenommen. Immer wieder machten Bekannte mir Komplimente, ich sähe großartig aus.

Ich fing an, über den Tod nachzudenken. Ich entwickelte eine sehr verzerrte Sicht meines Lebens, die alle meine Erfolge verkleinerte und frühere Misserfolge vergrößerte. Ich verletzte meinen Mann immer wieder und stellte fest, dass ich auch meine Kinder nicht vor meiner Wut schützen konnte.

Drei Wochen nach der Operation ging ich wieder zur Arbeit ins Krankenhaus. Als ich das erste Mal jemanden in einem Operationskittel sah, befand ich mich im Aufzug. Ich hatte das Bedürfnis, die Kabine sofort zu verlassen, aber das war natürlich nicht möglich. Dann überkam mich der irrationale Drang, diese Person zu verprügeln, doch gelang es mir, wenn auch mit großer Mühe, diesen Drang zu unterdrücken. Diese Episode hatte eine anschwellende Flut von Flashbacks, Entsetzen und dissoziativen Tendenzen zur Folge. Auf dem ganzen Heimweg von der Arbeit weinte ich. Nach diesem Erlebnis wurde ich sehr geschickt im Vermeiden. Ich betrat nie mehr einen Aufzug, ging nie in die Cafeteria und hielt mich von den Fluren der chirurgischen Abteilung fern.

Allmählich gelang es Nancy, sich auf ihre Flashbacks einen Reim zu machen und aus den Bruchstücken eine verständliche, wenn auch erschreckende Erinnerung an ihre Operation zusammenzusetzen. Sie erinnerte sich an die beruhigenden Worte der OP -Schwestern und an eine kurze Periode des Schlafs, nachdem die Anästhesie eingeleitet worden war. Dem folgte die Erinnerung daran, wie sie allmählich aufgewacht war.

Das gesamte OP -Team lachte über eine Affäre, die eine der Schwestern gerade hatte. Zur gleichen Zeit führte der Operateur den ersten Schnitt aus. Ich spürte den Stich des Skalpells, dann das Schneiden und dann das warme Blut, das über meine Haut strömte. Ich versuchte verzweifelt, mich zu bewegen und zu sprechen, aber mein Körper funktionierte einfach nicht. Ich verstand das nicht. Ich spürte immer tieferen Schmerz, während die verschiedenen Muskelschichten sich durch die ihnen eigene Anspannung auseinanderzogen. Mir war klar, dass ich dies alles eigentlich nicht hätte spüren sollen.

Das Nächste, woran Nancy sich erinnerte, war, dass jemand in ihrem Bauch »herumwühlte«, und ihr wurde klar, dass in diesem Moment die Instrumente für die Laparoskopie in Stellung gebracht wurden. Sie spürte, wie ihr linker Eileiter abgeklemmt wurde.

Plötzlich war da ein starker sengender, brennender Schmerz. Ich versuchte zu entfliehen, doch der Spitze des Kauters war nicht zu entkommen. Das Brennen wollte nicht aufhören. Wie entsetzlich dieses Erlebnis war, lässt sich nicht beschreiben. Der Schmerz war mit nichts zu vergleichen, was ich bisher als Schmerz kennengelernt hatte und womit ich irgendwie fertiggeworden war, beispielsweise bei einem Knochenbruch oder bei einer natürlichen Geburt. Der Schmerz einer solchen OP beginnt wie ein extrem starker Schmerz, der einfach nicht aufhört, während das Gerät allmählich den Eileiter versengt. Neben diesem gigantischen Schmerz verblasste sogar der Schmerz eines Schnitts mit einem Skalpell.

Dann plötzlich spürte ich, dass die Spitze des Kauters beim rechten Eileiter ansetzte. Als ich das OP -Team wieder lachen hörte, verlor ich kurz den Überblick darüber, wo ich mich befand. Ich glaubte, in einer Folterkammer zu sein, und ich verstand nicht, warum ich gefoltert wurde, ohne dass irgendjemand auch nur den Versuch machte, mir irgendwelche Informationen abzupressen … Meine Welt verengte sich auf den kleinen Bereich rund um den OP -Tisch. Ich hatte kein Zeitgefühl, und es gab für mich weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft. Es gab nur Schmerz, Schrecken und Entsetzen. Ich fühlte mich von allen anderen Menschen isoliert, völlig allein, obwohl sich eine ganze Gruppe von Menschen in nächster Nähe befand. Der Raum um mich wurde immer kleiner.

In meiner Qual muss ich mich wohl doch ein wenig bewegt haben. Ich hörte die Anästhesieschwester zum Anästhesisten sagen, ich sei »leicht«. Er ordnete an, die Dosis des Narkosemittels zu erhöhen, und sagte dann ganz ruhig: »Das braucht nicht in der Akte erwähnt zu werden.« Das ist die letzte Szene, an die ich mich erinnere.

In ihren späteren E-Mails an mich mühte Nancy sich damit ab, die existenzielle Realität des Traumas zu erfassen.

Ich möchte Ihnen schildern, wie es ist, einen Flashback zu erleben. Es ist so, als wäre die Zeit gefaltet oder verzerrt, sodass Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen, als wäre ich physisch in die Vergangenheit befördert worden. Symbole, die in einer Beziehung zum traumatischen Erlebnis stehen, so positiv sie in der Realität auch sein mögen, werden völlig kontaminiert und so zu Objekten, die gehasst, gefürchtet und möglichst zerstört oder zumindest vermieden werden. Beispielsweise wurde ein Eisen in jeder Form – ganz gleich, ob es beispielsweise ein Spielzeug, ein Bügeleisen oder eine Brennschere war, in meinen Augen zu einem Folterinstrument. Jede Begegnung mit einem OP -Kittel bewirkte, dass ich in einen Zustand der Dissoziation und Verwirrung verfiel, mich körperlich krank fühlte und manchmal sogar bewusst wütend wurde.

Meine Ehe ist allmählich zerbrochen – mein Mann repräsentierte für mich jene herzlos lachenden Menschen [das OP -Team], die mich verletzt hatten. Ich befinde mich in einem dualen Zustand. Eine umfassende Taubheit umhüllt mich wie eine Decke; und doch vermag mich die Berührung eines kleinen Kindes zurück in die Welt zu ziehen. Dann bin ich für einen Augenblick präsent und nehme am Leben teil, bin also nicht mehr nur eine Beobachterin.

Interessant ist auch, dass ich meine beruflichen Aufgaben sehr gut erledige und dass ich ständig positives Feedback erhalte. Doch mich begleitet ständig das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt.

Diese duale Existenz hat etwas Fremdes, Bizarres. Sie ermüdet mich. Aber ich kann nicht aufgeben, und ich kann mir auch nicht vormachen, die Bestie werde verschwinden, wenn ich sie einfach ignorierte. Ich habe schon oft gedacht, dass ich mich nun an alle mit der OP zusammenhängenden Ereignisse erinnert hätte, und dann habe ich wieder etwas Neues entdeckt.

Noch viele Details jener 45 Minuten meines Lebens sind mir unbekannt. Meine Erinnerungen sind immer noch unvollständig und bruchstückhaft, aber ich bin jetzt nicht mehr der Meinung, dass ich alle Einzelheiten herausfinden muss, um zu verstehen, was geschehen ist.

Wenn die Angst nachlässt, merke ich, dass ich mit der Situation fertigwerden kann, obwohl ein Teil von mir dies immer noch bezweifelt. Der Sog der Vergangenheit ist sehr stark; dies ist die dunkle Seite meines Lebens; und ich muss mich von Zeit zu Zeit dorthin begeben. Der Kampf könnte auch eine Art sein, mein Überleben zu sichern – eine Reinszenierung des Kampfes um das Überleben, den ich zwar offensichtlich gewonnen habe, ohne dass ich dies jedoch anerkennen kann.

Ein frühes Zeichen für die sich anbahnende Genesung wurde erkennbar, als Nancy sich erneut einer Operation unterziehen musste, diesmal einer wesentlich schwereren. Sie entschied sich, den Eingriff in einem Krankenhaus in Boston vornehmen zu lassen, und bat die Chirurgen und Anästhesisten um ein Gespräch vor der Operation, um sie darüber zu informieren, was sie erlebt hatte; außerdem bat sie mich, während der Operation im OP -Saal zu sein. Bei dieser Gelegenheit zog ich mir zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder einen OP -Kittel an und begleitete sie dann in den OP -Saal, während die Anästhesie eingeleitet wurde. Diesmal empfand sie nach dem Aufwachen aus der Narkose ein Gefühl der Sicherheit.

Zwei Jahre später schrieb ich an Nancy, um sie um Erlaubnis zu bitten, ihre Beschreibung in diesem Kapitel zitieren zu dürfen. In ihrer Antwort berichtete sie mir über die weitere Entwicklung ihrer Genesung:

Ich wünschte, sagen zu können, dass die OP , bei der Sie mich freundlicherweise begleitet haben, mein Leiden beendet hätte. Aber das war leider nicht der Fall. Ungefähr sechs Monate danach traf ich zwei Entscheidungen, die sich als heilsam erwiesen. Ich verließ meinen kognitiv-behavioral orientierten Therapeuten und arbeite seither mit einem psychodynamisch orientierten Psychiater, und ich habe angefangen, regelmäßig Pilates zu üben.

Im letzten Monat der Therapie fragte ich den Psychiater, weshalb er nicht versuche, mich zu »reparieren«, so wie alle anderen Therapeuten es, wenn auch ohne Erfolg, versucht hätten. Er erklärte mir daraufhin, in Anbetracht meiner Erfolge hinsichtlich der Erziehung meiner Kinder und meiner beruflichen Position nehme er an, meine Resilienz reiche für die Selbstheilung aus, wenn es ihm gelänge, für mich eine haltende Umgebung zu kreieren. Die Stunde, die ich jede Woche bei ihm verbrachte, wurde für mich zu einer Zuflucht, einer Zeit, in der ich mich der Entschlüsselung des Geheimnisses, wie ich so sehr geschädigt worden war, widmen konnte, und wo ich anschließend das Gefühl, ein Ganzes zu sein, wiederherstellen konnte, keine Ansammlung von Bruchstücken, friedvoll, nicht gefoltert. Pilates stärkte mein physisches Zentrum, und ich fand eine Gruppe von Frauen, die mir bereitwillig das Gefühl gaben, akzeptiert und unterstützt zu werden, das ich seit dem traumatischen Erlebnis vermisst hatte. Diese Stärkung meines psychischen, sozialen und physischen Zentrums erzeugte bei mir ein Gefühl persönlicher Sicherheit und der Meisterung, verbannte meine Erinnerungen in die ferne Vergangenheit und ermöglichte es der Gegenwart und Zukunft, wieder aufzutauchen und den ihnen gebührenden Platz einzunehmen.