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Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus. Jeden Morgen ein neuer Gast. Freude, Depression und Niedertracht – auch ein Moment der Achtsamkeit kommt unverhofft zu Besuch. Grüße und bewirte sie alle! … Behandle jeden Gast ehrenvoll. … Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit – begegne ihnen lachend an der Tür, und lade sie zu dir ein. Sei dankbar für jeden, der kommt, denn alle wurden dir aus einer anderen Welt geschickt, um dich zu führen.

Rumi

Streng genommen hat ein Mensch viel mehr als ein soziales Selbst, nämlich ebenso viele, als es Individuen gibt, die ihn erkennen …

William James, Psychologie, S. 1909

Es war früh in meiner Karriere, und Mary, eine schüchterne, einsame und körperlich sehr fragile junge Frau, kam seit drei Monaten jede Woche zu mir zur Psychotherapie, um an ihrer entsetzlichen Geschichte frühkindlichen Missbrauchs zu arbeiten. Eines Tages, als ich die Tür zu meinem Wartezimmer öffnete, stand sie dort in provozierender Haltung, bekleidet mit einem Minirock, mit leuchtend rot gefärbtem Haar, einem Becher Kaffee in der Hand und einem verwegenen Gesichtsausdruck. Sie sagte: »Sie müssen Dr. van der Kolk sein. Mein Name ist Jane, und ich bin gekommen, um Sie zu warnen. Glauben Sie keine der Lügen, die Mary Ihnen erzählt hat. Kann ich reinkommen, um Ihnen einiges über sie zu erzählen?« Ich war ziemlich verdutzt, verkniff es mir aber glücklicherweise, »Jane« zur Rede zu stellen, und ließ sie ausreden. Im Laufe unserer Sitzung lernte ich dann nicht nur Jane näher kennen, sondern auch ein verletztes kleines Mädchen und einen wütenden männlichen Jugendlichen. Dies war der Anfang einer langen und produktiven Behandlung.

Mary war meine erste Begegnung mit der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS ), die damals noch Multiple Persönlichkeitsstörung genannt wurde. So dramatisch ihre Symptome wirken mögen, repräsentieren die innere Spaltung und das Auftauchen verschiedener deutlich unterscheidbarer Identitäten bei einer DIS doch nur ein Extrem des Spektrums mentaler Erscheinungsformen. Das Gefühl, von gegensätzlichen Impulsen oder Anteilen getrieben zu werden, ist uns allen bekannt, aber bei traumatisierten Menschen ist es besonders ausgeprägt, weil sie zur Sicherung ihres Überlebens extreme Maßnahmen ergreifen mussten. Diese Anteile zu erforschen und sich mit ihnen vertraut zu machen ist eine wichtige Komponente der Arbeit an der Heilung.

Verzweifelte Situationen machen extreme Maßnahmen notwendig

Wir alle wissen, was passiert, wenn wir uns gedemütigt fühlen: Wir verwenden dann unsere gesamte Energie darauf, uns zu schützen, indem wir alles in Bewegung setzen, um Überlebensstrategien zu entwickeln. Vielleicht unterdrücken wir unsere Gefühle, vielleicht werden wir aber auch wütend und schwören uns, Rache zu nehmen. Oder wir nehmen uns vor, so mächtig und erfolgreich zu werden, dass niemand uns je wieder verletzen kann. Viele Verhaltensweisen, die als psychische Probleme klassifiziert werden – darunter einige Obsessionen, Zwänge und Panikattacken sowie die meisten selbstschädigenden Verhaltensweisen –, waren ursprünglich Strategien des Selbstschutzes. Solche Anpassungen an ein Trauma können die allgemeine Funktionsfähigkeit eines Menschen derart beeinträchtigen, dass Krankenversicherungen und sogar die Patienten selbst oft glauben, eine vollständige Genesung sei nicht möglich. Doch wenn solche Symptome als bleibende Beeinträchtigungen angesehen werden, beschränken sich Behandlungsversuche schnell auf die Suche nach einem geeigneten Medikament, und das kann eine lebenslange Abhängigkeit von diesem Mittel zur Folge haben – als würden Traumatisierte Dialysepatienten ähneln. 1

Sinnvoller ist es, Aggression oder Depression, Arroganz oder Passivität als erlernte Verhaltensweisen zu verstehen: Irgendwann im Laufe seines Lebens hat der Patient die Überzeugung entwickelt, er könne nur überleben, wenn er hart, unsichtbar oder abwesend wäre, oder es wäre seiner Sicherheit dienlicher aufzugeben. Wie traumatische Erinnerungen, die sich immer wieder bemerkbar machen, bis man sie zur Ruhe gebracht hat, bleiben Adaptationen an ein Trauma so lange bestehen, bis der menschliche Organismus sich sicher fühlt und alle Anteile seiner Person, die sich damit abmühen, ein Trauma zu bekämpfen oder abzuwehren, integriert.

Alle Traumatisierten, die ich kennengelernt habe, sind auf ihre Weise resilient, und ihre Geschichten nötigen mich zur höchstmöglichen Anerkennung dessen, wie es diesen Menschen gelungen ist, mit ihrer Situation fertigzuwerden. Weil ich weiß, wie viel Energie es kostet, auch nur das eigene Überleben zu sichern, überrascht es mich nicht, welchen Preis sie dafür oft zahlen: Sie verzichten auf eine liebevolle Beziehung zu ihrem eigenen Körper, ihrem Geist und ihrer Seele.

Coping hat seinen Preis. Für viele Kinder ist es besser, sich selbst zu hassen, als ihre Beziehung zu ihren Betreuern aufs Spiel zu setzen, indem sie ihre Wut zum Ausdruck bringen oder davonlaufen. Deshalb wachsen missbrauchte und misshandelte Kinder häufig in dem Glauben auf, sie seien grundsätzlich nicht liebenswert; nur so konnten sie sich in ihrer Kindheit erklären, warum sie so schlecht behandelt wurden. Sie überleben, indem sie große Teile der Wirklichkeit leugnen, ignorieren und abspalten: Sie vergessen den Missbrauch oder die Misshandlungen, die sie erlebt haben; sie unterdrücken ihre Wut oder Verzweiflung; und sie betäuben ihre Körperempfindungen. Wenn Sie als Kind missbraucht worden sind, existiert bei Ihnen wahrscheinlich ein kindlicher Anteil, der in der traumatischen Situation erstarrt ist und der an dieser Art von Selbsthass und Leugnen festhält. Viele Erwachsene, die Entsetzliches erlebt haben, sitzen in dieser Falle. Die Verbannung starker Gefühle kann kurzfristig sehr adaptiv wirken. Es hilft Menschen, ihre Würde und Unabhängigkeit zu bewahren oder sich auf wichtige aktuelle Aufgaben zu konzentrieren, beispielsweise darauf, einen Kameraden zu retten, für die eigenen Kinder zu sorgen oder ein Haus wieder bewohnbar zu machen.

Die Probleme folgen später. Nachdem ein Soldat mit angesehen hat, wie einer seiner Freunde in die Luft gesprengt wurde, muss er irgendwann in das Zivilleben zurückkehren und versuchen, das Erlebte aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Ein schützender Anteil von ihm weiß, wie man sich in seinem Beruf kompetent verhält und wie man mit Kollegen auskommt. Doch wird er vielleicht immer wieder wütend auf seine Freundin, oder er empfindet nichts oder erstarrt, wenn er sich ihrer Berührung hingeben will und dann das Gefühl hat, die Kontrolle zu verlieren. Wahrscheinlich merkt er nicht, dass sein Geist passive Hingabe automatisch mit jenem Zustand der Lähmung assoziiert, den er beim Tod seines Freundes empfand. Deshalb tritt ein weiterer schützender Anteil in Funktion, indem er eine Ablenkung kreiert: Er wird wütend, und weil er sich nicht erklären kann, was ihn wütend gemacht hat, glaubt er, etwas, was seine Freundin getan habe, sei der Grund. Und wenn er häufiger auf sie (und später auf andere Freundinnen) wütend wird, isoliert er sich immer stärker. Aber möglicherweise wird ihm nie klar, dass durch Passivität ein traumatisierter Anteil aktiviert wird und dass dann ein anderer Anteil, ein wütender »Manager«, aktiv wird, um den verletzlichen Anteil zu schützen. Eine Therapie, die solchen Anteilen hilft, ihre extremen Überzeugungen aufzugeben, kann das Leben des Patienten retten.

Wie wir in Kapitel 13 gesehen haben, besteht eine zentrale Aufgabe der therapeutischen Arbeit an einem Trauma darin, dem Patienten beizubringen, mit Erinnerungen an die Vergangenheit zu leben, ohne sich von ihnen in der Gegenwart überwältigen zu lassen. Doch die meisten Traumatisierten, auch diejenigen mit guter oder sogar überragender Funktionsfähigkeit in bestimmten Lebensbereichen, sehen sich mit einer anderen, noch größeren Herausforderung konfrontiert: mit der Notwendigkeit, ein Geist-/Gehirn-System umzuorganisieren, das sich darauf eingestellt hatte, mit dem Schlimmsten fertigzuwerden. So wie wir uns traumatische Erinnerungen noch einmal vergegenwärtigen müssen, um sie integrieren zu können, müssen wir auch zu den Anteilen von uns wieder in Kontakt treten, die jene defensiven Gewohnheiten entwickelt haben, die unser Überleben gesichert haben.

Der Geist ist ein Mosaik

Wir alle haben verschiedene Anteile. Im Moment hat ein Anteil von mir das Bedürfnis nach einem Nickerchen; ein anderer Anteil möchte weiter an diesem Text arbeiten. Ein dritter Anteil, der sich noch wegen einer beleidigenden E-Mail-Nachricht verletzt fühlt, möchte, dass ich den Absender in einer scharfen »Antwort« zur Schnecke mache, während ein weiterer Anteil die Sache lieber auf sich beruhen lassen will. Die meisten Menschen, die mich kennen, haben meine intensiven, aufrichtigen und reizbaren Anteile kennengelernt; einige haben auch mit dem kleinen knurrenden Hund in mir Bekanntschaft gemacht. Meine Kinder erinnern sich noch gut an Urlaube meiner Familie, in denen sie meine spielerischen und abenteuerlustigen Anteile kennengelernt haben.

Wenn Sie morgens Ihr Büro betreten und sich über dem Kopf Ihres Chefs dunkle Sturmwolken zusammengebraut haben, wissen Sie ganz genau, was kommen wird. Der wütende Anteil von ihm hat eine ganz bestimmte Art von Stimme, Vokabular und Körperhaltung – völlig andere Charakteristika als gestern, als Sie sich mit ihm zusammen Bilder von Ihren und seinen Kindern angeschaut haben. Anteile sind nicht nur Gefühle, sondern völlig unterschiedliche Seinsweisen mit eigenen Überzeugungen, Agenden und Rollen, die alle mit der generellen Ökologie unseres Lebens zusammenhängen.

Wie gut wir mit uns selbst zurechtkommen, hängt großenteils von unseren Selfleadership -Fähigkeiten ab – davon, wie gut wir unseren verschiedenen Anteilen zuhören, ob wir sicherstellen, dass sie sich umsorgt fühlen, und davon, ob wir sie daran hindern können, einander zu sabotieren. Anteile präsentieren sich häufig als Alleinherrscher, obwohl sie nur ein Element einer komplexen Konstellation von Gedanken, Emotionen und Empfindungen sind. Wenn Margaret während eines Streits brüllt: »Ich hasse dich«, denkt Joe wahrscheinlich, sie verachte ihn – und Margaret würde das in diesem Moment wahrscheinlich auch bestätigen. Aber tatsächlich ist nur ein bestimmter Anteil von ihr wütend, und dieser verbirgt zeitweise ihre großzügigen und liebevollen Gefühle, die durchaus wieder auftauchen können, wenn sie die verheerende Wirkung ihrer Äußerung auf Joes Gesicht bemerkt.

Alle wichtigen psychotherapeutischen Schulen erkennen an, dass Menschen Teilpersönlichkeiten haben, denen sie unterschiedliche Namen geben. 2 Im Jahre 1890 schrieb William James: »Es muss zugegeben werden, dass … sich das gesamte potenzielle Bewusstsein möglicherweise in Anteile aufspalten lässt, die nebeneinander existieren, einander jedoch ignorieren und die Wissensobjekte untereinander aufteilen.« 3 Carl Gustav Jung schrieb: »Die Seele als ein selbstregulierendes System ist balanciert wie das Leben des Körpers.« 4 Und: »Der natürliche Zustand der menschlichen Psyche besteht in einem gewissen Gegeneinander ihrer Komponenten und einer gewissen Widersprüchlichkeit ihrer Verhaltensweise …« 5 , und schließlich: »Die Versöhnung dieser Gegensätze ist eines der wichtigsten Probleme, … insofern der somatisch gebundene Mensch, der ›Widersacher‹, ja nichts anderes ist als der ›andere in mir‹ …« 6

Die moderne Neurowissenschaft hat die Vorstellung, dass der menschliche Geist einer Gesellschaft ähnelt, bestätigt. Michael Gazzaniga, Pionier der Split-brain-Forschung, gelangte zu der Überzeugung, dass der Geist aus semiautonomen Modulen besteht, die jeweils eine spezielle Aufgabe erfüllen. 7 Er schreibt: »Aber was ist von der Vorstellung zu halten, dass das Selbst keine Einheit ist und dass in uns möglicherweise verschiedene Bewusstseinsbereiche existieren? … Unsere [Split-brain-]Studien haben die neuartige Vorstellung hervorgebracht, dass es genau genommen verschiedene ›Selbste‹ gibt und dass diese nicht unbedingt innerlich miteinander kommunizieren.« 8 Marvin Minsky vom MIT , ein Pionier im Bereich der künstlichen Intelligenz, hat erklärt: »Die Legende vom singulären Selbst kann uns nur vom Gegenstand dieser Untersuchung ablenken.« 9 … »Dies alles deutet darauf hin, dass es vielleicht nicht falsch ist, sich vorzustellen, im Gehirn gebe es eine Gesellschaft verschiedener ›Geister‹. Wie die Mitglieder einer Familie könnten diese zusammenarbeiten, um sich gegenseitig zu helfen, und doch ihre eigenen mentalen Erfahrungen machen, von denen die übrigen nichts wissen.« 10

Therapeuten, die gelernt haben, ihre Patienten als komplexe menschliche Wesen mit vielfältigen Charakteristika und Potenzialen zu sehen, können die Betreffenden dazu anleiten, ihr System innerer Anteile zu erforschen und sich um die verletzten unter diesen Anteilen zu kümmern. Es gibt verschiedene Behandlungsansätze dieser Art, darunter den von meinen niederländischen Kollegen Onno van der Hart und Ellert Nijenhuis in Kooperation mit der in Atlanta ansässigen Kathy Steele entwickelten, den in Europa viele nutzen, sowie die in den USA von Richard Kluft entwickelte Methode. 11

Zwanzig Jahre nach meiner Arbeit mit Mary lernte ich Richard Schwartz kennen, der die Internal Family Systems Therapy (IFS – Systemische Therapie mit der inneren Familie) entwickelt hat. Durch die Arbeit von Schwartz ist Minskys »Familien«-Metapher erst richtig zum Leben erwacht und hat mir eine systematische Möglichkeit erschlossen, mit durch Traumata entstandenen abgespaltenen Anteilen zu arbeiten. Im Zentrum der IFS steht die Vorstellung, unser Geist gleiche einer Familie, deren Mitglieder verschiedene Grade der Reife, Reizbarkeit und Weisheit sowie des Schmerzes charakterisieren. Diese Anteile bilden zusammen ein Netzwerk oder System, innerhalb dessen Veränderungen in einem bestimmten Anteil sich auf alle anderen Anteile auswirken.

Das IFS -Modell hat mir geholfen, mir darüber klar zu werden, dass Dissoziation sich innerhalb eines Spektrums manifestiert. Im Falle einer Traumatisierung bricht das Selbstsystem zusammen, und einzelne Anteile von ihm werden polarisiert und bekämpfen einander. Selbsthass besteht neben Größenfantasien (und beide bekämpfen einander); liebevolle Fürsorge existiert neben Hass; Selbstbetäubung und Passivität stehen neben Wut und Aggression. Und diese extrem divergierenden Anteile tragen die Last des Traumas.

In der IFS -Therapie wird ein Anteil nicht nur als vorübergehender emotionaler Zustand oder als gewohntes Denkmuster angesehen, sondern als individuelles psychisches System mit eigener Geschichte, eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen sowie einer eigenen Weltsicht. 12 Ein Trauma injiziert Anteilen Überzeugungen und Emotionen, die sie aus ihrem natürlichen Zustand, der seinen Wert in sich hat, herausreißen. Beispielsweise haben wir alle Anteile, die kindlich und lebensfroh sind. Bei Missbrauch oder Misshandlungen werden diese Anteile am stärksten verletzt, und sie erstarren und leiden fortan unter Schmerz, Entsetzen und dem Gefühl, verraten worden zu sein, die infolge von Missbrauch oder Misshandlungen entstehen. Aufgrund ihrer Last werden diese Anteile dann für uns so unerträglich, dass wir sie um jeden Preis verleugnen müssen. Und weil sie in unserem Inneren eingesperrt sind, nennt die IFS -Therapie sie Verbannte .

Andere Anteile übernehmen in solchen Fällen die Aufgabe, die innere Familie vor den Verbannten zu schützen. Diese Beschützer halten die schädlichen Anteile in Schach, aber damit übernehmen sie einen Teil der Energie der Missbrauchs- oder Misshandlungstäter. Kritische und perfektionistische Manager -Anteile können dafür sorgen, dass wir anderen Menschen nie näherkommen, sie können uns aber unablässig zur Produktivität antreiben. Eine weitere Gruppe von Beschützern wird in der IFS -Therapie Feuerbekämpfer genannt; diese Notfallhelfer treten spontan in Erscheinung, wenn ein Erlebnis eine verbannte Emotion aktiviert.

Jeder abgespaltene Anteil birgt andere Erinnerungen, Überzeugungen und physische Empfindungen – einige Scham, andere Wut, wieder andere Freude und Begeisterung und manche Einsamkeit oder demütiges Einverständnis. Dies alles sind Aspekte des Missbrauchs-/Misshandlungserlebnisses. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass alle diese Anteile eine Funktion haben: Sie schützen davor, angesichts der drohenden Vernichtung Entsetzen zu empfinden.

Bei Kindern, die ihren Schmerz ausagieren, statt ihn in sich zu verschließen, wird oft eine »Störung mit oppositionellem Trotzverhalten«, eine »Bindungsstörung« oder eine »Verhaltensstörung« diagnostiziert. Doch diese Bezeichnungen ignorieren die Tatsache, dass Wut und Rückzug nur Facetten eines ganzen Spektrums verzweifelter Bemühungen um das eigene Überleben sind. Wenn man versucht, das Verhalten eines Kindes unter Kontrolle zu bringen, ohne sich mit dem zugrunde liegenden Problem – Missbrauch oder Misshandlungen – zu befassen, sind Behandlungen, die man mit dieser Zielsetzung auswählt, bestenfalls ineffektiv und schlimmstenfalls schädlich. Wenn solche Kinder erwachsen werden, verbinden sich ihre Anteile nicht spontan zu einer kohärenten Persönlichkeit, sondern existieren weiterhin sehr autonom.

Anteile, die »draußen« sind (d. h., die in der Außenwelt agieren), sind sich der übrigen Anteile des Gesamtsystems nicht unbedingt bewusst. 13 Die meisten der Männer, die ich hinsichtlich ihrer sexuellen Belästigung durch einen katholischen Priester evaluiert habe, konsumierten Anabolika und verbrachten ziemlich viel Zeit im Fitnessstudio mit dem Stemmen von Gewichten. Diese zwanghaften Bodybuilder lebten in einer männlichen Kultur des Schwitzens, des Footballs und des Biers, in der Schwäche und Angst sorgfältig verborgen wurden. Erst wenn sie sich in meiner Gegenwart sicher fühlten, lernte ich die verängstigten Kinder in ihnen kennen.

Es kann auch sein, dass Patienten die Anteile, die »draußen« sind, nicht mögen, nämlich wenn es sich um Anteile handelt, die wütend, destruktiv oder kritisch sind. Doch die IFS -Therapie bietet einen Rahmen, in dem man sie verstehen kann – und, was auch wichtig ist, in dem man über sie reden kann, ohne sie zu »pathologisieren«. Wenn man begreift, dass jeder dieser Anteile von Lasten aus der Vergangenheit bedrückt wird, und wenn man seine jeweilige Funktion im Gesamtsystem anerkennt, so fühlt er sich weniger bedrohlich oder überwältigend an.

Schwartz konstatiert: »Wenn man die grundlegende Vorstellung akzeptiert, dass die Menschen einen angeborenen Trieb haben, ihre Gesundheit zu fördern, so impliziert dies, dass sie im Falle chronischer Probleme auf irgendeine Weise daran gehindert werden, zu diesen inneren Ressourcen in Kontakt zu treten. In Kenntnis dessen besteht die Aufgabe des Therapeuten eher darin, mit dem Patienten zusammenzuarbeiten, als darin, ihn zu belehren, ihn zu konfrontieren oder Löcher in seiner Psyche auszufüllen.« 14 Der erste Schritt auf dem Weg einer solchen Zusammenarbeit besteht darin, dem inneren System zu versichern, dass alle Anteile willkommen sind und dass sie alle – sogar die suizidalen oder destruktiven – entstanden sind, um das Selbstsystem als Ganzes zu schützen, auch wenn sie aktuell den Eindruck erwecken mögen, es zu bedrohen.

Selfleadership

Die IFS -Therapie trägt der Tatsache Rechnung, dass die Kultivierung achtsamer Selfleadership die Grundlage jeder Traumaheilung ist. Achtsamkeit ermöglicht uns nicht nur, uns unsere innere Landschaft mitfühlend und interessiert anzuschauen, sondern sie kann uns auch aktiv in Richtung Selbstfürsorge lenken. Alle Systeme – Familien, Organisationen und Nationen – agieren nur dann effektiv, wenn sie nach klaren Prinzipien und kompetent geführt werden. Mit der inneren Familie verhält es sich in dieser Hinsicht genauso: Wir müssen allen unseren Facetten Aufmerksamkeit schenken. Unsere innere Führung muss die verfügbaren Ressourcen klug verteilen und eine Sicht des Ganzen entwickeln, die allen Anteilen Rechnung trägt.

Richard Schwartz erklärt:

Das innere System eines Missbrauchsopfers unterscheidet sich von dem einer nicht missbrauchten oder misshandelten Person hinsichtlich des ständigen Mangels an effektiver Führung, der extremen Regeln, denen die Funktion der Anteile unterliegt, und des Fehlens jeder konsistenten Balance oder Harmonie. In der Regel agieren die Anteile auf der Grundlage von überholten Annahmen und Überzeugungen, die durch den Missbrauch oder die Misshandlungen in der Kindheit entstanden sind, was die Betreffenden beispielsweise glauben lässt, dass es immer noch extrem gefährlich ist, Geheimnisse über traumatische Erlebnisse in der Kindheit zu offenbaren. 15

Was passiert, wenn das Selbst nicht mehr die Führung innehat? In der IFS -Terminologie wird dies »Blending« genannt, und es handelt sich dabei um einen Zustand, in dem das Selbst sich mit einem bestimmten Anteil identifiziert, so wie es beispielsweise in Äußerungen wie »Ich will mich umbringen« oder »Ich hasse dich« zum Ausdruck kommt. Man beachte, dass dies etwas vollkommen anderes ist als die Aussage »Ein Anteil von mir wünscht sich, dass ich tot bin« oder »Ein Anteil von mir wird getriggert, wenn du das tust, und weckt in mir den Wunsch, dich umzubringen«.

Schwartz formuliert zwei Aussagen, durch die er das Konzept der Achtsamkeit auf den Bereich der aktiven Führung überträgt. Die erste lautet, dass dieses Selbst nicht kultiviert oder entwickelt zu werden braucht. Unter der Oberfläche der Beschützeranteile von Traumatisierten gibt es eine unbeschädigte Essenz, ein Selbst, das zuversichtlich, neugierig und ruhig ist, ein Selbst, das von verschiedenen Beschützern vor der Zerstörung geschützt worden ist, von Beschützern, die aufgrund des Bemühens, das Überleben zu sichern, entstanden sind. Sobald diese Beschützer das Vertrauen entwickelt haben zu glauben, dass es ungefährlich ist, sich voneinander zu trennen, taucht spontan das Selbst auf, und die Anteile können am Heilungsprozess beteiligt werden.

Die zweite Annahme lautet, dass das achtsame Selbst, statt nur passiver Beobachter zu sein, das innere System reorganisieren und mit den Anteilen auf eine Weise kommunizieren kann, die ihnen hilft, das Vertrauen zu entwickeln, dass es innen jemanden gibt, der mit Schwierigkeiten umzugehen versteht. Die neurowissenschaftliche Forschung hat gezeigt, dass auch dies nicht nur eine Metapher ist. Achtsamkeit verstärkt die Aktivierung des medialen Präfrontalkortex und verringert die Aktivierung von Strukturen wie der Amygdala, die unsere emotionalen Reaktionen initiieren. Dies vergrößert unseren Einfluss auf das emotionale Gehirn.

Noch wichtiger als die Förderung einer Beziehung zwischen einem Therapeuten und einem hilflosen Patienten ist der IFS -Therapie die Förderung der Beziehung zwischen dem Selbst und den verschiedenen Beschützeranteilen. Im Rahmen dieses Behandlungsmodells fungiert das Selbst nicht nur als Zeuge oder passiver Beobachter wie in einigen meditativen Traditionen, sondern hat auch eine aktive, führende Rolle. Das Selbst gleicht einem Orchesterdirigenten, der allen Musikern im Orchester hilft, als Klangkörper harmonisch zusammenzuspielen, statt eine Kakofonie zu erzeugen.

Die innere Landschaft kennenlernen

Aufgabe des Therapeuten ist es, aus diesem verwirrenden Gemisch separate Wesenheiten herauszufiltern, sodass sie sagen können: »Dieser Anteil von mir ist wie ein kleines Kind, und jener ist zwar reifer, fühlt sich aber wie ein Opfer.« Vielleicht mögen Sie viele dieser Anteile nicht, doch wenn sie identifiziert sind, wirken sie weniger beängstigend oder überwältigend. Der nächste Schritt besteht darin, den Patienten aufzufordern, jeden Beschützeranteil, der auftaucht, zu bitten, zeitweise »zurückzutreten«, damit wir sehen können, was er schützt. Geschieht dies immer wieder, lösen die Anteile sich allmählich vom Selbst und geben der achtsamen Selbstbeobachtung Raum. Die Patienten lernen dann, ihre Angst und Wut oder ihren Ekel zeitweilig zu neutralisieren und sich der Neugier und der Selbstreflexion zu öffnen. Aus der stabilen Perspektive des Selbst können sie konstruktive innere Dialoge mit ihren verschiedenen Anteilen entwickeln.

Die Patienten werden aufgefordert herauszufinden, welcher Anteil für ihr momentanes Problem eine Rolle spielt, beispielsweise für ihr Gefühl eigener Wertlosigkeit, für das Gefühl, verlassen worden zu sein, oder für ihre Besessenheit von Rachegedanken. Wenn sie sich fragen: »Was in mir fühlt sich so?«, kann in ihrem Geist ein Bild auftauchen. 16 Vielleicht wirkt der depressive Anteil wie ein verlassenes Kind, wie ein älterer Mann oder wie eine traumatisierte Krankenschwester, die Verwundete versorgt; und ein rachsüchtiger Anteil wirkt wie ein Kriegsveteran oder ein Mitglied einer Straßengang.

Dann fragt der Therapeut: »Wie fühlen Sie sich gegenüber diesem (traurigen, rachsüchtigen, entsetzten) Anteil von Ihnen?« Dies ist die Vorbereitung auf achtsame Selbstbeobachtung, weil es die Person vom betreffenden Anteil unterscheidet. Reagiert der Patient extrem, indem er beispielsweise sagt: »Ich hasse es«, weiß der Therapeut, dass noch ein weiterer Beschützeranteil bei ihm existiert. Er kann dann fragen: »Schauen Sie einmal, ob der Anteil, der ›es hasst‹, bereit ist, ein wenig in den Hintergrund zu treten.« Oft dankt der Patient dem Beschützeranteil dann für seine Wachsamkeit und versichert ihm, dass er nötigenfalls jederzeit zurückkehren kann. Ist der Beschützeranteil bereit zurückzutreten, sollte als Nächstes gefragt werden: »Wie fühlen Sie sich jetzt dem (zuvor abgelehnten) Anteil gegenüber?« Wahrscheinlich antwortet der Patient darauf etwas wie: »Ich frage mich, warum er so (traurig, rachsüchtig usw.) ist.« Auf diese Weise wird es möglich, den Anteil besser kennenzulernen – beispielsweise indem man ihn fragt, wie alt er ist und wie es gekommen ist, dass er sich so fühlt, wie er sich nun fühlt.

Sobald ein Patient sich in einem gewissen Maße offenbart hat und auf diese Weise eine kritische Masse erreicht ist, findet diese Art von Dialog spontan statt. An diesem Punkt sollte der Therapeut zur Seite treten und nach anderen Anteilen, die sich einmischen könnten, Ausschau halten oder sich gelegentlich empathisch äußern oder Fragen stellen wie: »Was sagen Sie darüber zu diesem Anteil?« oder: »Wohin wollen Sie jetzt gehen?« oder: »Wie würde sich der nächste richtige Schritt anfühlen?« Oder er stellt die universelle Selbsterkundungsfrage: »Wie fühlen Sie sich jetzt diesem Anteil gegenüber?«

Ein Leben in Teilen

Joan war zu mir gekommen, weil sie ihre unkontrollierbaren Wutanfälle in den Griff bekommen und mit ihren Schuldgefühlen wegen zahlreicher Affären fertigwerden wollte, unter denen die neueste eine mit ihrem Tennis-Coach gewesen war. In der ersten Sitzung beschrieb sie ihre Situation wie folgt: »Ich wechsle im Laufe von zehn Minuten von meiner Existenz als erfolgreiche Selbstständige über die eines weinenden Kindes und die eines wütenden Biests zu der einer erbarmungslosen Fressmaschine. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, was von alldem ich wirklich bin.«

Vorher hatte Joan in der Sitzung schon die Drucke an den Wänden meines Behandlungsraums, meine klapprigen Möbel und meinen unaufgeräumten Schreibtisch bemäkelt. Angriffe waren ihre beste Verteidigung. Sie versuchte so, sich auf erneute Verletzungen vorzubereiten – wahrscheinlich würde ich sie ebenso enttäuschen, wie so viele vor mir sie enttäuscht hatten. Sie wusste, dass eine Therapie nur wirken konnte, wenn sie sich verletzlich machte; deshalb musste sie herausfinden, ob ich ihre Wut und Angst und ihren Schmerz würde ertragen können. Mir wurde klar, dass ich ihrer Defensivität nur durch starkes Interesse an den Einzelheiten ihres Lebens etwas entgegensetzen konnte. Angesichts des Risikos, das sie einging, indem sie mit mir redete, musste ich ihr gegenüber die Unerschütterlichkeit meiner Unterstützung zeigen und die Anteile akzeptieren, für die sie sich am meisten schämte.

Ich fragte Joan, ob sie sich des Anteils von sich, der alle kritisiere, bewusst sei. Als sie dies bestätigt hatte, fragte ich weiter, wie sie sich dieser Kritikerin gegenüber fühle. Diese Schlüsselfrage ermöglichte ihr, sich von diesem Anteil allmählich zu distanzieren und zu sich selbst in Kontakt zu treten. Joan antwortete, sie hasse die Kritikerin, die sie an ihre Mutter erinnere. Auf meine Frage hin, was dieser kritische Anteil wohl schütze, ließ ihre Wut nach, und sie wurde neugieriger und nachdenklicher: »Ich frage mich, warum sie es für notwendig hält, mir gegenüber teilweise die gleichen Schimpfworte zu benutzen, die auch meine Mutter benutzt hat, und sogar noch schlimmere.« Sie sprach auch über ihre große Angst vor ihrer Mutter in ihrer Kindheit und darüber, dass sie das Gefühl gehabt habe, nie etwas richtig machen zu können. Die Kritikerin war offensichtlich eine Managerin: Sie schützte Joan nicht nur vor mir, sondern versuchte auch, die Kritik ihrer Mutter zu antizipieren.

Im Laufe der nächsten Wochen berichtete Joan, sie sei vom Freund ihrer Mutter sexuell belästigt worden, und dies sei wahrscheinlich geschehen, als sie im ersten oder zweiten Schuljahr war. Danach hatte sie geglaubt, sie sei für intime Beziehungen »ruiniert«. Während sie gegenüber ihrem Mann, nach dem sie kein sexuelles Verlangen verspürte, sehr fordernd und kritisch auftrat, zeigte sie sich in Liebesaffären sehr leidenschaftlich und waghalsig. Doch ihre Affären endeten immer ähnlich: Beim Sex packte sie plötzlich das Entsetzen, sie krümmte sich zu einem Ball zusammen und wimmerte wie ein kleines Mädchen. Diese Szenen ließen sie verwirrt und von sich selbst angeekelt zurück, und danach konnte sie den Kontakt zu ihrem Liebhaber nicht mehr ertragen.

Wie Marilyn aus Kapitel 8 erzählte mir auch Joan, sie habe gelernt, sich »verschwinden« zu lassen, wenn sie sexuell belästigt worden sei; sie habe dann über der realen Szene geschwebt, als würde das, was dabei geschah, einem anderen Mädchen zustoßen. Die Verbannung der Belästigung aus ihrem Geist hatte Joan in ihrer Schulzeit ein normales Leben ermöglicht, mit Freundinnen, bei denen sie gelegentlich übernachtete, und mit der Teilnahme an Teamsportarten. Problematisch wurde ihre Situation, als sie in der Adoleszenz ihr Muster strikter Verachtung gegenüber Jungen, die sie gut behandelten, entwickelte und nur eher zufälligen Sex zuließ und sich danach stets gedemütigt und beschämt fühlte. Sie erklärte mir, Bulimie sei für sie, was ein Orgasmus wohl für andere Menschen sei, und mit ihrem Mann Sex zu haben sei für sie wie für andere das Erbrechen. Konkrete Erinnerungen an ihre Missbrauchserlebnisse waren bei ihr abgespalten (dissoziiert), doch sie reinszenierte das Erlebte, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Ich versuchte nicht, ihr zu erklären, warum sie sich so wütend, schuldig oder verschlossen fühlte – sie sah sich als »schadhafte Ware«. In einer Therapie ist ebenso wie bei der Verarbeitung von Erinnerungen die Technik der allmählichen Annäherung, die ich in Kapitel 13 erläutert habe (das Pendeln), von zentraler Bedeutung. Um Joan die Möglichkeit zu erschließen, sich mit ihrem Leiden und ihrer Verletztheit auseinanderzusetzen und sich dadurch letztlich zu heilen, müssten wir zunächst ihre eigene Stärke und Selbstliebe mobilisieren.

Um dies zu erreichen, mussten wir uns auf ihre vielen inneren Ressourcen fokussieren, und ich musste mir vergegenwärtigen, dass ich ihr die Liebe und Fürsorge, die sie als Kind nicht erhalten hatte, nicht nachträglich würde geben können. Wenn man als Therapeut, Lehrer oder Mentor versucht, durch frühe Entbehrung entstandene Mängel zu beheben, muss man früher oder später einsehen, dass man die falsche Person ist und dass der Zeitpunkt ebenso wie der Ort der falsche ist. Die Therapie musste sich auf Joans Beziehung zu ihren Anteilen konzentrieren, nicht auf ihre Beziehung zu mir.

Begegnung mit den Managern

Im weiteren Verlauf von Joans Behandlung identifizierten wir viele Anteile, die zu verschiedenen Zeitpunkten die Führung übernahmen: einen aggressiven Kindanteil, der Wutanfälle bekam, einen promiskuitiven jugendlichen Anteil, einen suizidalen Anteil, einen obsessiven Manager, einen braven Moralisten usw. Wie es oft der Fall ist, lernten wir die Manager zuerst kennen. Ihre Aufgabe bestand darin, Demütigungen und Verlassenwerden zu verhindern und dafür zu sorgen, dass die Patientin in einem organisierten Zustand und in Sicherheit blieb. Einige Manager sind aggressiv, so Joans Kritikerin, andere perfektionistisch oder reserviert und sorgfältig bemüht, nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Manche fordern uns auf, bewusst nicht darauf zu achten, was vor sich geht, und passiv zu bleiben, um Gefahren zu meiden. Innere Manager kontrollieren auch den Zugang zu den Emotionen, um zu verhindern, dass das Selbstsystem überlastet wird.

Es kostet sehr viel Energie, das Gesamtsystem unter Kontrolle zu halten. Ein einziger unbedachter Augenblick kann reichen, um mehrere Anteile gleichzeitig zu aktivieren: einen sexuell stark erregten, einen voller Selbsthass und einen dritten, der sich mithilfe von Schnittverletzungen zu beruhigen versucht. Andere Manager entwickeln Obsessionen und Ablenkungen oder leugnen die Realität völlig. Doch jeder Anteil sollte als innerer Beschützer verstanden werden, der bei der Verteidigung eine wichtige Funktion erfüllt. Auf Managern lastet eine gewaltige Verantwortung, und oft wachsen ihnen die Probleme über den Kopf.

Einige Manager sind sehr kompetent. Viele meiner Patienten tragen in ihrem Beruf große Verantwortung, sie sind sehr erfolgreich und erfüllen auch ihre Aufgaben als Eltern oft vorbildlich. Joans Kritikerin hatte zu Joans Erfolg als Augenärztin zweifellos beigetragen. Ich hatte auch viele Patienten, die sehr gute Lehrer oder Krankenpfleger waren. Ihren Kollegen mag sie als ein wenig kühl oder reserviert erschienen sein, aber wahrscheinlich wären sie erstaunt gewesen, wenn sie entdeckt hätten, dass ihre beruflich vorbildliche Arbeitskollegin an einer Essstörung litt, zu Selbstverletzungen neigte und bizarre sexuelle Praktiken bevorzugte.

Allmählich wurde Joan klar, dass es normal ist, gegensätzliche Gefühle und Gedanken gleichzeitig zu erleben, und aufgrund dessen entwickelte sie allmählich das Vertrauen, das sie brauchte, um sich der vor ihr liegenden Aufgabe zu stellen. Statt weiter zu glauben, der Hass zehre ihr ganzes Sein auf, wurde ihr nun klar, dass sich nur ein Anteil von ihr vom Hass gelähmt fühlte. Nach einer negativen Beurteilung von ihren Vorgesetzten geriet Joan jedoch ins Trudeln und warf sich vor, sie schütze sich nicht, weshalb sie sich bedürftig, schwach und machtlos fühlte. Als ich sie aufforderte festzustellen, wo in ihrem Körper der machtlose Anteil von ihr zu lokalisieren sei und wie sie sich ihm gegenüber fühle, weigerte sie sich, dies zu klären. Sie sagte, sie könne das quengelige, inkompetente Mädchen nicht ertragen, weil sie sich seinetwegen schäme und sich selbst verachte. Ich vermutete, dass dieser Anteil viele Erinnerungen an ihre Missbrauchserlebnisse unter Verschluss hielt, entschied mich aber, sie in dieser Hinsicht zunächst noch nicht zu bedrängen. Sie verließ meine Praxis in einer Verfassung des Rückzugs und der Aufgebrachtheit.

Am nächsten Tag fiel sie über ihren Kühlschrank her und verbrachte anschließend Stunden damit, das Gegessene wieder zu erbrechen. Beim nächsten Besuch in meiner Praxis sagte sie, sie wolle sich umbringen. Sie war überrascht, dass ich ihr mit aufrichtiger Neugier begegnete und sie weder wegen ihrer Bulimie noch wegen ihrer Suizidpläne verurteilte. Als ich sie fragte, welche Anteile bei ihr momentan aktiv seien, meldete sich die Kritikerin zu Wort und platzte heraus: »Sie ist ekelhaft!« Nachdem sie diesen Anteil gebeten hatte zurückzutreten, erklärte der nächste daraufhin auftauchende Anteil: »Mich wird nie jemand lieben«, woraufhin erneut die Kritikerin auftauchte und erklärte, die beste Möglichkeit, Joan zu helfen, sei, diesen ganzen Unsinn zu ignorieren und ihre Medikamentendosis zu erhöhen.

Offensichtlich schädigten diese Manager-Anteile die Patientin unabsichtlich, da es ihnen eigentlich darum ging, Joans verletzte Anteile zu schützen. Deshalb fragte ich sie immer wieder, was sie glaube, was geschehen werde, wenn diese Anteile in den Hintergrund träten. Joan antwortete: »Die Leute werden mich hassen«, und: »Ich werde dann allein sein und auf der Straße landen.« Nun tauchte eine Erinnerung auf: Ihre Mutter hatte zu ihr gesagt, wenn sie nicht gehorche, werde sie Joan zur Adoption freigeben, und dann werde sie ihre Schwestern und ihren Hund nie wiedersehen. Als ich sie fragte, wie sich das verängstigte Mädchen in ihr fühle, weinte sie und antwortete, es fühle sich ihretwegen schlecht. Sie war nun selbst wieder da, und ich war zuversichtlich, dass es uns gelungen war, ihr System zu beruhigen; es stellte sich jedoch heraus, dass wir in dieser Sitzung zu schnell zu viel in Bewegung gebracht hatten.

Die Flammen löschen

In der folgenden Woche kam Joan nicht zu ihrem Termin. Ihre Verbannten waren getriggert worden, und ihre Feuerbekämpfer wüteten. Später berichtete sie mir, am Abend nach der Sitzung, in der wir über ihre Angst, zu Pflegeeltern gegeben zu werden, gesprochen hatten, habe sie sich gefühlt, als würde sie sich umbringen. Sie hatte eine Bar aufgesucht und dort einen Mann abgeschleppt. Als sie sehr spät, ziemlich betrunken und sichtlich mitgenommen nach Hause gekommen war, hatte sie sich geweigert, mit ihrem Mann zu reden, und war in ihrem Arbeitszimmer eingeschlafen. Am nächsten Morgen hatte sie so getan, als sei nichts geschehen.

Feuerbekämpfer tun alles, was in ihrer Macht steht, um emotionalen Schmerz zu neutralisieren. Abgesehen von ihren gemeinschaftlichen Bemühungen, die Verbannten unter Verschluss zu halten, sind sie auch das genaue Gegenteil der Manager: Letzteren geht es vor allem darum, die Kontrolle zu behalten, während Feuerbekämpfer notfalls das Haus zerstören, um ein Feuer zu löschen. Der Kampf zwischen verkrampften Managern und unbändigen Feuerbekämpfern dauert so lange, bis die Verbannten, die die Last des Traumas tragen, nach Hause zurückgelassen und dort umsorgt werden.

Alle, die mit Traumatisierten arbeiten, machen Bekanntschaft mit Feuerbekämpfern. Ich habe Feuerbekämpfer kennengelernt, die suchtartig einkaufen, trinken, sich exzessiv mit Computerspielen beschäftigen, zu impulsiven Affären neigen oder zwanghaft Körpertraining betreiben. Eine »schmutzige Affäre« vermag das Entsetzen und die Scham eines missbrauchten Kindes zumindest für ein paar Stunden zu neutralisieren.

Man sollte nie vergessen, dass Feuerbekämpfer sich letztendlich verzweifelt bemühen, das System zu schützen. Im Gegensatz zu Managern, die in einer Therapie meist zumindest oberflächlich kooperativ wirken, halten sich Feuerbekämpfer nicht zurück: Sie werfen mit Beleidigungen um sich und stürmen wutentbrannt aus dem Raum. Sie sind außer sich, und wenn man sie fragt, was passieren würde, wenn sie ihre Aufgabe nicht mehr erfüllten, stellt sich heraus, dass sie glauben, die Gefühle der Verbannten würden dann das Selbstsystem vollständig ruinieren. Ihnen ist völlig unklar, dass es bessere Möglichkeiten gibt, die körperliche und emotionale Sicherheit zu schützen, und selbst wenn sie sich nicht mehr in Fressanfälle und Selbstverletzungen flüchten, finden sie oft andere Möglichkeiten, sich selbst Schaden zuzufügen. Dies findet nur dann ein Ende, wenn die Person als Ganzes die Zügel wieder in die Hand nimmt und wenn das Gesamtsystem sich wieder sicher fühlt.

Die Last der Verbannung

Verbannte sind die Abfalldeponie des Systems. Weil die mit dem Trauma assoziierten Erinnerungen, Empfindungen, Überzeugungen und Emotionen in ihnen enthalten sind, ist es gefährlich, sie freizulassen. Sie bewahren das »Oh, mein Gott, ich bin erledigt«-Erlebnis – die Essenz eines unausweichlichen Schocks – und die damit verbundenen Aspekte des Entsetzens, des Zusammenbruchs und der nachfolgenden Anpassung. Verbannte können sich in Form niederschmetternder körperlicher Empfindungen oder extremer Taubheitsgefühle offenbaren, und sie behagen weder den vernunftgläubigen Managern noch den draufgängerischen Feuerbekämpfern.

Wie die meisten Inzestopfer hasste auch Joan ihre Verbannten, insbesondere das kleine Mädchen, das auf die sexuellen Forderungen des Täters eingegangen war, und das entsetzte Kind, das allein in seinem Bett gewimmert hatte. Wenn Verbannte Manager überwältigen, gewinnen sie Macht über uns – wir sind dann nur noch das schwache, ungeliebte, zurückgewiesene und verlassene Kind. Das Selbst »verschmilzt« mit den Verbannten, und alle denkbaren Alternativen, unser Leben zu führen, treten in den Hintergrund. Schwartz beschreibt, was dann geschieht: »Wir sehen uns und die Welt durch ihre Augen und glauben, dies sei ›die‹ Welt. Uns würde in diesem Zustand nie in den Sinn kommen, dass wir gekidnappt worden sind.« 17

Werden die Verbannten weggesperrt, sind nicht nur bestimmte Erinnerungen und Emotionen unzugänglich, sondern auch die Anteile, die sie bewahren, nämlich diejenigen, die durch das Trauma am stärksten verletzt wurden. Schwartz erläutert: »Gewöhnlich sind dies unsere sensibelsten, kreativsten, intimitätsliebendsten, lebendigsten, spielerischsten und unschuldigsten Anteile. Wenn sie nach ihrer Verletzung verbannt werden, erleiden sie doppeltes Unglück – der ursprünglichen Verletzung wird dann auch noch die Kränkung, zurückgewiesen zu werden, hinzugefügt.« 18 Joan entdeckte, dass die Verborgenheit der Verbannten und die Tatsache, dass sie verachtet wurden, sie zu einem Leben ohne jede Intimität und ohne echte Freude verurteilte.

Erschließen der Vergangenheit

Einige Monate nach Beginn von Joans Behandlung traten wir erneut mit dem verbannten Mädchen in Kontakt, das infolge von Joans sexueller Traumatisierung unter der Demütigung, Verwirrung und Scham litt. Inzwischen vertraute die Patientin mir, und ihr Selbstempfinden war so stark geworden, dass sie es ertragen konnte, sich als Kind zu beobachten und dabei alle seit Langem vergrabenen Gefühle des Schreckens, der Erregung, der Unterwerfung und der Mitschuld einzubeziehen. Im Laufe dieses Prozesses sagte sie nicht viel, und meine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, den Zustand ruhiger Selbstbeobachtung bei ihr aufrechtzuerhalten. Oft verspürte sie den Impuls, sich angeekelt und entsetzt zurückzuziehen und dieses Kind, das sie nicht akzeptierte, in seinem Elend allein zurückzulassen. In solchen Augenblicken bat ich ihre Beschützer zurückzutreten, damit Joan sich weiter anhören konnte, was ihr kleines Mädchen ihr mitteilen wollte.

Aufgrund meiner Ermutigung sah sie sich schließlich in der Lage, in die Situation einzugreifen und das Mädchen an einen sicheren Ort zu bringen. Sie teilte dem Täter mit fester Stimme mit, sie werde nicht zulassen, dass er sich noch jemals dem Kind nähere. Statt dessen Existenz weiterhin zu leugnen, wirkte sie nun aktiv an seiner Befreiung mit. Wie bei der EMDR -Arbeit wurde das Trauma auch in diesem Fall aufgelöst, weil es Joan gelang, mit ihrer Vorstellung in Kontakt zu treten und die Szenen, in denen sie vor langer Zeit erstarrt war, zu modifizieren. An die Stelle hilfloser Passivität trat entschiedenes selbstbestimmtes Handeln.

Sobald Joan sich ihre Impulse und Verhaltensweisen wieder zu eigen machte, erkannte sie die Inhaltslosigkeit ihrer Beziehung zu ihrem Mann Brian und fing an, auf deren Veränderung zu beharren. Ich schlug ihr vor, mit Brian zusammen zu einer Sitzung zu kommen. Daraufhin erschien sie zu acht Sitzungen mit ihm gemeinsam, und im Anschluss daran vereinbarte ich mit Brian Einzelsitzungen.

Schwartz ist der Auffassung, die IFS -Therapie könne den Familienmitgliedern helfen, füreinander als »Mentoren« zu fungieren, wenn sie zu beobachten lernen, wie die verschiedenen Anteile eines Familienmitglieds mit denen eines anderen interagieren. Dies konnte ich bei Joan und Brian beobachten. Brian war anfangs sehr stolz darauf, dass er Joans Verhalten so lange ertragen hatte: Das Gefühl, dass sie ihn brauche, hatte ihn davon abgehalten, jemals über eine Scheidung nachzudenken. Doch da sie sich nun mehr Intimität wünschte, fühlte er sich von ihr unter Druck gesetzt und unzulänglich – was bei ihm einen panischen Anteil zutage förderte, der sich aus dem Kontakt zurückzog und gegen Gefühle eine Mauer errichtete.

Allmählich fing Brian an, darüber zu reden, dass er in einer Alkoholikerfamilie aufgewachsen war, in der Verhaltensweisen wie die von Joan als normal angesehen und weitgehend ignoriert wurden. Im Vordergrund standen eher die Aufenthalte des Vaters in Entzugskliniken und die langen stationären Behandlungen der Mutter wegen Depression und Suizidversuchen. Als ich Brians panischen Anteil fragte, was passieren würde, wenn er Brian gestatte, etwas zu fühlen, gab dieser zu, er fürchte, dann von Schmerzen überwältigt zu werden – vom Schmerz seiner Kindheit und vom Schmerz wegen seiner Beziehung zu Joan.

In den nächsten Wochen traten weitere Anteile in Erscheinung. Zuerst tauchte ein Beschützer auf, der sich vor Frauen fürchtete und entschlossen war, Brian niemals zum Opfer ihrer Manipulationen werden zu lassen. Dann entdeckten wir einen starken Betreuer-Anteil, der sich um Brians Mutter und seine jüngeren Geschwister gekümmert hatte. Dieser Anteil vermittelte Brian das Gefühl, etwas wert zu sein und eine Aufgabe zu erfüllen, und bot ihm eine Möglichkeit, mit seinem Entsetzen fertigzuwerden. Schließlich war Brian zu einer Konfrontation mit seinem Verbannten bereit, dem verängstigten und im Grunde mutterlosen Kind, um das sich niemand kümmerte.

Dies war eine sehr kurz gefasste Darstellung einer in der Realität sehr langen Exploration mit vielen Dimensionen, beispielsweise der, dass Joans Kritikerin von Zeit zu Zeit erneut auftauchte. Doch die IFS -Therapie half Joan und Brian von Anfang an, sich selbst und einander aus der Perspektive eines objektiven, interessierten und mitfühlenden Selbst zuzuhören. Sie waren nicht mehr in der Vergangenheit gefangen, und ihnen öffnete sich ein ganzes Spektrum neuer Möglichkeiten.

Die Macht des Selbst-Mitgefühls: Die IFS-Therapie im Rahmen der Behandlung rheumatoider Arthritis

Nancy Shadick ist Rheumatologin am Brigham and Women’s Hospital in Boston, wo sie die rheumatoide Arthritis (RA) erforscht und regen Anteil daran nimmt, wie ihre Patienten ihre Krankheit erleben. Als sie anlässlich eines von Richard Schwartz geleiteten Workshops die IFS -Therapie kennenlernte, beschloss sie, diese in eine Untersuchung über Möglichkeiten psychosozialer Intervention bei RA -Patienten einzubeziehen.

RA ist eine Autoimmunkrankheit, die Entzündungen im ganzen Körper hervorruft. Diese verursachen chronische Schmerzen und beeinträchtigen die Funktionsfähigkeit. Medikamente können das Fortschreiten der Krankheit verzögern und die Schmerzen lindern, aber sie zu heilen ist bisher nicht möglich, und die Krankheit kann zu Depression, Angst und Isolation führen und ganz generell die Lebensqualität beeinträchtigen. Ich verfolgte diese Studie mit großem Interesse, weil mir auch schon aufgefallen war, dass zwischen Traumata und Autoimmunkrankheiten eine Beziehung besteht.

In Zusammenarbeit mit der erfahrenen IFS -Therapeutin Nancy Sowell plante Dr. Shadick eine auf neun Monate angelegte randomisierte Untersuchung, in der eine Gruppe von RA -Patienten sowohl im Gruppenrahmen als auch individuell Instruktionen in der IFS -Arbeit erhalten sollte, eine Kontrollgruppe hingegen regelmäßig E-Mails und Telefonanrufe erhielt, in denen sie über Krankheitssymptome und den Umgang mit ihnen informiert wurde. Beide Gruppen nahmen während der Studie ihre regulären Medikamente und wurden von Zeit zu Zeit von Rheumatologen untersucht, die nicht wussten, zu welcher der beiden Gruppen die einzelnen Probanden gehörten.

In der IFS -Gruppe sollten die Patienten lernen, ihre unvermeidliche Angst, Hoffnungslosigkeit und Wut zu akzeptieren und zu verstehen und diese Gefühle wie Mitglieder ihrer eigenen »inneren Familie« zu behandeln. Sie sollten die Kunst des inneren Dialogs erlernen, mit deren Hilfe sie ihren Schmerz erkennen, die damit verbundenen Gedanken und Emotionen identifizieren und sich diesen inneren Zuständen dann mit Interesse und Mitgefühl nähern sollten.

Ein grundsätzliches Problem wurde schon sehr früh erkennbar: Wie so viele Traumatisierte waren die RA -Patienten Alexithymiker. Nancy Sowell berichtete mir später, dass die Patienten sich nie über ihren Schmerz oder ihre Beeinträchtigungen beklagten, solange sie nicht völlig davon überwältigt wurden. Gefragt, wie sie sich fühlten, antworteten sie fast immer: »Mir geht es gut.« Ihre stoischen Anteile halfen ihnen offenbar, mit ihrer Situation fertigzuwerden, aber diese Manager sorgten auch dafür, dass sie das Leugnen nicht aufzugeben brauchten. Einige hatten ihre Körperempfindungen und Emotionen so rigoros ausgesperrt, dass sie nicht sinnvoll mit ihren Ärzten zusammenarbeiten konnten.

Um die Arbeit in Gang zu bringen, stellten die Leiter der Studie die IFS -Anteile sehr dramatisch vor, indem sie Möbel umstellten und die Manager, Verbannten und Feuerbekämpfer durch verschiedene Requisiten repräsentierten. Im Laufe der folgenden Wochen fingen die Gruppenmitglieder zunächst an, über die Manager zu reden, die ihnen empfohlen hatten, »gute Miene zum bösen Spiel zu machen«, weil sowieso niemand etwas über ihren Schmerz hören wolle. Dann forderten die Leiter der Studie die stoischen Anteile auf zurückzutreten. Außerdem zollten sie dem wütenden Anteil, der brüllen und Chaos anrichten wollte, Anerkennung, außerdem dem Anteil, der ständig im Bett bleiben wollte, und dem Verbannten, der sich wertlos fühlte, weil er nicht reden durfte. Es stellte sich heraus, dass von fast allen Teilnehmern in der Kindheit erwartet worden war, nicht gesehen und gehört zu werden. Um ihrer Sicherheit willen hatten sie ihre Bedürfnisse verbergen müssen.

Die IFS -Einzeltherapie half den Patienten, die Sprache der Anteile auf alltägliche Probleme anzuwenden. Beispielsweise fühlte eine Frau sich in beruflichen Konflikten gefangen, weil einer ihrer Manageranteile darauf beharrte, ihr einziger Ausweg bestehe darin, sich so zu überarbeiten, dass ihre RA aufflammte. Mithilfe des Therapeuten gelangte sie zu der Einsicht, dass sie sich um ihre Bedürfnisse kümmern konnte, ohne dadurch krank zu werden.

Die IFS -Gruppe und die Kontrollgruppe wurden im Laufe der neunmonatigen Untersuchung dreimal und ein Jahr nach Abschluss der Arbeit noch einmal evaluiert. Nach den neun Monaten ergaben Selbsteinschätzungen bei der IFS -Gruppe im Vergleich mit der Kontrollgruppe deutliche Verbesserungen hinsichtlich ihres Schmerzes, der physischen Funktionsfähigkeit und des Selbst-Mitgefühls. Außerdem wurden signifikante Verbesserungen hinsichtlich Depression und Selbstwirksamkeit festgestellt. Die Erfolge der IFS -Gruppe bezüglich der Schmerzwahrnehmung und depressiver Symptome hatten in der Kontrolluntersuchung ein Jahr später weiter Bestand, obwohl sich durch objektive Messungen keine Verbesserungen hinsichtlich des Schmerzes und der allgemeinen Funktionsfähigkeit mehr feststellen ließen. Am stärksten hatte sich somit die Fähigkeit der Patienten, mit ihrer Krankheit zu leben, verändert. In den Schlussfolgerungen zu ihrer Untersuchung hoben Shadick und Sowell hervor, dass die IFS -Therapie dem Selbst-Mitgefühl zentrale Bedeutung beimesse.

Diese Studie hatte nicht als erste gezeigt, dass psychologische Interventionen RA -Patienten helfen können. Hinsichtlich kognitiv-behavioraler Therapien und achtsamkeitsbasierter Praktiken wurde ebenfalls eine positive Wirkung auf Schmerz, Gelenkentzündungen, körperliche Beeinträchtigungen und Depression festgestellt. 19 Doch keine dieser Studien hat sich mit einer sehr wichtigen Frage beschäftigt: Wirkt sich eine Stärkung des psychischen Sicherheitsempfindens und von Geborgenheitsgefühlen positiv auf die Funktionsfähigkeit des Immunsystems aus?

Die Befreiung des verbannten Kindes

Peter leitete eine onkologische Abteilung in einem angesehenen medizinischen Forschungszentrum, das immer wieder als das beste in den USA beurteilt wurde. Er saß in meinem Behandlungsraum, infolge regelmäßigen Squash-Trainings in bester körperlicher Verfassung, und sein Selbstvertrauen hatte die Grenze zur Arroganz deutlich überschritten. Dieser Mann sah ganz und gar nicht so aus, als würde er an einer PTBS leiden. Er sagte, er wolle nur von mir wissen, wie er seiner Frau helfen könne, weniger »empfindlich« zu sein. Sie hatte gedroht, ihn zu verlassen, wenn er nicht an seinem »herzlosen Verhalten«, wie sie es nannte, etwas ändere. Peter versicherte mir, ihre Wahrnehmung der Situation sei deutlich verzerrt, denn es falle ihm doch offensichtlich nicht schwer, kranken Menschen gegenüber Empathie zu zeigen.

Er genoss es, über seine Arbeit zu berichten, und war stolz, weil Assistenzärzte und Praktikanten begierig darauf waren, mit ihm zusammenzuarbeiten. Offensichtlich genoss er auch den Klatsch darüber, dass seine Mitarbeiter sich vor ihm fürchteten. Er bezeichnete sich als »brutal ehrlich«, als echten Wissenschaftler und als jemanden, der sich nur die Fakten anschaue und – mit einem bedeutungsvollen Blick in meine Richtung – mit Narren nicht lange fackele. Er stelle hohe Anforderungen, aber keine höheren, als er an sich selbst stelle, und er versicherte mir, er brauche niemandes Liebe, nur Respekt.

Peter erzählte mir auch, sein psychiatrisches Praktikum in der Medical School habe ihn davon überzeugt, dass Psychiater nach wie vor Hexerei praktizierten, und durch seinen kurzen Einblick in die Praxis der Paartherapie habe sich dieser Eindruck bei ihm weiter verfestigt. Aus seiner Verachtung gegenüber Menschen, die ihren Eltern oder der Gesellschaft die Verantwortung für ihre Probleme anlasteten, machte er kein Geheimnis. Er habe zwar als Kind selbst einiges durchgemacht, sei aber fest entschlossen, sich nie als Opfer zu sehen.

Peters Härte und seine Liebe zur Präzision gefielen mir zwar, doch drängte sich mir die Frage auf, ob wir auch bei ihm etwas entdecken würden, was ich nur zu oft gesehen hatte: machtbesessene innere Manager, die Gefühle der Hilflosigkeit wie ein Bollwerk abprallen ließen.

Auf meine Frage nach seiner Familie erzählte Peter, sein Vater leite eine Fabrik. Er war Holocaust-Überlebender und konnte sehr brutal und anspruchsvoll sein, hatte aber auch eine sanfte und sentimentale Seite, deretwegen Peter mit ihm verbunden geblieben war und die ihn dazu inspiriert hatte, Arzt zu werden. Als er mir von seiner Mutter erzählte, wurde ihm plötzlich klar, dass sie echte Fürsorge durch strenge Haushaltsführung ersetzt hatte; aber Peter leugnete, dass ihm das etwas ausgemacht habe. In der Schule hatte er immer die besten Zensuren bekommen, und er hatte sich geschworen, so zu leben, dass er niemals Zurückweisungen und Demütigungen erleben würde – obwohl er ironischerweise Tag für Tag mit Tod und Zurückweisung lebte, nämlich mit dem Tod auf der Krebsstation und im ständigen Kampf um die Finanzierung und Publikation seiner Forschungsarbeit.

An unserer nächsten Sitzung nahm auch Peters Frau teil. Sie beschrieb, wie er sie ständig kritisiere – ihre Art, sich zu kleiden, ihre Kindererziehung, ihre Lektüregewohnheiten, ihre Intelligenz und ihre Freunde. Peter war nur selten zu Hause und blieb emotional immer verschlossen. Weil er so viele wichtige Verpflichtungen zu erfüllen hatte und weil er so schnell explosiv reagierte, ging seine Familie ständig auf Zehenspitzen um ihn herum. Seine Frau war entschlossen, ihn zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen, wenn er sich nicht radikal ändere. In Reaktion darauf sah ich Peter zum ersten Mal offensichtlich erschüttert. Er versicherte mir und seiner Frau, er wolle, dass wir an der Situation arbeiteten.

In unserer nächsten Sitzung forderte ich ihn auf, sich zu entspannen, die Augen zu schließen, die Aufmerksamkeit nach innen zu richten und dann den kritisierenden Anteil – den seine Frau identifiziert hatte – zu fragen, was er fürchte, was geschehen werde, wenn er auf seine unbarmherzigen Beurteilungen verzichte. Nach etwa dreißig Sekunden sagte er, er fühle sich unwohl, wenn er mit sich selbst rede. Er wolle nicht irgendeinen neuen New-Age-Gimmick ausprobieren – er sei zu mir gekommen, weil es ihm um eine »empirisch verifizierte Therapie« gehe. Ich versicherte ihm, dass ich ebenso wie er empirisch fundierte Therapien bevorzugte und sie auch erforschte und dass das, was ich ihm vorgeschlagen hatte, eine von diesen sei. Er schwieg etwa eine Minute lang und flüsterte dann: »Ich würde verletzt werden.« Ich drängte ihn, den Kritiker zu fragen, was das bedeute. Immer noch mit geschlossenen Augen antwortete Peter: »Wenn man andere kritisiert, wagen sie nicht, einen zu verletzen.« Und dann: »Wenn man perfekt ist, kann niemand einen kritisieren.« Ich forderte ihn auf, seinem Kritiker dafür zu danken, dass er ihn vor Verletzungen und Demütigungen geschützt habe, und als er daraufhin wieder still wurde, sah ich, dass sich seine Schultern entspannt hatten und dass seine Atmung langsamer und tiefer geworden war.

Dann erklärte er mir, ihm sei klar, dass sich seine Aufgeblasenheit negativ auf seine Beziehungen zu Kollegen und Studenten auswirke; er fühle sich während der Mitarbeiterkonferenzen einsam und verachtet und bei Partys des Krankenhauses unwohl. Als ich ihn fragte, ob er die Art, wie sein wütender Anteil andere Menschen bedrohe, ändern wolle, bestätigte er, dass er sich das wünsche. Dann fragte ich ihn, wo in seinem Körper dieser Anteil zu lokalisieren sei, und er nannte den Bereich in der Mitte seines Brustkorbs. Um ihn dazu zu bringen, sich weiter nach innen zu fokussieren, fragte ich ihn, wie er sich diesem Anteil gegenüber fühle. Er antwortete, dieser ängstige ihn.

Ich forderte ihn auf, weiter auf diesen Anteil fokussiert zu bleiben und festzustellen, wie er sich ihm gegenüber nun fühle. Er sagte, er sei neugierig, mehr über ihn herauszufinden. Ich fragte Peter nach dem Alter des Anteils. Er antwortete, dieser sei ungefähr sieben Jahre alt. Dann instruierte ich ihn, seinen Kritiker zu bitten, ihm zu zeigen, was er schütze. Eine lange Stille folgte, während der er weiter die Augen geschlossen hielt. Dann sagte er, er sehe eine Szene aus seiner Kindheit vor sich. Sein Vater schlage einen kleinen Jungen, ihn, und er stehe an der Seite und denke, wie dumm es von diesem Kind gewesen sei, seinen Vater zu provozieren. Auf meine Frage, wie er sich gegenüber dem Jungen, der verletzt werde, fühle, sagte er, er verachte ihn. Er sei ein Schwächling und Jammerlappen; wenn er gegenüber der hochfahrenden Art seines Vater auch nur den geringsten Anflug von Trotz gezeigt habe, habe er später unweigerlich kapituliert und wimmernd beteuert, er werde immer ein guter kleiner Junge sein. Er habe keinen Mumm in den Knochen gehabt, kein Feuer im Bauch. Ich fragte den Kritiker-Anteil, ob er bereit sei, zur Seite zu treten, damit wir sehen könnten, was in dem kleinen Jungen vor sich gehe. In Reaktion darauf wurde der Kritiker noch wütender und bezeichnete den Jungen als Schwächling und Feigling. Noch einmal fragte ich Peter, ob der Kritiker bereit sei, zur Seite zu treten und den Jungen zu Wort kommen zu lassen. Der Patient verstummte daraufhin völlig und erklärte am Ende der Sitzung, er werde wahrscheinlich nie mehr einen Fuß in meine Praxis setzen.

In der folgenden Woche kam er dann doch wieder. Seine Frau war, wie sie angedroht hatte, zu einem Anwalt gegangen und hatte die Scheidung beantragt. Peter war völlig am Ende und wirkte ganz und gar nicht mehr wie der perfekte Arzt, den ich kennen- und in vielerlei Hinsicht zu fürchten gelernt hatte. Mit dem Verlust seiner Familie konfrontiert, wirkte er völlig verstört und fand nur Trost in der Vorstellung, dass er sich schlimmstenfalls immer noch das Leben nehmen könne.

Wir begaben uns erneut in das Innere seines Systems und identifizierten den Anteil, der Angst davor hatte, verlassen zu werden. Sobald der Patient sich in seinen achtsamen Selbstzustand versetzt hatte, drängte ich ihn, den verängstigten kleinen Jungen zu bitten, ihm die Lasten, die er zu tragen hatte, zu zeigen. Wieder war Peters erste Reaktion Abscheu angesichts der Schwäche des Jungen; doch nachdem ich ihn gebeten hatte, diesen Anteil dazu zu bringen zurückzutreten, sah er ein Bild von sich als kleinem Jungen in seinem Elternhaus, wie er in seinem Zimmer allein war und vor Angst schrie. Peter schaute sich diese Szene einige Minuten lang an und weinte die meiste Zeit über still. Ich fragte ihn, ob der Junge ihm alles gesagt habe, was er ihn habe wissen lassen wollen. Peter antwortete, es gebe noch andere Szenen, etwa die, dass er seinem Vater an der Haustür entgegenlaufe, um ihn zu umarmen, und dass dieser ihn dann geschlagen habe, weil er seiner Mutter nicht gehorcht habe.

Von Zeit zu Zeit unterbrach Peter den Prozess und erklärte, seine Eltern hätten nichts besser machen können, weil sie Holocaust-Überlebende seien mit allem, was dies bedeute. Wieder schlug ich ihm vor, die Beschützeranteile zu suchen, die ihn störten, während er den Schmerz des Jungen bezeugte, und sie zu bitten, sich zeitweise in einen anderen Raum zurückzuziehen. Und jedes Mal gelang es ihm, zu seiner Trauer zurückzukehren.

Ich empfahl Peter, dem Jungen zu sagen, er verstehe nun, wie übel dieses Erlebnis für ihn gewesen sei. Daraufhin schwieg er lange mit einem Ausdruck von Traurigkeit. Ich bat ihn, dem Jungen zu zeigen, dass er ihm wichtig sei. Es kostete mich einiges an Überredungskunst, ihn dazu zu bringen, seine Arme um den Jungen zu legen. Mich überraschte, dass dieser oft so schroff und herzlos wirkende Mann genau wusste, wie er sich um den kleinen Jungen kümmern musste.

Ein wenig später hielt ich Peter dazu an, sich wieder in die Szene zu versetzen und den Jungen mitzunehmen. Peter stellte sich vor, als erwachsener Mann seinem Vater gegenüberzutreten und ihm zu sagen: »Wenn du dem Jungen noch einmal dumm kommst, bringe ich dich um.« Dann nahm er das Kind in seiner Vorstellung mit zu einem wunderschönen Campingplatz, wo der Junge von ihm behütet spielen und mit Ponys herumtoben konnte.

Unsere Arbeit war damit aber noch nicht abgeschlossen. Nachdem Peters Frau den Scheidungsantrag zurückgezogen hatte, tauchten einige alte Gewohnheiten Peters wieder auf, und wir mussten dem isolierten Jungen hin und wieder erneut einen Besuch abstatten, um sicherzustellen, dass für Peters verletzte Anteile gesorgt wurde, besonders wenn er sich durch Erlebnisse zu Hause oder an seinem Arbeitsplatz verletzt fühlte. Diese Phase wird in der IFS -Terminologie »Entlastung« genannt; in ihr werden die verbannten Anteile so genährt, dass sie gesunden können. Mit jeder neuen Entlastung entspannte sich Peters ehemals beißender innerer Kritiker und wurde allmählich zu einem Mentor, statt weiter Richter zu sein. Peter begann nun auch, sich um die Wiederherstellung seiner Beziehungen zu seiner Familie und seinen Kollegen zu bemühen, und er litt nicht mehr unter Spannungskopfschmerzen.

Eines Tages erzählte mir Peter, er habe in seinem ganzen Erwachsenenleben versucht, sich von seiner Vergangenheit zu lösen, und er empfinde es als eine Art Ironie, dass er seiner Vergangenheit erst habe näherkommen müssen, um sich von ihr lösen zu können.