Was it a vision, or a waking dream?
Fled is that music. Do I wake or sleep?
John Keats, Ode to a Nightingale
David, ein Bauunternehmer mittleren Alters, hatte mich aufgesucht, weil seine Anfälle von Gewalttätigkeit seiner Familie das Leben zur Hölle machten. In unserer ersten Sitzung erzählte er mir eine Geschichte über etwas, das in dem Sommer passiert war, in dem er 23 Jahre alt gewesen war. Er hatte damals als Bademeister gearbeitet, und eines Nachmittags hatte sich eine Gruppe von Kindern im Schwimmbecken getummelt und dabei Bier getrunken. David hatte ihnen erklärt, Alkohol sei für sie tabu. Daraufhin hatten die Jungen ihn angegriffen, und einer von ihnen hatte mit einer zerbrochenen Bierflasche sein linkes Auge verletzt. Dreißig Jahre später litt David wegen dieses Vorfalls immer noch unter Albträumen und Flashbacks.
Er kritisierte seinen eigenen Sohn, einen Teenager, gnadenlos und brüllte ihn oft wegen der kleinsten Verfehlungen an; und er sah sich absolut nicht in der Lage, gegenüber seiner Frau auch nur die geringste Zuneigung zu zeigen. Es schien, als habe er das Gefühl, der tragische Verlust eines Auges gebe ihm das Recht, andere Menschen schlecht zu behandeln, andererseits hasste er den ständig wütenden und rachsüchtigen Menschen, der er selbst geworden war. Er hatte bemerkt, dass er aufgrund seiner Bemühungen, seine Wut zu bändigen, immer angespannt war, und fragte sich, ob seine Angst vor Kontrollverlust es ihm unmöglich gemacht hatte, Liebe und Freundschaft zu empfinden.
Bei seinem zweiten Besuch machte ich David mit Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR ) bekannt. In diesem Zusammenhang forderte ich ihn auf, zu den Einzelheiten des Überfalls, den er erlebt hatte, zurückzukehren und sich die Bilder von dem Angriff, die Geräusche, die er gehört hatte, und die Gedanken, die ihm damals durch den Kopf gegangen waren, zu vergegenwärtigen. »Lassen Sie diese Augenblicke wieder zurückkommen«, erklärte ich.
Dann forderte ich ihn auf, mit seinem noch intakten rechten Auge meinem Zeigefinger zu folgen, den ich etwa 30 Zentimeter vor seinem rechten Auge langsam hin und her bewegte. Innerhalb von Sekunden wurde David von einer Kaskade der Wut und des Entsetzens ergriffen, begleitet von intensiven Empfindungen des Schmerzes, des über seine Wange rinnenden Blutes und der Realisation, dass er nicht mehr sehen konnte. Während er über diese Empfindungen berichtete, ließ ich gelegentlich ermutigende Geräusche hören und bewegte den Zeigefinger weiter hin und her. Nach jeweils einigen Minuten hielt ich inne und forderte ihn auf, tief durchzuatmen. Ich bat ihn festzustellen, was in seinem Geist vor sich ging, und er erwähnte einen Kampf, den er in der Schule gehabt hatte. Ich forderte ihn auf, dies zu registrieren und bei der Erinnerung zu bleiben. Danach tauchten scheinbar zufällig andere Erinnerungen auf: dass er überall nach Angreifern Ausschau hielt, dass er diese verletzen wollte, dass er in Prügeleien in einer Bar verwickelt wurde. Jedes Mal wenn er über eine neue Erinnerung oder Empfindung berichtete, forderte ich ihn auf, sich zu vergegenwärtigen, was ihm durch den Sinn ging, und anschließend setzte ich die Fingerbewegungen fort.
Am Ende dieser zweiten Sitzung wirkte er ruhiger und deutlich erleichtert. Er erklärte, die Erinnerung an den Stich in sein Auge habe deutlich an Intensität verloren – er war für ihn nun etwas Unangenehmes, das er vor langer Zeit erlebt hatte. »Das hat mich wirklich völlig fertiggemacht und mich jahrelang verfolgt«, erklärte er nachdenklich, »aber eigentlich überrascht es mich, wie gut ich mein Leben inzwischen in den Griff bekommen habe.«
In der dritten Sitzung in der folgenden Woche ging es um die Nachwirkungen des Traumas: wie er über Jahre versucht hatte, durch den Konsum von Drogen und Alkohol mit seiner Wut fertigzuwerden. Als wir die EMDR -Arbeit fortsetzten, tauchten weitere Erinnerungen auf. David erinnerte sich nun daran, dass er mit einem Gefängniswärter darüber gesprochen hatte, wie er den Angreifer in der Haft umbringen lassen könnte, es sich dann aber anders überlegt hatte. Die Erinnerung an diese Entscheidung wirkte auf ihn ungeheuer befreiend: Er hatte sich als Ungeheuer zu sehen gelernt, das kaum die Kontrolle über sich hatte, dann aber gemerkt, dass die Abwendung von Racheplänen ihn wieder mit einer achtsamen und großzügigen Seite seiner Persönlichkeit in Kontakt gebracht hatte.
Als Nächstes wurde ihm spontan klar, dass er seinen Sohn so behandelte, wie er sich gegenüber den Teenagern, die ihn angegriffen hatten, gefühlt hatte. Am Ende unserer Sitzung fragte David, ob ich zu einem Treffen mit ihm und seiner Familie bereit sei, weil er seinem Sohn erklären wolle, was geschehen war, und weil er ihn um Vergebung bitten wollte.
In unserer fünften und letzten Sitzung berichtete er, er schlafe nun besser, und außerdem empfinde er zum ersten Mal im Leben inneren Frieden. Ein Jahr später rief er mich an, um nicht nur zu berichten, dass er und seine Frau einander wieder nähergekommen seien, sondern dass sie nun auch gemeinsam Yoga praktizierten, und schließlich, dass er häufiger lache und es ihm große Freude mache, im Garten und mit Holz zu arbeiten.
Wie ich EMDR kennenlernte
Meine Erfahrung mit David ist eine von vielen, die ich in den letzten beiden Jahrzehnten mit EMDR gemacht habe. In vielen dieser Fälle hat die Methode geholfen, schmerzhafte traumatische Erlebnisse zu normalen Bestandteilen der Lebensgeschichte werden zu lassen. Kennengelernt habe ich EMDR durch Maggie, eine couragierte junge Psychologin, die ein Heim für sexuell missbrauchte Mädchen leitete. Maggie geriet immer wieder in Konfrontationen mit praktisch jedem, außer den dreizehn- bis vierzehnjährigen Mädchen, um die sie sich kümmerte. Sie konsumierte Drogen, hatte gefährliche und oft gewalttätige Freunde, hatte häufig Auseinandersetzungen mit ihren Vorgesetzten und zog ständig um, weil sie den Kontakt zu ihren Mitbewohnerinnen (ebenso wenig wie diese den Kontakt zu ihr) nie ertrug. Ich habe nicht verstanden, wie es ihr gelungen war, die Stabilität und Konzentration aufzubringen, die es ihr ermöglicht hatten, an einer angesehenen Graduate School einen PhD in Psychologie zu erwerben.
Jemand hatte Maggie eine von mir geleitete Therapiegruppe für Frauen mit ähnlichen Problemen empfohlen. Während des zweiten Treffens dieser Gruppe, an dem sie teilnahm, berichtete sie, ihr Vater habe sie zweimal vergewaltigt, einmal, als sie fünf Jahre alt gewesen sei, und einmal im Alter von sieben Jahren. Sie war fest davon überzeugt, dass dies ihre Schuld gewesen sei. Sie erklärte, sie habe ihren Papi geliebt und müsse sich ihm gegenüber so verführerisch verhalten haben, dass er die Kontrolle über sich verloren habe. Während ich ihr zuhörte, dachte ich: »Vielleicht beschuldigt sie ihren Vater nicht, aber mit Sicherheit beschuldigt sie sonst fast jeden« – einschließlich ihrer bisherigen Therapeuten, weil es ihnen nicht gelungen war zu bewirken, dass sie sich besser fühlte. Wie viele Traumatisierte erzählte sie eine Geschichte in Worten und eine andere durch ihre Handlungen, wobei sie durch Letztere verschiedene Aspekte ihres Traumas wiederholte.
Eines Tages kam Maggie in die Gruppe und wollte unbedingt über ein außergewöhnliches Erlebnis am vergangenen Wochenende anlässlich eines EMDR -Trainings für Psychotherapeuten sprechen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich über EMDR nur gehört, dies sei eine neue Modetherapie, bei der die Therapeuten vor den Augen ihrer Patienten mit ihren Fingern herumfuchtelten. Für mich und meine akademischen Kollegen klang das nach einer neuen jener Verrücktheiten, die in der Psychiatrie immer wieder auftauchten, und ich war überzeugt, dass sich dies als ein weiterer Fehlschlag von Maggies Bemühungen erweisen sollte.
Maggie berichtete, in der EMDR -Sitzung habe sie sich sehr anschaulich daran erinnert, wie ihr Vater sie im Alter von sieben Jahren vergewaltigt habe. – Sie hatte diese Situation in der Erinnerung in ihrem kindlichen Körper erlebt. Sie hatte körperlich empfunden, wie klein sie damals gewesen war; und sie hatte den riesigen Körper ihres Vaters auf sich gespürt und den Alkohol in seinem Atem gerochen. Gleichzeitig hatte sie den Vorfall aus der Perspektive der 29-Jährigen erlebt, die sie gegenwärtig war. Sie brach in Tränen aus: »Ich war ein so kleines Mädchen. Wie konnte ein so großer Mann einem kleinen Mädchen so etwas antun?« Sie weinte eine Zeit lang und sagte dann: »Jetzt ist es vorüber. Ich weiß jetzt, was damals passiert ist. Es war nicht meine Schuld. Ich war ein kleines Mädchen, und ich hätte nichts tun können, um ihn davon abzuhalten, mich zu missbrauchen.«
Ich war verblüfft. Seit Langem suchte ich nach einer Möglichkeit, Menschen zu helfen, mit ihrer traumatischen Vergangenheit in Kontakt zu treten, ohne erneut traumatisiert zu werden. Maggie schien etwas erlebt zu haben, was ebenso lebendig wie ein Flashback und doch nicht von der traumatischen Erinnerung gekapert worden war. Konnte EMDR es Menschen ermöglichen, gefahrlos mit den Nachwirkungen traumatischer Erlebnisse in Kontakt zu treten? Konnte die Methode diese in Erinnerungen an Ereignisse aus ferner Vergangenheit verwandeln?
Maggie erhielt noch einige weitere EMDR -Sitzungen und blieb so lange in unserer Gruppe, dass wir beobachten konnten, wie sie sich veränderte. Sie war nicht mehr so wütend, behielt aber ihren sardonischen Humor, der mir so gut gefiel. Einige Monate später begann sie eine Beziehung zu einem Mann, der völlig anders war als alle, von denen sie sich vorher angezogen gefühlt hatte. Sie verließ die Gruppe, nachdem sie erklärt hatte, sie habe ihr Trauma aufgelöst. Daraufhin entschloss ich mich, an einer EMDR -Ausbildung teilzunehmen.
EMDR: Erste Eindrücke
Wie viele wissenschaftliche Fortschritte ist auch EMDR aus einer zufälligen Beobachtung hervorgegangen. Im Jahre 1987 ging die Psychologin Francine Shapiro eines Tages mit schmerzlichen Gedanken beschäftigt durch einen Park, als ihr auffiel, dass schnelle Augenbewegungen ihren Kummer deutlich verringert hatten. Wie aber konnte aufgrund eines so kurzen Erlebnisses eine wichtige neue Behandlungsmodalität entstehen? Weshalb hatte man einen so einfachen Mechanismus nicht schon viel früher entdeckt? Weil sie ihrer Beobachtung anfangs selbst sehr skeptisch gegenüberstand, experimentierte sie einige Jahre lang damit, führte Studien durch und entwickelte so allmählich ein standardisiertes Verfahren, das man lehren und in kontrollierten Untersuchungen testen konnte. 1
Als mein erstes EMDR -Training begann, musste ich selbst dringend ein Trauma verarbeiten. Einige Wochen zuvor hatte der Jesuit, der Chef meiner Abteilung im Massachusetts General Hospital war, plötzlich die Traumaklinik geschlossen und uns so gezwungen, uns umgehend eine neue Bleibe zu suchen und uns neue Finanzierungsquellen zu erschließen, um weiter unsere Patienten behandeln, unsere Studenten ausbilden und unsere Studien fortsetzen zu können. Ungefähr zur gleichen Zeit wurde mein Freund Frank Putnam, der damals an jener Langzeitstudie über sexuell missbrauchte Mädchen arbeitete, über die ich in Kapitel 10 berichtet habe, von den National Institutes of Health entlassen, und Richard Kluft, der wichtigste Dissoziationsexperte der USA , verlor seine Abteilung am Pennsylvania Hospital. Dieses Zusammentreffen mag Zufall gewesen sein, aber ich empfand es, als würde meine ganze Welt angegriffen.
Mein Kummer über die Traumaklinik erschien mir als gute Möglichkeit, die Wirkung von EMDR zu prüfen. Während ich mit den Augen den Fingern meines Übungspartners folgte, tauchte in meinem Geist eine schnelle Folge verschwommener Szenen aus meiner Kindheit auf: von intensiven Gesprächen am Esstisch der Familie, von Konfrontationen mit Schulkameraden in den Unterrichtspausen, wie ich mit meinem älteren Bruder Kiesel gegen das Fenster eines Schuppens geworfen hatte – und alle diese Erinnerungen waren lebhaft, fließend und »hypnopomp«, so wie wir sie erleben, wenn wir an einem Sonntagmorgen lange schlafen, und sie wieder vergessen, wenn wir aufwachen.
Nach ungefähr einer halben Stunde suchte ich mit meinem Übungspartner die Szene auf, in der mir mein Chef mitgeteilt hatte, er werde meine Klinik schließen. Danach fühlte ich mich erleichtert: »Okay, das ist passiert, und jetzt wird es Zeit weiterzugehen.« Ich habe mich danach nie mehr damit beschäftigt. Später wurde die Klinik wieder eröffnet, und seither existiert und gedeiht sie bis heute. War EMDR der einzige Grund dafür, dass es mir gelang, mich von meiner Wut und meinem Kummer zu lösen? Natürlich werde ich das nie sicher wissen, aber meine mentale Reise durch die verschiedensten Szenen meiner Kindheit, mit dem Ergebnis der Neutralisierung des affektiven Einflusses jener Episode, war mit nichts vergleichbar, was ich in einer Redetherapie jemals erlebt hatte.
Was passierte, als ich selbst die EMDR -Arbeit übernahm, war noch verblüffender. Die Übungsteams wurden neu zusammengestellt, und ich kam mit einem Übungspartner zusammen, den ich nicht kannte. Dieser erklärte mir, er wolle an schmerzlichen Kindheitserlebnissen arbeiten, die mit seinem Vater zusammenhingen, aber er wolle nicht darüber sprechen. Ich hatte noch nie am Trauma eines Patienten gearbeitet, ohne »die Geschichte« zu kennen, und ich ärgerte mich und war nervös, weil mein Partner sich geweigert hatte, mich über die Einzelheiten seines Problems in Kenntnis zu setzen. Während ich meine Finger vor seinen Augen hin und her bewegte, wirkte er sehr bekümmert – er fing an zu schluchzen, und seine Atmung wurde sehr schnell und flach. Doch jedes Mal wenn ich ihm die Fragen stellte, die im EMDR -Protokoll vorgesehen sind, weigerte er sich, mir zu sagen, was ihm durch den Kopf ging.
Am Ende unserer 45-minütigen Sitzung sagte mein Kollege geradeheraus zu mir, er habe die Arbeit mit mir als so unangenehm empfunden, dass er niemals einen Patienten zu mir schicken werde. Allerdings habe die EMDR -Sitzung sein Problem bezüglich der schlechten Behandlung durch seinen Vater gelöst. Obwohl ich ihm misstraute und vermutete, sein unhöfliches Verhalten mir gegenüber sei aufgrund unaufgelöster Gefühle seinem Vater gegenüber entstanden, war deutlich zu erkennen, dass er wesentlich entspannter als vorher wirkte.
Ich wendete mich daraufhin an meinen EMDR -Trainer, Gerald Puk, und berichtete ihm von meiner Verwirrung. Dieser Mann hatte mich offensichtlich nicht gemocht und war mir während der ganzen EMDR -Sitzung sehr bekümmert vorgekommen, und nun sagte er trotzdem, sein langjähriges Leid existiere nicht mehr. Wie konnte ich wissen, was er aufgelöst hatte und was nicht, wenn er nicht bereit war, mir zu sagen, was während der Sitzung bei ihm geschehen war?
Gerry lächelte und fragte mich, ob ich vielleicht zufällig Psychiater geworden sei, um einige meiner persönlichen Probleme zu lösen. Ich bestätigte ihm, dass die meisten Menschen, die mich kannten, wohl dieser Meinung seien. Dann fragte er mich, ob ich es für wichtig hielte, wenn Menschen mir ihre Traumageschichten erzählten. Auch dies musste ich bejahen. Dann sagte er: »Wissen Sie, Bessel, Sie müssen lernen, Ihre voyeuristischen Neigungen unter Kontrolle zu bringen. Wenn es für Sie wichtig ist, Traumageschichten zu hören, warum gehen Sie dann nicht in eine Bar, legen ein paar Dollar auf die Theke und sagen zu Ihrem Nachbarn: ›Ich spendiere Ihnen einen Drink, wenn Sie mir Ihre Traumageschichte erzählen.‹ Sie müssen sich wirklich über den Unterschied zwischen Ihrem Bedürfnis, Geschichten zu hören, und dem inneren Heilungsprozess Ihres Patienten Rechenschaft geben.« Ich nahm mir Gerrys Ermahnung zu Herzen und habe sie seither immer wieder auch meinen Studenten ans Herz gelegt.
Seit meinem EMDR -Training faszinieren mich bis heute drei Dinge:
EMDR macht etwas im Geist/Gehirn zugänglich, das einen schnellen Zugang zu locker verknüpften Erinnerungen und Bildern aus der Vergangenheit ermöglicht. Dies hilft den Patienten offenbar, ihr traumatisches Erlebnis in einem größeren Zusammenhang zu sehen oder es zu relativieren.
Möglicherweise können Menschen von einem Trauma auch genesen, ohne darüber zu reden. EMDR ermöglicht ihnen, ihre Erlebnisse in einem neuen Licht zu betrachten, ohne sich verbal mit einem anderen Menschen auszutauschen.
EMDR kann selbst dann helfen, wenn zwischen dem Patienten und dem Therapeuten keine Vertrauensbeziehung besteht. Dies erschien mir insofern besonders interessant, als Traumatisierte verständlicherweise kaum jemals ein offenes, vertrauensvolles Herz haben.
In den Jahren seit meinen ersten Erfahrungen mit EMDR habe ich EMDR -Arbeit mit Patienten durchgeführt, die Swahili, Mandarin, Bretonisch sprachen, also Sprachen, in denen ich nicht viel mehr als »Achten Sie darauf« sagen kann, die zentrale Anweisung bei der EMDR -Arbeit. (Bei diesen Behandlungen war immer ein Übersetzer anwesend, der allerdings hauptsächlich die einzelnen Schritte des EMDR -Prozesses erklärte.) Weil es bei einer EMDR -Behandlung nicht erforderlich ist, dass die Patienten über die unerträglichen Dinge, die sie erlebt haben, sprechen und dass sie dem Therapeuten erklären, warum sie sich so aufgebracht fühlen, können sie sich völlig auf ihr inneres Erleben konzentrieren, mit manchmal außergewöhnlichen Resultaten.
Studien über EMDR
Die Traumaklinik wurde von einem Manager des Massachusetts Department of Mental Health gerettet, der unsere Arbeit mit Kindern verfolgt hatte und uns nun aufforderte, für die Region Boston ein Team für Traumabehandlungen zu organisieren. Dieser Auftrag reichte als ökonomische Grundlage für die Fortführung unserer bisherigen Arbeit; den Rest steuerten unsere engagierten Mitarbeiter bei, die ihre Arbeit liebten – auch die neu entdeckte Wirkkraft von EMDR , die einige unserer Patienten heilte, denen wir bisher nicht hatten helfen können.
Meine Kollegen und ich fingen an, einander Videoaufnahmen von unseren EMDR -Sitzungen mit PTBS -Patienten vorzuführen, was es uns ermöglichte, von Woche zu Woche dramatische Verbesserungen zu verfolgen. Dann begannen wir, die Fortschritte mithilfe einer PTBS -Beurteilungsskala zu messen. Außerdem vereinbarten wir mit Elizabeth Matthew, einer jungen Spezialistin für Neuro-Imaging vom New England Deaconess Hospital , dass sie bei zwölf Patienten im Anschluss an deren EMDR -Behandlung Gehirnscans durchführte. Nach nur drei EMDR -Sitzungen waren bei acht der zwölf Untersuchungsteilnehmer die PTBS -Werte deutlich verringert. Auf ihren Scans sahen wir nach der Behandlung einen starken Anstieg der Aktivität ihres Präfrontalkortex und eine deutlich verstärkte Aktivität des anterioren Cingulums und der Basalganglien. Diese Veränderung konnte als Beleg für eine Veränderung des Traumaerlebens gelten.
Ein Mann berichtete: »Ich erinnere mich daran wie an eine echte Erinnerung, aber diese war entfernter. Gewöhnlich versank ich darin, aber diesmal schwamm ich darauf. Ich hatte das Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben.« Eine Frau berichtete: »Vorher habe ich jeden einzelnen Schritt separat gespürt. Jetzt ist es wie ein Ganzes, nicht mehr wie Bruchstücke, und deshalb kann ich besser damit umgehen.« Das Trauma hatte seine Unmittelbarkeit verloren und war zu einer Geschichte über etwas vor langer Zeit Geschehenes geworden.
Später ermöglichte uns eine Förderung der National Institutes of Mental Health , die Wirkung von EMDR mit derjenigen einer Standarddosis Fluoxetin und der eines Plazebos zu vergleichen. 2 Von unseren 88 Untersuchungsteilnehmern erhielten 30 eine EMDR -Behandlung, 28 erhielten Fluoxetin und die übrigen Zuckerpillen. Wie so oft erzielten auch in diesem Fall diejenigen, die das Plazebo erhalten hatten, erstaunlich gute Resultate. Nach acht Wochen lag ihre Besserung um 42 Prozent höher als die vieler anderer Behandlungsarten, die als »evidenzbasiert« angepriesen werden.
Die Gruppe, die Fluoxetin erhalten hatte, erzielte etwas bessere Resultate als die Plazebo-Gruppe, aber der Unterschied war sehr gering. Dies ist typisch für die meisten Studien über medikamentöse Behandlungen bei PTBS : Schon allein die Tatsache, dass die Patienten zur Behandlung erscheinen, führt zu einer Besserung ihres Zustandes um 30 bis 42 Prozent; falls das Mittel wirkt, kommen noch 5 bis 15 Prozent dazu. Doch die Patienten, die mit EMDR behandelt wurden, erzielten deutlich bessere Resultate als diejenigen, die Fluoxetin oder das Plazebo erhalten hatten: Nach acht EMDR -Sitzungen war einer von vier Probanden der EMDR -Gruppe völlig geheilt (der PTBS -Wert ging danach gegen null), wogegen unter den Mitgliedern der Fluoxetin-Gruppe nur einer von zehn dieses Ergebnis erreichte. Der wirklich signifikante Unterschied jedoch stellte sich erst im Laufe der Zeit ein: Als wir unsere Studienteilnehmer acht Monate später noch einmal interviewten, fanden wir heraus, dass 60 Prozent derjenigen, die eine EMDR -Behandlung erhalten hatten, völlig geheilt waren. Der große Psychiater Milton Erickson hat einmal gesagt: »Sobald man dem Baumstamm einen Tritt versetzt, beginnt der Fluss zu fließen.« Wenn die Probanden erst einmal mit der Integration ihrer traumatischen Erinnerungen begonnen hatten, setzte sich die Besserung spontan von selbst fort. Im Gegensatz dazu erlitten alle Mitglieder der mit Fluoxetin behandelten Gruppe nach Absetzung des Mittels einen Rückfall.
Diese Studie war deshalb sehr wichtig, weil sie zeigte, dass eine fokussierte traumaspezifische PTBS -Therapie wie EMDR deutlich wirksamer sein kann als eine Behandlung mit Psychopharmaka. Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass die PTBS -Symptome von Patienten, die mit Fluoxetin oder ähnlichen Mitteln wie Citalopram, Paroxetin und Zoloft behandelt werden, zwar oft schwächer werden, aber nur, solange sie das Mittel einnehmen. Dies bedeutet, dass eine medikamentöse Behandlung langfristig deutlich kostspieliger ist. (Interessant ist auch, dass EMDR im Rahmen unserer Studie eine stärkere Reduzierung der Depressionswerte erzielte als Fluoxetin, obwohl dieses Mittel als wichtiges Antidepressivum angesehen wird.)
Eine weitere wichtige Erkenntnis, die wir aufgrund unserer Studie gewannen, war, dass Erwachsene, die in ihrer Kindheit traumatisiert worden waren, völlig anders auf EMDR reagierten als diejenigen, die als Erwachsene ein Trauma erlebt hatten. Nach Ablauf der achtwöchigen Behandlungszeit war die Hälfte der im Erwachsenenalter Traumatisierten völlig geheilt, wohingegen nur bei 9 Prozent derjenigen mit einem Kindheitstrauma eine deutliche Besserung eingetreten war. Acht Monate nach der Studie lag die Zahl der Geheilten bei der Gruppe der im Erwachsenenalter Traumatisierten bei 73 Prozent, wogegen in der Gruppe mit Kindheitstraumata nur 25 Prozent als geheilt gelten konnten. Zu erwähnen ist noch, dass bei Letzteren eine geringe, aber konsistent positive Reaktion auf eine Fluoxetinbehandlung beobachtet wurde.
Diese Resultate bestätigten, worüber ich in Kapitel 9 berichtet habe: Chronische Traumatisierungen in der Kindheit führen zu völlig anderen psychischen und biologischen Adaptationen als das Erleben einzelner traumatischer Situationen im Erwachsenenalter. EMDR ist ein sehr wirksames Mittel für die Arbeit an nicht integrierten Traumaerinnerungen, aber es vermag die Nachwirkungen von Vertrauensbrüchen und Verlassenwerden, die mit körperlichen Misshandlungen und sexuellem Missbrauch in der Kindheit verbunden sind, nicht immer aufzulösen. Eine achtwöchige Therapie welcher Art auch immer reicht so gut wie nie aus, um die Folgen langjähriger traumatischer Erlebnisse aufzulösen.
Beim Stand von 2014 hatte unsere EMDR -Studie das positivste Resultat, das bis zu diesem Zeitpunkt bei Patienten, die in Reaktion auf ein traumatisches Ereignis im Erwachsenenalter eine PTBS entwickelt hatten, erzielt worden war. Doch trotz dieser Resultate und derjenigen Dutzender anderer Studien sind viele meiner Kollegen bezüglich EMDR immer noch skeptisch – vielleicht weil diese Methode ihnen als zu gut, um wahr sein zu können, oder als zu simpel, um wirksam sein zu können, erscheint. Ich kann diese Skepsis durchaus verstehen, denn EMDR ist tatsächlich ein ungewöhnliches Verfahren. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass im Rahmen der ersten soliden wissenschaftlichen Studie, in der EMDR zur Behandlung von PTBS -kranken Kriegsveteranen eingesetzt wurde, eigentlich schlechte Resultate erwartet worden waren, weshalb man die EMDR -Behandlung nur als Kontrollbedingung für den Vergleich mit einer biofeedbackgestützten Entspannungstherapie testen wollte. Doch zur Überraschung der Forscher erwiesen sich zwölf EMDR -Sitzungen als die wirksamere Behandlung. 3 Inzwischen ist EMDR zu einer der vom Department of Veterans Affairs zugelassenen Behandlungen geworden.
Ist EMDR eine Form von Expositionstherapie?
Einige Psychologen haben die Auffassung vertreten, EMDR desensibilisiere gegenüber traumatischem Material und ähnele somit einer Expositionstherapie. Zutreffender wäre zu sagen, dass EMDR das traumatische Material integriert . Wie unsere Untersuchung gezeigt hat, sahen die Studienteilnehmer ihr Trauma nach einer EMDR -Behandlung als kohärentes Ereignis, das sie in der Vergangenheit erlebt hatten, statt dass sie mit dem Trauma zusammenhängende Empfindungen und Bilder losgelöst von ihrem Kontext erlebten.
Erinnerungen entwickeln und verändern sich. Unmittelbar nachdem eine Erinnerung vom Gedächtnis gespeichert worden ist, durchläuft sie einen langwierigen Prozess der Integration und Neuinterpretation, der im Geist/Gehirn ohne jeden Input des Bewusstseins automatisch stattfindet. Ist dieser Prozess abgeschlossen, wird das Erlebte in das Kontinuum der Ereignisse integriert und führt kein Eigenleben mehr. 4 Wie wir gesehen haben, versagt dieser Integrationsprozess im Falle einer PTBS , und die Erinnerung bleibt in ihrer »unverdauten« und unverarbeiteten Form bestehen.
Leider lernen nur wenige Psychologen in ihrer Ausbildung, wie Erinnerungen im Gehirn verarbeitet werden. Aufgrund dieses Mankos entscheiden die Betreffenden sich oft für dysfunktionale Formen der Traumabehandlung. Im Gegensatz zu Phobien (wie etwa einer Spinnenphobie, die auf einer speziellen irrationalen Furcht basiert) ist posttraumatischer Stress das Resultat einer grundlegenden Neuorganisation des zentralen Nervensystems nach dem Erleben einer realen Gefahr, vernichtet zu werden (oder weil die Betroffenen die Vernichtung eines anderen Menschen miterlebt haben), was eine Reorganisation des Selbsterlebens (als hilflos) und der Wirklichkeitsdeutung (die ganze Welt ist gefährlich) zur Folge hat.
Während der Exposition werden die Patienten zunächst extrem aufgebracht. Sobald sie zu ihrem traumatischen Erlebnis in Kontakt treten, steigen bei ihnen die Herzfrequenz, der Blutdruck und der Stresshormonspiegel stark an. Schaffen sie es jedoch, die Behandlung fortzusetzen und beim Wiedererleben ihres Traumas zu bleiben, lassen ihre PTBS -typischen Reaktionen allmählich nach, und ihre vorherige Tendenz zur Desintegration beim Wiedererleben des Traumas nimmt ab. Die Folge ist ein Nachlassen der Stärke ihrer PTBS -Symptome. Doch soweit uns bekannt ist, kommt es allein durch die erneute Konfrontation mit einem alten Trauma nicht zur Integration der betreffenden Erinnerung in den Kontext der Lebensereignisse, und es gelingt kaum jemals, den Betroffenen auf diese Weise einen erfreulichen Umgang mit anderen Menschen und mit Tätigkeiten zu erschließen.
Im Gegensatz dazu fokussieren sich EMDR und die anderen in den folgenden Kapiteln vorgestellten Behandlungsformen – System der inneren Familie, Yoga, Neurofeedback, psychomotorische Therapie und Theaterarbeit – nicht nur auf die Regulierung der durch das Trauma aktivierten intensiven Erinnerungen, sondern auch auf die Wiederherstellung eines Gefühls der eigenen Wirkmacht (agency), des Engagements durch Wiederaneignung von Körper und Geist.
Traumaverarbeitung mit EMDR
Kathy war 21 Jahre alt und studierte an einer lokalen Universität. Als ich sie das erste Mal traf, wirkte sie ziemlich entsetzt. Sie war seit drei Jahren bei einem Psychotherapeuten in Behandlung, dem sie vertraute und von dem sie sich verstanden fühlte, durch dessen Arbeit sie aber keine Fortschritte erzielte. Nach ihrem dritten Suizidversuch überwies der Gesundheitsdienst der Universität sie an mich, in der Hoffnung, dass die neue Technik, von der ich dem dortigen Personal berichtet hatte, ihr helfen würde.
Wie einige andere traumatisierte Patienten auch konnte Kathy sich völlig in ihre Studien vertiefen. Wenn sie ein Buch las oder einen Aufsatz schrieb, konnte sie ihr ganzes übriges Leben ausblenden. Dies ermöglichte ihr, eine gute Studentin zu sein, wohingegen sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie eine liebevolle Beziehung zu sich selbst herstellen könnte, ganz zu schweigen von einer Beziehung zu einem Partner.
Kathy erzählte mir, ihr Vater habe sie viele Jahre lang für die Kinderprostitution ausgenutzt, und normalerweise hätte ich mich aufgrund dessen entschieden, EMDR nur als Zusatz zu einer anderen Therapie einzusetzen. Sie erwies sich jedoch als EMDR -Virtuosin und war nach acht EMDR -Sitzungen völlig genesen. Dies war die kürzeste Behandlungsdauer, die ich bei Patienten, die als Kinder sexuell missbraucht worden waren, jemals erlebt hatte. Die Sitzungen fanden vor fünfzehn Jahren statt, und ich habe die Patientin kürzlich wiedergetroffen, um mit ihr das Für und Wider der Adoption eines dritten Kindes zu besprechen. Es war eine Freude, sie zu treffen, denn sie war klug und lustig, und ihr Leben mit ihrer Familie machte ihr offensichtlich ebenso viel Freude wie ihre Arbeit als Assistenzprofessorin für kindliche Entwicklung.
Ich würde an dieser Stelle gern aus meinen Notizen über Kathys vierte EMDR -Behandlung berichten, und zwar nicht nur, um zu demonstrieren, wie solch eine Sitzung typischerweise vonstattengeht, sondern auch, um den menschlichen Geist in Aktion während der Integration eines traumatischen Erlebnisses vorzustellen. Kein Gehirnscan, kein Bluttest und keine Beurteilungsskala kann messen und eine Videoaufnahme kann nur einen sehr vagen Eindruck davon vermitteln, wie EMDR die Vorstellungskräfte des Geistes zu entfesseln vermag.
Kathy saß auf ihrem Stuhl, der zu meinem eigenen im Winkel von 45 Grad stand, und wir waren knapp anderthalb Meter voneinander entfernt. Ich forderte sie auf, sich eine besonders schmerzhafte Erinnerung zu vergegenwärtigen, und ermutigte sie dazu, sich an alles, was sie in jener Situation gehört, gesehen, gedacht und in ihrem Körper empfunden hatte, zu erinnern. (Aus meinen Aufzeichnungen geht nicht hervor, ob sie mir sagte, was die betreffende Erinnerung beinhaltete; ich vermute aber, dass sie dies nicht getan hat, da ich es nicht notiert habe.)
Ich fragte sie, ob sie nun »in der Erinnerung« sei, und als sie dies bestätigte, fragte ich weiter, als wie real ihr diese Erinnerung, gemessen auf einer von eins bis zehn reichenden Skala, erschiene. Sie nannte die Zahl Neun. Dann forderte ich Kathy auf, mit ihren Augen den Bewegungen meines Fingers zu folgen. Wenn ich jeweils ungefähr 25 Bewegungen ausgeführt hatte, sagte ich etwas wie: »Atmen Sie nun tief«, und anschließend fragte ich: »Was taucht jetzt bei Ihnen auf?« Oder: »Was fällt Ihnen nun ein?« Kathy berichtete dann, was ihr gerade durch den Kopf ging. Wenn der Ton ihrer Stimme, ihr Gesichtsausdruck, ihre Körperbewegungen oder ihr Atemmuster darauf hindeuteten, dass bei ihr etwas emotional Signifikantes aufgetaucht war, sagte ich: »Achten Sie darauf«, und anschließend begann ich mit einer weiteren Serie von Augenbewegungen, und sie schwieg, während sie den Bewegungen meines Fingers folgte. Außer den erwähnten kurzen Kommentaren sagte ich während der 45-minütigen EMDR -Arbeit nichts.
Nach der ersten Serie von Augenbewegungen berichtete Kathy über folgende Assoziationen: »Ich merke, dass ich Narben habe – weil er mir die Hände hinter dem Rücken zusammenbindet. Die Narbe dort hat er mir zugefügt, um mich als sein Eigentum zu markieren, und das da [sie deutet auf eine bestimmte Stelle] sind Bissnarben.« Sie wirkte benommen, aber erstaunlich ruhig, als sie über folgende Erinnerung berichtete: »Ich erinnere mich, dass ich mit Benzin übergossen wurde – er hat Polaroid-Bilder davon gemacht –, und anschließend wurde ich in Wasser untergetaucht. Ich bin von meinem Vater und zweien seiner Freunde gemeinsam vergewaltigt worden; dabei war ich auf einem Tisch gefesselt. Ich erinnere mich noch, dass sie mich mit Budweiser-Flaschen vergewaltigt haben.«
Ich bekam Magenkrämpfe, aber ich sagte nichts weiter, sondern forderte Kathy nur auf, diese Erinnerungen im Sinn zu behalten. Nach etwa dreißig weiteren Vor-und-zurück-Bewegungen des Fingers hielt ich inne, als ich sah, dass sie lächelte. Auf meine Frage, was sie denke, antwortete sie: »Ich war in einem Karate-Kurs; das war wunderbar! Ich habe so richtig zugeschlagen. Ich habe gesehen, wie sie zurückgewichen sind. Ich habe gebrüllt: ›Siehst du denn nicht, dass du mich verletzt? Ich bin nicht deine Freundin!‹« Daraufhin sagte ich: »Bleiben Sie dabei«, und begann dann mit der nächsten Serie von Augenbewegungen. Als diese endete, sagte Kathy: »Ich habe ein Bild von zwei Teilen von mir: von diesem klugen und hübschen Mädchen … und von dieser kleinen Schlampe. Alle diese Frauen, die sich nicht um sich selbst oder um mich oder um ihre Männer kümmern konnten – die es mir überließen, diesen Männern zu Diensten zu sein.« Während der nächsten Serie von Augenbewegungen fing sie an zu weinen, und als die Serie endete, sagte sie: »Ich habe gesehen, wie klein ich war – wie brutal dieses kleine Mädchen behandelt worden ist. Was passiert ist, war nicht meine Schuld.« Ich nickte und sagte: »So ist es gut, bleiben Sie dabei.« Die nächste Serie von Augenbewegungen endete damit, dass Kathy berichtete: »Ich habe nun mein ganzes Leben vor Augen – mein großes Ich hält mein kleines Ich und sagt: ›Du bist jetzt in Sicherheit.‹« Ich nickte ermutigend und fuhr mit den Augenbewegungen fort.
Immer neue Bilder tauchten auf: »Ich sehe einen Bulldozer, der das Haus abreißt, in dem ich aufgewachsen bin. Es ist vorbei!« Dann wendete Kathy sich einer anderen Thematik zu: »Ich denke daran, wie sehr ich Jeffrey mag [einen Jungen aus einer ihrer Klassen]. Ich denke, dass er vielleicht nichts mit mir zu tun haben will. Und ich denke, dass ich damit nicht fertigwerden kann. Ich bin noch nie jemandes Freundin gewesen, und ich weiß nicht, wie man es anstellen muss, es zu werden.« Ich fragte sie, was sie glaube, dafür wissen zu müssen, und begann dann mit der nächsten Serie von Augenbewegungen. »Jetzt ist da jemand, der einfach mit mir zusammen sein will – das ist zu einfach. Ich weiß nicht, wie ich in Gesellschaft von Männern ich selbst sein kann. Ich bin dann wie versteinert.«
Während Kathy weiter den Bewegungen meines Fingers folgte, fing sie an zu weinen. Als ich die Bewegungen beendete, erzählte sie mir: »Ich hatte ein Bild von Jeffrey und mir, wie wir in einem Café sitzen. Mein Vater kommt in den Raum. Er fängt an, in höchster Lautstärke zu brüllen, und schwingt eine Axt. Er sagt: ›Ich habe dir doch gesagt, dass du mir gehörst!‹ Er legt mich auf den Tisch – und dann vergewaltigt er zuerst mich und dann Jeffrey.« Sie weinte nun bitterlich. »Wie soll ich einem anderen Menschen gegenüber offen sein können, wenn ich vor mir sehe, dass mein Vater zuerst mich und dann meinen Freund vergewaltigt?« Ich verspürte das Bedürfnis, sie zu trösten, aber ich wusste, dass es wichtiger war, ihre Assoziationen in Gang zu halten. Ich forderte sie auf, sich auf das zu konzentrieren, was sie in ihrem Körper spürte. Sie sagte: »Ich spüre es in meinen Unterarmen, in meinen Schultern und in der rechten Brust. Ich möchte gehalten werden.« Wir fuhren mit der EMDR -Arbeit fort, und als wir sie beendeten, wirkte Kathy entspannt. »Ich habe Jeffrey sagen hören, es sei okay, er sei geschickt worden, um sich um mich zu kümmern. Und das sei nichts, was von mir ausgehe; er wolle einfach um meiner selbst willen bei mir sein.« Wieder fragte ich Kathy, was sie in ihrem Körper spüre. Sie antwortete: »Ich fühle mich friedlich. Ein bisschen zittrig – wie wenn man neue Muskeln benutzt hat. Eine gewisse Erleichterung. Jeffrey weiß dies alles schon. Ich fühle mich lebendig, und ich spüre, dass alles vorbei ist. Aber ich fürchte, dass mein Vater jetzt ein anderes Mädchen hat, und das macht mich sehr, sehr traurig. Ich verspüre den Wunsch, dieses andere Mädchen zu retten.«
Doch als wir mit der Arbeit fortfuhren, tauchte das Trauma erneut auf, in Verbindung mit anderen Gedanken und Bildern: »Ich muss mich übergeben. Ich rieche viele üble Gerüche – von billigem Parfüm, Alkohol, Erbrochenem.« Ein paar Minuten später weinte Kathy heftig und sagte: »Ich spüre jetzt, dass meine Mutter hier ist. Es fühlt sich so an, als wollte sie, dass ich ihr verzeihe. Ich habe das Gefühl, dass sie das Gleiche erlebt hat – sie entschuldigt sich immer wieder bei mir. Sie erzählt mir, sie habe dies auch erlebt – mein Großvater habe es mit ihr genauso gemacht. Außerdem sagt sie mir, meiner Großmutter tue es wirklich leid, dass sie nicht für mich da sein und mich schützen könne.« Ich forderte Kathy immer wieder auf, tief zu atmen und bei dem, was bei ihr auftauche, zu bleiben.
Am Ende der nächsten Serie von Augenbewegungen sagte Kathy: »Ich habe das Gefühl, dass es vorüber ist. Ich habe gespürt, dass meine Großmutter mich in meinem jetzigen Alter gehalten hat – dass sie mir gesagt hat, es tue ihr so leid, dass sie meinen Großvater geheiratet habe. Sie und meine Mutter würden dafür sorgen, dass dies alles nun aufhöre.« Nach einer letzten Serie von Augenbewegungen lächelte Kathy und sagte: »Ich habe ein Bild davon vor mir, wie ich meinen Vater aus dem Café stoße und wie Jeffrey hinter ihm die Tür abschließt. Er steht draußen. Man sieht ihn dort durch das Glas, und alle machen sich über ihn lustig.«
Mithilfe von EMDR gelang es Kathy, die Erinnerungen an ihr Trauma zu integrieren und ihre Imagination zu nutzen, um die Erinnerungen zu befrieden und so zu dem Gefühl zu gelangen, dass die Sache nun wirklich abgeschlossen war und sie die Kontrolle über ihr Leben wiedererlangt hatte. Dies gelang ihr mit minimalem Input meinerseits und ohne jedes Gespräch über die Einzelheiten des Erlebten. (Ich sah nie einen Grund, ihren Bericht anzuzweifeln; ihre Erlebnisse waren für sie real, und meine Aufgabe bestand darin, ihr zu helfen, mit ihren Erinnerungen in der Gegenwart fertigzuwerden.) Der Prozess befreite etwas in ihrem Geist/Gehirn, das neue Bilder, Empfindungen und Gedanken aktivierte; es war, als würde die Lebenskraft selbst auftauchen und neue Möglichkeiten für ihre Zukunft erschaffen. 5
Wie wir gesehen haben, bleiben traumatische Erinnerungen als abgespaltene, nie modifizierte Bilder, Empfindungen und Gefühle bestehen. Meines Erachtens ist das interessanteste Merkmal von EMDR , dass diese Methode scheinbar unzusammenhängende Empfindungen, Emotionen, Bilder und Gedanken in Verbindung mit der ursprünglichen Erinnerung aktivieren kann. Dieses Umgestalten alter Informationen in neuen Zusammenstellungen ist möglicherweise nichts weiter als die Art, wie wir gewöhnliche, nichttraumatische alltägliche Erlebnisse integrieren.
Die Erforschung der Verbindung zwischen EMDR und REM-Schlaf
Kurz nachdem ich die erste Bekanntschaft mit EMDR gemacht hatte, wurde ich gebeten, in dem von Allan Hobson am Massachusetts Mental Health Center geleiteten Schlaflabor einen Vortrag über meine Arbeit zu halten. Hobson war zu einiger Berühmtheit gelangt, weil er (zusammen mit seinem Lehrer Michel Jouvet) 6 entdeckt hatte, wo im Gehirn Träume entstehen; und einer seiner Forschungsassistenten, Robert Stickgold, fing gerade an, die Funktion von Träumen zu erforschen. Ich führte der Gruppe eine Videoaufnahme von einer Patientin vor, die nach einem schrecklichen Autounfall seit dreizehn Jahren unter PTBS litt und die sich von einem hilflosen und panischen Opfer in nur zwei EMDR -Sitzungen in eine zuversichtliche und selbstsichere Frau verwandelt hatte. Bob war fasziniert.
Einige Wochen später entwickelte eine Freundin von Stickgolds Familie nach dem Tod ihrer Katze eine so starke Depression, dass sie stationär behandelt werden musste. Der behandelnde Psychiater war zu dem Schluss gelangt, dass der Tod der Katze unverarbeitete Erinnerungen an den Tod der Mutter der Patientin, als diese zwölf Jahre alt gewesen war, aktiviert hatte, und er empfahl ihr Roger Solomon, einen bekannten EMDR -Trainer, der sie erfolgreich behandelte. Später rief die Frau Stickgold an und sagte: »Bob, damit musst du dich beschäftigen. Es ist wirklich merkwürdig – es hat etwas mit dem Gehirn zu tun, nicht mit dem Geist.«
Kurz danach erschien in der Zeitschrift Dreaming ein Artikel, der suggerierte, EMDR stehe in einer Beziehung zum REM -Schlaf – der Schlafphase, in der Träume auftreten. 7 Untersuchungen hatten gezeigt, dass der Schlaf und insbesondere der Teil, in dem Träume auftreten, bei der Regulierung von affektiven Zuständen eine wichtige Rolle spielt. Der Artikel in Dreaming wies darauf hin, dass sich die Augen im REM -Schlaf ebenso wie bei der EMDR -Arbeit hin und her bewegen. Wenn wir mehr Zeit im REM -Schlaf verbringen, wird dadurch eine Depression verringert, und je kürzer die Zeit im REM -Schlaf ist, umso wahrscheinlicher werden wir depressiv. 8
Natürlich wird PTBS immer wieder mit Schlafstörungen assoziiert, und die Selbstbehandlung mit Alkohol und anderen Genussdrogen stört den REM -Schlaf zusätzlich. In meiner Zeit bei der VA hatte ich mit Kollegen herausgefunden, dass die Veteranen, die an einer PTBS litten, häufig aufwachten, kurz nachdem sie in die REM -Schlafphase eingetreten waren 9 – wahrscheinlich weil sie während eines Traums ein Traumafragment aktiviert hatten. 10 Auch andere Forscher haben dies bemerkt, jedoch angenommen, es sei für das Verständnis der PTBS nicht wichtig. 11
Heute wissen wir, dass sowohl tiefer Schlaf als auch der REM -Schlaf bei der Veränderung von Erinnerungen im Laufe der Zeit eine wichtige Rolle spielen. Das schlafende Gehirn verändert Erinnerungen, indem es den Einfluss emotional relevanter Informationen verstärkt und irrelevantes Material verblassen lässt. 12 In einer ganzen Reihe eleganter Untersuchungen zeigten Stickgold und seine Kollegen, dass das schlafende Gehirn sogar Informationen in einen Sinnzusammenhang bringen kann, deren Relevanz uns im Wachzustand nicht klar ist, und diese Informationen in das umfassendere Gedächtnissystem integrieren kann. 13
Träume wiederholen sich, manifestieren sich in neuen Kombinationen und reintegrieren Teile alter Erinnerungen über Monate oder gar Jahre. 14 Sie verändern ständig die verborgenen Realitäten, die darüber entscheiden, worauf unser Geist im Wachzustand die Aufmerksamkeit richtet. Und was für EMDR vielleicht am wichtigsten ist: Im REM -Schlaf aktivieren wir entferntere Assoziationen als im Nicht-REM -Schlaf und im normalen Wachzustand. Wenn man Probanden beispielsweise aus dem Nicht-REM -Schlaf aufweckt und ihnen einen Wortassoziationstest vorlegt, geben sie Standardantworten wie heiß/kalt, hart/weich usw. Werden sie hingegen aus dem REM -Schlaf geweckt, stellen sie weniger konventionelle Bezüge her, beispielsweise Dieb/falsch. 15 Und sie können nach dem REM -Schlaf auch leichter einfache Anagramme auflösen. Diese Verlagerung in Richtung Aktivierung weniger naheliegender Assoziationen könnte erklären, weshalb Träume so bizarr sind. 16
Stickgold, Hobson und ihre Kollegen entdeckten auf diese Weise, dass Träume helfen, neue Beziehungen zwischen anscheinend nicht miteinander verbundenen Erinnerungen herzustellen. 17 Neue Verbindungen zu erkennen ist ein wichtiges Merkmal von Kreativität; und wie wir gesehen haben, ist diese Fähigkeit auch für die Heilung wichtig. Die Unfähigkeit, Erlebnisse auf neue Arten miteinander zu verbinden, ist auch eines der hervorstechenden Merkmale der PTBS . Während der in Kapitel 4 erwähnte Noam in der Lage war, sich ein Trampolin vorzustellen, das die Opfer von Terroranschlägen in Zukunft retten könnte, sind Traumatisierte in erstarrten Assoziationen gefangen: Jeder, der einen Turban trägt, wird versuchen, mich zu töten; jeder Mann, der mich für attraktiv hält, will mich vergewaltigen.
Schließlich entwickelte Stickgold die Hypothese, zwischen EMDR und der Verarbeitung von Erinnerungen in Träumen bestehe eindeutig eine Verbindung: »Wenn die bilaterale Stimulation der EMDR -Arbeit Gehirnzustände auf eine Weise verändern kann, die der während des REM -Schlafs stattfindenden ähnelt, gibt es nun plausible Anhaltspunkte dafür, dass EMDR auch schlafabhängige und bei PTBS -Kranken blockierte oder außer Funktion gesetzte Prozesse nutzen könnte, welche die effektive Verarbeitung von Erinnerungen und die Auflösung von Traumata ermöglichen.« 18 Die grundlegende EMDR -Anweisung »Vergegenwärtigen Sie sich dieses Bild weiter, und folgen Sie den Bewegungen meines Fingers« könnte reproduzieren, was im träumenden Gehirn vor sich geht. Während dieses Buch in Druck geht, untersuche ich zusammen mit Ruth Lanius, wie das Gehirn während der Erinnerung an ein traumatisches Ereignis und im normalen Alltag auf sakkadische Augenbewegungen reagiert, während die Probanden in einem fMRI -Scanner liegen. Bleiben Sie dabei!
Assoziation und Integration
Im Gegensatz zur konventionellen Expositionsbehandlung verwendet die EMDR -Arbeit sehr wenig Zeit auf die Vergegenwärtigung des ursprünglichen Traumas. Das Trauma selbst ist natürlich der Anfangspunkt, aber der Fokus ist darauf gerichtet, die Assoziationsprozesse zu stimulieren und zu erschließen. Wie unsere Fluoxetin/EMDR -Studie gezeigt hat, können Psychopharmaka die Bilder und Empfindungen des Entsetzens abschwächen, bleiben aber trotzdem in Geist und Körper eingebettet. Im Gegensatz zu den Probanden, deren Zustand sich durch Fluoxetin besserte – deren Erinnerungen nur abgeschwächt waren, nicht als Ereignis in der Vergangenheit integriert, und die immer noch starke Angst hervorriefen –, erlebten diejenigen, die eine EMDR -Behandlung erhalten hatten, keine separaten Traumafragmente mehr: Das Geschehen war zu einer Erzählung über ein schreckliches Ereignis geworden, das vor langer Zeit stattgefunden hatte. Einer meiner Patienten hat dies ausgedrückt, indem er sagte: »Es ist vorbei«, und dabei eine wegwerfende Handbewegung ausführte.
Wir wissen zwar noch nicht genau, wie EMDR wirkt, aber mit Fluoxetin geht es uns nicht anders. Das Mittel wirkt auf Serotonin, aber ob der Serotoninspiegel dadurch steigt oder sinkt, in welchen Gehirnzellen dies stattfindet und warum Menschen aufgrund dessen weniger Angst empfinden, ist immer noch unklar. Ebenso wenig wissen wir genau, warum das Reden mit einem Freund, dem sie vertrauen, Menschen eine so tiefe Erleichterung verschaffen kann, und es überrascht mich, dass nur wenige begierig darauf sind, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. 19
Kliniker haben nur eine Verpflichtung: alles zu tun, was dazu führt, dass es ihren Patienten besser geht. Deshalb war die klinische Praxis immer ein Nährboden für Experimente. Einige führen zu nichts, andere verlaufen erfolgreich, und wieder andere, und das gilt für EMDR , die dialektisch-behaviorale Therapie und die Therapie des Systems der inneren Familie, verändern die Art, wie therapeutische Arbeit praktiziert wird. Alle diese Behandlungen zu validieren würde Jahrzehnte dauern und würde außerdem durch die Tatsache erschwert, dass die Forschung in der Regel Methoden stützt, deren Wirksamkeit bereits als erwiesen gelten kann. Was mir in dieser Hinsicht Mut macht, ist die Geschichte des Penizillins: Zwischen der Entdeckung der antibiotischen Eigenschaften dieses Stoffes durch Alexander Fleming im Jahre 1928 und der endgültigen Klärung seines Wirkmechanismus im Jahre 1965 vergingen fast vier Jahrzehnte.