Die größte Entdeckung meiner Generation ist, dass Menschen ihr Leben verändern können, indem sie ihre geistigen Einstellungen verändern.
William James
Es handelt sich eben nicht darum, dass etwas anderes gesehen wird, sondern dass man anders sieht. Es ist, wie wenn der räumliche Sehakt durch eine neue Dimension geändert worden wäre.
C. G. Jung, GW
11, S. 548, § 891
(Vorwort zu D. T. Suzuki, Die Große Befreiung
)
Es ist eine Sache, Erinnerungen an ein Trauma zu verarbeiten, aber etwas völlig anderes, sich mit der inneren Leere zu konfrontieren – mit den »Löchern in der Seele«, die entstehen, weil Menschen nicht gewollt oder nicht gesehen worden sind und weil ihnen nicht gestattet wurde, die Wahrheit zu sagen. Wenn die Gesichter Ihrer Eltern bei Ihrem Anblick nie aufleuchteten, können Sie nicht wissen, wie es sich anfühlt, geliebt und geschätzt zu werden. Wenn Sie aus einer unbegreiflichen, von Heimlichkeit und Furcht geprägten Welt kommen, ist es für Sie nahezu unmöglich, Worte zu finden, um auszudrücken, was Sie durchgemacht haben. Falls Sie als Kind unerwünscht waren und ständig ignoriert wurden, ist es für Sie sehr schwer, ein viszerales Gefühl der eigenen Handlungsfähigkeit und ein Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Die Studien, die Judith Herman, Chris Perry und ich durchgeführt haben (siehe Kapitel 9), zeigen, dass Menschen, die sich als Kinder unerwünscht fühlten, ebenso wie diejenigen, die sich nicht daran erinnern können, sich in der Kindheit und Jugend bei irgendjemandem sicher gefühlt zu haben, von einer herkömmlichen Psychotherapie nicht optimal profitieren – wahrscheinlich weil die Betreffenden nicht in der Lage sind, alte Spuren des Gefühls, umsorgt zu werden, zu aktivieren.
Ich konnte dies sogar bei einigen meiner engagiertesten und sprachgewandtesten Patienten beobachten. Trotz ihrer harten Arbeit in der Therapie und trotz ihrer persönlichen und beruflichen Leistungen konnten sie den verheerenden Einfluss einer Mutter, die zu depressiv war, um ihnen Beachtung zu schenken, oder eines Vaters, der sie behandelte, als wünschte er sich, sie wären nie geboren worden, nicht auslöschen. Das Leben dieser Menschen würde sich nur dann grundlegend ändern, wenn es ihnen gelänge, diese impliziten Landkarten zu rekonstruieren. Aber wie? Wie können wir Menschen helfen, sich viszeral mit Gefühlen vertraut zu machen, die sie als Kinder nicht erlebt haben?
Einen ersten Eindruck von einer möglichen Antwort auf diese Frage gewann ich, als ich im Juni 1994 in einem kleinen College in Beverley an der felsigen Küste von Massachusetts an der Gründungskonferenz der United States Association for Body Psychotherapy teilnahm. Merkwürdigerweise hatte man mich gebeten, auf dieser Konferenz den psychiatrischen Mainstream zu repräsentieren und über die Nutzung von Gehirnscans zur Visualisierung psychischer Zustände zu referieren. Doch als ich das Foyer betrat, wo sich die Teilnehmer zum morgendlichen Kaffee versammelt hatten, wurde mir klar, dass ich es hier mit völlig anderen Leuten als auf psychopharmakologischen und psychotherapeutischen Konferenzen zu tun hatte. Die Art, wie die Teilnehmer miteinander redeten, und ihre Körperhaltungen und Gesten strahlten Vitalität und Engagement aus – jene körperliche Reziprozität, die für Eingestimmtheit charakteristisch ist.
Schon bald kam ich mit Albert Pesso ins Gespräch, einem stämmigen ehemaligen Tänzer, der mit der Martha Graham Dance Company aufgetreten und mittlerweile Anfang siebzig war. Mit seinen buschigen Augenbrauen strahlte er Güte und Zuversicht aus. Er sagte mir, er habe eine Möglichkeit entdeckt, die Beziehung von Menschen zu ihrem innersten Kern, ihrem somatischen Selbst, zu verändern. Sein Enthusiasmus wirkte ansteckend, aber ich blieb skeptisch und fragte ihn, ob er sicher sei, dass er die Einstellungen der Amygdala verändern könne. Unbeeindruckt von der Tatsache, dass niemand seine Methode jemals wissenschaftlich untersucht hatte, versicherte er mir selbstbewusst, dies könne er.
Pesso sollte auf der Konferenz einen Workshop in »PBSP Psychomotor Therapy« 1 leiten, und er lud mich ein, daran teilzunehmen. Was ich dort kennenlernte, war mit keiner Form von Gruppenarbeit, die ich bisher kannte, vergleichbar. Er setzte sich gegenüber einer Frau mit Namen Nancy, die er »Protagonistin« nannte, auf einen niedrigen Stuhl, während die übrigen Gruppenteilnehmer auf Kissen um ihn herum Platz nahmen. Dann forderte er Nancy auf, ihre Probleme zu beschreiben, wobei er gelegentlich ihre Sprechpausen nutzte, um zu »bezeugen«, was er beobachtete – so wie beispielsweise: »Ein Zeuge kann sehen, wie niedergeschlagen Sie sind, wenn Sie darüber sprechen, dass Ihr Vater seine Familie verlassen hat.« Mich beeindruckte, wie sorgfältig er subtile Veränderungen der Körperhaltung Nancys, ihres Gesichtsausdrucks, des Klangs ihrer Stimme und ihres Blicks, die nonverbalen Ausdrucksformen von Emotionen, registrierte. (Dies wird in der psychomotorischen Therapie »microtracking« genannt.)
Jedes Mal wenn Pesso eine »Zeugenaussage« machte, entspannten sich Nancys Gesicht und Körper ein wenig, als ob sie sich dadurch getröstet fühlte, dass jemand sie sah und sie dadurch bestätigte. Pessos ruhige Kommentare schienen ihren Mut, weiterzumachen und sich in tiefere Bereiche vorzuwagen, zu stärken. Als Nancy zu weinen anfing, stellte er fest, dass niemand so viel Schmerz ganz allein ertragen müssen sollte, und er fragte sie, ob sie wolle, dass jemand sich neben sie setze. (Er nannte diese Person eine »Kontaktperson«.) Nancy nickte, und nachdem sie sich gründlich im Raum umgeschaut hatte, deutete sie auf eine freundlich wirkende Frau mittleren Alters. Dann fragte Pesso Nancy, wo sich die Kontaktperson hinsetzen solle. »Hierhin«, antwortete Nancy bestimmt und deutete auf ein Kissen, das unmittelbar rechts neben ihr lag.
Ich war fasziniert. Menschen verarbeiten räumliche Beziehungen in der rechten Gehirnhälfte, und unsere Neuroimaging-Studien hatten gezeigt, dass die Nachwirkungen von Traumata ebenfalls grundsätzlich in der rechten Hemisphäre zu verorten sind (siehe Kapitel 3). Fürsorge, Missbilligung und Gleichgültigkeit werden alle hauptsächlich durch das Mienenspiel, den Stimmcharakter und Körperbewegungen ausgedrückt. Nach neuesten Erkenntnissen finden 90 Prozent der menschlichen Kommunikation im nonverbalen rechtshemisphärischen Bereich statt, 2 und auf diesen Bereich zielte Pessos Arbeit offenbar hauptsächlich. Im weiteren Verlauf des Workshops beeindruckte mich auch, dass die Präsenz der Kontaktperson Nancy zu helfen schien, die zutage tretenden schmerzhaften Erlebnisse zu ertragen. 3
Doch am ungewöhnlichsten erschien mir, wie Pesso Tableaus – die er »Strukturen« nannte – der Vergangenheit der Protagonistin kreierte. Während Nancy über ihr Leben berichtete, wurden andere Gruppenteilnehmer aufgefordert, die Rollen für sie wichtiger Personen zu spielen, beispielsweise die ihrer Eltern und anderer Mitglieder ihrer Familie, sodass ihre innere Welt allmählich im dreidimensionalen Raum Form annahm. Andere Gruppenmitglieder wurden beauftragt, die Eltern, die die Protagonistin sich wünschte, zu spielen: Eltern, die ihr die Unterstützung und Liebe und den Schutz gaben, die ihr in wichtigen Augenblicken gefehlt hatten. So wurde die Protagonistin zur Regisseurin ihres eigenen Theaterstücks, in dem sie in ihrer Umgebung eine Vergangenheit kreierte, die sie nie erlebt hatte. Nach dem Aufbau dieses imaginären Szenarios erlebte sie offensichtlich eine tiefe körperliche und psychische Entlastung. Konnte diese Technik Jahrzehnte nach dem ursprünglichen negativen Beeinflussen von Geist und Gehirn durch das Trauma den Prägungen des Entsetzens und des Gefühls, verlassen worden zu sein, neue Prägungen der Sicherheit und des Behagens zur Seite stellen?
Fasziniert von den verheißungsvollen Eindrücken, die Pessos Arbeit bei mir hinterlassen hatte, nahm ich voller Erwartungen seine Einladung in sein Bauernhaus auf einem Berg im südlichen New Hampshire an. Nach einem Lunch unter einer alten Eiche forderte Al mich auf, mit ihm in seine rote schindelgedeckte Scheune zu gehen, die er zum Studio hatte umbauen lassen, um mit ihm zusammen an einer Struktur zu arbeiten. Ich hatte eine mehrjährige Psychoanalyse hinter mir und erwartete deshalb keine großen Offenbarungen. Ich war ein gestandener Profi in den Vierzigern mit eigener Familie und sah meine Eltern als alte Leute, die sich bemühten, ihren Lebensabend möglichst angenehm zu gestalten. Ganz sicher glaubte ich damals nicht, dass sie noch einen nennenswerten Einfluss auf mich hätten.
Da niemand anwesend war, der sich an einem Rollenspiel hätte beteiligen können, forderte Al mich zunächst auf, ein Objekt oder ein Möbelstück auszuwählen, das meinen Vater repräsentieren sollte. Ich wählte eine riesige schwarze Ledercouch und bat Al, diese ein wenig links von der Mitte in ungefähr 2,50 Meter Abstand aufgerichtet vor mich zu stellen. Dann fragte er mich, ob ich auch meine Mutter in den Raum bringen wollte. Um sie zu repräsentieren, wählte ich eine schwere Lampe aus, die ungefähr genauso hoch war wie die aufgerichtete Couch. Im Laufe der Sitzung versammelten sich noch andere wichtige Personen aus meinem Leben: mein bester Freund, repräsentiert durch eine winzige Kleenex-Schachtel, die rechts von mir stand, meine Frau in Gestalt eines kleinen Kissens, das neben dem »Freund« lag, und meine beiden Kinder in Gestalt von zwei weiteren kleinen Kissen.
Nach einer Weile schaute ich mir diese Projektion meiner inneren Landschaft genauer an: zwei massige, dunkle und bedrohliche Objekte, die meine Eltern repräsentierten, und eine Anzahl kleinerer Objekte, die meine Frau, meine Kinder und Freunde verkörperten. Ich war verblüfft; ich hatte mein inneres Bild von meinen strengen calvinistischen Eltern aus der Zeit, als ich ein kleiner Junge gewesen war, rekonstruiert. Ich empfand eine Anspannung in meiner Brust, und ich war mir sicher, dass meine Stimme noch angespannter klingen musste. Was die Raumempfindung meines Gehirns offenbart hatte, konnte ich nicht leugnen: Die Struktur hatte es mir ermöglicht, meine implizite Beschreibung der Welt zu visualisieren.
Als ich Al berichtete, was ich soeben enthüllt hatte, nickte er und fragte mich, ob ich ihm gestatte, meine Perspektive zu verändern. Ich spürte, dass meine Skepsis wieder zurückkehrte, doch weil ich Al andererseits mochte und neugierig auf seine Arbeit war, erklärte ich mich zögernd einverstanden. Dann stellte er sich mit seinem Körper direkt zwischen mich und Couch und Lampe, sodass sie aus meinem Blickfeld verschwanden. Sofort spürte ich eine tiefe Erleichterung in meinem Körper – die Angespanntheit in meinem Brustkorb verschwand, und auch meine Atmung wurde entspannter. In diesem Augenblick beschloss ich, Pessos Schüler zu werden. 4
Innere Landkarten umstrukturieren
Wenn wir unsere innere Welt in den dreidimensionalen Raum einer Struktur projizieren, können wir sehen, was in unserem Geist vor sich geht, und wir gewinnen ein wesentlich klareres Bild von unseren früheren Reaktionen auf Menschen und Ereignisse. Positionieren wir dann für die wichtigen Menschen in unserem Leben Platzhalter, werden wir wahrscheinlich vom unerwarteten Auftauchen von Erinnerungen, Gedanken und Emotionen überrascht. Wir können dann damit experimentieren, die verschiedenen Objekte auf dem entstandenen äußeren »Schachbrett« umherzubewegen, und sehen, wie sich dies auf uns auswirkt.
Obgleich bei dieser Arbeit mit Strukturen ein Dialog stattfindet, gibt es in der psychomotorischen Therapie keine Erklärung oder Deutung. Die Arbeit ermöglicht den Patienten nur, zu spüren, was sie in der Vergangenheit empfunden haben, zu visualisieren, was sie gesehen haben, und zu sagen, was sie zum Zeitpunkt des Geschehens nicht haben sagen können. Es ist, als könnten wir im Film unseres Lebens rückwärtsgehen und die wichtigen Szenen umschreiben. Die Patienten können die Rollenspieler auffordern, Dinge zu tun, die sie selbst in der Vergangenheit nicht getan haben, beispielsweise den Vater davon abhalten, die Mutter zu schlagen. Solche Tableaus können starke Emotionen hervorrufen. Wenn Sie beispielsweise Ihre »reale Mutter« in einer Ecke platzieren, wo sie starr vor Entsetzen kauert, verspüren Sie vielleicht eine tiefe Sehnsucht, sie zu schützen, und Ihnen wird klar, wie machtlos Sie sich als Kind gefühlt haben. Aber wenn Sie anschließend eine ideale Mutter kreieren, die Ihrem Vater die Stirn bietet und die weiß, wie sie es vermeiden kann, in einer Beziehung, in der sie misshandelt wird, gefangen zu sein, erleben Sie möglicherweise ein viszerales Gefühl der Erleichterung und eine Entlastung von dem alten Gefühl der Schuld und Hilflosigkeit. Oder Sie stellen Ihren Bruder zur Rede, der Sie als Kind brutal behandelt hat, und anschließend kreieren Sie einen idealen Bruder, der Sie schützt und zu Ihrem Vorbild wird.
Die Aufgabe des Regisseurs/Therapeuten und der übrigen Gruppenmitglieder besteht darin, dem Protagonisten die Unterstützung zu bieten, die er braucht, um zu erforschen, was immer er bisher allein nicht zu erforschen gewagt hat. Die sichere Situation in der Gruppe ermöglicht Ihnen, Dinge zu erkennen, die Sie bisher vor sich selbst verborgen haben – gewöhnlich die Dinge, derentwegen Sie sich am meisten schämen. Wenn Sie sich nicht mehr zu verbergen brauchen, ermöglicht Ihnen die Struktur, die Scham dorthin zu befördern, wo sie hingehört – zu den Gestalten vor Ihnen, den Repräsentanten der Menschen, die Sie verletzt und Ihnen als Kind das Gefühl vermittelt haben, völlig hilflos zu sein.
Sich sicher zu fühlen bedeutet, dass Sie zu Ihrem Vater (bzw. zu dem Platzhalter, der ihn repräsentiert) Dinge sagen können, die Sie als Fünfjähriger nie zu ihm hätten sagen können. Und Sie können dem Platzhalter für Ihre depressive und verängstigte Mutter sagen, wie schrecklich Sie sich gefühlt haben, weil Sie nichts für sie haben tun können. Sie können auch mit Distanz und Nähe experimentieren und erforschen, was passiert, wenn Sie die Position der verschiedenen Platzhalter im Raum verändern. Als aktiv Beteiligter können Sie sich auf eine Weise in einer Szene verlieren, wie es beim bloßen Erzählen einer Geschichte nicht möglich ist. Und während Sie die Realität Ihres Erlebens repräsentieren, leistet der Zeuge Ihnen Gesellschaft und spiegelt Veränderungen Ihrer Körperhaltung, Ihres Gesichtsausdrucks und des Klangs Ihrer Stimme.
So wie ich selbst es erlebt habe, kann das physische Wiedererleben der Vergangenheit in der Gegenwart und die anschließende Umgestaltung des Erlebten in einem sicheren und unterstützenden »Behälter« so wirksam sein, dass neue, ergänzende Erinnerungen entstehen: simulierte Erlebnisse des Aufwachsens in einer liebevollen Umgebung, in der Sie vor jeder Schädigung geschützt sind. Pessos Strukturen können negative Erinnerungen nicht auslöschen oder auch nur neutralisieren, wie EMDR es tut. Einer Struktur werden nur neue Möglichkeiten hinzugefügt – eine alternative Erinnerung, in der Ihre grundlegenden menschlichen Bedürfnisse erfüllt werden und Ihrer Sehnsucht nach Liebe und Schutz Rechnung getragen wird.
Revision der Vergangenheit
Ich möchte ein Beispiel aus einem Workshop schildern, den ich kürzlich im Esalen Institute in Big Sur in Kalifornien geleitet habe.
Maria war eine schlanke und sportliche Philippinerin Mitte vierzig, die während der ersten beiden Tage des Workshops, in denen es um die langfristigen Auswirkungen von Traumata und um das Erlernen von Selbstregulationstechniken ging, eine sehr angenehme Präsenz gezeigt hatte. Doch nun saß sie keine zwei Meter von mir entfernt auf ihrem Kissen und wirkte ziemlich verängstigt und ratlos. Ich fragte mich, ob sie sich nur als Protagonistin gemeldet hatte, um es ihrer Freundin recht zu machen, die sie zu diesem Workshop begleitet hatte.
Zunächst ermutigte ich sie, darauf zu achten, was in ihr vor sich gehe, und über alles zu berichten, was ihr in den Sinn komme. Nach einer langen Stille sagte sie: »Ich spüre eigentlich nichts in meinem Körper, und mein Geist ist völlig leer.« Ich spiegelte ihre innere Anspannung, indem ich antwortete: »Ein Zeuge kann sehen, wie besorgt Sie darüber sind, dass Ihr Geist leer ist und dass Sie nichts mehr fühlen, nachdem Sie sich freiwillig gemeldet haben, um an einer Struktur zu arbeiten. Ist das richtig so?« – »Ja!«, antwortete sie und klang dabei ein wenig erleichtert.
Der »Zeuge« tritt gleich zu Beginn in die Struktur ein und übernimmt die Rolle eines akzeptierenden, nicht urteilenden Beobachters, der dem Protagonisten beisteht, indem er seinen emotionalen Zustand spiegelt und registriert, in welchem Kontext sich dieser Zustand manifestiert hat (so wie in Form meines Hinweises darauf, dass Maria sich freiwillig gemeldet hatte, um an einer Struktur zu arbeiten). Dass Menschen sich geschätzt fühlen, weil sie spüren, dass sie gehört und gesehen werden, ist eine Voraussetzung für das Gefühl der eigenen Sicherheit, das für die Erforschung des gefährlichen Bereichs des Traumas und des Verlassenseins entscheidend ist. Eine Neuroimaging-Studie hat gezeigt, dass auf dem Scan von Menschen, die eine ihren inneren Zustand spiegelnde Äußerung hören, für kurze Zeit die rechtsseitige Amygdala aufleuchtet, als sollte das Zutreffen der Reflexion unterstrichen werden.
Ich empfahl Maria, sich weiter auf ihre Atmung zu fokussieren – dies war eine der Übungen gewesen, an denen wir gemeinsam gearbeitet hatten – und darauf zu achten, was sie dabei in ihrem Körper spürte. Nach erneuter langer Stille begann sie zögernd zu sprechen: »Ich empfinde bei allem, was ich tue, eine gewisse Angst. Es wirkt zwar äußerlich nicht so, als ob ich Angst hätte, aber ich muss mich ständig zusammenreißen. Es fällt mir wirklich sehr schwer, unbeschwert zu sein.« Ich spiegelte daraufhin: »Ein Zeuge kann sehen, wie unwohl Sie sich dabei fühlen, sich dazu anzutreiben, hier zu sein.« Sie nickte, wobei sie ihre Wirbelsäule leicht aufrichtete, was signalisierte, dass sie sich verstanden fühlte: »Ich habe in meiner Kindheit und Jugend geglaubt, meine Familie sei völlig normal. Aber ich habe mich vor meinem Vater immer gefürchtet. Ich fühlte mich von ihm nie umsorgt. Er hat mich zwar nie so kräftig geschlagen wie meine Geschwister, aber ich habe trotzdem ständig starke Angst vor ihm gehabt.« Ich merkte an, ein Zeuge könne sehen, wie verängstigt sie wirke, während sie über ihren Vater spreche, und dann schlug ich ihr vor, ein Mitglied der Gruppe auszuwählen, das ihn repräsentieren sollte.
Maria schaute sich in der Runde um und wählte schließlich Scott aus, einen sanftmütigen Videoproduzenten, der immer sehr lebhaft war und alle anderen Gruppenmitglieder unterstützt hatte. Ich gab Scott folgendes Skript vor: »Ich übernehme die Rolle deines realen Vaters, der dir als kleinem Mädchen Angst eingejagt hat.« Scott wiederholte diesen Satz anschließend. (Man beachte, dass es bei dieser Arbeit nicht um Improvisation geht, sondern darum, den Dialog und die Anweisungen des Zeugen und des Protagonisten korrekt zu inszenieren.) Dann fragte ich Maria, wo sie ihren realen Vater positionieren wolle. Sie forderte Scott auf, sich vier Meter von ihr entfernt, etwas rechts von ihr, hinzustellen, das Gesicht von ihr abgewandt. Wir arbeiteten nun am Aufbau des Tableaus, und ich bin bei jeder Struktur, die ich auf diese Weise kreiere, beeindruckt, wie präzise die äußeren Projektionen der rechten Hemisphäre sind. Die Protagonisten wissen immer genau, wo im Raum sie die verschiedenen Charaktere positionieren wollen.
Ebenso überrascht mich immer wieder, wie die Platzhalter den signifikanten Personen aus dem Leben der Protagonisten fast augenblicklich eine virtuelle Realität kreieren: Die an der Inszenierung Beteiligten werden zu den Menschen, mit denen der Protagonist in der Vergangenheit fertigwerden musste – nicht nur für den Protagonisten, sondern oft auch für die anderen Teilnehmer. Ich forderte Maria auf, sich ihren realen Vater noch einmal lange und gründlich zu vergegenwärtigen, und während sie dastand und ihn anschaute, konnten wir miterleben, wie ihre Emotionen ihm gegenüber zwischen Entsetzen und einem tiefen Mitgefühl schwankten. Sie reflektierte unter Tränen, wie schwer sein Leben gewesen war – wie er als Kind im Zweiten Weltkrieg gesehen hatte, dass Menschen geköpft wurden, und wie man ihn gezwungen hatte, mit Maden verseuchten Fisch zu essen. Die Strukturen fördern eine der unverzichtbaren Voraussetzungen für eine tief reichende therapeutisch wirkende Veränderung: einen tranceartigen Zustand, in dem vielfältige Realitäten nebeneinander bestehen können – »vergangene und gegenwärtige, in dem Wissen, dass Sie ein Erwachsener sind, während Sie sich so fühlen, wie Sie sich als Kind gefühlt haben, Ihre Wut oder Ihr Entsetzen gegenüber einem Menschen ausdrückend, den Sie so empfinden, als wäre er es, der Sie missbraucht oder misshandelt hat, obwohl Ihnen andererseits völlig klar ist, dass Sie mit Scott sprechen, der Ihrem realen Vater in keiner Hinsicht ähnelt, wobei Sie gleichzeitig die komplexen Emotionen Loyalität, Zärtlichkeit, Wut und Sehnsucht spüren, die Kinder ihren Eltern gegenüber haben«.
Während Maria über die Beziehung, die sie als kleines Mädchen zu ihrem Vater hatte, zu sprechen begann, spiegelte ich weiter ihren Gefühlsausdruck. Sie sagte, der Vater habe ihre Mutter oft geschlagen. Er hatte ständig kritisiert, wie sie sich ernährte, wie ihr Körper aussah und wie sie den Haushalt führte, und wenn der Vater sie beschimpfte, hatte Maria immer Angst um ihre Mutter gehabt. Sie beschrieb ihre Mutter als liebevoll und warmherzig, und ohne die Mutter hätte sie nicht überleben können. Die Mutter war jederzeit bereit gewesen, Maria zu trösten, wenn ihr Vater sie geschlagen hatte, aber sie hatte nie etwas unternommen, um ihre Kinder vor der Wut des Vaters zu schützen. »Ich glaube, meine Mutter war selbst sehr ängstlich. Ich hatte das Gefühl, dass sie es deshalb nicht wagte, uns zu schützen.«
Ich schlug vor, Marias Mutter in den Raum zu rufen. Maria schaute sich in der Gruppe um und lächelte strahlend, als sie Kristin, eine blonde, skandinavisch aussehende Künstlerin, bat, die Rolle ihrer realen Mutter zu spielen. Kristin akzeptierte daraufhin formell ihre Mitwirkung in der Struktur: »Ich übernehme die Rolle deiner realen Mutter, die warmherzig und liebevoll war und ohne die du nicht überlebt hättest, die dich aber nicht vor der schlechten Behandlung durch deinen Vater hat schützen können.« Maria bat Kristin, sich auf ein Kissen zu ihrer Rechten zu setzen, wesentlich näher, als ihr realer Vater saß.
Ich forderte Maria auf, Kristin anzuschauen, und fragte sie dann: »Was geschieht, wenn Sie Kristin anschauen?« Maria sagte wütend: »Nichts!« Ich merkte daraufhin an: »Ein Zeuge würde sehen, wie Sie erstarren, während Sie Ihre reale Mutter anschauen und wütend sagen, dass Sie nichts fühlen.« Nach längerem Schweigen fragte ich erneut: »Was geschieht jetzt?« Maria wirkte noch etwas niedergeschlagener und wiederholte: »Nichts.« Daraufhin fragte ich sie: »Möchten Sie Ihrer Mutter etwas sagen?« Schließlich sagte sie: »Ich weiß, dass du dein Bestmögliches getan hast«, und einige Augenblicke später: »Ich hätte mir gewünscht, von dir beschützt zu werden.« Als sie leise zu weinen anfing, fragte ich sie: »Was geht in Ihnen vor?« Maria antwortete: »Wenn ich nach meinem Brustkorb taste, spüre ich, dass mein Herz ziemlich stark pocht. Ich bin traurig, weil meine Mutter es nicht geschafft hat, sich gegen meinen Vater zur Wehr zu setzen und uns zu schützen. Sie hat sich einfach verschlossen und so getan, als sei alles in bester Ordnung. Wahrscheinlich hat sie das tatsächlich so gesehen, und genau das macht mich heute wütend. Ich möchte zu ihr sagen: ›Mami, wenn ich sehe, wie du auf Vater reagierst, wenn er böse ist … wenn ich dein Gesicht sehe, dann wirkst du angeekelt, und ich weiß nicht, warum du nicht einfach sagst: Leck mich! Du weißt nicht, wie man kämpft – du bist so ein Schwächling –, ein Teil von dir ist weder gut noch lebendig. Ich weiß nicht einmal, was ich sagen will. Ich will nur, dass du anders bist – nichts von dem, was du tust, ist richtig, als ob du alles akzeptieren würdest, auch wenn etwas absolut nicht okay ist.‹« Daraufhin merkte ich an: »Ein Zeuge würde sehen, wie grimmig Sie sind, wenn Sie Ihre Mutter dazu drängen, sich gegen Ihren Vater zur Wehr zu setzen.« Dann sagte Maria, sie habe sich gewünscht, dass ihre Mutter mit den Kindern davongelaufen wäre und sie außer Reichweite ihres schreckenerregenden Vaters gebracht hätte.
Ich schlug nun Maria vor, ein anderes Gruppenmitglied als Repräsentantin ihrer idealen Mutter zu wählen. Sie schaute sich in der Gruppe um und wählte dann Ellen aus, eine Therapeutin, die auch Trainerin für östliche Kampfkünste war. Maria bat sie, auf einem Kissen zu ihrer Rechten zwischen ihrer realen Mutter und sich Platz zu nehmen und ihren Arm um sie zu legen. Ich fragte: »Was möchten Sie, das Ihre reale Mutter zu Ihrem Vater sagt?« Sie antwortete: »Ich möchte, dass sie zu ihm sagt: › Wenn du so redest, werde ich dich verlassen und die Kinder mitnehmen. Wir werden hier nicht herumsitzen und uns diesen Mist anhören.‹« Ellen wiederholte, was Maria formuliert hatte. Dann fragte ich: »Und was geschieht jetzt?« Maria antwortete: »Das gefällt mir. Ich spüre kaum noch Druck in meinem Kopf. Ich kann frei atmen. Und in meinem Körper spüre ich jetzt feine Energiebewegungen. Das ist sehr angenehm.« Ich sagte daraufhin: »Ein Zeuge kann sehen, wie erfreut Sie sind, während Sie Ihre Mutter sagen hören, dass sie nicht mehr bereit ist, sich die beleidigenden Äußerungen Ihres Vaters anzuhören, und dass sie von ihm weggehen will.« Maria fing an zu schluchzen und sagte: »Ich hätte mich als kleines Mädchen geborgen fühlen und glücklich sein können.« Am äußersten Rand meines Blickfeldes sah ich, dass mehrere Gruppenmitglieder still weinten – die Möglichkeit, in Sicherheit und glücklich aufzuwachsen, hatte offenbar ihre eigenen Sehnsüchte angerührt.
Nach einer Weile sagte ich, es sei an der Zeit, Marias idealen Vater ins Spiel zu bringen. Ich sah die Freude in Marias Augen, während sie in der Gruppe nach ihrem idealen Vater suchte. Sie wählte Danny aus. Ich gab ihm sein Skript, und er sagte sanft zu ihr: »Ich übernehme die Rolle deines idealen Vaters, der dich geliebt, sich um dich gekümmert und dich nicht erschreckt hätte.« Maria forderte ihn auf, sich in ihrer Nähe links von ihr hinzusetzen, und sie strahlte. Sie rief aus: »Meine gute Mutter und mein guter Vater!« Ich antwortete: »Lassen Sie die Freude zu, die Sie spüren, während Sie sich einen idealen Vater anschauen, der sich liebevoll um Sie gekümmert hätte.« Maria weinte und sagte: »Das ist wunderbar«, und dann umarmte sie Danny und lächelte ihn durch ihre Tränen hindurch an. »Ich kann mich an einen sehr zärtlichen Augenblick mit meinem Vater erinnern, und so, wie es damals war, empfinde ich es jetzt auch. Ich möchte gern auch meine Mutter in meiner Nähe haben.« Beide idealen Eltern gingen zärtlich auf Maria ein und hielten sie sanft. Ich überließ sie eine Weile ihren Gefühlen, damit sie das Erlebte völlig verinnerlichen konnte.
Zum Abschluss sagte Danny: »Wenn ich damals dein idealer Vater gewesen wäre, hätte ich dich genau so geliebt und dir keinen Schmerz zugefügt.« Und Ellen erklärte: »Wenn ich deine ideale Mutter gewesen wäre, hätte ich mich für dich und mich eingesetzt und dich geschützt, und niemand hätte dir schaden können.« Alle Beteiligten äußerten sich dann noch ein letztes Mal, legten formell ihre Rollen nieder und stellten klar, dass sie nun wieder sie selbst seien.
Entwurf eines neuen Lebens
Niemand wächst unter idealen Bedingungen auf – wobei wir nicht einmal wissen, wie ideale Umstände beschaffen sein könnten. Mein verstorbener Freund David Servan-Schreiber hat einmal gesagt: »Jedes Leben ist auf seine ganz besondere Weise schwierig.« Doch wenn wir selbstsichere und fähige Erwachsene werden wollen, ist es mit Sicherheit von Nutzen, bei zuverlässigen Eltern aufzuwachsen, die sich uns gegenüber konsistent verhalten, die Freude an uns und unserem Entdeckungsdrang hatten; Eltern, die uns halfen, unser Kommen und Gehen zu organisieren, und die für uns hinsichtlich der Selbstfürsorge und des Auskommens mit anderen Menschen Vorbilder waren.
Mängel in einem dieser Bereiche wirken sich wahrscheinlich später im Leben aus. Kindern, die ignoriert oder immer wieder gedemütigt wurden, mangelt es in der Regel an Respekt vor sich selbst. Kinder, die keine Selbstsicherheit entwickeln konnten, haben als Erwachsene wahrscheinlich Schwierigkeiten, einen eigenen Standpunkt zu vertreten. Und die meisten Erwachsenen, die als Kinder brutal behandelt wurden, tragen eine glimmende Wut in sich, die sie nur mit hohem Energieaufwand unter Kontrolle halten können.
Auch unsere Beziehungen leiden unter einem solchen Start ins Leben. Je mehr Schmerz und Entbehrung wir früh erlitten haben, umso eher deuten wir das, was andere Menschen tun, als gegen uns gerichtet und umso weniger Verständnis haben wir für ihre Kämpfe, Unsicherheiten und Sorgen. Wenn wir nicht in der Lage sind, die Komplexität ihres Lebens zu würdigen, sehen wir leicht alles, was sie tun, als Bestätigung dessen, dass man uns verletzen und enttäuschen wird.
In den Kapiteln über die biologischen Grundlagen des Traumas haben wir gesehen, wie Traumata und Verlassenwerden Menschen von ihrem Körper als einer Quelle der Freude und des Behagens oder gar als einen Teil von sich selbst, der umsorgt und genährt werden muss, trennen. Wenn wir uns nicht darauf verlassen können, dass unser Körper uns Sicherheit signalisiert oder uns warnt, und wir stattdessen chronisch von körperlichen Regungen überwältigt werden, fühlen wir uns in unserer Haut und in der Welt nicht mehr zu Hause. Solange die Weltbeschreibung von Menschen auf Traumata, Missbrauch, Misshandlungen und Vernachlässigung basiert, suchen die Betreffenden wahrscheinlich nach Abkürzungen, die in das Vergessen führen. Sie fürchten, erneut Zurückweisung, Verspottung und Deprivation zu erleben, und es widerstrebt ihnen, neue Möglichkeiten auszuprobieren, denn sie sind sicher, dass diese Misserfolg nach sich ziehen werden. Der Widerwille gegen Experimente mit neuen Möglichkeiten lässt Menschen in einer Matrix der Furcht, Isolation und Entbehrung verharren, sodass es ihnen unmöglich ist, sich auf Erlebnisse einzulassen, die ihre Weltsicht von Grund auf verändern würden.
Dies ist einer der Gründe für den besonderen Wert der strukturierten Erlebnisse der psychomotorischen Therapie. Die Teilnehmer können die Kakofonie und Verwirrung der Vergangenheit mithilfe dieser Methode gefahrlos untersuchen. Das führt zu konkreten Aha-Erlebnissen: »Ja, genauso war es. Damit musste ich mich herumschlagen. Und so hätte ich mich gefühlt, wenn ich gehalten und geliebt worden wäre.« Wenn Menschen im tranceartigen Container einer Struktur das sensorische Erlebnis ermöglicht wird, dass sie als Dreijährige geschätzt und geschützt werden, so können sie ihre inneren Erlebnisse in einem neuen Licht betrachten, so wie es in dem Satz »Ich kann spontan mit anderen Menschen interagieren, ohne dass ich fürchten muss, zurückgewiesen oder verletzt zu werden« zum Ausdruck kommt.
Strukturen nutzen die außerordentliche Macht der Vorstellung, jene inneren Erzählungen zu transformieren, die unsere Funktionsfähigkeit in der Welt verstärken und einschränken. Bei adäquater Unterstützung wird es möglich, die Geheimnisse, über die zu sprechen einst zu gefährlich war, nicht nur einem Therapeuten, einem Beichtvater unserer Zeit, sondern in der Vorstellung auch den Menschen, die uns verletzt und verraten haben, zu offenbaren.
Die Dreidimensionalität der Struktur verwandelt das Verborgene, Verbotene und Gefürchtete in sichtbare, konkrete Wirklichkeit. In dieser Hinsicht ähnelt die Methode Pessos ein wenig der IFS -Arbeit, die im vorigen Kapitel beschrieben wurde. Die IFS -Therapie fördert Anteile zutage, die Menschen abgespalten haben, um zu überleben, und ermöglicht uns, mit diesen Anteilen zu reden und uns mit ihnen zu identifizieren, sodass das Selbst in ungeschädigter Form sichtbar wird. Eine Struktur hingegen kreiert ein dreidimensionales Bild dessen, was Sie bewältigen mussten, und ermöglicht Ihnen so, eines Tages zu einem anderen Resultat zu gelangen.
Die meisten Menschen scheuen es, sich in Schmerzen und Enttäuschungen, die sie in der Vergangenheit erlebt haben, zurückzuversetzen, weil sie fürchten, dass dadurch nur eine Situation reaktiviert wird, die sie als unerträglich empfunden haben. Doch wenn sie bei diesem Vorgang gespiegelt und von einem Zeugen begleitet werden, nimmt allmählich eine neue Realität Gestalt an. Akkurat gespiegelt zu werden ist etwas völlig anderes, als ignoriert, kritisiert und herabgesetzt zu werden. Es ermöglicht Ihnen, zu fühlen, was Sie fühlen, und zu wissen, was Sie wissen – und das ist eine der entscheidenden Voraussetzungen für jede Genesung.
Traumata bringen Menschen dazu, sich auf die Deutung der Gegenwart im Lichte einer unveränderlichen Vergangenheit zu fixieren. Die in einer Struktur rekreierte Szene kann dem, was geschehen ist, genau entsprechen oder auch nicht; in jedem Fall jedoch repräsentiert die Struktur Ihre innere Landkarte und die unsichtbaren Regeln, an denen Sie sich in Ihrem Leben orientiert haben.
Das Wagnis, die Wahrheit auszusprechen
Kürzlich habe ich im Rahmen einer Therapiegruppe eine andere Struktur aufgebaut. Ein 26-jähriger Mann, Mark, hatte als Dreizehnjähriger zufällig seinen Vater beim Telefonsex mit seiner Tante, der Schwester seiner Mutter, ertappt. Mark war aufgrund dieses Erlebnisses verwirrt gewesen und hatte sich beschämt, verletzt, verraten und durch sein Wissen gelähmt gefühlt. Als er versucht hatte, mit seinem Vater über die Sache zu reden, war dieser wütend geworden und hatte alles abgestritten: Der Vater warf Mark eine schmutzige Fantasie vor, und Mark beschuldigte den Vater, er versuche, die Familie zu zerstören. Mark hatte es nie gewagt, seiner Mutter von seinem Erlebnis zu erzählen, aber die Familiengeheimnisse und die Heuchelei in der Familie vergifteten von jener Zeit an das Zusammenleben, und Mark hatte das Gefühl, niemandem mehr vertrauen zu können. Nach der Schule verbrachte er seine isolierte Zeit meist auf Basketballplätzen in der Nachbarschaft oder in seinem Zimmer vor dem Fernseher. Als er 21 Jahre alt war, starb seine Mutter – an gebrochenem Herzen, wie Mark glaubte –, und sein Vater heiratete die Tante. Mark wurde weder zur Beerdigung seiner Mutter noch zur Hochzeit seines Vaters eingeladen.
Geheimnisse wie diese werden zu inneren Giften – Realitäten, die man sich nicht eingestehen und über die man nicht sprechen darf, die aber trotzdem das eigene Leben prägen. Als Mark sich der Gruppe anschloss, wusste ich nichts über seine Geschichte, aber dass er emotional sehr distanziert wirkte, war mir sofort aufgefallen, und beim Check-in am Anfang der Gruppensitzungen erklärte er immer wieder, er fühle sich von allen anderen Gruppenmitgliedern wie durch einen dichten Nebel getrennt. Deshalb fragte ich mich besorgt, was wohl auftauchen würde, wenn er uns hinter seine starre und ausdruckslose äußere Erscheinung schauen lassen würde.
Als ich Mark einlud, über seine Familie zu reden, sagte er nur ein paar Worte und wirkte danach noch verschlossener als vorher. Daraufhin forderte ich ihn auf, ein anderes Gruppenmitglied zu bitten, für ihn als »Kontaktfigur« zu fungieren und ihn so zu unterstützen. Er wählte Richard, einen weißhaarigen Mann, und bat ihn, auf einem Kissen direkt neben ihm Platz zu nehmen, sodass er Richards Schulter berührte. Als er dann begann, seine Geschichte zu erzählen, platzierte er Joe als seinen realen Vater in dreieinhalb Meter Abstand vor sich, und anschließend bat er Carolyn, die er als Repräsentantin seiner Mutter auswählte, sich in eine Ecke zu hocken und ihr Gesicht zu verbergen. Für die Rolle seiner Tante wählte er Amanda aus, die er anwies, sich mit vor der Brust verschränkten Armen und trotzigem Ausdruck an eine Seite des Raums zu stellen und auf diese Weise all die berechnenden, skrupellosen und hinterhältigen Frauen zu repräsentieren, die hinter Männern her sind.
Als Mark sich das Tableau anschaute, das er zusammengestellt hatte, saß er aufrecht und mit weit geöffneten Augen da. Der Nebel war offensichtlich verschwunden. Ich sagte: »Ein Zeuge kann sehen, wie bestürzt Sie betrachten, womit Sie fertigwerden mussten.« Mark nickte zustimmend, blieb eine Weile still und wirkte traurig. Dann schaute er seinen »Vater« an und platzte heraus: »Du Arschloch, du Scheinheiliger, du hast mein Leben ruiniert!« Ich lud Mark ein, seinem »Vater« all die Dinge zu sagen, die er ihm schon immer hatte sagen wollen. Es folgte eine lange Liste von Beschuldigungen. Ich instruierte den »Vater«, körperlich zu reagieren, als ob er verprügelt würde, sodass Mark die Wirkung seiner Schläge sehen konnte. Es überraschte mich nicht, als Mark spontan äußerte, er habe immer gefürchtet, seine Wut könnte außer Kontrolle geraten; und diese Angst habe ihn davon abgehalten, in der Schule, im Beruf und in Beziehungen einen eigenen Standpunkt zu vertreten.
Nachdem Mark auf diese Weise seinen »Vater« mit dessen Verhalten konfrontiert hatte, fragte ich ihn, ob er Richard nun eine neue Rolle übertragen wolle: die seines idealen Vaters. Als er sich damit einverstanden erklärte, instruierte ich Richard, Mark direkt in die Augen zu schauen und zu sagen: »Wäre ich damals dein idealer Vater gewesen, hätte ich dir zugehört und dir nicht vorgeworfen, du hättest eine schmutzige Fantasie.« Als Richard dies sagte, fing Mark an zu zittern. »Oh, mein Gott, mein Leben wäre völlig anders verlaufen, wenn ich meinem Vater hätte vertrauen und mit ihm über das, was im Gange war, hätte reden können. Ich hätte dann einen Vater gehabt.« Dann instruierte ich Richard zu sagen: »Wäre ich damals dein idealer Vater gewesen, hätte ich deine Wut an mich herangelassen, und du hättest deinem Vater vertrauen können.« Mark entspannte sich merklich und sagte, dies hätte die Situation für ihn völlig verändert.
Dann wendete Mark sich an die Repräsentantin seiner Tante. Die Gruppe reagierte völlig fassungslos, als er sie mit einer Flut von Schmähungen überschüttete: »Du hinterhältige Hure, du Verräterin! Du hast deine Schwester betrogen und mein Leben ruiniert. Und unsere Familie noch dazu.« Danach fing Mark an zu schluchzen. Er sagte, er sei gegenüber allen Frauen, die Interesse an ihm gezeigt hatten, immer zutiefst misstrauisch gewesen. Die Arbeit an Marks Struktur nahm noch eine weitere halbe Stunde in Anspruch, in der wir die Voraussetzungen dafür schufen, dass er seine ideale Tante, die ihre Schwester nicht betrog, sondern ihr half, die isolierte Immigrantenfamilie zusammenzuhalten, und seine ideale Mutter schaffen konnte, der es gelang, sich das Interesse und die Hingabe ihres Mannes zu erhalten, und die nicht an gebrochenem Herzen starb. Mark beendete die Struktur, indem er die Szene, die er geschaffen hatte, schweigend und mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete.
Im weiteren Verlauf der Gruppenarbeit erwies sich Mark als ein offenes und kooperatives Gruppenmitglied, und drei Monate später teilte er mir in einer E-Mail mit, das Erlebnis in der Gruppe habe sein Leben verändert. Er war kurz vorher zu seiner ersten Freundin gezogen, und trotz einiger hitziger Diskussionen über die neue Situation war es ihm gelungen, sich ihre Sicht der Dinge anzuhören, ohne in die Defensive zu geraten, in seine alte Furcht oder Wut zurückzufallen oder das Gefühl zu entwickeln, sie versuche, ihn hereinzulegen. Er war erstaunt, dass es für ihn in Ordnung war, nicht der gleichen Meinung wie sie zu sein, und dass es ihm gelungen war, seinen eigenen Standpunkt zu vertreten. Schließlich bat er mich, ihm einen Therapeuten in der Nähe seines Wohnortes zu nennen, der ihm helfen könnte, mit den gewaltigen Veränderungen, die er in seinem Leben initiiert hatte, fertigzuwerden. Glücklicherweise konnte ich ihm einen geeigneten Kollegen nennen.
Mittel gegen schmerzhafte Erinnerungen
Wie die Model-Mugging -Kurse, über die ich in Kapitel 13 berichtet habe, ermöglichen auch die Strukturen in der psychomotorischen Therapie die Entwicklung virtueller Erinnerungen, die den schmerzhaften realen Erinnerungen an die Vergangenheit zur Seite gestellt werden und die den Patienten sensorische Erlebnisse des Gesehen-, Gehalten- und Unterstütztwerdens vermitteln, welche Erinnerungen an Verletzungen und Verrat neutralisieren können. Um sich verändern zu können, müssen sich Menschen viszeral mit Realitäten vertraut machen, die den statischen Gefühlen des durch ein Trauma erstarrten oder panischen Selbst entgegengesetzt sind, und sie durch Gefühle ersetzen, die auf dem Erleben von Sicherheit, Meisterung, Freude und Verbundenheit basieren. Im Kapitel über EMDR wurde erläutert, dass das Träumen unter anderem die Funktion hat, Assoziationen zu kreieren, die frustrierende aktuelle Ereignisse mit dem restlichen Leben verweben. Im Gegensatz zu unseren Träumen unterliegen psychomotorische Strukturen den Gesetzen der Physik, aber auch sie können die Vergangenheit umgestalten.
Natürlich können wir nicht ungeschehen machen, was geschehen ist, aber wir können neue emotionale Szenarien entwickeln, die so intensiv und real sind, dass sie einige der alten zu entschärfen und zu relativieren vermögen. Die heilenden Tableaus der für die von Pesso entwickelte Methode charakteristischen Strukturen ermöglichen ein Erlebnis, das vielen, die diese Arbeit kennenlernen, zuvor als unmöglich erschien: in einer Welt willkommen geheißen zu werden, in der Menschen sich freuen, dass sie da sind, sie schützen, ihre Bedürfnisse erfüllen und ihnen das Gefühl, zu Hause zu sein, vermitteln.