Gib Worte deinem Schmerz. Gram, der nicht spricht,
Presst das beladne Herz, bis dass es bricht.
William Shakespeare,
Macbeth,
Akt IV, 4. Auftritt
(übers. Dorothea Tieck)
Wir können es kaum ertragen hinzuschauen. Der Schatten könnte das Beste des Lebens, das wir nicht gelebt haben, beinhalten. Geh in den Keller, auf den Speicher, zur Mülltonne. Finde dort Gold. Finde ein Tier, das nicht gefüttert und getränkt worden ist. Das bist du! Dieses vernachlässigte, verbannte Tier, hungrig nach Aufmerksamkeit, ist ein Teil von dir selbst.
Marion Woodman
Im September 2001 organisierten unter anderem die National Institutes of Health , Pfizer Pharmaceuticals und die New York Times Company Foundation Expertenforen, die Empfehlungen für die bestmögliche Behandlung der Menschen geben sollten, die durch die Angriffe auf das World Trade Center traumatisiert worden waren. Weil die Wirkung vieler häufig benutzter Traumainterventionen nie sorgfältig auf der Grundlage von Zufallsstichproben (im Gegensatz zur Orientierung an Patientengruppen, die sich um psychotherapeutische Hilfe bemüht hatten) untersucht worden war, hielt ich dies für eine außergewöhnliche Gelegenheit, die Wirksamkeit verschiedener Behandlungsansätze zu vergleichen. Meine Kollegen standen dieser Möglichkeit deutlich reservierter gegenüber, mit dem Ergebnis, dass die Komitees nach langen Debatten nur zwei Behandlungsformen empfahlen: eine psychoanalytisch orientierte Therapie und eine kognitiv-behaviorale Behandlung. Warum die analytische Redetherapie? Weil Manhattan eine der letzten Bastionen der freudschen Psychoanalyse ist, wäre es politisch äußerst unklug gewesen, einen beträchtlichen Teil der ortsansässigen Psychotherapeuten auszuschließen. Und warum die KBT ? Weil sich die Verhaltenstherapie in konkrete Schritte unterteilen und zu verbindlichen Protokollen »manualisieren« lässt, ist sie die beliebteste Behandlungsform akademischer Forscher – und das ist ebenfalls eine Gruppe, die man besser nicht übergeht. Nachdem diese Empfehlungen ausgesprochen worden waren, warteten wir ab, ob die New Yorker den Weg in die Praxen der Therapeuten finden würden. Doch fast niemand tauchte bei ihnen auf.
Dr. Spencer Eth, der damals die psychiatrische Abteilung des mittlerweile nicht mehr existierenden St. Vincent Hospital in Greenwich Village leitete, war neugierig, bei wem die Traumatisierten Hilfe gesucht hatten. Deshalb befragte er Anfang 2002 mit einigen Medizinstudenten 225 Personen, die dem Zusammensturz der Zwillingstürme entronnen waren. Auf die Frage, was ihnen am meisten geholfen habe, die Nachwirkungen ihres Erlebnisses zu überwinden, nannten die Befragten Akupunktur, Massage, Yoga und EMDR in dieser Reihenfolge. 1 Bei den Rettungshelfern waren Massagen besonders beliebt. Den Ergebnissen von Eths Umfrage war zu entnehmen, dass die nützlichsten Interventionen auf die Linderung der durch das Trauma entstandenen körperlichen Belastungen zielten. Die Diskrepanz zwischen dem Empfinden der Überlebenden und den Expertenempfehlungen war verblüffend. Natürlich wissen wir nicht, wie viele der Traumatisierten sich schließlich doch einer der herkömmlicheren Therapien unterzogen. Doch ihr offensichtlich mangelndes Interesse an einer Redetherapie wirft eine grundsätzliche Frage auf: Ist es überhaupt in irgendeiner Hinsicht von Nutzen, über ein Trauma zu reden?
Die unaussprechliche Wahrheit
Therapeuten setzen unerschöpfliches Vertrauen in die Möglichkeit, ein Trauma durch Reden aufzulösen. Dieses Vertrauen geht auf das Jahr 1893 zurück, in dem Freud (zusammen mit seinem Mentor Breuer) schrieb, dass das Trauma [bzw. »die einzelnen hysterischen Symptome«] »sogleich und ohne Wiederkehr verschwand […], wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab«. 2
Leider ist es nicht so einfach: Traumatisierten ist es so gut wie unmöglich, traumatische Ereignisse in Worte zu fassen. Dies gilt für uns alle, nicht nur für Menschen, die unter einer PTBS leiden. Die anfänglichen Eindrücke, welche die Ereignisse des 11. Septembers 2001 hervorriefen, waren keine Erzählungen, sondern Bilder: Menschen, die hektisch eine Straße entlangliefen, deren Gesichter mit Asche bedeckt waren; ein Flugzeug, das in den ersten der beiden Zwillingstürme flog und explodierte; entfernte Punkte, die Hand in Hand aus dem Hochhaus springende Menschen waren. Diese Bilder wurden in unserem Geist und im Fernsehen ständig wiederholt, bis Bürgermeister Giuliani und die Medien uns halfen, eine Erzählung zu entwickeln, die uns ermöglichte, uns mit anderen über das Geschehene zu verständigen.
In seinem Buch Die sieben Säulen der Weisheit schreibt T. E. Lawrence über seine Kriegserlebnisse: »Wir hatten erfahren, dass es Erschütterungen gab, die allzu übermächtig, Leid, das allzu tief, Ekstasen, die allzu hoch waren für unser sterbliches Ich, um überhaupt verzeichnet werden zu können. Wenn das Gefühl diesen Gipfel erreicht hatte, setzte das Gedächtnis aus, und der Verstand lief leer, bis wieder die Alltäglichkeit Platz gegriffen hatte.« 3 Während das Trauma uns sprachlos werden lässt, ist der Weg aus ihm heraus mit Worten gepflastert, die, sorgsam Stück für Stück zusammengestellt, schließlich eine mitteilbare Geschichte ergeben.
Das Schweigen brechen
Aktivisten einer frühen Aids-Kampagne, die die Öffentlichkeit auf das Problem aufmerksam machen sollte, erfanden den prägnanten Slogan »Schweigen = Tod«. Auch das Schweigen angesichts eines Traumas führt zum Tod – zum Tod der Seele. Schweigen verstärkt die entsetzliche Isolation, die oft mit einem Trauma verbunden ist. Wenn ein Mensch einem anderen mitteilen kann: »Ich bin vergewaltigt worden« oder: »Ich bin von meinem Mann verprügelt worden« oder: »Meine Eltern haben es Disziplinierung genannt, aber es war Misshandlung« oder: »Seit ich aus dem Irak zurück bin, komme ich mit meinem Leben nicht mehr zurecht«, dann zeigt das, dass die Heilung beginnen kann.
Wir mögen glauben, dass wir unsere Trauer, unseren Schrecken oder unsere Scham unter Kontrolle halten können, indem wir über das Erlebte schweigen, aber wenn wir darüber sprächen, hätten wir die Möglichkeit, eine andere Art von »Kontrolle« darüber zu entwickeln. Als Adam, wie es im Buch Genesis der Bibel heißt, die Verantwortung für das Tierreich übertragen wurde, gab er als Erstes jedem Lebewesen einen Namen.
Wenn wir verletzt sind, müssen wir zunächst anerkennen und benennen, was geschehen ist. Ich weiß dies aus persönlicher Erfahrung: Solange ich keine Möglichkeit sah, mir selbst einzugestehen, wie es für mich war, wenn mein Vater mich wegen der unterschiedlichsten Vergehen, deren ein dreijähriges Kind fähig ist, im Keller unseres Hauses einsperrte, war ich unablässig damit beschäftigt, dass ich verbannt und verlassen worden war. Erst als ich darüber sprechen konnte, wie dieser kleine Junge sich fühlte, erst als ich ihm vergeben konnte, dass er so verängstigt und unterwürfig gewesen war, wie er es nun einmal war, konnte ich meine eigene Gesellschaft genießen. Wenn wir das Gefühl haben, dass man uns zuhört und uns versteht, verändert sich unsere Physiologie; wenn wir ein komplexes Gefühl artikulieren können und wenn andere Menschen unsere Gefühle anerkennen, leuchtet unser limbisches Gehirn auf und kreiert einen »Aha-Moment«. Begegnet man uns hingegen mit Schweigen und Unverständnis, so tötet dies unsere Seele.
Wenn Sie vor sich selbst verbergen, dass ein Onkel Sie in sehr jungen Jahren sexuell belästigt hat, sind Sie für die Reaktion auf Trigger so anfällig wie ein Tier in einem Gewitter: Ihr Körper reagiert dann auf die Ausschüttung von Hormonen, die »Gefahr« signalisieren. Wenn Ihnen der Kontext Ihrer Empfindungen nicht bewusst ist und Sie das Erlebte auch nicht sprachlich ausdrücken können, kann es sein, dass sich Ihr Gewahrsein auf »Ich habe Angst« beschränkt. Aber weil Sie fest entschlossen sind, Ihre Situation unter Kontrolle zu behalten, meiden Sie wahrscheinlich alles und jeden, was oder der Sie auch nur vage an Ihr Trauma erinnert. Außerdem pendeln Sie möglicherweise zwischen Gehemmtheit und Aufgebrachtheit einerseits und Reaktivität und Explosivität andererseits – und zwar ohne zu wissen, warum.
Solange Sie Geheimnisse hegen und Informationen unterdrücken, befinden Sie sich im Krieg gegen sich selbst. Zentrale Gefühle zu verbergen kostet Sie enorm viel Energie, raubt Ihnen die Motivation, Ziele zu verfolgen, die Ihnen als erstrebenswert erscheinen, und hinterlässt Sie mit einem Gefühl der Langeweile und der Isolation von der Welt. Unterdessen überfluten Stresshormone Ihren Körper, erzeugen Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Verdauungsprobleme oder sexuelle Dysfunktionen – und Ihre irrationalen Verhaltensweisen sind Ihnen selbst peinlich und verletzen die Menschen in Ihrer Umgebung. Erst wenn Ihnen die Ursache dieser Reaktionen klar geworden ist, können Sie Ihre Gefühle als Signale für Probleme erkennen, um deren Lösung Sie sich dringend kümmern müssten.
Die innere Wirklichkeit zu ignorieren schädigt auch das Selbstempfinden, die Identität und das Streben nach der Verwirklichung von Zielen. Die klinische Psychologin Edna Foa und ihre Kollegen haben das Posttraumatic Cognitions Inventory entwickelt, mit dessen Hilfe man feststellen kann, wie Patienten über sich selbst denken. 4 Zu den Symptomen einer PTBS zählen oft Äußerungen wie: »Ich fühle mich innerlich tot«, »Ich werde nie wieder normale Emotionen empfinden können«, »Ich habe mich dauerhaft zum Schlechteren verändert«, »Ich fühle mich wie ein Objekt, nicht wie eine Person«, »Ich habe keine Zukunft« und »Ich habe das Gefühl, ich kenne mich selbst nicht mehr«.
Entscheidend ist, dass wir uns selbst wissen lassen, was wir wissen. Das setzt großen Mut voraus. In dem Buch Was es heißt, in den Krieg zu ziehen ringt der Vietnamveteran Karl Marlantes mit seinen Erinnerungen daran, dass er einer unglaublich erfolgreichen Einheit der Marines angehörte, und er beschäftigt sich mit der entsetzlichen Spaltung, die er in sich selbst vorfand:
Mein Problem war, dass mir das jahrelang nicht bewusst gewesen ist, obwohl dieser Riss geheilt werden musste. Bei meiner Rückkehr gab es niemanden, der mich darauf aufmerksam gemacht hätte. … Ein Teil von mir liebt es, Menschen zu verstümmeln, zu töten, zu foltern. Dieser Teil ist nicht mein ganzes Ich. Ich habe andere Teile, die das genaue Gegenteil davon sind und auf die ich stolz sein kann. Bin ich also ein Mörder? Nein, aber ein Teil von mir ist es. Empfinde ich Schrecken und Trauer, wenn ich in der Zeitung von einem missbrauchten Kind lese? Ja. Aber bin ich nicht auch […] fasziniert von diesem Verbrechen …? 5
Wie Marlantes uns erklärt, erforderte sein Weg zur Genesung, dass er lernte, die Wahrheit zu sagen, auch wenn diese Wahrheit brutal schmerzhaft war.
Tod, Zerstörung und Kummer müssen ständig gerechtfertigt werden, wenn Leiden keinen übergeordneten Sinn hat. Fehlt dieser, so bringt dies Menschen dazu, sich Dinge auszudenken, zu lügen und die Sinnlücke zu füllen. 6
Zudem war ich unfähig, jemandem von dem, was da in mir vorging, zu erzählen, und so bekämpfte ich die Bilder in mir über Jahre. Ich begann, diesen Riss in mir erst richtig in mein Bewusstsein zu übernehmen, als ich tatsächlich anfing, mir diesen Jungen als meinen eigenen Sohn vorzustellen. Daraus entstand eine überwältigende Traurigkeit – und ein Heilungsprozess. Die Traurigkeit, den Zorn und all die anderen beschriebenen Gefühle mit den jeweiligen Taten zu verbinden, sollte für alle Soldaten, die jemanden von Angesicht zu Angesicht getötet haben, zum Standard werden. Dazu ist keine komplizierte psychologische Ausbildung nötig. Bildet eine Gruppe um einen Kameraden, der ein paar Tage Training in Gruppenführung hatte, und ermutigt euch gegenseitig zu reden. 7
Das eigene Entsetzen in einen Sinnzusammenhang zu stellen und mit anderen darüber zu kommunizieren kann Menschen das Gefühl zurückgeben, dem Menschengeschlecht anzugehören. Wenn sich die Vietnamveteranen, die ich behandelte, einer Therapiegruppe anschlossen, in der sie mit anderen über die Gräueltaten, die sie miterlebt oder begangen hatten, reden konnten, berichteten sie, dass sich ihr Herz ihren Freundinnen gegenüber öffne.
Das Wunder der Selbstentdeckung
Die Entdeckung unserer selbst mit sprachlichen Mitteln ist immer eine Offenbarung, selbst wenn es qualvoll ist, Worte zur Beschreibung der inneren Wirklichkeit zu finden. Deshalb empfinde ich Helen Kellers Bericht darüber, wie sie »in die Sprache hineingeboren« 8 wurde, als so inspirierend.
Als Helen 19 Monate alt war und gerade zu sprechen anfing, raubte ihr eine Virusinfektion die Seh- und Hörfähigkeit. Dieses vorher so liebenswerte und lebendige Kind verwandelte sich, da es nun taub, blind und stumm war, in eine unbändige und isolierte Kreatur. Nach fünf Jahren der Verzweiflung lud ihre Familie eine selbst teilweise blinde Lehrerin, Anne Sullivan aus Boston, ein, die Helen unterrichten sollte. Anne brachte Helen sofort das Fingeralphabet bei, indem sie Wörter Buchstabe für Buchstabe mit ihrer Hand übermittelte; es dauerte zehn Wochen, bis sie mit ihren Bemühungen, eine Verbindung zu diesem wilden Kind herzustellen, einen Durchbruch erzielte. Er trat ein, als Anne mit einer Hand das Wort »Wasser« in eine von Helens Händen buchstabierte, während sie ihre andere Hand unter fließendes Wasser hielt.
Helen erinnerte sich später in ihrem Buch The Story of My Life ( dt.: Mein Weg aus dem Dunkel): »Wasser! Dieses Wort rüttelte meine Seele auf, und sie erwachte, erfüllt von der Tatkraft des Morgens. […] Bis zu jenem Tag hatte mein Geist einem abgedunkelten Raum geähnelt, der darauf wartete, dass Worte in ihn eindringen und das Licht des Denkens entzünden würden. Ich lernte an jenem Tag viele Wörter.«*
* Die Übersetzung der Keller-Zitate folgt den englischen Originalausgaben, Anm. d. Übers.
Indem das Kind Namen von Dingen erlernte, wurde es ihm nicht nur möglich, eine innere Repräsentation der unsichtbaren und unhörbaren physischen Wirklichkeit, die es umgab, zu entwickeln, sondern auch, sich selbst zu finden: Sechs Monate später fing Helen an, sich mit der ersten Person Singular zu bezeichnen: »Ich«.
Helens Geschichte erinnert mich an die missbrauchten, misshandelten, aufsässigen und unkommunikativen Kinder, die wir in unseren stationären Behandlungsprogrammen kennenlernen. Bevor sie lernte, sich sprachlich auszudrücken, war sie verwirrt und egozentrisch gewesen – rückblickend nannte sie die, die sie einmal war, »Gespenst«. Tatsächlich wirken auch die Kinder in unseren Behandlungsprogrammen wie Gespenster, bis sie entdecken, wer sie sind, und sich sicher genug fühlen, um mitzuteilen, was in ihnen vor sich geht.
In einem späteren Buch, The World I Live In ( dt.: Meine Welt), beschrieb Helen Keller erneut ihren Weg zur Selbstentdeckung: »Bevor meine Lehrerin zu mir kam, wusste ich nicht, dass ich bin. Ich lebte in einer Welt, die eine Nicht-Welt war. […] Ich verfügte weder über einen Willen noch über einen Intellekt. […] Ich kann mich an all dies erinnern, nicht weil ich wusste, dass dies so war, sondern weil ich ein taktiles Gedächtnis habe. Deshalb kann ich mich daran erinnern, dass ich beim Denken nie die Stirn gerunzelt habe.« 9
Helen hatte ihre »taktilen« Erinnerungen – Erinnerungen, die nur auf Berührung basierten – niemandem mitteilen können. Doch die Sprache hatte ihr die Möglichkeit erschlossen, Teil einer Gemeinschaft zu werden. Im Alter von acht Jahren, als Helen mit Anne nach Boston in die Perkins Institution for the Blind reiste (wo Anne Sullivan selbst unterrichtet worden war), gelang es ihr zum ersten Mal, mit anderen Kindern zu kommunizieren. Sie schreibt darüber: »Was für ein Glück! Frei mit anderen Kindern reden zu können! Sich in der großen Welt zu Hause zu fühlen!«
Wie Helen mithilfe von Anne Sullivan die Sprache entdeckte, erfasst die Essenz einer therapeutischen Beziehung: Worte zu finden, wo vorher keine Worte waren, und mit ihrer Hilfe einem anderen Menschen den eigenen tiefsten Schmerz und die tiefsten Gefühle mitteilen zu können. Dies ist eines der tiefsten Erlebnisse, die wir haben können, und eine solche Resonanz, die ermöglicht, bisher unausgesprochene Wörter zu entdecken, zu äußern und aufzunehmen, ist für die Heilung des für Traumata charakteristischen isolierten Zustandes grundlegend – insbesondere wenn andere Menschen uns in unserem Leben ignoriert oder zum Schweigen gebracht haben. Ungehinderte und schrankenlose Kommunikationsfähigkeit ist das Gegenteil des traumatisierten Zustandes.
Sich selbst kennen oder die eigene Geschichte erzählen? Unser System dualen Gewahrseins
Jeder, der mit einer Redetherapie beginnt, wird fast augenblicklich mit der Begrenztheit der Sprache konfrontiert. So ist es auch mir in meiner Psychoanalyse ergangen. Es fällt mir zwar leicht zu reden, und ich kann interessante Geschichten erzählen, aber mir wurde schnell klar, wie schwer es ist, tiefe Gefühle zu empfinden und gleichzeitig einem anderen Menschen über sie zu berichten. Konfrontiert mit den intimsten, schmerzhaftesten und verwirrendsten Augenblicken meines Lebens, sah ich mich oft gezwungen, mich entweder auf das innere Wiedererleben alter Szenen zu konzentrieren und zu spüren, was ich damals empfunden hatte, oder meinem Analytiker logisch und kohärent zu berichten, was mir in den Sinn kam. Entschied ich mich für Letzteres, verlor ich rasch den Kontakt zu mir und konzentrierte mich auf die Meinung des Analytikers über das, was ich ihm berichtete. Schon der geringste Anflug von Zweifel seinerseits und die unscheinbarste urteilende Bemerkung von ihm ließen mich verstummen, mit der Folge, dass ich meine Aufmerksamkeit darauf konzentrierte, seine Billigung zurückzuerobern.
Die neurowissenschaftliche Forschung hat herausgefunden, dass wir über zwei Formen von Selbstgewahrsein verfügen: Die eine verfolgt unser Leben im Zeitkontinuum, die andere erfasst es im gegenwärtigen Augenblick. Die erste, unser autobiografisches Selbst, stellt Beziehungen zwischen Erlebnissen her und verbindet sie zu einer zusammenhängenden Geschichte. Dieses System basiert auf der Sprache. Unsere Erzählungen verändern sich durch das Erzählen, so wie sich unsere Perspektive durch die Einbeziehung neuen Inputs verändert.
Das andere System, unser Selbstgewahrsein von Augenblick zu Augenblick, basiert hauptsächlich auf körperlichen Empfindungen, doch wenn wir uns sicher fühlen und uns niemand drängt, können wir Worte finden, um auch diese Art des Erlebens anderen mitzuteilen. Die beiden Arten der Selbstkenntnis sind in verschiedenen Gehirnbereichen lokalisiert, zwischen denen so gut wie keine Verbindung besteht. 10 Nur das im medialen Präfrontalkortex lokalisierte, Selbstgewahrsein vermittelnde System kann das emotionale Gehirn verändern.
In den Veteranengruppen, die ich einmal geleitet habe, konnte ich die Aktivität dieser beiden Systeme manchmal nebeneinander beobachten. Die Soldaten erzählten entsetzliche Geschichten über Tod und Zerstörung, doch ihr Körper strahlte gleichzeitig Stolz und Zugehörigkeit aus. Auch viele meiner Patienten berichten von glücklichen Familien, in denen sie aufwuchsen, während ihr Körper zusammengesackt dasitzt und ihre Stimme verängstigt und angespannt klingt. Das eine System entwickelt eine für die Öffentlichkeit bestimmte Geschichte, und wenn wir diese oft genug erzählen, glauben wir wahrscheinlich irgendwann selbst, dass sie die ganze Wahrheit enthält. Doch das andere System registriert eine andere Wahrheit: wie wir die betreffende Situation tief innen erleben. Das zweite System muss erschlossen, freundlich gestimmt und versöhnt werden.
Kürzlich interviewte ich in meinem Lehrkrankenhaus zusammen mit einer Gruppe angehender psychiatrischer Fachärzte im Rahmen einer Evaluation nach einem Suizidversuch eine junge Frau, die unter einer Schläfenlappenepilepsie litt. Die Assistenzärzte stellten der Patientin die üblichen Fragen über ihre Symptome, die Medikamente, die sie einnahm, wie alt sie zum Zeitpunkt der Diagnose gewesen sei und warum sie versucht habe, sich umzubringen. Sie antwortete mit kraftloser Stimme und sehr sachlich: Sie sei zum Zeitpunkt der Diagnose fünf Jahre alt gewesen. Sie hatte ihre Arbeit verloren; ihr war klar, dass sie die Krankheit vorgetäuscht hatte; und sie fühlte sich wertlos. Aus irgendeinem Grund fragte einer der Assistenzärzte, ob sie sexuell missbraucht worden sei. Die Frage überraschte mich, denn die Patientin hatte keinerlei Hinweise darauf gegeben, dass sie Probleme mit Intimität oder Sexualität hatte, und ich fragte mich, ob der Arzt mit seiner Frage irgendwelche privaten Interessen verfolgte.
Doch die Geschichte unserer Patientin erklärte nicht, weshalb sie nach dem Verlust ihrer Arbeit zusammengebrochen war. Deshalb fragte ich sie, wie es für sie als fünfjähriges Kind gewesen sei, zu hören, dass in ihrem Gehirn etwas nicht in Ordnung sei. Weil ihr auf Anhieb keine Antwort einfiel, zwang die Frage sie, in sich hineinzuhorchen. Sie erzählte kleinlaut, das Schlimmste an der Diagnose sei gewesen, dass ihr Vater danach nichts mehr mit ihr hätte zu tun haben wollen: »Von diesem Augenblick an sah er mich als Kind mit einem Makel an.« Da sie von niemandem unterstützt worden sei, habe sie mit der Situation mehr oder weniger allein fertigwerden müssen.
Dann fragte ich die Patientin, wie sie jetzt empfinde, dass man sie als kleines Mädchen mit der Epilepsiediagnose allein gelassen habe. Statt ihre Einsamkeit zu beweinen oder wegen der mangelnden Unterstützung wütend zu werden, sagte sie trotzig: »Sie war dumm, weinerlich und abhängig. Sie hätte sich ihren gerechten Anteil selbst verschaffen sollen.« Diese leidenschaftliche Äußerung stammte offensichtlich von dem Teil von ihr, der tapfer versuchte, mit ihrem Leid fertigzuwerden, und mir war klar, dass dieser ihr wahrscheinlich geholfen hatte, ihre Situation zu ertragen. Ich empfahl ihr zuzulassen, dass ihr das verängstigte und verlassene kleine Mädchen erzählte, wie es gewesen war, allein zu sein, und dass ihre Situation durch die Ablehnung vonseiten der Familie nach der Diagnose noch verschlimmert worden war. Daraufhin schluchzte sie und schwieg lange, bis sie schließlich sagte: »Nein, sie hatte das nicht verdient. Jemand hätte sie unterstützen und sich um sie kümmern sollen.« Dann veränderte sich ihr Ausdruck erneut, und sie erzählte mir stolz von ihren Erfolgen – davon, was sie trotz der fehlenden Unterstützung alles geschafft hatte. Endlich waren die für die Öffentlichkeit bestimmte Erzählung und das innere Erleben aufeinandergetroffen.
Der Körper ist die Brücke
Traumaerzählungen verringern die Isolation, die ein Trauma hervorruft, und liefern eine Erklärung dafür, warum Menschen leiden, wie sie leiden. Sie ermöglichen Ärzten, eine Diagnose zu stellen, sodass sie auf dieser Grundlage Probleme wie Schlafstörungen, starke Wut, Albträume oder Taubheitsempfindungen behandeln können. Geschichten können Menschen auch ein Ziel für Schuldzuweisungen liefern. Alle Menschen geben ständig irgendwelchen Umständen oder anderen Menschen die Schuld an etwas, weil ihnen das hilft, sich gut zu fühlen, obwohl sie sich schlecht fühlen, oder wie mein alter Lehrer Elvin Semrad zu sagen pflegte: »Hate makes the world go round.« (»Hass hält die Welt am Laufen.«) Geschichten trüben aber auch den Blick für einen anderen wichtigen Aspekt, nämlich dafür, dass Traumata Menschen radikal verändern, sodass sie praktisch nicht mehr »sie selbst« sind.
Es ist entsetzlich schwer, das Gefühl, nicht mehr man selbst zu sein, in Worte zu fassen. Die Sprache entstand in erster Linie, damit wir Menschen »Dinge da draußen«, weniger unsere inneren Empfindungen, mitteilen können. (Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass das Sprachzentrum des Gehirns von dem für das Selbsterleben zuständigen Zentrum so weit entfernt liegt, wie es »geographisch« nur möglich ist.) Die meisten von uns können besser andere Menschen als sich selbst beschreiben. Ich habe den Harvard-Professor Jerome Kagan einmal sagen hören: »Die Aufgabe, privateste Erlebnisse zu beschreiben, kann man damit vergleichen, dass man tief in einen Brunnen greift, um mit dicken Lederfäustlingen winzige zerbrechliche Kristallfiguren daraus hervorzuholen.« 11
Wir können die »Glitschigkeit« von Wörtern überwinden, indem wir uns dem selbstbeobachtenden, körperbasierten Selbstsystem zuwenden, das sich in Form von Empfindungen, Eigenarten des stimmlichen Ausdrucks und physischer Anspannung äußert. Die Fähigkeit, viszerale Empfindungen wahrzunehmen, ist die Grundlage emotionalen Gewahrseins. 12 Wenn ein Patient mir sagt, er sei acht Jahre alt gewesen, als sein Vater die Familie verlassen habe, unterbreche ich ihn wahrscheinlich und bitte ihn festzustellen, was in ihm vor sich geht, während er mir von dem Jungen berichtet, der seinen Vater nach dessen Verschwinden nie mehr gesehen hat. Wo in seinem Körper ist dies registriert worden? Wenn wir unsere Bauchgefühle aktivieren und unserem gebrochenen Herzen zuhören – wenn wir den interozeptiven Pfaden in unsere innersten Winkel folgen –, bahnt sich eine Veränderung an.
Sich selbst einen Brief schreiben
Es gibt auch noch andere Möglichkeiten, die Welt der inneren Empfindungen zu erschließen. Eine der effektivsten besteht darin zu schreiben. Die meisten von uns haben ihre Gefühle schon einmal in einem wütenden, anklagenden, wehleidigen oder traurigen Brief zum Ausdruck gebracht, nachdem uns jemand verraten oder verlassen hatte. Dies bewirkt fast immer, dass man sich sofort besser fühlt, auch wenn man den Brief nie abschickt. Wenn Sie einen Brief an sich selbst schreiben, brauchen Sie sich keine Sorgen darüber zu machen, wie andere Menschen über das, was Sie schreiben, urteilen – es reicht, wenn Sie dazu Ihren eigenen Gedanken zuhören und sich ihrem Fluss überlassen. Wenn Sie das so Aufgeschriebene später noch einmal durchlesen, entdecken Sie darin oft überraschende Wahrheiten.
Als zuverlässige Mitglieder der Gesellschaft erwartet man von uns, dass wir bei unseren täglichen Interaktionen »cool« bleiben und dass wir unsere Gefühle der Aufgabe, mit der wir gerade beschäftigt sind, unterordnen. Wenn wir mit jemandem reden, in dessen Gegenwart wir uns nicht völlig sicher fühlen, schaltet unser Wächter für soziale Kontakte augenblicklich auf Alarmstufe 1 und sorgt dafür, dass wir auf der Hut sind. Beim Schreiben ist es anders. Wenn Sie Ihren inneren Zensor bitten, Sie für eine Weile in Ruhe zu lassen, treten Dinge zutage, von denen Sie niemals angenommen hätten, dass sie überhaupt da sind. Sie können in eine Art Trancezustand verfallen, in dem Ihr Stift (oder Ihre Schreibtastatur) alles registriert, was aus Ihrem Inneren emporsteigt. Sie können die der Selbstbeobachtung und dem Entwickeln einer Erzählung dienenden Teile Ihres Gehirns dann miteinander verbinden, ohne sich sorgen zu müssen, wie andere das, was Sie aufschreiben, aufnehmen werden.
Im Rahmen der Praxis, die freies Schreiben genannt wird, können Sie jedes Objekt als persönlichen Rorschachtest benutzen, um in den Strom der geistigen Assoziationen einzutreten. Schreiben Sie einfach auf, was Ihnen zuerst in den Sinn kommt, während Sie ein vor Ihnen stehendes Objekt anschauen, und folgen Sie dann dem Fluss Ihrer Gedanken, ohne mit dem Schreiben aufzuhören, ohne das schon Geschriebene noch einmal durchzulesen und ohne etwas durchzustreichen. Ein hölzerner Löffel beispielsweise kann Erinnerungen daran aktivieren, wie Sie mit Ihrer Großmutter zusammen Tomatensuppe zubereitet haben – oder wie Sie als Kind geschlagen worden sind. Die Teekanne, die in Ihrer Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurde, kann Sie in die äußersten Winkel Ihres Geistes führen, zu geliebten Menschen, die Sie verloren haben, oder zurück zu Familienfesten, die immer ein Gemisch aus Liebe und Konflikten waren. Bald taucht ein Bild auf, dann eine Erinnerung, und schließlich halten Sie das Erlebte in einem Absatz schriftlich fest. Was schließlich dasteht, ist ein Ausdruck der Assoziationen, die einzig und allein die Ihren sind.
Meine Patienten bringen oft Textfragmente und Zeichnungen mit, die sich auf Erinnerungen beziehen, über die sie noch nicht sprechen können. Sie würden wahrscheinlich nicht verkraften, den Inhalt solcher Schriftstücke laut vorzulesen, aber ihnen ist trotzdem daran gelegen, dass ich weiß, womit sie ringen. Ich sage in solchen Fällen, ich wisse zu schätzen, dass sie sich gestatten, bisher verborgene Bereiche von sich zu erforschen und mir dies anzuvertrauen. Solche tastenden Kommunikationsversuche schlagen sich in meinem Behandlungsplan nieder – sie helfen mir beispielsweise zu entscheiden, ob ich Somatic Processing, Neurofeedback oder EMDR in die Behandlung einbeziehe.
Soweit mir bekannt ist, wurde die erste systematische Untersuchung über die Macht der Sprache in Zusammenhang mit der Traumaheilung im Jahre 1986 durchgeführt, als James Pennebaker an der University of Texas in Austin seinen Einführungskurs in Psychologie in ein Experimentallabor umwandelte. Pennebakers Ausgangspunkt war ein gesunder Respekt vor der Bedeutung der Hemmung, des Für-sich-Behaltens von Dingen, die er als »Leim der Zivilisation« bezeichnete. 13 Allerdings nahm er auch an, dass Menschen einen Preis dafür zahlen, dass sie versuchen, ihr Wissen um den Elefanten im Raum zu unterdrücken.
Zunächst forderte er alle anwesenden Studenten auf, ein sehr persönliches Erlebnis zu nennen, das sie als belastend oder traumatisch empfunden hatten. Dann teilte er die Klasse in drei Gruppen auf: Die Mitglieder der ersten sollten etwas darüber schreiben, was momentan in ihrem Leben vor sich ging; die der zweiten Gruppe sollten die Einzelheiten ihres traumatischen oder belastenden Erlebnisses beschreiben; und die der dritten Gruppe sollten die Fakten des Erlebten sowie die für sie damit verbundenen Empfindungen und Emotionen beschreiben und berichten, wie sich das Ereignis nach ihrer Meinung auf ihr Leben ausgewirkt hatte. Alle Studenten schrieben an vier aufeinanderfolgenden Tagen jeweils 15 Minuten lang, wobei sie jedes Mal im Gebäude der Psychologieabteilung allein in einer kleinen Kabine saßen.
Die Studenten nahmen diese Studie sehr ernst; viele offenbarten Geheimnisse, über die sie noch mit niemandem gesprochen hatten. Viele weinten beim Schreiben, und viele vertrauten den Assistenten an, dass ihr Erlebnis sie sehr beschäftige. Von den 200 Untersuchungsteilnehmern berichteten 65 über ein Trauma, das sie in der Kindheit erlebt hatten. Obwohl der Tod eines Familienmitglieds das häufigste Thema war, berichteten 22 Prozent der Frauen und 10 Prozent der Männer über ein traumatisches sexuelles Erlebnis vor Erreichen des Alters von 17 Jahren.
Die Forscher befragten die Studenten auch über ihre Gesundheit und waren erstaunt, wie oft diese über größere und kleinere gesundheitliche Probleme wie Krebs, Bluthochdruck, Geschwüre, Grippe, Kopfschmerzen und Ohrenschmerzen berichteten. 14 Diejenigen, die in ihrer Kindheit ein sexuelles Trauma erlebt hatten, waren im vorangegangenen Jahr durchschnittlich 1,7 Tage in einem Krankenhaus stationär behandelt worden – fast doppelt so lange wie die übrigen Teilnehmer.
Dann verglich das Team die Zahl der Arztbesuche im Monat vor der Studie mit der Zahl der Besuche im Monat danach. Die Gruppe, die sowohl über die Fakten der erlebten traumatischen Situation als auch über ihre damit verbundenen Gefühle geschrieben hatte, hatte von der Übung eindeutig am meisten profitiert: Die Arztbesuche ihrer Mitglieder waren verglichen mit den Besuchen der Angehörigen der anderen beiden Gruppen um 50 Prozent zurückgegangen. Dass sie ihre tiefsten Gedanken und Gefühle bezüglich des erlebten Traumas beschrieben hatten, hatte ihre Grundstimmung verbessert, und dies hatte eine generell optimistische Einstellung gefördert und sich positiv auf ihre körperliche Gesundheit ausgewirkt.
Als die Studenten aufgefordert wurden, die Resultate der Studie selbst einzuschätzen, erwähnten sie vorrangig, dass ihr Selbstverständnis dadurch verbessert worden sei: »Es hat mir geholfen, darüber nachzudenken, was ich damals gefühlt habe. Mir war nie aufgefallen, wie sehr mich das beeinflusst hat.« – »Ich musste frühere Erfahrungen überdenken und lösen. Ein Resultat des Experiments ist ein Gefühl inneren Friedens und die Aneignung einer Methode der Verarbeitung emotionaler Erlebnisse. Emotionen und Gefühle aufzuschreiben half mir zu verstehen, was ich fühlte und warum.« 15
Im Rahmen einer späteren Studie forderte Pennebaker die Hälfte einer Gruppe von 72 Studenten auf, einen Bericht über ihr traumatischstes Erlebnis auf einen Kassettenrekorder zu sprechen; die andere Hälfte der Gruppe sollte sich über ihre Pläne für den weiteren Verlauf des Tages unterhalten. Während die Teilnehmer miteinander sprachen, überwachten Forschungsmitarbeiter ihre physiologischen Reaktionen: Blutdruck, Herzfrequenz, Muskelspannung und Handtemperatur. 16 Die Studie gelangte zu ähnlichen Ergebnissen wie die erste: Bei denjenigen, die sich gestatteten, ihre Emotionen zu spüren, traten signifikante physiologische Veränderungen ein, sowohl unmittelbar nach Abschluss der Studie als auch längerfristig. Während ihres »Bekenntnisses« stiegen ihr Blutdruck, ihre Herzfrequenz und andere autonome Funktionen zwar, aber danach sank ihre Erregung auf ein deutlich niedrigeres Niveau als vor Beginn der Studie. Das Absinken des Blutdrucks ließ sich auch sechs Wochen nach Abschluss des Experiments noch messen.
Mittlerweile wird in weiten Kreisen akzeptiert, dass belastende Erlebnisse – ganz gleich, ob es sich um eine Scheidung, um eine Abschlussprüfung oder schlicht um Einsamkeit handelt – sich negativ auf die Immunfunktion auswirken, eine Auffassung, die zu der Zeit, als Pennebaker seine Untersuchungen durchführte, noch sehr umstritten war. Auf seinen Protokollen aufbauend, verglich ein Forscherteam des Medizin-Colleges der Ohio State University zwei Gruppen von Studenten, von denen die eine einen Text über ein selbst erlebtes Trauma verfassen sollte, während die andere die Aufgabe erhielt, sich über ein eher belangloses Thema zu äußern. 17 Auch in diesem Fall bestätigte sich, dass diejenigen, die sich schriftlich über ein persönliches Trauma geäußert hatten, nach Abschluss der Studie seltener Ärzte aufsuchten und dass die Verbesserung ihrer Gesundheit mit einer Verbesserung ihrer Immunfunktion verbunden war, wobei Letzteres an der Aktivität der T-Lymphozyten (natürlicher Killerzellen) und anderer Immunmarker im Blut gemessen wurde. Dieser Effekt war unmittelbar nach dem Experiment am deutlichsten, aber auch sechs Wochen später noch zu erkennen. Schreibexperimente, die auf der ganzen Welt mit Grundschülern ebenso wie mit Pflegeheimbewohnern, Medizinstudenten, Häftlingen in Hochsicherheitsgefängnissen, Arthritikern, Wöchnerinnen und Vergewaltigungsopfern durchgeführt wurden, zeigen übereinstimmend, dass die schriftliche Darstellung belastender Ereignisse die körperliche und psychische Gesundheit verbessert.
Noch ein anderer Aspekt der Untersuchungen Pennebakers weckte meine Aufmerksamkeit: Wenn seine Probanden über intime oder für sie schwierige Themen sprachen, veränderten sich oft der Charakter ihrer Stimme und ihr Sprechstil. Die Unterschiede waren so deutlich, dass Pennebaker sich nicht sicher war, ob er seine Tonaufnahmen vertauscht hatte. Beispielsweise beschrieb eine Frau ihre Pläne für den laufenden Tag mit kindlicher, hoher Stimme, und als sie einige Minuten später beschrieb, wie sie hundert Dollar aus einer offenen Registrierkasse gestohlen hatte, wurde ihre Stimmlage so viel tiefer und sie sprach plötzlich so leise, dass man hätte meinen können, man habe es mit einer völlig anderen Person zu tun. Veränderungen des emotionalen Zustandes spiegelten sich auch in der Handschrift der Teilnehmer. Wenn sie sich einem anderen Thema zuwandten, wechselten sie manchmal von der Handschrift zu Druckbuchstaben und später wieder zurück zur Handschrift; außerdem kamen Variationen hinsichtlich der Neigung der Schrift und der Strichstärke vor.
Solche Veränderungen werden in der klinischen Praxis »Switching« genannt, und wir beobachten sie bei Traumapatienten sehr häufig. Die Betreffenden aktivieren deutlich unterschiedliche emotionale und physiologische Zustände, wenn sie sich von einem Thema ab- und einem anderen zuwenden. Switching manifestiert sich nicht nur in Form unterschiedlicher vokaler Ausdrucksformen, sondern auch in Variationen des Gesichtsausdrucks und in unterschiedlichen Körperbewegungen. Einige Patienten wechseln offenbar auch ihre Identität, beispielsweise von einem furchtsamen zu einem energischen und aggressiven oder von einem ängstlichen und fügsamen zu einem verführerischen Ausdruck. Wenn sie über ihre tiefsten Ängste schreiben, wird ihre Handschrift oft kindlicher und primitiver.
Behandelt man Patienten, die sich in so dramatisch unterschiedlichen Zuständen präsentieren, wie Schwindler oder sagt ihnen, sie sollten ihre unberechenbaren und störenden Anteile nicht mehr zeigen, verstummen sie oft. Wahrscheinlich suchen sie dann weiter Hilfe, aber sofern sie nicht völlig zum Schweigen gebracht wurden, übermitteln sie ihre Hilferufe nicht mehr in sprachlicher Form, sondern in Form von Aktivitäten: durch Suizidversuche, Depression und Wutanfälle. In Kapitel 17 werden wir sehen, dass sich ihr Zustand nur bessern kann, wenn sowohl sie selbst als auch ihre Therapeuten die Rollen, die ihre verschiedenen Zustände für ihr Überleben gespielt haben, würdigen.
Bildende Kunst, Musik und Tanz
Tausende von Kunst-, Musik- und Tanztherapeuten arbeiten wunderbar mit missbrauchten Kindern, unter PTBS leidenden Soldaten, Inzestopfern, Flüchtlingen und Gefolterten, und es gibt zahlreiche Berichte über die Wirksamkeit solcher Ausdruckstherapien. 18 Doch wissen wir momentan noch sehr wenig darüber, wie und auf welche Aspekte traumatischer Belastungen diese Methoden wirken, und ihren Wert wissenschaftlich festzustellen wäre eine gewaltige logistische und finanzielle Herausforderung.
Dass bildende Kunst, Musik und Tanz durch Entsetzen verursachte Sprachlosigkeit umschiffen können, ist vielleicht einer der Gründe dafür, dass sie in Kulturen auf der ganzen Welt zur Behandlung von Traumata genutzt werden. Eine der wenigen systematischen Studien, in denen die Wirkung nonverbalen künstlerischen Ausdrucks mit der des Schreibens verglichen wird, hat James Pennebaker mit Anne Krantz, einer Tanz- und Bewegungstherapeutin aus San Francisco, durchgeführt. 19 Ein Drittel einer Gruppe von 64 Studenten erhielt die Aufgabe, mindestens zehn Minuten täglich an drei aufeinanderfolgenden Tagen mithilfe expressiver Körperbewegungen ein persönliches traumatisches Erlebnis zum Ausdruck zu bringen und sich anschließend mindestens zehn Minuten lang schriftlich darüber zu äußern. Eine zweite Gruppe tanzte, schrieb aber nichts über ein erlebtes Trauma, und eine dritte Gruppe sollte ein normales Körpertrainingsprogramm ausführen. In den folgenden drei Monaten berichteten die Mitglieder aller drei Gruppen, dass sie sich glücklicher und gesünder fühlten. Doch nur bei der Gruppe, die zunächst expressive Bewegungen ausgeführt und anschließend über ihr Erlebnis geschrieben hatte, waren Anzeichen für eine Situationsverbesserung zu erkennen, nämlich in Form einer Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes und eines besseren Notendurchschnitts im Studium. (Im Rahmen dieser Untersuchung wurden keine spezifischen PTBS -Symptome evaluiert.) Pennebaker und Krantz schlossen: »Der bloße Ausdruck des Traumas reichte nicht aus. Um gesund zu werden, müssen die Patienten ihre Erlebnisse offenbar in sprachliche Form übersetzen.«
Wir wissen aber bis heute nicht, ob die Auffassung, dass sprachlicher Ausdruck für die Heilung entscheidend ist, in jedem Fall zutrifft. Untersuchungen über die Wirkung des Schreibens waren, wenn sie sich auf PTBS -Symptome (im Gegensatz zum allgemeinen Gesundheitszustand) konzentrierten, enttäuschend. In einem Gespräch mit Pennebaker über dieses Thema gab er zu bedenken, dass die meisten Schreibstudien mit PTBS -Patienten im Gruppenrahmen stattgefunden hätten und dass von den Teilnehmern erwartet worden sei, dass sie ihre Geschichten den übrigen Gruppenmitgliedern mitteilten. Er wiederholte die Beobachtung, die ich schon weiter oben erwähnt habe: Der Patient schreibt etwas für sich auf, um sich selbst klarzumachen, was er bisher zu vermeiden versucht hat.
Die Grenzen der Sprache
Traumata wirken auf Zuhörer ebenso überwältigend wie auf die Sprecher. Paul Fussell hat in seinem Buch The Great War in Modern Memory , einer brillanten Studie über den Ersten Weltkrieg, die Zone des Schweigens beschrieben, die durch ein Trauma entsteht:
Eines der Hauptübel des Krieges … ist die Diskrepanz zwischen den Ereignissen und der verfügbaren Sprache oder, zutreffender gesagt, einer zur Beschreibung geeigneten Sprache … Logisch betrachtet gibt es keinen Grund, aus dem die englische Sprache die Wirklichkeit eines Krieges nicht adäquat darstellen könnte: Sie umfasst eine Fülle von Begriffen wie Blut, Terror, Agonie, Wahnsinn, Scheiße, Grausamkeit, Mord, Ausverkauf, Schmerz und Schwindel sowie Phrasen wie Beine abgerissen, Därme ergießen sich über seine Hände, schreit die ganze Nacht, verblutet aus seinem Rektum zu Tode und dergleichen mehr. […] Das Problem war also weniger eines der »Sprache« als solcher als vielmehr eines der Dezenz und des Optimismus. […] Der wahre Grund [für das Verstummen der Soldaten] ist, dass Soldaten merken, dass sich niemand für die schlechten Nachrichten, die sie zu überbringen haben, sonderlich interessiert. Welcher Zuhörer möchte schon vom Schmerz zerrissen und erschüttert werden, wenn er es vermeiden kann? Wir haben das Unaussprechliche zum Unbeschreiblichen gemacht, doch im Grunde geht es um das Ekelhafte . 20
Über schmerzhafte Ereignisse zu reden fördert nicht zwangsläufig die Eintracht – oft ist eher das Gegenteil der Fall. Familien und Organisationen distanzieren sich eher von Mitgliedern, wenn diese in aller Öffentlichkeit schmutzige Wäsche ausbreiten; Freunde und Familienangehörige verlieren leicht die Geduld, wenn Menschen sich in ihrer Trauer oder Verletztheit verstricken. Unter anderem deshalb ziehen sich Traumatisierte oft zurück, und aus dem gleichen Grund klingen ihre Geschichten irgendwann so harmlos, dass sie die Erzähler auf keinen Fall der Gefahr aussetzen, abgelehnt und ausgeschlossen zu werden.
Es ist sehr schwierig, einen sicheren Ort zu finden, an dem man den Schmerz, den ein Trauma verursacht, zum Ausdruck bringen kann; deshalb sind Gruppen wie die Anonymen Alkoholiker , Erwachsene Kinder von Alkoholikern , Narcotics Anonymous und andere Unterstützungsgruppen so wichtig. Eine aufgeschlossene Gemeinschaft zu finden, in der man offen über die eigene Sicht der Dinge sprechen kann, macht die Genesung oft erst möglich. Deshalb brauchen Traumatisierte kompetente Therapeuten, die in ihrer Ausbildung gelernt haben, sich die entsetzlichen Details des Lebens ihrer Patienten anzuhören. Ich erinnere mich noch, wie mir das erste Mal ein Veteran erzählte, er habe in Vietnam ein Kind getötet. Ich reagierte darauf mit einem sehr starken Flashback, in dem ich eine Situation aus der Zeit vor mir sah, als ich sieben Jahre alt gewesen war und mein Vater mir erzählt hatte, ein Nachbarskind sei von Nazi-Soldaten vor unserem Haus zu Tode geprügelt worden, weil es ihnen gegenüber nicht genug Respekt gezeigt habe. Ich konnte meine eigene Reaktion auf das Bekenntnis des Veteranen in diesem Moment nicht ertragen und musste die Sitzung vorzeitig beenden. Therapeuten sollten selbst eine sehr gründliche Therapie absolviert haben, damit sie mit ihrer eigenen Geschichte im Reinen sind und ihren Patienten gegenüber auch dann emotional offen bleiben können, wenn deren Erzählungen bei ihnen Wut oder Abscheu hervorrufen.
Ein anderes Problem tritt auf, wenn Traumatisierte selbst buchstäblich sprachlos werden, weil der für sprachlichen Ausdruck zuständige Teil ihres Gehirns abschaltet. 21 Ich habe solche Shutdowns vor Gericht bei vielen Einwanderern erlebt und auch bei einem Prozess gegen einen Täter, der an einem Massenmord in Ruanda beteiligt gewesen war. Opfer, die aufgefordert werden, ihre Erlebnisse vor Gericht zu bezeugen, werden von ihren Gefühlen oft so stark überwältigt, dass sie kaum sprechen können, oder sie geraten in eine Panik, die es ihnen unmöglich macht, verständlich zu beschreiben, was ihnen zugestoßen ist. Ihre Zeugenaussagen werden oft abgelehnt, weil sie zu chaotisch, verwirrt und bruchstückhaft wirken, um als glaubwürdig zu erscheinen.
Andere versuchen, ihre Geschichte so zu erzählen, dass jeder Trigger vermieden wird. Ihr Bericht kann deshalb ausweichend klingen und den Eindruck der Unzuverlässigkeit erwecken. Ich habe Dutzende von Asylverfahren scheitern sehen, weil die Asylbewerber die Gründe für ihre Flucht nicht kohärent verständlich machen konnten. Und ich kenne viele Veteranen, deren Entschädigungsanträge von der VA abgelehnt wurden, weil sie nicht detailliert berichten konnten, was ihnen zugestoßen war.
Verwirrung und Verstummen sind für Therapeuten Probleme, mit denen sie täglich konfrontiert werden: Uns ist von vornherein klar, dass unsere Patienten von ihren Emotionen überwältigt werden können, wenn wir sie zu sehr drängen, über die Einzelheiten ihrer Erlebnisse zu berichten. Deshalb haben wir gelernt, bei Traumatisierten jenes Verfahren anzuwenden, das mein Freund Peter Levine Pendulation 22 nennt: Wir vermeiden es zwar nicht völlig, uns mit den Details eines traumatischen Erlebnisses zu befassen, aber wir bringen unseren Patienten bei, dass sie einen Zeh ins Wasser tauchen und ihn anschließend wieder herausnehmen können, ohne sich in Gefahr zu bringen, und auf diese Weise nähern wir uns der Wahrheit ganz allmählich.
Wir schaffen zunächst innere »Inseln der Sicherheit« im Körper. Dies bedeutet, dass wir Patienten helfen, Körperbereiche, Haltungen und Bewegungen zu identifizieren, in denen sie sich erden können, wenn sie sich entsetzt oder wütend fühlen oder sich in einem inneren Erlebnis verfangen haben. Gewöhnlich liegen diese Bereiche außer Reichweite des Vagusnervs, der Panikbotschaften zu Brustkorb, Bauch und Kehle befördert, und sie können bei dem Bemühen, traumatische Erlebnisse zu integrieren, als Verbündete fungieren. Beispielsweise könnte ich eine Patientin fragen, ob sich ihre Hände gut anfühlen, und wenn sie dies bejaht, fordere ich sie auf, diese zu bewegen und ihre Leichtigkeit, Wärme und Flexibilität zu erforschen. Sehe ich später, dass ihr Brustbereich angespannt ist und dass fast keine Atembewegungen mehr zu erkennen sind, kann ich sie unterbrechen und auffordern, sich auf ihre Hände zu fokussieren und sie zu bewegen, sodass sie sich als von ihrem Trauma unabhängig erleben kann. Ich könnte sie auch auffordern, sich auf das Ausatmen zu konzentrieren und darauf zu achten, wie sie es verändern kann; oder ich empfehle ihr, bei jedem Atemzug die Arme auf und ab zu bewegen – was einer Qigong-Bewegung entspricht.
Manche Patienten empfinden das Klopfen auf bestimmte Akupressurpunkte als eine gute Möglichkeit, sich zu ankern. 23 Anderen hilft es mehr, das Gewicht ihres Körpers auf dem Stuhl zu spüren oder ihre Füße fest auf den Boden zu stellen. Zusammengesunken dasitzenden und schweigenden Patienten schlage ich manchmal vor herauszufinden, was geschieht, wenn sie sich aufrecht hinsetzen. Zuweilen entdecken Patienten Inseln der Sicherheit auch selbst – sie »kapieren« dann plötzlich, dass sie Körperempfindungen erzeugen können, die dem Gefühl des Kontrollverlusts entgegenwirken. Durch das Pendeln zwischen Erforschen und Zuständen der Sicherheit, zwischen Sprache und Körper, zwischen Erinnern der Vergangenheit und Sich-lebendig-Fühlen in der Gegenwart werden die Voraussetzungen für die Traumaauflösung geschaffen.
Der Umgang mit der Wirklichkeit
Die Auseinandersetzung mit den Traumaerinnerungen ist aber nur der Anfang der Behandlung. Aus zahlreichen Untersuchungen geht hervor, dass Menschen mit einer PTBS generell mehr Probleme damit haben, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren und neue Informationen aufzunehmen. 24 Alexander McFarlane hat einen simplen Test durchgeführt, indem er eine Gruppe von Menschen aufforderte, innerhalb von einer Minute möglichst viele Wörter mit dem Anfangsbuchstaben B zu nennen. Normale Probanden nannten in dieser Zeitspanne durchschnittlich fünfzig Wörter, Menschen mit einer PTBS hingegen fanden nur drei oder vier. Normale Untersuchungsteilnehmer reagierten zögernd auf bedrohlich wirkende Wörter wie »Blut«, »Wunde« oder »Vergewaltigung«; McFarlanes Probanden mit PTBS hingegen reagierten auch auf völlig harmlose Wörter wie »Wolle«, »Eiscreme« und »Fahrrad« zögerlich. 25
Nach einiger Zeit verwenden PTBS -Kranke nicht mehr viel Zeit und Mühe darauf, mit ihrer Vergangenheit fertigzuwerden, weil sie alle Hände voll damit zu tun haben, die normalen Alltagsanforderungen zu bewältigen. Sogar Traumatisierte, die als Lehrer, Geschäftsleute, Ärzte oder Künstler Beachtliches leisten und die ihre Kinder gut aufgezogen haben, wenden deutlich mehr Energie für die Alltagsbewältigung auf als Nichttraumatisierte.
Eine weitere Tücke der Sprache ist die Illusion, wir könnten unser Denken leicht korrigieren, wenn es »keinen Sinn ergibt«. Der »kognitive« Teil der kognitiv-behavioralen Therapie konzentriert sich auf die Korrektur »dysfunktionalen Denkens«. Bei diesem Top-down-Ansatz der Veränderung hinterfragt der Therapeut negative Kognitionen oder »rahmt sie neu«, indem er beispielsweise sagt: »Lassen Sie uns Ihr Gefühl, Sie seien für Ihre Vergewaltigung selbst verantwortlich, einmal mit den Fakten abgleichen«, oder: »Lassen Sie uns Ihre Angst vor dem Autofahren einmal mit den aktuellen Statistiken über die Sicherheit auf den Straßen vergleichen.«
Ich erinnere mich noch gut an eine verzweifelte Frau, die in unsere Klinik kam und uns bat, ihr zu helfen, mit ihrem zwei Monate alten Kind fertigzuwerden, weil das Baby »so egoistisch« sei. Hätte sie von einem Informationsblatt über kindliche Entwicklung oder von einer Erklärung des Konzepts des Altruismus profitiert? Wahrscheinlich hätten ihr solche Informationen nicht geholfen, solange ihr der Zugang zu ihren verängstigten und verlassenen Anteilen verschlossen geblieben wäre – den Anteilen, die in ihrer Angst vor Abhängigkeit zum Ausdruck gekommen waren.
Dass Traumatisierte oft irrationale Gedanken haben, steht völlig außer Frage: »Es ist meine Schuld, dass ich so sexy war.« – »Die anderen Jungs hatten keine Angst – sie waren richtige Kerle.« – »Ich hätte selbst wissen müssen, dass ich diese Straße besser hätte meiden sollen.« Solche Gedanken sollte man am besten als kognitive Flashbacks verstehen und entsprechend damit umgehen; mit ihnen braucht man sich ebenso wenig auseinanderzusetzen wie mit immer wieder auftretenden visuellen Flashbacks, die mit einem schrecklichen Unfall zusammenhängen. Es handelt sich dabei um Relikte traumatischer Vorfälle: Gedanken, die Menschen während eines traumatischen Erlebnisses (oder kurz danach) hatten und die bei akutem Stress reaktiviert werden. Eine bessere Möglichkeit als der Versuch einer kognitiven Aufarbeitung ist, sie mit EMDR zu behandeln, womit sich das folgende Kapitel beschäftigt.
Jemand (some body) werden und sich dadurch verkörpern
Dass Menschen durch das Erzählen ihrer Geschichte überwältigt werden und dass sie kognitive Flashbacks erleben, liegt an traumabedingten Veränderungen ihres Gehirns. Schon Freud und Breuer hatten beobachtet, dass ein Trauma nicht nur als Auslöser für Symptome fungiert. »Wir müssen vielmehr behaupten, dass das psychische Trauma, respektive die Erinnerung an dasselbe, nach Art eines Fremdkörpers wirkt, welcher noch lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes Agens gelten muss …« 26 Wie ein Splitter, der eine Infektion verursacht, wird die Reaktion des Körpers auf den Fremdkörper zu einem größeren Problem als der Fremdkörper selbst.
Die moderne Neurowissenschaft stützt Freuds Sicht, nach der viele unserer bewussten Gedanken komplexe Rationalisierungen der Flut von Instinkten, Reflexen, Motiven und tief sitzenden Erinnerungen aus dem Unbewussten sind. Wie wir gesehen haben, beeinträchtigen Traumata die korrekte Funktion der Gehirnbereiche, die Erlebtes verarbeiten und deuten. Ein robustes Selbstempfinden – das es einem Menschen ermöglicht, selbstbewusst zu erklären: »Dies denke und fühle ich« und »Dies geht mit mir vor sich« – hängt von einem gesunden und dynamischen Zusammenwirken dieser Bereiche ab.
Bei fast jeder Brain-Imaging-Studie mit Traumapatienten wurde eine abnorme Aktivierung der Insel festgestellt. Dieser Gehirnbereich integriert und deutet den Input der inneren Organe – wozu auch die Muskeln, die Gelenke und das Gleichgewichtsempfinden (die propriozeptive Wahrnehmung) zählen – und erzeugt dadurch ein Gefühl der Verkörperung. Die Insel kann Signale an die Amygdala übermitteln, die Kampf-/Fluchtreaktionen auslösen. Dazu ist weder kognitiver Input noch bewusstes Erkennen dessen, dass etwas schiefgegangen ist, erforderlich – es reicht völlig, sich nervös und konzentrationsunfähig zu fühlen oder schlimmstenfalls das Gefühl zu haben, eine Katastrophe stehe unmittelbar bevor. Diese starken Gefühle entstehen im Gehirn und lassen sich mithilfe der Vernunft oder durch Verstehen nicht beseitigen.
Ständig vom Ursprung körperlicher Empfindungen bedrängt zu werden, aber auf der Ebene des Bewusstseins davon abgeschnitten zu sein, erzeugt Alexithymie: Man kann nicht spüren und mitteilen, was in einem selbst vor sich geht. Nur durch Kontaktaufnahme zum eigenen Körper, durch die Herstellung einer viszeralen Verbindung zu uns selbst, können wir das Gefühl dafür, wer wir sind, welche Prioritäten wir haben und welche Werte uns am Herzen liegen, wiederherstellen. Alexithymie, Dissoziation und Shutdown beinhalten alle Gehirnstrukturen, die uns ermöglichen, zu fokussieren, zu wissen, was wir fühlen, und zu unserem eigenen Schutz aktiv zu werden. Werden diese essenziellen Strukturen einem unausweichlichen Schock ausgesetzt, können Verwirrung und starke Erregung die Folge sein, es kann aber auch eine emotionale Distanzierung erfolgen, oft begleitet von dem Gefühl, den eigenen Körper zu verlassen – was beinhaltet, dass Menschen sich wie aus weiter Ferne sehen. Traumata geben Menschen das Gefühl, entweder jemand anders (some body else) oder niemand (no body) zu sein. Um ein Trauma überwinden zu können, brauchen wir Hilfe bei dem Bemühen, den Kontakt zu unserem Körper , und damit zu uns selbst , wiederherzustellen.
Es steht völlig außer Frage, dass die Sprache wichtig ist: Unser Selbstempfinden hängt davon ab, dass wir unsere Erinnerungen zu einem kohärenten Ganzen organisieren können. 27 Dies erfordert gut funktionierende Verbindungen zwischen dem Bewusstsein und dem Selbstsystem des Körpers – Verbindungen, die Traumata oft beschädigen. Die vollständige Geschichte zu erzählen ist erst möglich, nachdem diese Strukturen wiederhergestellt und die Vorarbeiten erledigt worden sind: auf niemand (no body) folgt jemand (some body) .