Wollen wir uns nicht der Vorstellung hingeben, dass die Weltbevölkerung endlos weiterwächst, müssen sich alle Volkswirtschaften eines Tages den Problemen stellen, mit denen sich heute Japan herumschlägt. Dass reichere Länder einfach Arbeitskräfte aus ärmeren einführen, unterstellt einen endlosen Nachschub von Menschen aus anderen Weltregionen. So kann es aber nicht weitergehen. Wollen wir nicht einer steten Zunahme der Weltbevölkerung das Wort reden – oder gar einem Import von Gastarbeitern aus einer fernen Galaxie –, werden die Gesellschaften eines Tages einen Weg finden müssen, wie Wirtschaftswachstum ohne den Zwang zu immer größeren Produktionszahlen möglich ist. Japan ist hierfür ein geeignetes Beispiel, denn seine Bevölkerung stagniert nicht nur, sondern steht vor einem rasanten Schwund. Der Wachstumsabschwung in den vergangenen 20 Jahren geht zum großen Teil auf ungünstige demografische Bedingungen zurück. Je mehr die Bevölkerung schrumpft, desto schwieriger wird es, die divergierenden Bedürfnisse der Generationen unter einen Hut zu bringen. Japan muss eine überzeugende Antwort auf die gesellschaftlichen Probleme finden. Ich wage aber eine Wette mit dem früheren Gesundheitsminister und Untergangspropheten Sakaguchi: Die Japaner wird es noch eine ganze Weile geben.
***
Er sagte, ich solle mir ein Reiskorn vorstellen. Ippei Takeda, der onkelhaft wirkende Generaldirektor von Nichicon, saß in seinem Büro in Kioto, wo der Hersteller von elektronischen Hightech-Bauteilen im kühnen Bürogebäude residiert. Die geräumige Eingangshalle sah eher wie eine Avantgarde-Galerie und nicht wie der Firmensitz eines Unternehmens aus. Ein Assistent hatte mich zum Aufzug und dann durch lange Gänge zu einem großen Büro in den oberen Stockwerken geleitet. Eine top gekleidete weibliche Bürohilfe brachte Tee für Takeda und mich, seinen Gast. Sie verneigte sich, als sie eintrat, verneigte sich erneut, als sie uns die kleinen Schalen mit grünem Tee geräuschlos servierte, und verneigte sich in der offenen Tür, ehe sie uns verließ. Mein Gastgeber war so in seine Erzählung vertieft, dass er nichts davon mitbekam. Seine Augen blinzelten hinter den silbergefassten Brillengläsern, und er lachte dazu. Der Reis, so erläuterte er, sollte von der japanischen Kurzkornsorte sein, die halb so groß wie die ausländischen Langkornreissorten ist. Zur Fertigung eines Aluminiumkondensators seiner Firma müsse ich mir vorstellen, in ein einziges Reiskorn 300000 Löcher zu bohren, es zu wenden und das Gleiche noch einmal von der anderen Seite zu tun. Wichtig sei es, dass sich die Löcher nicht in der Mitte trafen. Nun musste eine Oxidbeschichtung von acht bis zehn Ångström Dicke aufgebracht werden. Er schaute in einem kleinen Buch nach, ehe er den Bruch, bestehend aus dem Zähler 1 und dem Nenner 10000000, niederschrieb. Die Dicke der Beschichtung wurde in Zehnmillionstel eines Millimeters angegeben. Ich musste wohl eine verdatterte Miene gemacht haben. »Wirklich sehr dünn«, kommentierte er.
Worauf es in Takedas Geschichte ankam, war schlicht, dass es immer noch Sachen gab, in denen Japan wirklich gut war. Bauteile im Nanobereich fertigen gehörte dazu. Nichicons energiespeichernde Kondensatoren finden sich in fast jedem nur denkbaren elektronischen Gerät von Klimaanlagen bis zu Mobiltelefonen. Obwohl sein Unternehmen viele Fabriken im Ausland hatte, darunter auch in China, wo die Fertigung der Kondensatoren nur drei Viertel des Preises in Japan kostete, wurde das wirklich Komplizierte nach wie vor in Japan produziert. Die Qualität und Festigkeit waren in Japan einfach besser, sagte er, sogar besser als in Südkorea. Manche Kondensatoren haben einen Stückpreis von wenigen Cents, doch wenn sie defekt gehen, können sie Maschinen im Wert von Hunderten, ja Tausenden Dollar ruinieren. Hersteller lassen sich Qualität etwas kosten. »Wenn Sie mich fragen, ob Japan als produzierende Industrienation überleben kann, dann lautet meine Antwort: Ja, auf jeden Fall.«
Diese Ansicht wird nicht von jedem geteilt. In Japan selbst sind die Befürchtungen wegen des »Aushöhlens« seiner Industrie sogar noch größer als in anderen hoch entwickelten Ländern. Der Anteil der japanischen Arbeiter in der verarbeitenden Industrie ist über Jahre von 27 Prozent im Jahr 1970 auf 17 Prozent heute gesunken. In dieser Größenordnung ist die Industrie bedeutsamer als in Großbritannien oder den USA, wo zehn Prozent der Arbeitnehmer am Fließband stehen, aber nicht so bedeutsam wie in Deutschland oder Italien, wo ihr Anteil 20 Prozent ausmacht.134 Japan ist durch Billigproduzenten in Ländern wie China und durch den stark anziehenden Yen unter Druck geraten. Seit dem Tsunami hat sich die Abwanderung der Produktion ins Ausland noch beschleunigt, da Unternehmen sich um die sichere Zulieferung sorgen und nach der Kernschmelze im AKW Fukushima um die Kosten und die Verlässlichkeit nicht nuklearer Energie. »Rein logisch betrachtet, hat es keinen Sinn mehr, in Japan zu produzieren«, sagt Akio Toyoda, der Präsident der Firma Toyota Motor, die immer noch als das Aushängeschild der japanischen Industriekultur gilt.135
Für eine Nation, die stolz auf Monozukuri ist, ein geradezu mystischer Glaube an die handwerkliche Herstellung, ist dieses Fazit des Toyota-Chefs schon schockierend. In der sozialen Rangordnung des Feudalzeitalters galten Handwerker mehr als Händler. Auch heute noch ist vielen Japanern das Finanzwesen nicht geheuer – »Geld, das aus Geld gemacht wird« in den Worten eines Wirtschaftsministers, der mir gegenüber betonte, im Japan der Edo-Zeit seien Wucherzinsen gesetzlich verboten gewesen.136 Japaner halten das Verfertigen von Gegenständen immer noch für ehrenvoller. Führende japanische Geschäftsleute fürchten, dass die Dienstleistungssparte nicht international konkurrenzfähig ist. Die Qualität des japanischen Service ist zu Recht legendär, aber nicht leicht ins Ausland übertragbar. So haben in den 1980er-Jahren japanische Unternehmen bei Zukäufen im Bankwesen oft mehr für Übernahmen gezahlt und taten sich schwer, einer internationalen Belegschaft ihre Unternehmensvision zu vermitteln. »Das Selbstverständnis Japans ist im Herstellen verwurzelt«, sagt Yoshikazu Tanaka, der Gründer von Gree, einem Online-Spieleanbieter mit einer beeindruckenden Erfolgsgeschichte außerhalb der traditionellen Industrie.137
Ein Unternehmen, das für den Niedergang der verarbeitenden Industrie in Japan steht, ist Sony, in der Nachkriegszeit das Synonym für Qualität und Innovation. Die Firma, die den Walkman, den ersten tragbaren Player und den Triniton-TV mit seinem revolutionär klaren Fernsehbild erfand, wurde zum abschreckenden Beispiel dafür, wie in der Industrie der schöpferische Schwung verloren gehen kann. 2012 hat Sony fünf Jahre hintereinander keinen Gewinn gemacht. Im selben Jahr kündigte die Unternehmensleitung an, Sir Howard Stringer, den alerten Waliser, von dem es sich einen Ruck versprochen hatte, wieder in die zweite Reihe zu stellen. Sony wurde von Konkurrenten wie Apple und Samsung ausgestochen. Obwohl es Zehntausende Stellen strich, die Produktion nach China verlagerte und immer neue Geräte auf den Markt brachte, fiel es immer weiter zurück. Mitte 2012 betrug sein Marktwert ein Drittel von Apple. Samsung, der Elektronikriese aus der einstigen japanischen Kolonie Südkorea, macht jetzt mehr Gewinn als die 15 führenden japanischen Elektronikunternehmen zusammen.138
Sonys größter Fehler bestand darin, den Wandel der Industrie von analog zu digital oder – wie Sir Howard es schlau formulierte – von »Knöpfen zu Menüs« verschlafen zu haben.139 Das lag eher an mangelnder Fantasie als an fehlendem technischen Know-how. Akio Morita, der berühmte Mitbegründer von Sony, hatte sich schon früh mit der Digitalisierung beschäftigt, und außerdem besaß Sony eine Bibliothek an Musiktiteln, über die es seit dem Erwerb von CBS verfügte. Doch Sonys Ingenieure, denen das Unternehmen seinen früheren Erfolg verdankte, stemmten sich gegen den Wandel, weil sie Internetfähigkeit und Kompatibilität für wolkige Ideen hielten. Noch 2004 waren die Sony-Geräte nicht mit dem MP3-Format kompatibel. Die Spielekonsole PlayStation von Sony verkaufte sich besser, aber auch hier verlor Sony die Marktführerschaft, weil die Angriffe billigerer Konkurrenten und die Online-Spiele nicht abgewehrt wurden.
Yasuchika Hasegawa, der Chef einer pharmazeutischen Firma und Präsident des Unternehmerverbandes Keizai Doyukai, sieht Sony als Beispiel für eine allgemeine Schwäche der japanischen Unternehmen. »Wir sind weiterhin groß im Produzieren und Entwickeln von Bauteilen, die in Geräten und Maschinen verwendet werden«, stellt er fest, »aber uns entgehen die größeren Gewinnmöglichkeiten, die im Entwickeln neuer Produktkonzepte liegen.«140 Japanische Unternehmen können zwei Drittel der Bauteile herstellen, die in iPod und iPhone Verwendung finden. Doch sie waren so sehr auf die »Optimierung von Teilen« fixiert, dass ihnen das Wesentliche entging, nämlich ein digitales Ökosystem zu konstruieren und zu vermarkten. Wo, bitteschön, ist das japanische Äquivalent für Google, Twitter oder Apple?141 Wo ist der japanische Steve Jobs? Hasegawa sieht nur einen schwachen Trost in der Tatsache, dass viele Geräte weiterhin japanische Bauteile, wie sie Nichicon produziert, enthalten. Seiner Ansicht nach ist Japans Wirtschaft vom »made in Japan« zu »Japan inside« herabgesunken.
Die japanische Industrie hat einen exzellenten Ruf in der Produktion von Nischenkomponenten, Robotern – in diesem Bereich ist Japan sogar Weltführer – und Wafersteppern, das sind Maschinen zur Herstellung von Halbleitern für die Elektronikindustrie. Japanische Unternehmen produzieren spezielle Chemikalien, Werkzeugmaschinen, KI-Systeme, optische Linsen, Mikrosteuerelemente, Antriebsaggregate und Dutzende Bauteile für Maschinen, ohne die das moderne Leben undenkbar wäre. Japanische Autobauer wie Toyota, Nissan und Honda bringen Innovationen auf den Markt. Anders als Großbritannien, dessen produzierendes Gewerbe zusammengeschrumpft ist, kann Japan immer noch gediegene Waren herstellen. Der Niedergang seiner Elektronikindustrie ist augenfällig, da Marken wie Sony, Sharp, Hitachi, Panasonic und viele andere, die früher in jedem Haushalt der Mittelschicht zu finden waren, nun ihren Glanz verloren haben. Dieser dramatische Absturz hat die Tatsache verdunkelt, dass viele andere Unternehmen, die nicht im Fokus des Publikums stehen, weil sie industrielle Ausrüstungsgüter, Materialien oder Mikrobauteile produzieren, weiterhin über eine gute Performance verfügen. Man schaue sich nur Samsung an, das südkoreanische Unternehmen, dessen Erfolg der japanischen Konkurrenz so großen Schaden zugefügt hat. Samsung ist aber ein Großimporteur japanischer Bauteile, deren Qualität es nicht erreicht, weshalb es auf Importe, übrigens auch von anderen südkoreanischen Firmen, angewiesen ist. Mag Südkoreas Industrie auch weltweit großen Erfolg haben, so hat das Land doch ein erhebliches Handelsdefizit gegenüber Japan, was für Japans Wettbewerbsfähigkeit in bestimmten Bereichen spricht. Japan bleibt schließlich auch weltweit die Nummer eins bei den Patenten und schlägt sogar die USA. Allerdings hinkt es bei den Nobelpreisen und bei der Häufigkeit zitierter akademischer Quellen hinterher, auch dies mag ein Zeichen dafür sein, dass viele japanische Innovationen eher im Bereich winziger Verbesserungen und nicht in revolutionären Durchbrüchen bestehen.142
Wenn es stimmt, was Hasegawa sagt, dass die Japaner besser im Optimieren vorhandener Produktionsverfahren seien und nicht im Erfinden ganz neuer Konzepte, dann hat Japan seine beste Zeit wohl schon hinter sich. Das würde auch zu der Theorie passen, dass Japans hierarchische Gesellschaftsordnung und seine strenge Arbeitsmoral eher für die wirtschaftliche Aufholphase der Nachkriegszeit als für die postindustrielle Gegenwart geeignet sind. Ich habe einmal eine Fabrik der Firma Canon am Rande Tokios besichtigt. Die dortigen Arbeiter in ihrer gleichförmigen Arbeitskleidung übten sich in der Technik, möglichst wenig unnötige Bewegungen zu machen. So sollte die Fertigung komplizierter technischer Geräte wie Farbkopierer möglichst effizient gestaltet werden. Sie bewegten sich mit der Disziplin von Karatekämpfern. Sie hatten es in der Technik des Vermeidens zeitlicher und räumlicher »Unzweckmäßigkeit« – Muda nannten sie es – so weit gebracht, dass die Arbeiter in immer kleineren Werkstätten in engem Raum zusammenarbeiteten. Ganze Bereiche des Fertigungsbetriebs waren dank dieser Technik »frei gemacht« worden, um Fotokopierer in immer kleineren Räumen herzustellen. Man fragte sich freilich, zu welchem Nutzen. Solcher Ehrgeiz passte in die Zeit der Produktionsschlachten, als Japan die führenden Industrienationen durch Optimierung bereits vorhandener Techniken verfolgte und überholte. In der postindustriellen Epoche sind aber andere Fähigkeiten gefragt, denn nun heißt das Ziel, Neues auf neue Weise zu tun. »Man braucht eine andere geistige Beweglichkeit, um den Konkurrenten abzuhängen. Man braucht andere Fähigkeiten, eine andere gesellschaftliche Ordnung«, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Richard Koo. Seiner Ansicht nach fehlen in Japan Menschen, die selbständig denken und »nicht einfach wiederkäuen, was der Professor sagt«.143
Beobachter meinen, das Problem liege zum Teil an dem Galapagos-Syndrom, von dem Yoichi Funabashi sprach. Benannt nach Darwins Beobachtungen, wie sich Tiere an eine spezifische Umwelt anpassen, bedeutet es auf Japan bezogen, dass Technologien entwickelt werden, die zu eng auf den extrem anspruchsvollen heimischen Markt zugeschnitten sind. Mobiltelefone sind ein schlagendes Beispiel hierfür. Internetfähige Telefone gab es in Japan fast ein Jahrzehnt vor dem iPhone. Sharp war der erste Hersteller, der ein Mobiltelefon mit einer Kamera ausstattete. Doch die Unternehmen versäumten, ihre Innovationen im Ausland zu vermarkten oder ihr Produktdesign grundlegend zu ändern. Dies hatte zur Folge, dass Japan von den Smartphones der Marken Apple und Samsung überschwemmt wurde. Gleiches geschah im Bereich der elektronischen Lesegeräte. Sony erfand einen E-Reader Jahre vor Amazons Kindle, hatte aber keinen Erfolg mit der Kommerzialisierung. Das Gerät kam weder in den USA noch in Europa an.144 »Schrauben und Bolzen sind Japans Vergangenheit, nicht seine Zukunft«, sagt Masayoshi Son, der Gründer der Internetfirma SoftBank und der Mann, der am häufigsten als Beispiel für einen Unternehmer des postindustriellen Zeitalters genannt wird.145 Son empfiehlt, dass Japan die arbeitsintensive Herstellung ganz aufgeben und sich auf kapitalintensive Hightech-Branchen wie die IT-Industrie, alternative Energie und Pharmaindustrie konzentrieren solle. Es solle Apple nacheifern, im Design Soft- und Hardware verbinden und neue Geschäfts- und Marketingmodelle entwickeln. Die Fertigung könne auch anderswo geschehen.
Aus Sons Analyse ist zu entnehmen, dass ein gewisses Ausmaß an »Aushöhlung« unvermeidlich ist und dass es sogar als Zeichen gewertet werden kann, dass sich Japans Industrie einem neuen Zeitalter anpasst. Unternehmen verlagern immer öfter Routinefertigungen ins Ausland, behalten aber die »Blackbox«-Technologie in Japan. Sie kaufen auch Firmen in – wie sie hoffen – rasch wachsenden Märkten wie Indien, Brasilien und Indonesien auf. Das ist wahrscheinlich nicht gut für die inländische Beschäftigung, aber da Japans Arbeitskräftepotenzial sowieso schrumpft, wohl nicht so relevant wie in früheren Zeiten. Auch für das Steueraufkommen ist es nicht gut. Dennoch, die Tatsache, dass japanische Unternehmen immer mehr ausländische Firmen aufkaufen – in Rekordzahl in den letzten Jahren –, ist ein Grund zur Annahme, dass sie nun ihr Kapital dort investieren, wo es größere Chancen für Gewinne bringt. Im Jahr 2012 gaben japanische Unternehmen 113 Milliarden Dollar für Firmenkäufe im Ausland aus, darunter in der Gesundheits- und Telekommunikationsbranche sowie in der Nahrungsmittelherstellung. Darin wurde Japan nur von den USA übertroffen, deren Unternehmen im selben Jahr 174 Milliarden Dollar ausgaben. Japanische Unternehmen gaben aber doppelt so viel wie chinesische aus, was überrascht, angesichts der Schlagzeilen von der siechen japanischen Wirtschaft und den aggressiv auftretenden chinesischen Firmen, die überall auf der Welt ihre Beutezüge machen. Japan übertraf auch Großbritannien um ein Mehrfaches.146 Für alle, die meinen, Japans Stärke liege im Monozukuri, sind das besorgniserregende Trends. Aber in einer Welt, in der mehr Länder immer besser in der Produktion werden und in der die heimische Wirtschaft flache Wachstumsraten aufweist, ist die Wendung ins Ausland, um dort Innovation und Gewinn zu suchen, vielleicht das Klügste, was japanische Unternehmen tun können.
***
Vor ein paar Jahren erregte ein Meinungsartikel in der New York Times meine Aufmerksamkeit. Geschrieben hatte ihn Norihiro Kato, ein Professor für japanische Literatur an der Waseda-Universität, und die Überschrift lautete: »Japan und die alte Kunst des Achselzuckens«.147 Es war eine Hymne auf langsames Wachstum. Kato hatte seinen Essay gerade zu dem Zeitpunkt geschrieben, als China Japan als zweitgrößte Volkswirtschaft abgelöst hatte.148 Zum ersten Mal nach vier Jahrzehnten rangierte Japan wieder auf Rang drei. Statt zu dramatisieren, wie es Japans alte Wirtschaftskrieger taten, meinte Kato, der nationale Rangverlust sei ein Grund zum Feiern. »Japan braucht wirtschaftlich weder die Nummer zwei in der Welt zu sein noch Nummer fünf noch Nummer 15. Vielmehr ist es Zeit, dass wir uns Wichtigerem zuwenden«, schrieb er. Kato nannte es das Ende der Ära des »Rechte-Schulter-nach-oben«, ein japanischer Ausdruck für eine Wachstumskurve, die immer weiter nach oben geht. Lange vor dem Platzen der Blase im Jahr 1990 habe es Hinweise auf eine Verlangsamung des Wachstums gegeben. Die Bevölkerung sei von 1917 bis 1977 um mehr als ein Prozent jährlich gestiegen, dann aber verlangsamte sich die Zunahme, bis die Bevölkerung 2005 wirklich schrumpfte.149 Seither geht es bergab. In ähnlicher Weise zeigt die Kurve der Reisproduktion zwischen 1878 bis 1980 eine Verlangsamung in den 1960er-Jahren, nachdem sie fast ein Jahrhundert lang stetig gestiegen war. »Jahrzehnte ehe China Japan überflügelt hat, war das Land schon am Abnehmen und bereitete sich auf eine weiche Landung vor.«
Selbstverständlich werde die alte Garde am Traum von endlosem Wachstum festhalten. Aber, so Kato, Japans Jugend scheine mit dem neuen Zustand ganz zufrieden zu sein. Die Jugendlichen seien nämlich »Nichtkonsumenten« geworden. Japaner um die 20 haben keine Autos. Sie trinken keinen Alkohol. Sie feiern Heiligabend nicht mit Freunden oder Freundinnen in teuren Hotels in der City, so wie es frühere Generationen getan haben. Sie arbeiten in Teilzeitjobs und verbringen Stunden über einer Tasse Kaffee in einem billigen McDonald’s. Sie begnügen sich mit einem Mittagsimbiss bei Yoshinoya, einer Restaurantkette mit guter Qualität zu sehr niedrigen Preisen, und verzehren ein Beefsteak mit Reis für drei Dollar. Die Japaner, das ist Katos Meinung, seien Vorreiter einer neuen Lebensweise, die hohe Qualität, geringen Energieverbrauch und minimales Wachstum verbindet.
Kato hatte, so fand ich, einen mutigen Artikel geschrieben. Er würde sich damit zweifellos Spott zuziehen. Er hatte eine der stillschweigenden Grundannahmen der Neuzeit in Zweifel gezogen, nämlich dass eine Volkswirtschaft wie ein Hai nur dann überleben kann, wenn sie sich immer nur vorwärtsbewegt. Aber er schnitt ein Thema an, dem allzu oft ausgewichen wurde. War Wachstum denn wirklich das Ein und Alles? War Rückgang identisch mit Tod? Schließlich war Großbritannien 1900 von den USA als der weltweit größte Industrieproduzent überflügelt worden, so wie Japan 2010 von China verdrängt wurde. Gleichwohl leben die meisten Briten heute viel angenehmer als ihre Vorfahren um 1900. Auch Japan befand sich auf dem absteigenden Ast, aber, wie Kato fand, es lernte, besser zu leben.
Kato war mit seiner Einschätzung nicht allein, denn Ähnliches hatte ich oft in Japan gehört. Ich denke an die Worte meines Freundes Toshiki Senoue, ein Fotograf, mit dem ich wenige Tage nach dem Tsunami an die verwüstete Nordostküste Japans reiste. »Man redet vom Niedergang Japans«, sagte er, als wir wieder einmal an dieser Küste entlangfuhren. »Aber die Straßen haben keine Schlaglöcher, die Autos sind gut, es gibt keine Gewalt und die Luft ist sauber. Kein Grund zum Jammern.« Japanisches Essen sei das beste und gesündeste auf der Welt, das Leben insgesamt recht angenehm. Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Wenn das Niedergang sein soll, dann ist das gar nicht so schlecht.« Und wenn es abwärtsgehe, werde es eines Tages auch wieder aufwärtsgehen. Machiko Satonaka, eine bekannte Manga-Zeichnerin, drückte es ähnlich aus. »Die Leute sagen, Japan verliere seine Wirtschaftsmacht. Na wenn schon. Uns ist das egal. Wir wollen gar keine Supermacht sein«, sagte sie. »Unsere Werte ändern sich. Wir träumen jetzt davon, wie wir eine sichere Gesellschaft und eine saubere Umwelt schaffen können.« Solche Ansichten muten fast ketzerisch an, aber sie sind zu einer starken Strömung im japanischen Denken geworden. Wachstum sei nicht so wichtig, wie es stets hingestellt werde. Das wollten diese Personen ausdrücken. Das Leben sei mehr als das endlose Streben nach dem BIP.
Ich verabredete mich mit Kato zu einer Tasse Kaffee. Wir trafen uns passenderweise in der Lobby eines Hotels, das in den Jahren der Wirtschaftsblase erbaut worden war. Es war ein bisschen zu knallig eingerichtet und wirkte in Japan, wo das Understatement ein Zeichen guten Geschmacks ist, schon antiquiert. Katos Haar, das ein paar graue Strähnen aufwies, stand ab, als ob es von einem unsichtbaren Magneten über ihm angezogen würde. Er trug Jeans und ein lila Hemd. Sein Mienenspiel war lebhaft, ein ironisches Lächeln umspielte den Mund. Sein Gehirn schien schneller zu arbeiten als sein Mund, denn gelegentlich hatte er Mühe, seine Gedanken in geordnete Bahnen zu bringen.
Kato verglich moderne Volkswirtschaften mit dem Hollywood-Film Speed mit Sandra Bullock in der Hauptrolle. Der Plot ist einfach: In einem vollen Linienbus ist eine Bombe platziert. Der Gangster droht, wenn die Geschwindigkeit des Busses unter 50 Meilen pro Stunde falle, gehe die Bombe los. Das, so meinte Kato, sei eine interessante Drehbuchidee. In einem gewöhnlichen Actionfilm beschleunige sich die Handlung bis zum Höhepunkt. In Speed sei es genau das Gegenteil. Wenn der Bus zu langsam werde, komme es zum großen Knall. »In der Wirtschaft ist es ähnlich. Wir können nicht langsamer werden, ohne einen Zusammenbruch zu verursachen.« Speed habe Anleihen bei einem Drehbuch von Akira Kurosawa (1910–1998) genommen, ein renommierter japanischer Regisseur. Sein Film, der wegen fehlender Finanzierung nie gedreht wurde, sollte den Titel Shinkansen Explosion tragen. Hier bestand die Idee darin, dass ein Hochgeschwindigkeitszug explodieren würde, wenn seine Geschwindigkeit unter 80 Kilometer pro Stunde fiele oder über 120 Kilometer pro Stunde anstiege. »Aber warum müssen wir zwischen 80 und 120 Kilometer pro Stunde bleiben?«, fragte Kato. »Wir folgern daraus, dass es wichtig ist, ein bestimmtes nachhaltiges Wachstumstempo einzuhalten, weder darunter noch darüber. Grundlage unseres Wirtschaftswachstums war die Produktion. In der Epoche jenseits des Wachstums geht es darum, das, was wir schon haben, besser zu nutzen. Statt größer zu werden, muss unsere Volkswirtschaft tüchtiger werden.«
Kato griff zu einem anderen Vergleich. »Auch in der Pflanzenwelt ist stetiges Wachstum nicht möglich. Eine Pflanze kann erst dann Früchte tragen, wenn sie ausgewachsen ist und Reife erlangt hat.« Das Wachstum, das Japan in seiner Glanzzeit erreicht hat, war geschönt. »Es war nur Wachstum, wenn man von vielen Aspekten absah«, behauptete Kato und bezog sich dabei auf das, was Volkswirte als »externe Effekte« bezeichnen, also nicht in die Berechnung aufgenommene Nebenwirkungen wie Verschmutzung der Umwelt oder Schädigung der Gesundheit der Bevölkerung. »Im Kapitalismus ist von unbegrenztem Wachstum die Rede, aber die natürlichen Ressourcen sind begrenzt. Was in den 1960er- und 1970er-Jahren möglich schien, ist, wie wir deutlich sehen, nicht länger möglich.« Kato erinnerte mich an Walter Berglund, den spleenigen Protagonisten aus Jonathan Franzens Roman Freedom. Berglund vertritt darin die Ansicht, Wachstum in einer ausgebildeten Wirtschaft – wie in einem reifen Organismus – sei nicht gesund, sondern kanzerös. Kato ist Literaturprofessor und kein Wirtschaftswissenschaftler. Aber auch Wirtschaftswissenschaftler fragen sich, wie die Wirtschaftsleistung adäquat gemessen werden soll. Im schlimmsten Fall wird Wachstum mit materiellem Wohlstand verwechselt. Banker und Investoren zeigen mehr Begeisterung über arme Länder wie zum Beispiel China oder Indien, die ein hohes Wachstumstempo haben, als über Länder, die einen hohen Lebensstandard halten. Diese Sichtweise findet man auch häufig in den Wirtschaftsseiten der Zeitungen.
Kenneth Rogoff, Professor für Staatswissenschaft an der Harvard University, hat über die Frage geschrieben, wie Wachstum am besten zu messen sei. In seiner Publikation mit dem Titel »Rethinking the Growth Imperative« sagt er, dass die gängigen volkswirtschaftlichen Statistiken die Lebenserwartung, das Bildungsniveau und dergleichen nicht berücksichtigen. Im United Nations Human Development Report (deutsch: Bericht über die menschliche Entwicklung) werden hingegen diese ganzheitlichen Begriffe zur Grundlage einer Rangfolge der Nationen verwendet. In der Ausgabe des Jahres 2011 steht Japan auf Platz zwölf, Norwegen nimmt Platz eins ein, die USA Platz vier, Deutschland Platz neun, Frankreich Platz 20, Singapur Platz 26 und Großbritannien Platz 28. Wie bei Rangfolgen über »Städte mit hoher Lebensqualität« kann das Urteil subjektiv sein, aber davon abgesehen ist das Ziel, die »statistische Fixiertheit auf das BIP« zu überwinden.150
In seinem Essay geht Rogoff von der Annahme aus, dass »Menschen soziale Wesen sind, die ihren Wohlstand danach beurteilen, was sie bei ihren Mitmenschen sehen«. Man stelle sich zum Beispiel den märchenhaften Wohlstand eines Nelson Rockefeller vor. Der amerikanische Geschäftsmann und Philanthrop starb 1979 und konnte sich daher, so immens reich er auch war, niemals einen Laptop oder ein Smartphone kaufen, Güter, die heute zum gängigen Arsenal eines pickligen Jugendlichen in Tokio oder anderswo gehören. Rockefeller fühlte sich deswegen nicht betrogen, da seine Mitmenschen ebenfalls kein Smartphone besaßen. Solche technologischen Fortschritte werden von gewöhnlichen Wachstumsstatistiken gar nicht erfasst. Man braucht nur daran zu denken, was für Fernsehgeräte, Computer oder Mobiltelefone durchschnittliche Japaner heute besitzen, verglichen mit ihren angeblich so viel wohlhabenderen Landsleuten in den 1980er-Jahren. Wer sich höherwertige Waren mit dem gleichen Geldbetrag kaufen kann, dem geht es eindeutig besser. Rogoff fragt ferner, was uns daran liegen soll, dass sich die Wirtschaftsleistung in 100 oder 200 Jahren verachtfacht. Eine Wirtschaft, die um ein Prozent jährlich wächst, hätte sich nach 70 Jahren verdoppelt und nach 200 Jahren verachtfacht. Eine Wirtschaft, die um zwei Prozent jährlich wächst, würde sich schon nach 35 Jahren verdoppelt und nach 100 Jahren verachtfacht haben. Aber, so fragt Rogoff, ist das von Belang? »Es scheint absurd, immer auf die Maximierung des langfristigen Wachstums des Durchschnittseinkommens zu starren.«
Man kann diese Argumente auch überstrapazieren. Ein Einwand lautet, dass Wachstum zwar an sich nicht erstrebenswert sei, wohl aber notwendig. Denn ohne Wachstum laufen soziale Einrichtungen wie das Rentensystem Gefahr, zusammenzubrechen. Ohne Wachstum fällt es schwer, eine Lösung zu finden, wie sich Japan aus seiner Schuldenfalle befreien kann. Die Alternative zum Wachstum könnte für Japan in Gestalt einer Finanzkrise kommen, die dem Lebensstandard einen weiteren Schlag versetzen würde. Vielleicht müssen sich Volkswirtschaften tatsächlich wie Haie immer vorwärtsbewegen. Die Suche nach Parametern für die Messung des Wirtschaftserfolgs, die über das BIP hinausgehen, lädt auch zum Missbrauch ein. Regierungen könnten versucht sein, mit solchen Begriffen ihre schwache eigene Leistung zu kaschieren. »Bruttonationalglück« war ein Schlagwort, das die Regierung des Königreichs Bhutan in den 1970er-Jahren prägte. Damit sollte neben der materiellen auch die spirituelle Lebensqualität ausgedrückt werden. Hält man sich aber an das, was man tatsächlich messen kann, dann hat Bhutan keine Fortschritte gemacht. Nach wie vor ist es ein armes Land mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 6000 Dollar, einer Lebenserwartung von 66 Jahren – damit nimmt es Platz 134 ein – und einem Bildungsniveau, das unter demjenigen von Togo und Bangladesch liegt.151 Von Bruttoinlandsprodukt zu sprechen, mag ja insgesamt nicht adäquat sein, aber immerhin hat es eine bestimmte Bedeutung.
Im Falle Japans könnte man einwenden, wer hier von »Leben jenseits von Wachstum« spreche, der verbreite defätistischen Nonsens, das sei die Folge einer verfehlten staatlichen Politik und nationale Gammelei. Nur ein Narr könne wirtschaftlichen Niedergang als wünschenswertes Ergebnis ansteuern. Diese Auffassung haben viele. Für Takeda, der mir gezeigt hat, welche industrielle Leistung hinter den winzigen Kondensatoren steckt, verraten solche Formeln eine Schwäche des Nationalcharakters. »Um die Nummer eins zu werden, muss man den Willen dazu haben«, sagte er. »Japan hat diesen Willen nie gehabt. Jetzt sagen die Leute sogar: ›Warum muss man die Nummer eins sein?‹ Leider teilen viele diese Einstellung.« Ich verstand Takedas Ungeduld. Aber ich begriff auch, dass nicht wenige Japaner etwas Wichtigem auf der Spur waren. Die Nachkriegszeit war dadurch gekennzeichnet, dass Japan aus Nationalstolz, aber auch zur Wohlfahrt des ganzen Volkes an der Mehrung des BIP arbeitete. Kato und andere Gleichgesinnte wollten für Japan ein menschlicheres Ziel finden.
In den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass Japans Wirtschaftskrise zwar anhält, aber dass Japan kein Einzelfall ist. Auch war Japan trotz offenkundiger Fehler nicht nur inkompetent im Umgang mit der langen Liste von Problemen, die sich nach dem Platzen der Blase einstellten. »Was Japan geschehen ist – hohes Wirtschaftswachstum, Spekulationsblase, dann wirtschaftliche Stagnation, Deflation und sinkende Geburtenziffer –, wird sich zwangsläufig auch in anderen Staaten wiederholen«, sagt der Publizist Natsumi Iwasaki.152 Das Bild, das Japan biete, mag nicht schön sein. Aber es könnte der Vorgeschmack von etwas Neuem sein.
James Abegglen, der in den 1950er-Jahren als einer der Ersten Japans industrielle Stärke erkannte, warnte davor, das Land voreilig abzuschreiben. Die 1990er-Jahre, das sogenannte »verlorene Jahrzehnt«, war, so sagte mir Abegglen, eigentlich »das Jahrzehnt des Neuentwurfs«, als viele Unternehmen sich den veränderten Bedingungen anpassten, indem sie ihre Kosten senkten, ihre Schulden abzahlten und ihre Produktivität steigerten. Auch Firmenzusammenschlüsse und Produktionsverlagerungen ins Ausland gehörten zu den Maßnahmen. Manche hatten sich auch von Geschäftszweigen getrennt und waren bei anderen neu eingestiegen. Solche Restrukturierungen hatten sich bis ins 21. Jahrhundert fortgesetzt. Diese Jahre nun als verloren zu bezeichnen, sei schlicht Nonsens.153 Gleichwohl waren Japans aufregendste Zeiten Vergangenheit. »Zu meiner Zeit war Japan ein spannendes Land. In der Zeit, die nun kommt, wird es in Japan eher langweilig werden. Wie es eben so ist mit einem sehr wohlhabenden, aber langweiligen Land. Japan wird wie eine sehr große Schweiz – und das ist gar nicht so schlecht.«
Kumiko Shimotsubo datierte den Beginn der, wie sie es nannte, »Eiszeit« auf den Winter 1995. Wie für Haruki Murakami markierte dieses turbulente Jahr für sie den Beginn einer Phase, in der sich in Japan alles veränderte. Dabei dachte sie weniger an Erdbeben oder an Giftgasanschläge. Vielmehr ging es ihr darum, dass in ihrer Wahrnehmung von dieser Zeit an viele junge Japaner aus einem System herausgedrängt wurden, das ihre Eltern für selbstverständlich erachtet hatten. In ihrem letzten Jahr am College, das sie an der Universität von Tsubuka absolvierte, einer einstmals futuristisch anmutenden Wissenschaftsstadt, die in den 1960er-Jahren außerhalb von Tokio hochgezogen worden war, hatte sie über 100 Bewerbungen an Unternehmen verschickt, jede einzelne fein säuberlich per Hand auf eine Postkarte geschrieben. Darauf erhielt sie ungefähr 50 Antworten, was zwar, wie sie mit einer gewissen Bitterkeit anmerkte, nicht an die Antwortquoten ihrer männlichen Kommilitonen heranreichte, sie aber doch in ihrer Hoffnung bestärkte, dass der »japanische Traum« auch für sie in Erfüllung gehen würde. Inzwischen 37 Jahre alt, etwas desillusioniert und mit einer Visitenkarte ausgestattet, die sie als bilinguale Autorin/Personalberaterin/Interkulturelle Vermittlerin ausweist, musste Shimotsubo feststellen, dass der Zutritt zum, wie sie es nannte, »gelobten Weg« versperrt war.
Wir trafen uns in der eleganten Umgebung des Teesalons im Imperial Hotel, in dem nur noch ein Mosaik von Frank Lloyd Wright von dem beeindruckenden Gebäude zeugt, das er 1915 entworfen hatte. Selbst ein solch prestigeträchtiges Hotel, das zu der Zeit nach wie vor vom Kaiserhaus frequentiert wurde, hatte das Baufieber der 1960er-Jahre nicht überlebt, als das modernisierungswütige Japan das Alte abriss, um Neues zu schaffen. Gegen den heftigen Widerstand von Frank Lloyd Wrights Witwe, die noch um die Bewahrung des Hotels flehte, als die Bulldozer schon vorgefahren waren, wurde das Imperial 1968 abgerissen und an seiner Stelle ein dröger Betonklotz hochgezogen.
Shimotsubo, schlank und modisch gekleidet, trug über ihrem Sweater eine doppelreihige Perlenkette. Zunächst erzählte sie mir von ihren Karriereträumen, die sie wie alle anderen hoffnungsvollen Uniabsolventen zu Beginn des als Shushoku Katsudo bezeichneten Initiationsritus in die japanische Berufswelt hegte. Wörtlich übersetzt die »finde Arbeit Aktion«, handelte es sich dabei um die alljährliche Selektion zahlloser College- und Uniabsolventen durch Unternehmen und Konzerne im Land. Gekleidet in ein schwarzes Businesskleid, eine weiße Bluse und dezente schwarze Schuhe, die Haare akkurat getrimmt (und unter gar keinen Umständen gefärbt), beherzigte die damals 20-Jährige die von den Kosmetikherstellern verbreiteten Ratschläge, wie eine junge College-Absolventin auszusehen habe, die eine Karriere in einem großen Unternehmen anstrebte. »Adrett, aber nicht zu sexy«, erinnerte sie sich. Die Shushoku Katsudo beziehungsweise, in der unvermeidlichen Kurzform, Shukatsu, war ein urbanes Phänomen, den großen Wanderzügen von Wildtierherden nicht unähnlich. Das Ziel dieser Massenbewegung aber waren nicht die Weidegründe in den ostafrikanischen Savannen, es war der Eintritt in ein großes Unternehmen und damit der Zugang zum japanischen Traum.
Die Unternehmen, bei denen Shimotsubo sich bewarb, darunter die großen Handelskonzerne Mitsubishi, Mitsui und Marubeni, zählten zum Who’s who der japanischen Wirtschaft. Aber nun, Mitte der 1990er-Jahre, erreichten immer weniger der zahllosen Bewerber das Ziel, das zu erreichen sie ausgezogen waren. Die japanischen Unternehmen hatten endlich eingesehen, dass das Land die schwere Wirtschaftskrise, die 1990 einsetzte, als die Vermögenspreise massiv einbrachen, noch lange nicht überwunden hatte. Also mussten sie Anpassungen vornehmen. Wegen des Paktes mit ihren bestehenden Mitarbeitern – ein Pakt, den Shimotsubo mit dem verglich, der im feudalen Japan zwischen einem Daimyo, einem Fürsten, und seinen Samurai-Gefolgsleuten bestand –, kam es für die Unternehmen praktisch nicht infrage, Mitarbeiter zu entlassen, denen sie implizit eine Anstellung auf Lebenszeit angeboten hatten. Damit blieb ihnen nur eine Möglichkeit: weniger – oder im Extremfall gar keine – Berufsanfänger einzustellen. Die hauptsächlich Leidtragenden dieser Entscheidung waren Shimotsubo und viele Millionen andere vor dem Sprung ins Berufsleben stehende Studenten. In der Kälte stehen gelassen, wurden sie zur »verlorenen Generation«.
Wie die meisten ihrer Kommilitonen wurde sie von der Zeitenwende in der japanischen Wirtschaft völlig unvorbereitet getroffen. Eigentlich hatte Shimotsubo die für künftige Führungskräfte vorgesehene Sogo Shoku-Karrierelaufbahn anvisiert, für die nur die besten Absolventen ausgewählt wurden. Ippan Shoku, die zweite, allgemeine Karrierelaufbahn für neu rekrutierte Mitarbeiter, die praktisch keine Aufstiegschancen bot, wurde fast ausschließlich mit Frauen besetzt – Frauen, die in aller Regel früher oder später heiraten und das Unternehmen verlassen würden, um eine Familie zu gründen. Die alten Rollenmodelle waren zwar in Bewegung geraten, aber nach wie vor waren viele japanische Arbeitgeber der Meinung, dass Führungspositionen allein den – traditionell für den Broterwerb zuständigen – Männern vorbehalten sein sollten. Das und die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation bedeuteten, dass Positionen der Art, wie Shimotsubo sie für sich erhoffte, rar gesät waren.
Ihr Traum auf eine Karriere in einem der großen japanischen Unternehmen blieb dann auch eben das: ein Traum. Shimotsubo erhielt nicht ein einziges Angebot. Erst in allerletzter Minute meldete sich eine private Verlagsgesellschaft bei ihr, nicht gerade die Sorte Eliteunternehmen, auf die sie gehofft hatte. »Ich hatte meine Motivation völlig verloren«, erzählte sie 15 Jahre nach dieser bitteren Enttäuschung. »Es gab das Versprechen auf einen Karriereweg«, sagte sie, inzwischen verheiratet und Mutter einer Tochter, über ihre Studienzeit. »Die Leute traten in ein Unternehmen ein und verbrachten ihr gesamtes Berufsleben in diesem Unternehmen und mit denselben Kollegen. Mein Vater war ein typischer japanischer Angestellter. Er arbeitete über drei Jahrzehnte für dasselbe traditionsreiche japanische Unternehmen, den berühmten Konzern NEC. Er folgte dem gelobten Weg.«
Nicht so Shimotsubo. In Japan, wo Berufsanfänger direkt nach dem Studienabschluss en masse eingestellt wurden – und das immer noch werden –, bekam man selten eine zweite Chance. Leute einstellen, die schon mitten im Berufsleben standen, stand für die meisten Unternehmen außer Frage. Sie wollten frischgebackene Absolventen, die sie von Anfang an trainieren und per, wie Shimotsubo dazu sagte, »Gedankenkontrolle« in gehorsame Mitarbeiter verwandeln konnten. »Sobald man vom gelobten Weg abweicht, wird man als ›schlechte Person‹ abqualifiziert, und das nur, weil man nirgendwo hingehört«, sagte sie. »Eine Festanstellung ist gleichbedeutend mit einem guten sozialen Status. Keine zu haben bedeutet, dass man keinen sozialen Status hat. Ich bin jetzt 37, und viele Leute in meinem Alter müssen sich immer noch mit befristeten Jobs durchschlagen. Sie verdienen wenig, kaum mehr als Berufsanfänger, und das, obwohl sie schon seit fast 20 Jahren arbeiten. Für mich ist das eine Form der gesellschaftlichen Diskriminierung.«
Shimotsubo hatte mehr Glück als andere in ihrer Situation. Weil sie auf ihrer international ausgerichteten Oberschule in Yokohama Englisch gelernt hatte, hatte sie sich mit der Arbeit für in Japan tätige ausländische Unternehmen eine alternative Karriere aufbauen können. Ausländische Unternehmen legten, wenn überhaupt, nur wenig Wert darauf, ob jemand direkt von der Universität zu ihnen kam. Bei einer dieser Firmen stieg sie sogar zur Leiterin der Personalabteilung auf, eine Position, die sie in ihrem Alter in einem japanischen Unternehmen niemals hätte erreichen können. Die Ironie daran war, dass, nachdem sie in dem Unternehmen eine aggressive Restrukturierung nach westlichem Vorbild durchgeführt hatte, auch ihre Stelle gestrichen wurde. Inzwischen war sie als »interkulturelle Beraterin« auf dem Gebiet der länderspezifischen Beschäftigungspraktiken tätig, fühlte sich aber immer noch bitter enttäuscht, dass ihr die Chancen, die der Generation ihrer Eltern noch offengestanden hatten, verwehrt worden waren. »In meinem letzten Jahr am College war ich voller Neid auf die Bubble-Generation. Sie konnten auf Unternehmenskosten essen und trinken«, sagte sie über die legendär üppigen Spesenkonten. »Sie kassierten dicke Bonuszahlungen, selbst wenn ihre Produktivität gering war. Damals war es einfach, viel Geld zu machen. Als Japan so richtig boomte, war ich noch in der Oberschule. Die Generation vor meiner hatte ihre große Happy Hour«, fuhr sie fort. »Aber die Leute der Eiszeit, Leute wie ich, wissen nicht mehr, wie das zur Zeit der Wirtschaftsblase war. Die jungen Japaner von heute wissen nicht, was Wachstum ist. Ihre Erfahrungen beschränken sich auf Rezessionen und Downsizing. Das ist alles, was sie von der japanischen Wirtschaft kennen. Und deshalb schrumpfen die Träume in Japan.«
Ihre Arbeit im Personalbereich hatte sie zu der Überzeugung gebracht, dass das japanische Beschäftigungssystem reformiert werden musste. Es war, sagte sie, eine Alles-oder-nichts-Lotterie, die diejenigen begünstigte, die nach dem Studium sofort einen Fuß in die Tür bekamen, aber alle anderen ausschloss. »Ich wünsche mir, es gäbe alternative Wege, die man beschreiten könnte. Aber das gegenwärtige System ist das einzige, das es gibt«, sagte sie. Die Bedienung kam und schenkte mir Tee nach. Um uns herum unterhielt sich eine fast ausschließlich ältere Klientel, Gespräche untermalt vom beruhigenden Klirren des Porzellans. Misstrauisch, als plane sie einen Coup, ließ Shimotsubo ihren Blick durch den Teesalon schweifen, dann beugte sie sich zu mir. »Wenn die junge Generation irgendeine Hoffnung haben soll«, flüsterte sie mir in konspirativem Tonfall zu, »muss das alte System vollkommen kollabieren. Darauf hoffe ich wirklich.«
***
Dass sich der gelobte Weg in viele Hundert unerforschte Richtungen verzweigt hatte, war für Murakami genau so, wie es sein sollte. Natürlich, wegen der kriselnden Wirtschaft mussten die jungen Leute es jetzt auf eigene Faust schaffen, sagte er. Und das war nicht immer einfach. Aber Shimotsubos gelobter Weg hatte zu einem falschen Traum geführt. Bei den Recherchen zu Untergrundkrieg, seinem Buch über die Sarin-Anschläge auf die Tokioter U-Bahn, hatte Murakami die Fußsoldaten des japanischen Wirtschaftswunders besser kennengelernt. Er hatte die stoischen, niemals klagenden Büroarbeiter und Bürokraten interviewt, die das Gas auf dem Weg in ihre Büros überrascht hatte, von wo aus sie den japanischen Traum weiter am Leben erhalten wollten. »Es war Liebe und natürlich Hass«, sagte Murakami, der seine Worte sorgfältig abwog. »Ich bewunderte sie, und zur gleichen Zeit deprimierten sie mich. Ich halte ihr Leben für absurd. Sie konsumieren, und sie konsumieren sich selbst. Sie sind zwei Stunden von ihrem Zuhause bis ins Büro unterwegs und arbeiten bis zum Umfallen. Das ist einfach unmenschlich. Und wenn sie wieder nach Hause kommen, schlafen ihre Kinder bereits. Für mich sind das verschwendete Leben.«
Murakami fühlte sich der Post-Bubble-Generation viel näher. Voller Sympathie sprach er von den Freetern, der japanischen Bezeichnung für Leute, die sich als Teilzeit- oder befristete Mitarbeiter mit Jobs durchschlugen, die keinerlei Aufstiegschancen boten und zumeist nur den Mindestlohn einbrachten. Die meisten Beobachter der japanischen Gesellschaft sahen im Konzept des Freeters – dem ständigen Wechsel von einem prekären Job zum nächsten – die Verkörperung all dessen, was in Japans langen Jahren der schwelenden Krise schiefgelaufen war. Aber da, wo viele Japaner niedrige Löhne, fehlende Absicherung und die Vernichtung von Chancen sahen, sah Murakami junge Menschen, die versuchten, etwas Neues zu erschaffen. Vielleicht fiel es ihm, von seiner Position eines reichen und erfolgreichen Romanautors aus, leichter, die Sache optimistisch zu sehen. Er war aus eigenem Antrieb von dem gelobten Weg abgewichen – und hatte es zu Ruhm und Reichtum gebracht. Nicht jeder konnte auf so viel Glück hoffen. Damals war der Verlauf des gelobten Wegs noch deutlich zu erkennen gewesen. Inzwischen glich er mehr einem ungewissen Pfad durch die Wüste. Aber Murakami bewunderte eine Generation, die, wenn auch vor allem aus Notwendigkeit, aufgebrochen war, ihren eigenen Weg zu finden. »Unsere Gesellschaft hat sich verändert«, sagte er. »Es gibt heut so viele Freeter. Sie haben sich für die Freiheit entschieden. Sie haben ihre eigenen Ansichten und sie haben ihre eigenen Lebensstile. Ich denke, je mehr Alternativen wir haben, umso freier wird unsere Gesellschaft sein. Die wenigsten Japaner haben«, fuhr er fort, »irgendeine Vorstellung davon, in welche Richtung es weitergeht. Wir haben uns verirrt und wissen nicht, welchen Weg wir einschlagen sollen. Aber das ist etwas ganz Natürliches, etwas sehr Gesundes. Es ist an der Zeit, dass wir uns neu besinnen. So etwas passiert immer wieder in der Geschichte. Das Land sucht nach der Bedeutung, dem Sinn seiner Gesellschaft, nicht anders, wie ein Individuum sich fragt: ›Wer bin ich?‹ Das ist ganz normal, und ich bin überzeugt, dass wir uns über kurz oder lang wirtschaftlich und mental wieder erholen werden. Wir können uns Zeit lassen.«
***
Noritoshi Furuichi, ein 27 Jahre alter Doktorand und Autor, gehörte – zumindest auf den ersten Blick – eher in Murakamis Lager als in das Shimotsubos. Zehn Jahre jünger als Shimotsubo und drei Jahrzehnte jünger als Murakami, beurteilte er den Zustand der japanischen Gesellschaft deutlich positiver, ausgehend von seinen eigenen, zugegebenermaßen privilegierten Erfahrungen und den Studien, die er als angehender Sozialwissenschaftler durchführte. Furuichi, der neben dem Studium auch als Geschäftsführer eines mit College-Freunden gegründeten IT-Start-ups fungierte, trug ein für einen Japaner Mitte 20 recht typisches Outfit, was bedeutete, dass er ganz und gar nichts von dem klassischen graubeanzugten Büroangestellten an sich hatte, der durch die westliche Vorstellungswelt geistert. Wenn überhaupt, erinnerte er an eine einem Manga-Comic entsprungene androgyne Schöpfung, ungefähr in der Art wie der schicke, leicht effeminierte junge Zauberer aus dem Anime-Film Das wandelnde Schloss. Sein sorgfältig geschnittenes Haar schimmerte in einem leichten Henna-Ton, und an seiner legeren Kleidung fand sich keine einzige Bügelfalte. Er hatte ein iPhone 4s, damals das neueste Modell, und eine große, lilafarbene Schultertasche. Als er sich verabschiedete, tat er das auf jene niedliche Art, wie sie japanische Mädchen so lieben; den Ellbogen gegen die Hüfte gepresst und die Hand hin und her oszillierend.
Ganz im Gegensatz zum vorherrschenden Narrativ sei die japanische Jugend, so die von Furuichi in seinem Buch Happy Youth in a Desperate Country vertretene zentrale These, niemals zuvor zufriedener gewesen als heute. »Die japanischen Medien zeichnen unablässig das Bild einer armen, glücklosen, verzweifelten und sich in ernster Not befindlichen Jugend«, sagte er mir, als wir uns im obersten Stockwerk eines glitzernden neuen Büroturms unweit des Shinagawa-Bahnhofs trafen, einem der zahlreichen Vorzeigeprojekte im Baubereich, die in Tokio während der Jahre der angeblichen Stagnation in die Höhe schossen. »Tatsächlich aber belegen von der Regierung selbst erhobene Daten, dass 73 Prozent der jungen Menschen in Japan mit ihrem Leben vollauf zufrieden sind«, erklärte er mit Verweis auf die seit Jahrzehnten in Japan regelmäßig durchgeführte »Zufriedenheitsumfrage«. In den 1960er-Jahren, als das Land in die Phase des rasanten Wirtschaftswachstums eintrat, hatte sich rund die Hälfte der Befragten im Alter von 20 bis 29 Jahren als glücklich bezeichnet. Und seitdem sei, sagte Furuichi, der »Zufriedenheitsquotient« in dieser Altersgruppe beständig angestiegen.
Angesichts dessen, was allgemein über die optimistischen Jahre des Wirtschaftsbooms und die orientierungslosen Post-Bubble-Jahrzehnte gesagt wurde, erschienen diese Zahlen falsch, und Furuichi wurde dafür kritisiert, in seinem Buch die realen wirtschaftlichen und sozialen Nöte herunterzuspielen. Es sei, erzählte er mir, aber keineswegs ungewöhnlich, dass mit dem zunehmenden Reifegrad einer Ökonomie die Zufriedenheitsquotienten anstiegen, unter anderem deswegen, weil die jungen Menschen anders als ihre Eltern und Großeltern die Erfüllung ihrer Wünsche nicht mehr aufschieben müssen. Die Jahre des japanischen Wirtschaftswunders waren, so Furuichi, Jahre der zurückgestellten Zufriedenheit gewesen. »Bis Mitte der 1960er-Jahre war Japan zur Hälfte noch ländlich. Viele der Leute, die in den Städten lebten, arbeiteten also für andere. Sie waren für ihre Familien, für ihre Dörfer, in die Stadt gegangen und mussten einen Teil ihres Einkommens zurück nach Hause schicken. Sie arbeiteten für andere. Sie dienten der Zukunft, dienten der Nation, dienten den ländlichen Provinzen. Sie dienten nicht sich selbst, sondern etwas anderem.« In soziologischen Begriffen ausgedrückt, hatte Japan sich seitdem aus einer »instrumentellen« Gesellschaft, in der das eigene Handeln einem größeren Wohl diente, in eine »konsumierende« Gesellschaft verwandelt, in der die Menschen für den Moment lebten. »Heute arbeiten die Japaner für sich selbst, treffen ihre eigenen Entscheidungen, übernehmen selbst Verantwortung und ernten den Lohn ihrer Arbeit selbst.«
Ungeachtet der großen ökonomischen Unsicherheit, die in Japan herrschte, sehnten sich, sagte Furuichi, nur wenig Leute seines Alter nach den alten Zeiten zurück. »Wir wussten, dass unsere Väter als ökonomische Tiere bezeichnet wurden, dass man sie als kleine Rädchen in der großen Maschine verspottete. Unsere Mütter taten, was sie konnten, um aus sich ›glückliche Hausfrauen‹ zu machen, tatsächlich aber waren sie vor allem Dienstmädchen und Dienerinnen.« Das System der lebenslangen Arbeitsplätze war fast ausschließlich den Männern vorbehalten, sagte er, und nicht einmal in der Hinsicht war es allumfassend. Viele Männer arbeiteten für kleine Unternehmen und konnten von Vorzügen wie absoluter Arbeitsplatzsicherheit, kontinuierlich steigenden Löhnen und großzügigen Pensionen nur träumen. »Selbst in seinen besten Zeiten deckte das sogenannte System der lebenslangen Beschäftigung nur 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung ab«, sagte er. Dieser Prozentsatz dürfte inzwischen noch weiter gesunken sein, aber das hatte auch seine guten Seiten. »Immer weniger junge Leute kaufen sich ein Auto. Stattdessen geben sie ihr Geld für Essen, Kleidung und Telefone aus und verbringen mehr Zeit mit ihren Freunden. ›Was junge Japaner heute machen können?‹«, fragte er rhetorisch. »Ich bin kein Politiker, also habe ich auch kein Rezept dafür, was andere tun sollten. Aber ich selbst, ich bin proaktiv, und die Leute um mich herum sind das auch. Ich suche nach Wegen, wie ich mein Wissen und meine Fähigkeiten und das Wissen und die Fähigkeiten der Leute in meiner Umgebung nutzen kann. Meiner Meinung nach sollten sich die Leute an die Menschen in ihrem Umfeld halten und nach Möglichkeiten suchen, wie sie ihre Ressourcen gemeinsam zum Einsatz bringen können. Sie sollten sich nicht um ein einiges Japan oder das ›japanische Volk‹ kümmern. Es reicht, eine Gruppe von Leuten zu finden, mit denen man etwas Produktives tun und produktiv sein kann. Wohin man auch schaut, sieht man die Probleme des Staates ... Ich sage nicht, dass wir die Sphäre des Öffentlichen aufgeben sollten. Wovon ich rede, sind smarte Leute, die sich zu kleinen Gruppen zusammenschließen, zehn oder 20 Leute vielleicht, und schauen, was sie gemeinsam auf die Beine stellen können. Das ist, was mich wirklich interessiert.«
Furuichis unbeschwerte Sicht auf die Gegenwart kaschierte seine eigentlichen Sorgen über die Zukunft Japans. Auf meine Frage, ob die gegenwärtige Situation nachhaltig sei, antwortete er: »Im Vergleich zu den anderen entwickelten Nationen lastet auf uns eine astronomische Verschuldung. Dann haben wir eine rapide alternde Bevölkerung, sprich wir befinden uns in einer Phase des demografischen Übergangs. In 30 Jahren werden die ganzen Leute, die heute noch bei ihren Eltern wohnen, für diese sorgen müssen. Ich glaube nicht, dass sie darauf vorbereitet sind, weder finanziell noch emotional.« Außerdem sei auch die Bausubstanz in Japan heruntergekommen, und von dem, was in den Boomjahren errichtet wurde, würde nur wenig lange überdauern. Mit anderen Worten, Japan könne sich nicht auf ewig auf den in der Vergangenheit aufgebauten Reichtum verlassen. »In der Zwischenzeit aber leben die jungen Japaner ganz zufrieden und in einer recht bequemen Koexistenz mit und bei ihren Eltern«, spielte er den Generationenkonflikt herunter. In dem Maße, wie Festanstellungen schwerer zu ergattern waren, sprach man junge Leute von der Verantwortung frei, sich um eine solche Anstellung zu bemühen, und sie konnten einfach bei ihren Eltern wohnen bleiben oder, ein wachsender Trend, sich eine Wohnung mit Freunden teilen. »Solange ihre Eltern gesund sind, gibt es nichts, was sie zwingen würde, in das System einzusteigen«, sagte Furuichi. »Ob es sich dabei um eine Form des ›pervertierten Glücks‹ handelt oder nicht, bleibt noch zu beantworten. Ich will damit nur eines sagen: Sollten die jungen Menschen in Japan heute tatsächlich in einer Sackgasse stecken, dann sind sie sich dessen nicht bewusst.«
Die meisten Japaner glaubten immer noch, dass es ihnen vergleichsweise gut ging, sagte er. Den Blick auf Europa oder die Vereinigten Staaten gerichtet, meinten sie, dass ja alles noch viel schlimmer kommen könnte. Die Welt jenseits der Landesgrenzen erschien ihnen gewalttätig und erschreckend, von Unruhen, Drogen, Obdachlosigkeit und einer immer breiteren Kluft zwischen Armen und Reichen verheert. Dass diese Ansichten durch den verbreiteten Glauben, Teil einer beispiellos harmonischen und wohlhabenden Gesellschaft zu sein, übertrieben wurden, ist gut möglich. Dennoch hatte dieses Selbstbild die Japaner gelehrt, sich vor Veränderungen zu fürchten. Die alte Ordnung mochte ächzen und knarren, aber wenigstens funktionierte sie noch. »Das vorangegangene System, das sich in der Zeit der hohen Wachstumsraten herausgebildet hatte, hatte so gut funktioniert, dass alles auf es ausgerichtet worden war«, sagte er. »Weil das alte System nicht für alle deutlich sichtbar aus den Gleisen gesprungen ist, herrscht Konservatismus vor. Wäre es regelrecht kollabiert, wäre ein radikalerer Umbau möglich gewesen. Aber so hat es keine grundsätzliche Neubetrachtung der Frage gegeben, ob das die richtige Art und Weise ist, die Gesellschaft zu organisieren. Vielmehr haben wir Entropie bekommen. Und genau das ist unsere Krise.«
***
»Ich habe nicht das Gefühl, in einem verzweifelten Land zu leben, und ich mag es nicht, wenn die Leute sagen, Japan sei in einer verzweifelten Lage«, sagte der 28 Jahre alte Yoshi Ishikawa, der im wachsenden Non-Profit-Sektor arbeitete. Ich hatte ihn nach Furuichis These befragt, dass die jungen Japaner vor allem im Moment lebten und blind waren gegenüber den umfassenderen Problemen der Nation, was mehr nach Passagieren auf einem Narrenschiff klang als nach zuversichtlichen Navigatoren, die ihr Schicksal selbst bestimmten. Ishikawa war überzeugt, dass die junge Generation sehr viel bewusster war, als Furuichi das unterstellte. Viele von ihnen, sagte er, lehnten die Werte ihrer Eltern ab und suchten nach neuen Lebensmodellen. »Es gibt in Japan unzählige junge Menschen, die versuchen, neue Wege zu gehen.
Ich hatte Ishikawa über die Organisation kennengelernt, für die er arbeitete, Entrepreneurial Training for Innovative Communities, kurz ETIC. ETIC arbeitete hauptsächlich in der Region Tohoku, deren Küstenlinie 2011 vom Tsunami so schwer heimgesucht worden war. Die von der Regierung unterstützte Organisation half Fischern, deren Boote von den Wassermassen zerstört oder mitgerissen worden waren. Nach Kesennuma, wo der Tsunami selbst große Schiffe bis weit die Hauptstraße hinauf gerissen und einen Großteil der Stadt zerstört hatte, hatte ETIC Jungunternehmer entsandt, die den Fischern vor Ort beibrachten, wie sie ihre Profite durch das »Branding« ihres Fangs und den Direktverkauf an Verbraucher maximieren konnten. »So etwas wäre vor dem Erdbeben praktisch unmöglich gewesen«, sagte Ishikawa und meinte damit das Problem, die Zwischenhändler zu umgehen, mit denen viele der Fischer seit Generationen ihre Geschäfte betrieben hatten. »Heute dagegen fühlen sie sich selbständiger und haben weniger Angst vor dem Druck, den die älteren Generationen ausüben.« Auf die Frage, was ihn selbst motivierte, antwortete er: »Uns geht es darum, etwas Gutes für die Gesellschaft oder für unsere Gemeinde zu tun. Selbst wenn wir weniger Geld verdienen, solange unsere Arbeit uns erfüllt und befriedigt, ist das in Ordnung. Ich glaube, dass die jungen Menschen heutzutage so denken.«
Ich hatte Ishikawa in seinem Büro in Shibuya besucht, einem bei modeverrückten japanischen Teenagern als Catwalk überaus beliebten Tokioter Stadtbezirk. Auf dem Weg zu seinem Büro hatte ich zwei Mädchen in aufeinander abgestimmten gelben Tartans, bis zu den Knien heruntergezogenen Leggins, die den Blick auf ihre Oberschenkel freigaben, und nach Art eines Clowns um den Hals gebundene Rüschen gesehen. Andere stolzierten in roten Cowboystiefeln, Plateauschuhen oder schwarzen Lacklederstiefeln mit unglaublich spitzen Absätzen vorbei. Bei manchen Jungen waren tief herunterhängende Baggy Pants, Strickmützen oder Pork-Pie-Hüte angesagt. Dann gab es noch massenweise schlaksige junge Männer ganz in Schwarz, mit engen Röhrenhosen und gespensterhaft weißen Gesichtern. So aufwendig individualisiert die verschiedenen Moden präsentiert wurden, strahlten sie doch etwas Uniformhaftes aus. Auch Ishikawa war leger, wenn auch sehr viel konservativer gekleidet – ein gestreiftes Hemd nach Art französischer Zwiebelverkäufer und darüber eine modische ärmellose Weste. Sein Haar war kurz und fransig geschnitten. In dem Großraumbüro, wo er arbeitete, saßen Leute, zumeist in den 20ern, an langen Bänken aus grob gezimmertem Holz, angefertigt von einem der Kleinunternehmen, das ETIC unterstützte. Das leise Klicken der Laptoptastaturen war zu hören, und der Duft nach frisch gebrühtem Kaffee hing in der Luft.
Ishikawa war in Kira aufgewachsen, einem von Reisfeldern und Autozulieferern geprägten kleinen Städtchen rund eine Autostunde nördlich der Stadt Nagoya, in der Toyota seinen Sitz hat. Sein Vater war bei einer kleinen Handelsfirma beschäftigt, seine Mutter Hausfrau. Die Familie lebte in relativ bescheidenem Wohlstand, und keiner seiner beiden jüngeren Brüder ging auf die Universität; stattdessen absolvierten beide eine Technische Fachschule und bekamen gute Jobs in der Motorindustrie. Mit seinem Abschluss als Ingenieur hätte auch Ishikawa in die Industrie gehen können. Aber er entschied sich für einen anderen Weg. Der Wendepunkt, wenn man es denn so nennen kann, kam, als er mit 17 ein Stipendium bekam und ein Jahr als Austauschschüler nach Alaska ging. Er war in Amerika, als al-Qaida-Terroristen zwei entführte Flugzeuge in die beiden Türme des World Trade Center in New York steuerten. Die Leute aus seinem Heimatort hatten die USA schon immer für ein gefährliches Land gehalten. Mehrere Jahre zuvor war ein Junge aus Nagoya mit demselben Stipendium wie Ishikawa nach Baton Rouge im US-Bundesstaat Louisiana gegangen. Eines Abends war er auf dem Weg zu einer Halloween-Party gewesen und hatte versehentlich an der Tür des falschen Hauses geklopft. Der Hausbesitzer hielt ihn für einen Einbrecher und erschoss ihn. »Wir alle kannten die Geschichte und hatten entsprechend Angst vor der amerikanischen Kultur«, erzählte Ishikawa. Für ihn selbst aber geriet das Austauschjahr in Alaska zu einer Art Offenbarung. Er staunte, wie problemlos die Amerikaner im freundschaftlichen Umgang miteinander waren, und war begeistert davon, wie offen seine Gasteltern ihre Liebe zu ihren Kindern zeigten. Ihm gefiel sogar, wie viel Toleranz sie für den in seinen Augen dürftigen Service und die schlechten Produkte aufbrachten, die in den USA offenkundig die Norm waren. Vielleicht, dachte er, waren ja die Japaner, die von ihren Tankwarten erwarten, dass sie sich verbeugten und dass ihnen in Restaurants das Essen stets schön hergerichtet serviert wurde, einfach zu steif.
Später, nach seinem Postgraduiertenstudium an der Universität Nagoya, fand er eine Anstellung als Managementberater. Er arbeitete in Texas, Barcelona und Tokio, aber er fühlte sich unerfüllt. Welchen Sinn hatte es, fragte er sich, einen japanischen Bierbrauer darin zu beraten, wie er einer anderen japanischen Brauerei Marktanteile abjagen konnte? Das gehörte zu den Dingen, die vielleicht die Generation seiner Eltern motiviert hätten, aber bestimmt gab es doch noch mehr im Leben, oder? Je besser er das japanische Konzernleben kennenlernte, umso überzeugter war er, dass es sich vor allem um stumpfsinnige Plackerei und sinnentleerte nächtliche Besäufnisse drehte. Als Berater hatte er für ein Unternehmen gearbeitet, dessen Mitarbeiter jeden Monat in einem bestimmten Hostessen-Klub mehrere Millionen Yen Firmengelder liegen ließen – eine übliche Methode für gestresste Angestellte, sich mit Klienten zu entspannen. Sein Ratschlag an das Unternehmen, erzählte er mit einem gequälten Grinsen, hatte gelautet, dass es besser wäre, wenn es den Klub kaufen und das Hostessen-Geschäft selbst in die Hand nehmen würde.
Die jungen Japaner heute tickten anders, sagte er. Die Wirtschaftswundergeneration hatte zur Gesellschaft beigetragen, indem sie die Dinge produzierte – Kühlschränke, Klimaanlagen und Autos –, die die Leute haben wollten. Sie hatten eine starke Loyalität ihren Unternehmen gegenüber empfunden, stärker als zu ihren Familien, die sie ohnehin nur selten sahen. »Unsere Väter wirkten auf uns nicht sonderlich glücklich. Sie arbeiteten endlos viele Stunden. Ja, sie verdienten Geld, aber die Familien in diesen Tagen führten separate Leben. Vielleicht stellen wir uns heute ja eher die Frage, wofür wir eigentlich arbeiten? Das ist etwas, was wir für uns herauszufinden versuchen.« Ishikawa war jetzt ganz in seinem Element. »Leute Mitte oder Ende 40 nennen wir die ›Bubble-Generation‹. Sie denken nur an sich selbst und ihre Familien, über gesellschaftliche Themen denken sie gar nicht nach. Für sie dagegen sind wir die Yutori-Generation, die ›Alles-ist-möglich-Generation‹«, sagte er unter Verwendung eines Wortes, das auf eine weniger konformistische moderne Phase anspielt, in der die Jugend mehr geistigen Freiraum bekam, um sich selbst auszudrücken.154 »Sie glauben, dass wir nur iPhones und Videospiele im Kopf haben und sonst nichts. Wir haben es hier mit einem intergenerationellen – ich will jetzt nicht Konflikt sagen, auch wenn es definitiv einen Unterschied gibt –, sagen wir, wir haben es mit einer intergenerationellen Kluft zu tun.«
Über seine neue Arbeit für ETIC sagte er: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir junge Unternehmer mit der Fähigkeit zur Innovation brauchen. Wir sollten kleine Firmen und Jungunternehmer unterstützen.« Seinen Erfahrungen nach trieb viele junge Japaner der Wunsch an, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen oder zumindest das Japan der Konzerne davon zu überzeugen, sich an neuen Werten zu orientieren. »Heute fragen Studenten die Unternehmen, bei denen sie sich bewerben wollen, nach ihren sozialen Werten und ihren CSR-Aktivitäten«, sagte er und ließ dabei ganz locker die englische Abkürzung für Corporate Social Responsibility, sprich unternehmerische Gesellschaftsverantwortung, einfließen. »Selbst mich erstaunt es, wie sie darüber denken. Gesellschaftliche Werte sind ganz groß angesagt, mehr noch als die Umwelt. Also Dinge wie Bildung, Familie, gleiche Rechte für Frauen oder die Altenbetreuung.«
Nicht dass alle jungen Japaner auf einen Schlag zu Idealisten und Jungunternehmern mutiert wären, die darauf aus waren, das Land von Grund auf umzukrempeln. »Die junge Generation ist zweigeteilt«, sagte Ishikawa. »Es gibt diejenigen, die bewusster sind, nach außen gehen und neue Dinge wagen. Und dann diejenigen, die ärmer werden und den ganzen Tag Videospiele spielen und im Internet surfen.« Zwei seiner Freunde, sagte er, könnte man als Hikikomori bezeichnen, als Leute, die sich selbst einschließen. Die eine, Tochter eines College-Professors, wohnte mit ihm in einem Wohngemeinschaftshaus. Auch sie war ein Jahr im Ausland gewesen, aber nun verließ sie kaum noch das Haus. Sie surfte den ganzen Tag im Internet und nahm an Online-Foren wie 2channel teil, auf dem tagtäglich mehrere Millionen Meldungen gepostet wurden, manche davon hetzerisch, andere ultranationalistisch. Auch einer seiner alten Freunde aus Kira hatte immer noch keinen richtigen Job. Obwohl er schon Ende 20 war, sah sein Zimmer im elterlichen Haus wie das eines Teenagers aus, dekoriert mit Postern von schnulzigen »Idolen«, angesagten Sängerinnen und Models. Auch er, ein Nomade im Cyberspace, verließ so gut wie nie das Haus. »Es ist kein psychologisches Problem«, sagte Ishikawa nach einer längeren Pause. »Er ist einfach etwas verängstigt.« Um dann, nach einer weiteren Pause, hinzuzufügen: »Er sieht einfach keine Notwendigkeit zu arbeiten, da er ja bei seinen Eltern wohnen kann.« Das Hikikomori-Phänomen sei, sagte er, ebenso sehr eine Begleiterscheinung des Wohlstands wie der Armut. »Hikikomori findet man ebenso bei reichen wie bei armen Familien. Aber wenn du wirklich arm bist, kannst du es dir nicht leisten, den ganzen Tag im Bett liegen zu bleiben.«
Wohlstand ist nicht gleichbedeutend mit ökonomischer Dynamik. Ishikawa erkannte schon früh, dass das Zeitalter der boomenden Wirtschaft und mit ihr das der nationalen Erneuerung vorbei war. »Ich bin 1983 auf die Welt gekommen und habe vom rapiden Wachstum der japanischen Wirtschaft nichts mehr mitbekommen. Als ich in die Grundschule kam, ging es mit der Wirtschaft bereits bergab. Niemand geht noch davon aus, dass die Wirtschaft irgendwann in den nächsten Jahrzehnten wieder solche Wachstumsraten erreichen wird. Oder dass sie uns wieder so viel Gutes geben wird. Ich glaube, das sehen wir alle so.«
***
Masahiro Yamada, ein etwas zersaust wirkender Soziologe Mitte 50, hatte eine nochmals andere, und zwar schon fast absurd pessimistische Sichtweise der japanischen Post-Bubble-Generation entwickelt. Ich hatte den Professor, einen vergnügten Mann mit einem nervösen Kichern, im Laufe eines Jahrzehnts mehrmals getroffen, und jedes Mal brachte er es fertig, ein noch düstereres Bild der Lage in Japan zu zeichnen. Erst unlängst hatte Yamada, Schöpfer des Ausdrucks Parasaito Shingeru – parasitäre Singles – zur Beschreibung der zwischen 20 und 30 Jahre alten Japaner, die sich von ihren Eltern aushalten ließen, einen Essay mit dem vergleichsweise selbsterklärenden Titel »Die Jungen und die Hoffnungslosen« verfasst.155
Vor ein paar Jahren besuchte ich Yamada in seinem abstellkammergroßen Büro an der Tokyo Gakugei University, an der er damals unterrichtete. Die meisten japanischen Akademiker müssen sich mit winzigen Büros begnügen, manche davon kaum größer als ein begehbarer Kleiderschrank. Auf jeder verfügbaren Ablagefläche und einem Gutteil des Fußbodens stapelten sich Bücher und Papierhaufen. Beim Eintreten wäre ich um ein Haar über ein Gerät zur Fußmassage gestolpert, das irgendwo in dem Chaos verborgen lag. So chaotisch wie sein Büro war auch Yamada als Gastgeber, der immer wieder unvermittelt aufsprang, um irgendeinen Aufsatz aus einem der aufragenden Stapel zu ziehen.
Er saß mir gegenüber auf einem mottenzerfressenen Sofa und reichte mir ein Blatt Papier, auf dem er einige Sätze auf Japanisch notiert hatte. Die Überschrift lautete »Gewinner und Verlierer der New Economy«, wobei sein Interesse offenkundig vor allem den Verlierern galt. Ganz oben auf der Liste stand »Rapider Anstieg der Suizide«, ein Verweis auf die drastische Zunahme der Selbstmorde um 35 Prozent auf 33000, die 1998 verzeichnet wurde, in Japan ein Jahr massenhafter Entlassungen. Danach verharrte die Zahl der Selbstmorde auf über 30000 pro Jahr, was umgerechnet rund 90 Suiziden pro Tag und einer der höchsten Selbstmordraten weltweit entsprach. Erst ab 2010 ging die Zahl der Selbstmorde wieder etwas zurück und sank 2012 erstmals wieder unter die 30000er-Marke. (Eine »Antisuizid«-Maßnahme der Regierung bestand darin, an manchen Bahnsteigen großformatige Spiegel aufzuhängen. Sich selbst unmittelbar vor dem Sprung auf die Gleise zu sehen, hat offenbar einen ernüchternden Effekt auf potenzielle Selbstmörder.) Doch der Punkt Selbstmorde war nur der erste auf Yamadas Liste. Darunter folgten Dinge wie »Rapider Anstieg der Kindesmisshandlungen«, »Befristete Arbeitsverhältnisse«, »Jugendarbeitslosigkeit«, »Ausgebrannte Arbeiter mit unrealistischen Zukunftsträumen«, »Niedergang der Nachkriegsfamilien« und so weiter. Vergebens überflog ich die Seite auf der Suche nach etwas Positivem.
Yamadas Sicht auf das zeitgenössische Japan deckte sich ziemlich gut mit dem von Shimotsubo gezeichneten Bild. Der Arbeitsmarkt war zusammengebrochen, und immer mehr und mehr Leute fanden sich ausgeschlossen vom Zugang zu einem regulären Arbeitsplatz und waren gezwungen, befristete Tätigkeiten anzunehmen, die zum Teil mit gerade einmal zehn Dollar pro Stunde bezahlt wurden. Yamada bezeichnete diese Leute als »liquide« Arbeitskräfte, von einem Teil des Arbeitskräftepools zum nächsten weitergeschleust. Dass es sie in so großer Zahl gab, nahm Yamada als Beweis dafür, dass das alte System aufgehört hatte zu funktionieren. An seine Stelle war eine Art ökonomischer Apartheid getreten, in der die Gewinner von den Regeln des alten Systems geschützt und die Verlierer in eine ultraprekäre neue Welt abgeschoben wurden. Für ihn waren Murakamis Teilzeitler und Arbeitsnomaden keine Pioniere, sondern Opfer. Die Rolle des Bösewichts in dem Stück spielte das Shushoku Katsudo, die Praxis der Massenrekrutierung von Absolventen. Diese seit Jahrzehnten den japanischen Arbeitsmarkt prägende Prozedur müsste, sagte er, eigentlich sofort abgeschafft werden, doch stünden dem allzu viele tief verankerte Interessen entgegen. »Die Zeit ist gekommen, ein System zu beseitigen, das einer schrumpfenden Elite von Vollbeschäftigten absolute Arbeitsplatzsicherheit gewährt, allen anderen aber überhaupt keine.«156
In der Ära der hohen Wachstumsraten, als Arbeitskräfte knapp waren und Unternehmen sich loyale Mitarbeiter etwas kosten ließen, hatte das System noch gut funktioniert. Inzwischen aber, sagte er, glaubte niemand mehr daran, dass diese Zeiten einmal wiederkehren würden. Yamada sprang auf und kramte eine Umfrage heraus. Von den Befragten, junge Japaner im Alter von 25 bis 35 Jahren, erwarteten gerade einmal vier Prozent, dass sich die wirtschaftliche Situation in ihrer Lebenszeit verbessern würde. Dagegen ging mit 61 Prozent die überwältigende Mehrheit davon aus, dass sie sich weiter verschlechterte. Für Furuichi bedeutete dieser pessimistische Ausblick eine Art Befreiung aus der Tretmühle der unablässigen Selbstverbesserung, während Yamada daraus einen genau entgegengesetzten Schluss zog. Weit davon entfernt, auf eigene Faust und von Risikofreude getrieben neue Wege zu suchen, unterteilte er die jungen Japaner in zwei Lager, in »Konservative« und »Fantasten«. Die Konservativen sehnten sich nach den alten Sicherheiten, eben weil die immer schwerer zu erreichen waren. Die Fantasten flüchten sich in Scheinwelten und schoben wichtige Lebensentscheidungen – über Eheschließung, Kinder und Karriere – in dem hoffnungslos optimistischen Glauben immer weiter auf, dass irgendwann irgendetwas Großartiges passieren würde. Ob Yamada nun die Konservativen oder die Fantasten mehr gegen den Strich gingen, war schwer zu sagen. Aus einem der Stapel fischte er eine weitere Umfrage heraus, dieses Mal eine, bei der in regelmäßigen Abständen neu eingestellte Mitarbeiter befragt wurden. Eine der Fragen lautete, ob sie »bis zur Pensionierung für dieses Unternehmen arbeiten« wollten.157 2010 hatte der Anteil derjenigen, die diese Aussage bejahten, 57 Prozent betragen – fast das Dreifache der 20 Prozent, die im Jahr 2000 darauf mit Ja geantwortet hatten. »Weil sich die Aussichten auf eine dauerhafte Beschäftigung verschlechtert haben, streben sie das umso mehr an«, lautete seine wenig optimistische Schlussfolgerung.
Dieselbe Haltung spiegelte sich auch in Umfragen unter jungen Japanerinnen wider. Weit davon entfernt, nach Unabhängigkeit und Erfüllung im Beruf zu streben, sehnten sie sich mehr als je zuvor nach einem Leben als Hausfrau, so Yamada. (Einmal fiel mir ein Flyer für einen Hostessen-Klub namens Badd Girls in die Hände, in dem eine der jungen Frauen »den Abwasch machen« als ihr Lieblingshobby nannte.) Unter Japanerinnen im Alter von 20 bis 39 lag die Zustimmung für die Aussage »Der Mann geht arbeiten, die Frau kümmert sich um das Haus« höher als in jeder anderen Altersgruppe, fuhr Yamada fort. Das liege daran, erklärte er, dass die allermeisten Vollzeitstellen in Japan von vornherein nicht auf Frauen zugeschnitten sind, und schon gar nicht, wenn sie Kinder haben wollen. Japanische Arbeitgeber erwarteten von ihren Mitarbeitern nicht nur bedingungslose Leistung, sondern auch die Bereitschaft zu fast unbegrenzten Überstunden. So sagte auch Shimotsubo über den Job ihres Mannes: »Ich könnte nicht so arbeiten, wie er das tut. Ich habe Kinder, und als Mutter kann ich die Unternehmensregeln unmöglich einhalten. Das ist«, schloss sie, »die Erfahrung vieler Frauen in Japan.« Da die wenigsten Frauen in Japan durch den auf Männer zugeschnittenen Karriereweg wirtschaftliche Sicherheit erreichen konnten, setzten sie eben, so Yamada, auf die nächstbeste Option – sie heirateten wirtschaftliche Sicherheit. Aber weil das Angebot an verfügbaren Männern mit sicheren Jobs beständig schrumpfte, schoben mehr und mehr Frauen die Eheschließung hinaus.
Und hier vermischte sich der Konservatismus mit der Fantasterei, argumentierte der Soziologe. Der Großteil der nicht verheirateten Japaner im Alter von 18 bis 35 Jahren lebte noch bei den Eltern. Viele von ihnen träumten von völlig unrealistischen Karrieren, beispielsweise als Rockstar oder Modefotograf, beziehungsweise, wenn es sich um Frauen handelte, davon, sich einen reichen Mann zu angeln. Die »Parasiten-Singles« sparten sich die Miete für eine eigene Wohnung und verprassten ihr gesamtes Geld für einen luxuriösen, langfristig aber ihre Mittel übersteigenden Lebensstil. Ein großer Teil ihres Lebens spielte sich in einer Scheinwelt ab. Junge Männer schreckten vor der Aufmerksamkeit realer Frauen zurück. Stattdessen schauten sie sich die von der riesigen japanischen Pornoindustrie produzierten Filme an oder gingen in sogenannte »Maid Cafés«, wo hübsche, zuvorkommende (und in Dienstboten- oder Schuluniformen gekleidete) Frauen einer Art, denen im realen Leben zu begegnen sie niemals hoffen konnten, sie mit altmodischer Unterwürfigkeit bedienten. Ihre Altersgenossinnen derweil warteten auf Mr. Right und verschoben Eheschließung und Familiengründung auf später. »Sie leben nicht nur in einer Traumwelt, sie weigern sich auch, aufzuwachen.« Yamada zeigte sich ratlos. »Sie haben aufgegeben. Kein Gedanke daran, die Gesellschaft verändern zu wollen oder auch nur das eigene Leben.« Vielleicht, wandte ich ein, wollten sie die Gesellschaft ja deswegen nicht verändern, weil ihr Leben eigentlich gar nicht so schlecht war. Vielleicht waren sie, wie Furuichi sagte, einfach zufrieden damit, wie die Dinge waren. »Diejenigen, die außerhalb des etablierten Systems leben, haben keine Möglichkeit, in es hineinzugelangen«, erwiderte Yamada mit etwas verächtlicher Stimme. »Das ist der einzige Grund, warum sie« – hier schürzte er die Lippen spöttisch – »sogenannt glücklich und sogenannt frei bleiben.«
***
Die Worte, die am unteren Bildschirmrand entlangliefen, ließen wenig Raum für Zweifel. Wenn nicht schnell etwas unternommen wurde, würden die »Kinder Japans« bei lebendigem Leib verbrennen. Es waren drei: Nahoko Takato, eine 34 Jahre alte Entwicklungshelferin, die nach Bagdad gegangen war, um Brot, Marmelade und andere Grundnahrungsmittel an irakische Straßenkinder zu verteilen. Soichiro Koriyama, 32, ein freiberuflicher Fotoreporter, der aus dem Irak über einen Krieg berichten wollte, in dem die japanische Armee beziehungsweise, so die offizielle Bezeichnung, die japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte in einer kleinen Nebenrolle besetzt worden waren. Derjenige aber, dessen grobkörniges Bild am meisten hervorstach, war Noriaki Imai, ein blasser, gut aussehender 18-Jähriger, der am Boden kauerte. Allen dreien hatte man die Augen verbunden. Hinter ihnen standen aufgeregte irakische Milizionäre, die Messer und Kalaschnikows in die Höhe hielten.
Es war 2004, das Jahr, in dem Tokio seine Selbstverteidigungsstreitkräfte zu einem Wiederaufbaueinsatz in den Irak entsandt hatte, der größte Auslandseinsatz japanischer Bodentruppen seit dem Zweiten Weltkrieg – und einer, den viele in Japan für verfassungswidrig hielten. Die öffentliche Meinung war zweigeteilt und schwankend. Die drei »Kinder Japans« waren aus humanitären Gründen in den Irak gegangen, um das Leid in einem Krieg, dem sie kritisch gegenüberstanden, zu dokumentieren oder ein bisschen zu lindern. Imai, der von der japanischen Nordinsel Hokkaido stammte und in Sapporo gerade die Oberschule abgeschlossen hatte, wollte im Irak die Auswirkungen von abgereichertem Uran auf Zivilisten dokumentieren. Er hatte sich in Jordanien ein Taxi genommen und über die Grenze bringen lassen, ein, wie sich zeigte, wenig durchdachter Plan. Als das Taxi ein paar Stunden später kurz vor Falludscha zum Tanken stoppte, zerrten ihn mehrere irakische Rebellen unter »Tod den Japanern«-Rufen in ein anderes Auto. Einer hielt ihm eine Handgranate an den Kopf.
Die Ereignisse vom 11. September 2001 und die anschließenden Invasionen der USA in Afghanistan und im Irak hatten den an der Welt um ihn herum völlig desinteressierten Videospielfreak Imai in einen jungen Mann verwandelt, der nun einige der drängendsten Fragen der Welt in seinem Kopf wälzte. »Als die Bomben auf Afghanistan fielen, fühlte ich mich mit einem Mal vollkommen leer und nutzlos«, beschrieb er seine Empfindungen nach dem Einmarsch der Amerikaner in Afghanistan Ende 2001.158 Auf der Suche nach Antworten auf nur halb ausformulierte Fragen war Imai durchs Internet gesurft, hatte sich über Themen wie den Völkermord in Ruanda oder die Verbindungen zwischen dem blutigen Konflikt in der Demokratischen Republik Kongo und dem Run auf das Metall Coltan kundig gemacht, ein schwärzliches Erz, das auch in den Mobiltelefonen verbaut wurde, die Japan damals in alle Welt exportierte. Seine Generation, stellte Imai fest, interessierte sich nicht die Bohne für solche moralischen und politischen Fragen, und erst recht nicht, wenn sie Menschen in weit entfernten Ländern betrafen. Irgendwie empfand er es als seine Pflicht, mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Er wusste, es klang anmaßend, aber er wollte seine Generation katalysieren und aktivieren. Und so führte ihn seine Suche im Cyberspace in der realen Welt zu einer Tankstelle außerhalb von Falludscha.
Über mehrere Tage hinweg war Japan vom Schicksal der Geiseln im Irak völlig in den Bann geschlagen. Die Eltern der drei traten im Fernsehen auf, in Japan und auf arabischen Sendern, und flehten um das Leben ihrer Kinder. Die jungen Leute, sagten sie, seien in den Irak gegangen, um dem Land, den Menschen dort zu helfen. Keiner von ihnen habe die Entsendung japanischer Soldaten gutgeheißen. Die Eltern wiederholten – sehr zum Ingrimm der Regierung in Tokio – sogar die Forderung der Geiselnehmer nach einem sofortigen Abzug der japanischen Truppen aus dem Irak. Mehrere qualvolle Tage hindurch lag das Schicksal der Geiseln völlig im Ungewissen. Nur ein paar Wochen später wurde Kim Sun-il, ein 33 Jahre alter südkoreanischer Missionar, von seinen irakischen Geiselnehmern geköpft. Die drei jungen Japaner hatten mehr Glück. Nach acht Tagen übergaben die Entführer Imai und seine beiden Mitgefangenen an einen Geistlichen, begleitet von Gerüchten, Tokio habe der Freilassung mit einem Lösegeld nachgeholfen. Nach einer ausführlichen Befragung und einer medizinischen Untersuchung kehrten die drei per Flugzeug nach Japan zurück. Und damit begannen die Probleme erst so richtig.
Die öffentliche Meinung, oder zumindest die, wie sie in den Medien dargestellt wurde, schlug in Windeseile um. Nachdem sie zuerst lautstark für die Geiseln getrommelt hatten, nahmen die mächtigen japanischen Zeitungen und Fernsehsender – die generell dazu neigten, ins selbe Horn zu blasen – sie nun schwer unter Beschuss und warfen ihnen vor, offizielle Warnungen vor Reisen in den Irak ignoriert und Japan vor aller Welt bloßgestellt und entwürdigt zu haben. In geistlosen TV-Frühstückshows und slapstickhaften »Aktuellen Stunden«, wo sich Männer in flachen Krempenhüten und als Tarentos (Talente) titulierte junge Starlets mit bestenfalls angedeuteten Konzessionen in Richtung Substanz oder Wissen über die aktuellen Geschehnisse ausließen, wurde der Ausdruck Jiko Sekinin – »Selbstverantwortung« – in einem fort herauf- und heruntergebetet. Aus dem Medienäther sickerte der Begriff in den täglichen Sprachgebrauch, wurde über Sushi-Theken hinweg gemurmelt und durch den Rauch und die im Hintergrund spielende Jazzmusik der Bars. Die drei sollten, verlangten die Medien, der Regierung die Kosten für ihren Heimflug und die medizinische Untersuchung erstatten. Konnte man dem Steuerzahler wirklich zumuten, die Zeche für diese leichtsinnigen Gutmenschen zu bezahlen? Als das Flugzeug mit Imai und seinen beiden Leidensgenossen in Japan landete, schlug ihnen offene Feindseligkeit entgegen. Mit schamvoll gebeugten Köpfen stiegen die drei die Gangway hinunter und durchschritten ein Spalier von in die Höhe gereckten Schildern, auf denen wütende Slogans prangten. Auf einem stand nur: »Ihr habt bekommen, was ihr verdient habt.«
Eigentlich war diese heftige Reaktion kaum nachvollziehbar, und der amerikanische Außenminister Colin Powell beispielsweise bewies in seiner öffentlichen Verlautbarung deutlich mehr Verständnis. »Mich freut, dass diese japanischen Bürger für ein höheres Interesse, für eine gute Sache, willens waren, große Risiken auf sich zu nehmen«, sagte er. »Japan sollte stolz darauf sein, dass es Bürger hat, die dazu bereit sind.«159 Viele Japaner sahen das ganz anders. Als ich Imai einige Wochen später traf, war er immer noch schockiert von den Reaktionen seiner Landsleute. »Ich war völlig überrascht«, sagte er. »Die Leute sagten, ich müsse die Verantwortung für mein Verhalten übernehmen. Aber für mich klang es, als würden sie mich am liebsten tot sehen, als würden sie sagen: ›Du hättest im Irak sterben und als Leiche heimkehren sollen.‹« Er wurde mit Hass-Mails überhäuft. »Wenn ich in Sapporo durch die Straßen ging, sprachen mich manchmal Leute an: ›Was fällt dir ein, so viel Geld der Steuerzahler zu verschwenden?‹ Zweimal wurde ich sogar geschlagen. Der Hass der Leute machte mich krank, psychisch krank. Ich sprach kaum noch mit jemandem und wurde abweisend und unfreundlich. Es wurde ein echtes Problem, wie eine Phobie.«
Yoichi Funabashi, mein Freund bei der linksorientierten Tageszeitung Asahi, war der Meinung, dass die Regierung die öffentliche Diskussion um die Irak-Geiseln mithilfe der willfährigen Medien manipuliert hatte. Mit ihrem Versuch, humanitäre Hilfe außerhalb des offiziellen, vom Militär geführten japanischen Irak-Einsatzes zu leisten, hatten, sagte er, die drei jungen Leute den Alleinvertretungsanspruch der Regierung auf moralisches Handeln herausgefordert. Auf ihre Weise, so unbedeutend und unbeholfen ihre Bemühungen auch gewesen sein mochten, hatten sie eine Alternative zur offiziell sanktionierten Politik aufgezeigt, dem Irak durch die Entsendung der Selbstverteidigungsstreitkräfte zu helfen. Die japanischen Soldaten im Irak wurden der Öffentlichkeit als Wiederaufbauhelfer präsentiert, die dafür sorgten, dass einfache Iraker wieder Wasser und Strom bekamen. Wenn es etwas Gutes zu tun gab, dann würde sich die Regierung darum kümmern. Ein enger Berater von Junichiro Koizumi, dem Premierminister, der George W. Bush versprochen hatte, japanische Bodentruppen in den Irak zu entsenden, bestätigte Funabashis Verdacht. »Mit dem Aufruf zum Rückzug der Selbstverteidigungsstreitkräfte haben die Familien der Geiseln sich disqualifiziert«, sagte er zu mir und fügte hinzu, dass es ihn nicht wundern würde, wenn sie Kommunisten seien. Die öffentliche Reaktion fand seine vollste Zustimmung. »Diese harte Kritik ist ein Zeichen für die wachsende Emanzipation der japanischen öffentlichen Meinung.«
In ihrer Naivität waren die drei in das zu der Zeit heißeste außenpolitische Feld gestolpert. Doch die Suche dieser drei jungen Menschen nach einem Sinn im Leben und die scharfe Zurückweisung, die sie seitens der Älteren erfuhren, stand symbolhaft für eine umfassendere Entwicklung. Die alles andere als berauschenden Wachstumsraten in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten hatten den Gewissheiten Japans den Todesstoß versetzt. Nach Aussagen des Wissenschaftlers Yoshio Sugimoto waren 2010 in Japan 40 Prozent der jungen Berufstätigen unregelmäßig beschäftigt und gehörten viele von ihnen der neuen Klasse der »Erwerbsarmen« an.160 Und da nicht regulär Beschäftigte seltener Fortbildungen erhielten, taten sie sich auch schwerer, in eine Festanstellung überzuwechseln.
Der Niedergang des alten Modells zwang eine ganze Generation – beziehungsweise all diejenigen, die keinen Platz im traditionellen Beschäftigungssystem fanden –, nach Alternativen zu suchen. Viele sehnten sich, wie Ishikawa, nach etwas, das erfüllender war als der »banale Wohlstand«, der den Lebenstraum ihrer Mittelschicht-Eltern ausmachte. Dass diese Suche im Irak endete, stellte natürlich eine radikale Ausnahme durch Imai dar. Die meisten jungen Japaner gingen lange nicht so weit. Aber auf ihre Weise experimentierten viele von ihnen mit neuen Lebensentwürfen. Manche begnügten sich einfach mit befristeten Stellen, wechselten von einem Job zum nächsten oder heuerten gleich bei Zeitarbeitsfirmen an, die sie an eben die großen Unternehmen ausliehen, die ihnen eine Vollzeitanstellung verweigert hatten. Das gewährte ihnen eine gewisse Unabhängigkeit und die Zeit, ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Berufs- und Privatleben anzustreben. Und es befreite sie von den überwältigenden Anforderungen, die große japanische Unternehmen für gewöhnlich an ihre Mitarbeiter stellten. Im Austausch dafür aber mussten sie auf eine langfristige Karriere ebenso verzichten wie auf eine anständige Bezahlung. Manche verloren sogar ihre Identität, da diese sich in so hohem Maße darauf bezogen hatte, Mitglied einer durch das Unternehmen, für das man arbeitete, verkörperten Familie zu sein. Nicht wenige aber fanden jenseits des traditionellen Systems einen Platz für sich. Viele gründeten eigene Unternehmen, auch wenn das wohl weniger weitverbreitet war als in den westlichen Ländern. Andere arbeiteten für gemeinnützige Organisationen, die nach dem Erdbeben von Kobe 1995, bei dem sich so viele Freiwillige durch ihren selbstlosen Einsatz ausgezeichnet hatten, wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Wieder andere entschieden sich für das »langsame Leben«; sie gründeten Kooperativen, bauten Ökofarmen auf oder ließen es einfach langsam angehen, machten es den Hippies nach und stiegen aus – ein neuer Lebensstil, den 2003 ein Tabakkonzern mit dem Slogan »Slow Down, Relax Up« aufgriff.161 Auch manche Ortschaften in Japan versuchten von dem Trend zu profitieren und priesen sich als Oasen für die Anhänger des Gambaranai an, einer fast schon unjapanischen Philosophie des »Arbeite nicht zu hart« beziehungsweise des »Überanstrenge dich nicht«. Zweifelsohne gab es viele junge Japaner, die sich nicht ebenso sehr abrackerten, wie ihre Eltern das getan hatten. Um Miete zu sparen, blieben sie zu Hause wohnen und gaben ihr ganzes Geld für Klamotten, Ausgehen, Auslandsreisen oder Hobbys aus. Sie genossen den Wohlstand Japans – solange es ihn noch gab.
***
Ich hatte Noriaki Imai zuletzt vor acht Jahren gesehen. Ich fragte mich, wie es ihm seit seiner Geiselnahme im Irak und seiner schmerzhaften und enttäuschenden Heimkehr ergangen war. Rein zufällig entdeckte ich, dass er, inzwischen 26 Jahre alt, mit zu den zahlreichen von Ishikawas Organisation ETIC geförderten Sozialunternehmern gehörte. Imai hatte in der zweitgrößten japanischen Stadt, Osaka, eine gemeinnützige Einrichtung gegründet, die benachteiligten Kindern half. Wir verabredeten ein Treffen im Frühjahr 2012, ein paar Tage nach dem ersten Jahrestag des Tsunamis. Ich nahm einen frühmorgendlichen Hochgeschwindigkeitszug von Tokio nach Osaka. Mit mir im Zug saßen Büroangestellte, die Bier zu ihrem Frühstück tranken, Unterlagen studierten oder vor sich hindösten, während wir durch den Industriekorridor jagten, der die beiden größten japanischen Ballungsgebiete verbindet.
Osaka besaß eine völlig andere Ausstrahlung als Tokio. Es fühlte sich kantiger, industrieller, lässiger an. Die jungen Leute zogen sich punkiger an als die in der Hauptstadt, und selbst auf der Rolltreppe stand man hier auf der anderen Seite. Vielleicht konnte man Osaka als so etwas wie das Manchester Japans bezeichnen. Die Stadt hatte in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit auf sich gezogen, vor allem seit der Wahl eines jungen Bürgermeisters, Toru Hashimoto, der mit seinen Aktionen landesweit für Aufsehen sorgte. Hashimoto, ein ungestümer Politiker und Sohn eines Yakuza-Gangsters, hatte sich im Stile Junichiro Koizumis als Gegenentwurf zum verknöcherten politischen Establishment präsentiert und damit zu einem der bekanntesten Politiker des Landes aufgeschwungen. Erst kurz zuvor hatte er sich der Wiederinbetriebnahme einer Atomanlage in einer benachbarten Stadt widersetzt und der Regierung vorgeworfen, Sicherheitsbedenken zu ignorieren. Auch mit vielen seiner anderen Maßnahmen hatte er von sich reden gemacht: Er setzte frühere Schließungszeiten für Nachtklubs durch, bestand darauf, dass in der Schule die Nationalhymne gesungen wurde, und reduzierte die öffentlichen Ausgaben durch die Entlassung von Bürokraten. In einer Rede, die ihm später noch häufig vorgehalten werden sollte, hatte er verkündet, dass Japan eine Führung brauche, die »so stark ist, dass man schon von einer Diktatur sprechen kann«, wollte es sich aus seiner gegenwärtigen Malaise befreien.162 Aber selbst Enthüllungen in einem Wochenmagazin, dass er eine Affäre mit einer Frau hatte, die sich als Stewardess verkleidete, wenn er Sex mit ihr hatte, hatten seiner Beliebtheit nichts anhaben können.163 Manche Leute hielten ihn für gefährlich, andere dagegen fühlten sich von seiner, wie sie es nannten, Vitalität mitgerissen. Hashimoto war eine Art Ein-Mann-Tea-Party und sein politischer Aufstieg ein weiteres Indiz für die Unzufriedenheit der Jugend mit dem Status quo.
Ich traf mich mit Imai in einer Izakaya, einer typisch japanischen Kneipe, in der hochwertige Speisen mit Sake, Shochu-Schnaps, Bier und Wein serviert werden. Kunstvoll eingesetzte Strahler erzeugten ein gedämpftes Licht, aus den Boxen drang Jazz, und durch die hölzernen Trennwände, die zwischen den einzelnen Räumen eingezogen worden waren, drang das Geräusch der vom Alkohol beflügelten Unterhaltungen der anderen, zumeist jungen Gäste. Nachdem wir den Summer auf unserem Tisch betätigt hatten, erschien eine Bedienung, bei der wir Krabbenfleisch, etwas Sashami, gegrillte Pilze, Abalone-Suppe und zwei eiskalte, frisch gezapfte Bier bestellten. Während wir auf das Essen warteten, erzählte Imai mir, dass ihn nach seiner Rückkehr aus dem Irak jahrelang Depressionen geplagt hatten. Sein engagierter Versuch, sich für die irakischen Kinder einzusetzen, war, so empfand er das, zu einem völligen Fiasko geraten. Dabei hatte ihm die feindselige Reaktion seiner Landleute viel mehr zu schaffen gemacht als die Zeit, die er in der Gewalt der irakischen Rebellen verbracht hatte, sagte er. »In Geiselhaft war ich nur neun Tage lang. Aber die ganzen Jahre danach in Japan hatte ich oft nur noch den Wunsch zu sterben.« Er hatte seine Heimatstadt Sapporo verlassen und sich am anderen Ende von Japan, in der Hafenstadt Oita auf der Südinsel Kyushu, an einer internationalen Universität eingeschrieben. Die meiste Zeit dort verbrachte er für sich selbst. »Selbst vier oder fünf Jahre später gab es noch Leute, die mein Gesicht erkannten«, sagte er. »Heute kommt das kaum noch vor und ich fühle mich fast wieder wie ein freier Mensch.« Er verfiel in ein kurzes Schweigen. »Aber im Grunde genommen«, fuhr er schließlich fort, »ist es mir inzwischen egal. Unsere Gesellschaft ist völlig gestresst. Viele Leute wollten einfach etwas Dampf ablassen.«
Rückblickend gab es nichts, was er bereute. »Ich bin psychisch sehr stark geworden, und deswegen kann ich jetzt auf eigene Faust gemeinnützige Arbeit machen«, meinte er. In seinem vierten Jahr an der Universität fing er an, sich langsam wieder besser zu fühlen. Mit einem Freund, der dort am Aufbau einer Schule mitarbeitete, reiste er nach Sambia. In Sambia überraschte ihn vor allem der Optimismus der Menschen. »Im Vergleich zu Japan waren die Leute dort so voller Hoffnung für ihr Land. Ein Fünftel der Bevölkerung ist HIV-infiziert, und die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei gerade einmal 46 Jahren«, sagte er. »Und dennoch sah ich in ihren Augen Hoffnung. Als ich nach Japan zurückkam und zum ersten Mal wieder mit einem Zug fuhr, war ich erschreckt, wie niedergeschlagen alle aussahen. Bei uns hier stehen junge Menschen unter einem enormen Druck, und ich hatte das Gefühl, ich sollte etwas für die Kinder in meinem Land tun.«
Wie Ishikawa war Imai über einen Umweg ans Ziel gekommen, in seinem Fall als Verkäufer von Schweine- und Rindfleisch für ein kleines Handelsunternehmen. »Billig einkaufen, teuer weiterverkaufen«, grinste er. 2012 kündigte Imai seine Arbeit, um sich in Vollzeit der Betreuung von in Schwierigkeiten geratenen Kindern widmen zu können. An einer Oberschule in einem benachteiligten Viertel von Osaka begegnete er einem Jungen, der schon bei drei verschiedenen Vätern gelebt hatte und dessen Mutter an einer multiplen Persönlichkeitsstörung litt. Die Familie war auf staatliche Einkommensunterstützung angewiesen, und gelegentlich ging der Junge abends arbeiten, um etwas Geld hinzuzuverdienen. Imai war entsetzt, dass es in einem Land, das ihm immer noch wohlhabend vorkam, Menschen gab, die ihr Leben unter so schlechten Bedingungen fristeten. »Diese Kinder haben kein bisschen Selbstvertrauen«, sagte er. »Sie glauben nicht, dass es für sie eine Zukunft gibt.« Insgeheim fragte er sich, ob sie damit vielleicht nicht sogar recht haben. »Die Bevölkerung schrumpft. Die Armut unter jungen Menschen nimmt zu. Für Leute mit einer guten Bildung bleibt das unsichtbar. Aber es ist ein großes Problem. Für viele in Japan ist das Leben sehr schwer geworden.«
Ich erzählte ihm von Furuichis Theorie, derzufolge die junge Generation das, was ihr an Sicherheit abhandengekommen war, an Freiheit hinzugewonnen hatte. Mindestens eine Umfrage, sagte ich, schien zu belegen, dass junge Japaner noch nie zuvor so zufrieden wie heute waren. »Die Zukunft wird schlechter werden, also ist jetzt der glücklichste Moment«, entgegnete Imai, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, offenkundig erfreut über seine Schlussfolgerung. »Manche jungen Leute empfinden es so. Aber das ist eine Form des Selbstbetrugs. Das Gefühl des Glücklichseins gilt nur für die Gegenwart. Die Zukunft ist düster.« Auch er sorgte sich, Japan könnte von geborgter Zeit leben und es sich auf dem finanziellen Polster bequem gemacht haben, das es während des Wirtschaftsbooms angehäuft hatte. Wie sollte eine derart hoch verschuldete Ökonomie überleben können?, fragte er. Eines Tages musste die Blase doch unweigerlich platzen. »Ich habe keine Ahnung, wann es zum Bankrott kommen wird. Vielleicht geht es noch drei Jahre oder auch fünf Jahre gut. Aber zehn Jahre? Ich weiß nicht.«
Imai zeigte sich skeptisch, was die Fähigkeit der jüngeren Generation anging, positive Veränderungen zu bewirken. Auf gewisse Weise bewunderte er Hashimotos klare Überzeugungen, auch wenn er das, was der Bürgermeister von Osaka inhaltlich sagte, nicht wirklich ansprechend fand. Apathie sei, sagte er, der Normalzustand. »So viele junge Japaner sind auf Facebook oder Twitter. Ihnen scheint die Zukunft Japans am Herzen zu liegen, aber tun sie wirklich etwas für eine bessere Zukunft? Oder dafür, die nationale Situation zu verbessern? Soweit ich das sehen kann, nein.«
Zum Zeitpunkt unseres Treffens hatte die japanische Antiatomkraftbewegung bereits eine gewisse Dynamik erreicht. Große Menschenmengen, darunter auch viele junge Leute, versammelten sich immer wieder vor dem Amtssitz des Premierministers und forderten den Ausstieg aus der Atomenergie. Imai bezweifelte, dass das viel bewirken würde. »Es sind nur wenige, die sich bewegen, die etwas tun. Ich glaube nicht, dass sie damit viel erreichen werden«, sagte er. »Mir persönlich geht es darum, die Politik in Japan auf effektive Weise zu verändern. Deshalb mache ich meine Non-Profit-Arbeit. In ein paar Jahren will ich so weit sein, dass ich der nationalen Regierung Vorschläge unterbreiten kann.« Er hielt inne, als ob er das eben Gesagte nochmals Revue passieren ließ und nach Worten suchte, um es auf einen Punkt zu bringen. »Ich weiß nicht, wie ich meine Generation nennen sollte«, sagte er schließlich. »Vielleicht die zähe Generation. Aber ganz bestimmt nicht die glückliche Generation.«
Natsuo Kirino mag es nicht, wenn man sie als Krimiautorin bezeichnet. In ihren Romanen passieren zwar viele Verbrechen, aber Ermittler und die Suche nach dem Täter spielen kaum eine Rolle. Vielmehr betreibt sie soziologische und psychologische Bohrungen in die besonders unerfreulichen Schichten der Jahre nach dem Platzen der Spekulationsblase in Japan. Dort findet sie Armut, Gewalt, Wut und Entrechtung an den Rändern einer Gesellschaft, die sich überwiegend für gesittet und ordentlich hält. Vor allem aber schreibt sie darüber, wie Frauen in einem Land zurechtkommen, in dem sie zu Hause und bei der Arbeit zu oft als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Manchmal greifen ihre fiktiven Heldinnen zu extremen Überlebensstrategien.
In Out (dt. Version Die Umarmung des Todes), einem Buch über berufstätige Frauen, die Nacht für Nacht in einer schmuddeligen Lunchpaketfabrik arbeiten, erdrosselt Yayoi ihren nutzlosen, gewalttätigen Ehemann. In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an drei Arbeitskolleginnen, die mit ihr zusammen den Leichnam zerstückeln und fortschaffen. In einer makabren Wendung der Geschichte machen die Frauen daraus bald ein Geschäft: Sie helfen lokalen Yakuza-Gangstern, die Spuren ihrer Unterweltmorde zu beseitigen. Die Szene, wie die Frauen Yayois Ehemann in Stücke schneiden, liest sich gleichermaßen wie eine Anleitung und wie eine leidenschaftslose Beschreibung. Kirino spart kaum ein Detail aus:
»Als Nächstes setzte sie das Messer im Bereich eines der Hüftgelenke an. Die gelbe Fettschicht machte das Messer glitschig. ›Das ist ja genau wie bei einem Hähnchen‹, murmelte Yoshie. Als sie auf den Oberschenkelknochen getroffen war, stellte sie einen Fuß auf Kenjis Schenkel, nahm die Säge und durchtrennte den dicken Knochen wie einen Baumstamm.«
***
In einem späteren Roman, Tokyo Island, wird Kiyoko, eine 43-jährige Hausfrau, nach dem Untergang ihres Kreuzfahrtschiffs zusammen mit ihrem Ehemann auf einer Insel angespült. Kiyoko passt sich leichter an die Notlage an als ihr unglücklicher Ehemann, der bald stirbt. Ihr Einfallsreichtum wird noch wichtiger, als sie entdeckt, dass sie die einzige Frau auf der Insel ist neben mehr als zwei Dutzend japanischen und chinesischen Männern, die halb so alt sind wie sie. Geschickt spielt sie die Männer gegeneinander aus, damit sie überlebt, und versucht sogar, eine Religion zu begründen, in deren Mittelpunkt sie steht. Das Buch basiert auf der wahren Geschichte von Kazuko Higa, die am Ende des Zweiten Weltkriegs mit fast 30 Männern auf der Insel Anatahan im Marianen-Archipel strandete. Die Männer wollten nicht glauben, dass der Krieg vorüber war, und führten ihr primitives Leben weiter. Higa gelang 1950 die Flucht von der Insel. Kirinos Roman, der später die Vorlage für einen Film abgab, wurde von den Kritikern für die Erforschung gruppendynamischer Prozesse gelobt und für den erzählerischen Einfall, dass eine durchschnittliche Frau sich in eine Art Inselgottheit verwandelt. »Sie kontrolliert die Gruppe durch Sex«, sagte mir Kirino ganz nüchtern. »Es passiert so viel, und obwohl die Anführer dauernd wechseln, überlebt sie am Ende.«
Natsuo Kirino kam 1951 in Kanazawa zur Welt, der Stadt mit der Burg, in der ich in meinem ersten Monat in Japan kurzzeitig gewohnt hatte. Ihr Vater war Architekt, und die Familie zog oft um, bevor sie sich in Tokio niederließ, als Kirino 14 war. Sie studierte Jura und schrieb später Groschenromane für eine größtenteils jugendliche Leserschaft. Erst mit 40 fand sie die Anerkennung der Kritiker für einen ihrer Romane, Rain Falling on My Face, und sie begann, ernsthafte Geschichten über Dinge zu schreiben, die sie für wichtig hielt. Ihr Durchbruch kam mit Out, dem ersten Roman, der ins Englische übersetzt wurde.
Ich traf Kirino an einem Nachmittag im Mai 2008 in dem mit viel Plüsch dekorierten italienischen Café Fiorentina in der Lobby des Grand Hyatt Hotel in Tokio, wo großformatige moderne Kunstwerke mit den schönen Menschen um Aufmerksamkeit wetteifern, die dort herumschlendern. Weil die Verfasserin von 15 Romanen einmal schlechte Erfahrungen mit einem ausländischen Journalisten gemacht hatte, brachte sie eine weibliche Beschützerin mit, obwohl sie durchaus so wirkte, als könne sie auf sich selbst aufpassen. Ihr Gesicht strahlte eine gewisse Härte aus. Mit 56 Jahren war sie eine attraktive, sogar schöne Frau, auch wenn sie nicht die makellose Maske trug, mit denen manche Japanerinnen gegen das Alter ankämpfen. Sie war leger gekleidet in langer Hose, Top mit Blumenmuster und Schuhen mit Korksohle. Ihre Nägel hatte sie dick mit glitzerndem Nagellack lackiert. Ihre Stimme klang entschlossen und rau, aber erstaunlich leise.
Sie sprach davon, ihre Protagonistinnen seien von »aufgestauten Rachegelüsten« getrieben. »Das Verhältnis von Männern und Frauen in der japanischen Gesellschaft ist nicht gut. Sie kommen nicht miteinander zurecht«, sagte sie und drehte ihre Kaffeetasse hin und her. »Es gibt zu viele geschlechtsspezifische Rollenunterschiede. Die Männer sind in der Wirtschaft wie Sklaven, und die japanischen Frauen sind zu Hause eingesperrt. Ihre Leben haben nichts miteinander zu tun. Das ist ein Grund für diese brodelnde Wut.« Romane zu schreiben erlaube ihr, diesen tiefen Quell des Grolls zu erkunden, der in einer Gesellschaft, die großen Wert auf oberflächlich glatte Beziehungen legt, oft nicht ausgedrückt wird. »Schriftsteller versuchen, die Dinge in Worte zu fassen, die in einer Gesellschaft schlummern, unbewusste Dinge. Das ist unsere Pflicht.«
Ihr war bewusst, dass die Fiktion die Welt außerhalb der Literatur beeinflussen kann. »Schriftsteller müssen mächtig sein. Aber ich lebe auch in der realen Welt, und manchmal finde ich die Macht der Fiktion beängstigend. Nachdem Out erschienen ist – es ist unheimlich, darüber zu sprechen –, aber ich denke, danach hat es mehr Fälle gegeben, dass Frauen ihre Männer umgebracht haben. Und es könnte sein, dass einige Menschen durch das, was ich in meinen Büchern geschrieben habe, neue Wege entdeckt haben, gewisse Dinge zu tun.« Kurz vor unserer Begegnung wurde vor Gericht der Fall von Kaori Mihashi verhandelt, einer eleganten, 32-jährigen Frau, die ihren prügelnden Ehemann, Angestellter bei Morgan Stanley, mit einer Weinflasche erschlagen hatte. Wie Yayoi in Kirinos Roman hatte sie ihn zerstückelt und die Einzelteile an unterschiedlichen Stellen abgelegt. Das Luxusappartement, in dem der Mord stattfand, lag zwei Minuten von meiner Wohnung entfernt.
Einerseits machte sich Kirino Sorgen, weil sie durch die Schilderung von Gewalt unbeabsichtigt dazu angeregt haben könnte. Aber sie glaubte auch, dass sie etwas Gutes getan hatte, indem sie der Wut der Frauen eine Stimme gab. »Nach Out können männliche Leser bei mir mit allem rechnen. Ich denke, ich habe ihnen die Augen geöffnet«, sagt sie mit gesenktem Blick. »Einmal war ich mit einem Mann in einer Radiosendung, die ganze Zeit sagte er nicht ein Wort zu mir. Gegen Ende der Sendung fragte er: ›Was halten Sie davon, wenn jemand umgebracht wird?‹ Ich antwortete: ›Es ist nicht gut, jemanden zu töten.‹ Und er sagte: ›Oh, wunderbar. Ich bin wirklich erleichtert, das zu hören.‹«
***
Japan wird im Westen oft als eine Gesellschaft mächtiger Männer und schüchterner, unterwürfiger Frauen dargestellt. Bei internationalen Vergleichen von Chancengleichheit kommt Japan im Allgemeinen nicht gut weg. Nach einer weltweiten Untersuchung der Economist Intelligence Unit aus dem Jahr 2010 über die wirtschaftlichen Chancen von Frauen landete Japan mit 68,2 von 100 möglichen Punkten auf Rang 32. Damit lag es vor allen anderen asiatischen Ländern mit Ausnahme von Hongkong, aber hinter den skandinavischen Ländern, die weit über 80 Punkte erhielten, und auch hinter den Vereinigten Staaten mit 76,7 Punkten. In den Kategorien rechtlicher und gesellschaftlicher Status schlug sich Japan recht gut. In der Nachkriegsverfassung sind die Rechte der Frauen immerhin geschützt. Artikel 14 verbietet Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, und in Artikel 24 heißt es:
»Die Ehe darf sich nur auf die gegenseitige Zustimmung der Partner gründen und soll auf der Grundlage der Gleichberechtigung von Mann und Frau im Geiste gemeinsamen Zusammenwirkens geführt werden. Hinsichtlich der Gattenwahl, des Erb- und Eigentumsrechtes, der Wahl des Wohnsitzes, der Ehescheidung und anderer mit Ehe und Familie zusammenhängender Angelegenheiten werden Gesetze erlassen, die auf dem Prinzip der Menschenwürde und der absoluten Gleichberechtigung der Geschlechter beruhen.«164
In anderen Kategorien hat Japan nicht so gut abgeschnitten. Unter dem Stichwort Arbeitsmarkt, bei dem Faktoren wie Einkommensgleichheit, Diskriminierung am Arbeitsplatz und das Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen gemessen wurden, rangierte Japan hinter einigen Entwicklungsländern wie den Philippinen, Brasilien und Tansania. Selbst Südkorea, eine weitere hoch entwickelte asiatische Volkswirtschaft, der Diskriminierung von Frauen nachgesagt wird, schnitt bei diesen Punkten besser ab. Hingegen kam Japan gut weg bei der Kategorie »Zugang zu Geld«; das spiegelt die Tatsache wider, dass in Japan weiterhin die Frauen für die Verwaltung der Haushaltskasse zuständig sind.165
Andere Erhebungen brachten andere Ergebnisse. Beim Gender Inequality Index166 der Vereinten Nationen erreichte Japan mit Platz 14 weltweit ein gutes Ergebnis, zwar hinter den skandinavischen Ländern, aber vor Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien. Andererseits sah es für Japan beim Global Gender Gap Index des Weltwirtschaftsforums mit Platz 98 katastrophal aus. Damit lag Japan hinter so bekannten Bastionen des Feminismus wie Aserbaidschan, Simbabwe, Bangladesch und Brunei.
Natürlich enthalten derartige Erhebungen immer einen Gutteil Subjektivität.167 Aber manche Formen der Diskriminierung japanischer Frauen sind offensichtlich. Weibliche Führungskräfte in Unternehmen sind seltener als in anderen reichen Ländern, nur 1,2 Prozent der leitenden Angestellten in börsennotierten Firmen sind Frauen. Frauen bekommen keine so guten Arbeitsstellen und verdienen im Durchschnitt nur 60 Prozent des Einkommens von Männern. Nach dem Gesetz dürfen verheiratete Frauen ihren Mädchennamen nicht behalten – außer, kurioserweise, sie sind mit Ausländern verheiratet, die offenbar in der Hackordnung niedriger rangieren. Nur zehn Prozent der Abgeordneten im japanischen Parlament sind Frauen, damit steht Japan auf Platz 121 unter 186 Ländern. Die Regierung hat mittlerweile einen Ausschuss eingesetzt, der eine Frauenquote für das Parlament erarbeiten soll.168 Anders als in Großbritannien, Deutschland oder Indien – und nach der Wahl von Park Geun-hye 2012 auch in Südkorea – hat Japan noch nie einen weiblichen Regierungschef gehabt. Das gilt allerdings auch für die Vereinigten Staaten. Aber in Japan gibt es für die Frauen weniger Rollenmodelle. Hindernisse, die es Frauen erschweren, ein Leben zu führen, das viele westliche Geschlechtsgenossinnen als vollständig empfinden – zum Beispiel die Verbindung von Mutterschaft und Beruf –, sind in Japan sehr real. Obwohl das traditionelle Beschäftigungssystem erodiert, finden sich Frauen bei Großunternehmen immer noch häufig auf Karrierewegen wieder, die ins Nichts führen. Es ist durchaus üblich, dass Frauen mit College-Abschluss als Dekoration im Büro enden, grünen Tee servieren und Gegenstand von Spekulationen sind, welcher Kollege sie wohl heiraten wird. Nur wenige berufstätige Frauen, die heiraten und Kinder bekommen, kehren an ihren alten Arbeitsplatz in ihrer bisherigen Firma zurück. Viele Unternehmen wollen die Frauen nicht mehr wiederkommen lassen, vor allem nach einer längeren Familienpause. Manche Frauen wollen auch selbst nicht mehr zurückkehren; allerdings werden solche Entscheidungen durch ausgeprägte gesellschaftliche Erwartungen verstärkt, was es heißt, eine gute Ehefrau und Mutter zu sein, ja sogar, was es heißt, glücklich zu sein. (Auf Japanisch kann der Ausdruck »glücklich sein«, shiawase ni naru, auch synonym verwendet werden für »heiraten«.) Die Erziehung von Kindern genießt in Japan vielleicht mehr Ansehen als in einigen anderen Ländern, wo man auf Frauen, denen es nicht gelingt, Job und Familie zu vereinbaren, manchmal herabblickt. Als meine Frau unseren kleinen Sohn kurzzeitig in einen japanischen Kindergarten brachte, war sie beeindruckt, dass man den Kindern beibrachte, ihren Müttern für das Pausenbrot zu danken; im Westen hielt sie so etwas für unvorstellbar. (Die Erwartung war aber, dass die Mutter und nicht der Vater das Pausenbrot zubereitet.) Trotzdem gibt es zweifellos viele Frauen in Japan, die gern arbeiten würden, aber nicht arbeiten können, weil bezahlbare Kinderbetreuungsplätze insbesondere für kleine Kinder chronisch knapp sind.
Diskriminierung ist wie Pornografie unter Umständen schwer zu definieren. Aber man erkennt sie, wenn man sie sieht. Nehmen wir nur das Beispiel der japanischen Fußballnationalmannschaft der Frauen, die Geschichte schrieb, als sie bei der Weltmeisterschaft im Sommer 2011 im Endspiel die Vereinigten Staaten schlug und Weltmeister wurde. So kurz nach dem verheerenden Tsunami versetzte der Sieg das ganze Land in einen Freudentaumel. Die Spielerinnen – die Nadeshiko, benannt nach einer rosa Blume, Inbegriff der Schönheit und Stärke der japanischen Frauen – wurden nationale Berühmtheiten. Aber als das siegreiche Nadeshiko-Team 2012 zu den Olympischen Spielen nach London flog, buchte man Economy Class für sie. Die weniger erfolgreiche Mannschaft der Männer durfte Business Class fliegen.
Die Frauen sind die am stärksten vernachlässigte Ressource Japans. In einem Land ohne Öl, Gas und wertvolle Metalle hängt der Wohlstand nahezu vollkommen vom Fleiß und dem Erfindungsreichtum seiner Menschen ab. Aber gesellschaftliche Konventionen unterdrücken das Potenzial von beinahe der Hälfte der japanischen Bevölkerung. Die japanischen Frauen sind durch gesellschaftliche Konventionen weniger eingeschränkt als die Männer durch ihre Einbindung in die Unternehmen und wirken auf Ausländer deshalb oft dynamischer, einfallsreicher und manchmal schlichtweg kompetenter als die andere Hälfte der Bevölkerung. Dass man ihre Talente so oft links liegen lässt, erscheint als eine schreckliche Verschwendung eines nationalen Potenzials, vom individuellen ganz zu schweigen.
Aber wir sollten uns hüten, nur die Oberfläche zu betrachten. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind in Japan vielschichtiger, als die karikaturhafte Darstellung vermuten lässt. Und wie für viele andere Bereiche der heutigen Gesellschaft gilt auch für die Stellung der Frau, dass sie sich ständig wandelt. Das Ende des hohen Wirtschaftswachstums und die darauffolgenden Belastungen am Arbeitsplatz und zu Hause hatten erhebliche Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Der Ökonom Richard Koo sagte, ein Vorteil der Phase mit dem starken Wachstum sei gewesen, dass die Menschen nicht allzu viel nachdenken mussten. Das Wachstum sorgte für reibungslose, wenn auch nicht wirklich moderne Beziehungen zwischen den Geschlechtern. »Die Männer konzentrierten sich auf ihre Arbeit. Jemand sorgte dafür, dass sie ein nettes Mädchen kennenlernten, das sie heiraten konnten. Die Mädchen wussten, dass der Mann einen sicheren Arbeitsplatz hatte, ein stetig steigendes Einkommen, eine hübsche Wohnung. Warum also nicht?« Mit dem Verlust dieser Sicherheit wuchsen Ängste. »Die Männer haben keine Vorstellung, wie man mit einem Mädchen in Kontakt kommt und eine Frau findet. Heute sind die Ehestifter unsicher, weil man nie wissen kann, wie es dem Mann künftig ergehen wird bei all den Umstrukturierungen in den Unternehmen, dem Stellenabbau und der Stellenverlagerung. Es gibt eine Menge Männer, die nie geübt haben, die Aufmerksamkeit von Angehörigen des anderen Geschlechts auf sich zu ziehen.« Frauen, sagte er, interessierten sich generell nicht für Männer, die als Versorger nicht infrage kämen – ein Grund, warum sie immer später heirateten. Die relative Machtverschiebung habe sogar eine neue Einstellung zu Männlichkeit und Weiblichkeit entstehen lassen. Die Japaner, die immer neue Begriffe erfinden, um die sich wandelnden gesellschaftlichen Muster zu beschreiben, sprechen inzwischen von »Gras essenden« Männern, die sich nicht für Sex interessieren, und »Fleisch essenden« Frauen, die wissen, was sie wollen und wie sie es bekommen. Tokyo Island war anscheinend nicht nur Fiktion.
***
Noriko Hama, Professorin für Wirtschaft an der Doshisha-Universität in Kioto, passt nicht in das Klischee der zurückhaltenden japanischen Frau. Sie hat entschiedene Meinungen zu fast allem, die sie häufig mit triefendem Sarkasmus in dem englischen Upper-Class-Akzent äußert, den sie sich angewöhnt hat, als sie in England aufwuchs. Sie hat eine Vorliebe für grelle Haarfarben, gerne Lila, und Kleider, die nach meiner Einschätzung Designerstücke sind, aber in einer Weise kombiniert, als hätte sie wahllos etwas aus dem Kleiderschrank geholt. Wir kennen uns seit vielen Jahren. Hama glaubte nie daran, dass die japanischen Frauen neben den Männern die zweite Geige spielen. In vielen wichtigen Belangen hätten sie in Japan seit Jahrhunderten den Kurs vorgegeben. Der erste japanische Roman, tatsächlich der erste Roman der Welt, Die Geschichte vom Prinzen Genji, wurde zu Beginn des elften Jahrhunderts von der Hofdame Murasaki Shikibu geschrieben. Frauen waren oft die treibenden Kräfte hinter den öffentlichen Personen und hatten zu Hause das Sagen. »Die Frauen hatten immer die Kontrolle über die Haushaltskasse und waren dafür verantwortlich, dass alles glatt lief. Die japanischen Männer haben sich ganz und gar auf die Frauen verlassen, sie wussten nicht, wo was zu finden war, wie sie sich anzuziehen hatten. Ohne Frauen hätten sie nackt herumlaufen müssen.« An dieser Stelle warf sie mir einen Blick zu, der eine Mischung aus Verachtung und Sorge ausdrückte. »Die japanischen Frauen waren hinter dem seidenen Wandschirm immer auf Abstand. Das hatte nichts mit der Vorstellung zu tun, dass Frauen eine besonders beschützte, verhätschelte Spezies sind, die wie Götter auf ein Podest gestellt wurden, wie es in der europäischen Kultur im Mittelalter oder in der viktorianischen Zeit der Fall war. Frauen galten vielmehr als das härtere Geschlecht, das unermüdlich arbeitete, körperlich und geistig, und alles übernahm, was nur im Entferntesten schwierig war oder die männliche Intelligenz belastet hätte.« Ein weiterer verächtlicher Blick traf mich. Was sie sagte, erinnerte mich an die Worte einer bekannten ehemaligen Geisha, die die »Ladies first«-Kultur im Westen als sexistisch bezeichnet hatte.169
Die Frauen waren die treibende Kraft hinter Japans früher Industrialisierung nach der Meiji-Restauration. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts waren 60 Prozent aller Industriearbeiter und 80 Prozent der Arbeiter in der höchst wichtigen Textilindustrie Frauen. Sie bildeten, wie eine Historikerin es ausgedrückt hat, »das Rückgrat der industriellen Revolution in Japan«.170 Heute sei, so Hama weiter, durch die Veränderung der gesellschaftlichen Einstellungen, durch neue ökonomische Impulse und durch neue Gesetze – zum Beispiel die Gesetze zur Chancengleichheit aus dem Jahr 1986 – die Situation eine andere. »Geändert hat sich, dass die Gesellschaft heute aufgeschlossener für die Frauen ist. Der Platz hinter dem seidenen Wandschirm war sehr bequem. Die Frauen mussten nicht hervorkommen und sich öffentlich behaupten. Nun ist die Bühne für die Frauen frei, und sie spüren langsam, dass es ihnen schadet, wenn sie hinter verschlossenen Türen bleiben. Sie merken allmählich, dass sie sagen müssen, was sie wollen und was sie denken, dass sie ihre Positionen klar formulieren müssen.« Das erfordere ein Umdenken bei beiden Geschlechtern. »Früher hielt man es für den Vorzug und das Talent japanischer Frauen, dass sie alles geschehen ließen, ohne ein Wort zu sagen. Aber das reicht heute nicht mehr. Sie müssen lauter werden.«
Hama sagte, viele Frauen stimmten Kirino darin zu, dass Männer und Frauen sich auf unterschiedlichen Gleisen bewegten. Seit der Einführung von Waggons nur für weibliche Passagiere fahren sie sogar manchmal in der U-Bahn getrennt, um das Überhandnehmen von Begrapschen und überhaupt Sittenstrolche in den vollen Zügen während der Stoßzeiten zu bekämpfen. »Aber ich denke, dass das ein Mythos ist. In gewisser Weise ist es für beide Seiten bequem. Wenn man auf unterschiedlichen Gleisen unterwegs ist, kreuzen sich die Wege nicht, und alles hat seinen Platz. Aber in der Realität sind die Dinge nicht so einfach. Wenn wir bei diesen Denkmustern bleiben, ist nicht viel Raum für Veränderung und Fortschritt. Ich möchte die japanische Gesellschaft nicht auf diese Weise in Schubladen einteilen. Es ist nicht einmal ein besonderes Problem für die Männer. Sie sagen einfach: ›Ach ja. Wir sind die Bösewichte in dem Stück. Wie schrecklich.‹ Aber sie fühlen sich nicht herausgefordert, ihre eigenen Ideen zu äußern, wie die Dinge sind und was sie tun sollten. Sie sind aus dem Schneider.«
***
Japanische Frauen rebellieren sehr wirkungsvoll. Ihre vielleicht subversivste Tat ist es, erst spät zu heiraten. Das hat direkt zu der niedrigen Geburtenrate beigetragen, die nach Ansicht mancher Kommentatoren eine Gefahr für die Zukunft der Nation darstellt. Die Frauen sind praktisch im Streik, obwohl ihre Teilnahme am Arbeitsleben als Folge der späteren Eheschließung zugenommen hat. Aber sie weigern sich, den traditionellen Rollen zu entsprechen, die man ihnen zuschreibt: der Rolle der Ehefrau und Mutter. Bis vor sehr kurzer Zeit nannte man Frauen, die mit 25 noch nicht verheiratet waren, abschätzig »Weihnachtskuchen« – etwas, das nach dem 25. Dezember sehr schnell an Wert verliert. Mittlerweile, so heißt es, hätten die Frauen den Spieß umgedreht; sie suchten sich Partner, die finanziell abgesichert seien, sie emotional unterstützten und bereit seien, im Haushalt mitzuhelfen.
Machiko Osawa, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin, sagte, die Männer hätten gegenüber den Frauen an Boden verloren. »Früher war das Leben für die Männer in Japan herrlich. Jetzt sind sie enttäuscht«, erzählte sie mir beim Mittagessen in einem Lokal gegenüber dem Hauptbahnhof von Tokio, einem riesigen Backsteinbau. Früher hätten die Frauen noch die unattraktivsten Männer umschwärmt, wenn sie nur ordentliche Jobs hatten, heute seien sie viel wählerischer. Die immer zahlreicheren Männer mit einer Teilzeitanstellung fänden praktisch keine Partnerinnen. »Statt auf die Idee zu kommen, dass sie etwas tun müssen, um für eine Frau attraktiv zu werden, haben manche Männer einfach aufgegeben«, sagte sie.
2008 steuerte ein 26-jähriger Mann einen Zwei-Tonnen-Lkw in eine Menschenmenge in Akihabara Electric Town, einem Stadtviertel von Tokio vollgestopft mit all dem Schnickschnack, der auf sozial gehemmte Nerds, Otaku auf Japanisch, so anziehend wirkt. Dann sprang der Mann aus dem Fahrzeug und stach wild auf Passanten ein. Sieben Personen wurden getötet, etliche verletzt. Osawa sagte, der Vorfall sei symptomatisch für die wachsenden Ohnmachtsgefühle vieler Männer. Vor dem Angriff hatte der junge Mann von seinem Mobiltelefon aus Postings ins Internet gestellt, in denen er darüber klagte, er sei zu hässlich, um eine Freundin zu finden. »Früher brauchten Frauen einen Mann für ihren Lebensunterhalt. Heute ist das nicht mehr der Fall, und die Männer müssen attraktiv sein, damit sie eine Frau bekommen.« Für viele jüngere Japaner bedeute die Verschiebung der Machtverhältnisse bessere, gleichberechtigtere Beziehungen. Viele Ehepaare über 50 hätten keineswegs ideale Arrangements. »Der Ehemann spielt den Geldverdiener und die Frau die Mutter. Von einer echten Partnerschaft ist das sehr weit entfernt.«
Yayoi Kusama, eine Künstlerin, die durch ihre »Polka Dots«, farbige Punkte auf Leinwänden, Skulpturen und Menschen, berühmt wurde, hatte für die traditionelle Ehe ebenfalls nichts übrig. In ihrer Autobiografie erzählt sie von ihrem Vater, der nach dem Krieg, als sie ein Kind war, ständig Affären mit Geishas hatte: »Die Männer praktizierten hemmungslos freien Sex, während die Frauen im Hintergrund saßen und es hinzunehmen hatten. Schon als Kind hat mich diese Ungerechtigkeit geärgert und abgestoßen.«171 Kusama fühlte sich in der japanischen Gesellschaft der 1960er-Jahre so eingeschränkt, dass sie nach New York floh. An einem bestimmten Punkt in ihrer Karriere fing sie an, Möbelstücke mit Hunderten von Phallussen zu dekorieren, die sie selbst genäht hatte. Auf diese Weise habe sie, wie sie erklärt, ihre Abneigung gegen das männliche Geschlechtsorgan »auslöschen« wollen. Ein Foto zeigt sie nackt, mit dem Rücken zur Kamera, vor einem mit Penissen bedeckten Ruderboot. Sie nannte die Installation »Aggregation, 1000 Boat Show«.
Die alten Einstellungen sind keineswegs verschwunden. 2003 organisierten Mitglieder des »Super Free«-Klubs der Waseda-Universität Gruppenvergewaltigungen weiblicher Studentinnen, die sie zu Technopartys eingeladen und betrunken gemacht hatten. Im Parlament löste ein Abgeordneter Heiterkeit aus mit der Bemerkung »Gruppenvergewaltiger sind wenigstens noch richtige Männer«.172 Nach dem Vorfall gab es jedoch einen öffentlichen Aufschrei und Kritik an einem Rechtssystem, das für Vergewaltigung eine Mindeststrafe von zwei Jahren vorsieht und für Raub fünf Jahre. Shinichiro Wada, der Präsident des Klubs und Anführer der Vergewaltiger, wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt, nicht weit von der Höchststrafe von 15 Jahren entfernt.173 Trotzdem fällt es den Politikern manchmal immer noch schwer, ihre steinzeitlichen Ansichten zu verbergen. Hakuo Yanagisawa, der über 70-jährige Gesundheitsminister, bezeichnete Frauen zwischen 15 und 50 als »Gebärmaschinen« – und fehlerhafte noch dazu. Unter Druck entschuldigte er sich später für seine Bemerkung und korrigierte, eigentlich habe er sagen wollen: »Frauen, deren Aufgabe es ist, Kinder zu gebären«.174
Veränderte wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedingungen bedeuten, dass immer mehr Frauen nicht länger »im Hintergrund sitzen und es hinnehmen« müssen. Weil die Frauen wählerischer geworden sind, hat sich der Anteil derjenigen, die bis über 30 alleinstehend bleiben, seit den 1980er-Jahren fast verdoppelt. Viele der »parasitären Singles«, von denen Masahiro Yamada sprach, sind Frauen über 20, 30 oder 40, die bei ihren Eltern leben und ihr Einkommen für Luxusgüter ausgeben, in Restaurants essen und ins Ausland reisen. Yamada schmähte sie als »Fantastinnen«, die auf einen unerreichbaren Märchenprinzen warteten. Tatsächlich sind nur vier Prozent der Frauen über 45 unverheiratet, halb so viele wie in den Vereinigten Staaten. Man könnte das Verhalten der Frauen ohne Weiteres als Weigerung interpretieren, sich gesellschaftlichem Druck zu beugen und um jeden Preis zu heiraten.
Eine andere Möglichkeit, wie Frauen ihre Unabhängigkeit bekunden, ist die Scheidung. Die Scheidungsrate hat sich seit den 1990er-Jahren fast verdoppelt, mittlerweile endet jede vierte Ehe mit einer Trennung.175 Das ist der gleiche Trend wie in Europa, aber immer noch werden nur halb so viele Ehen geschieden wie in den Vereinigten Staaten.176 Untersuchungen zeigen, dass die Initiative oft von den Japanerinnen ausgeht und dass sie es nach der Scheidung im Gegensatz zu den Männern nicht eilig haben, wieder zu heiraten. 2003 wurde ein Gesetz verabschiedet, wonach Frauen rückwirkend ausstehende Unterhaltszahlungen einklagen können. Seit 2007 haben Frauen, die die Scheidung einreichen, Anspruch auf bis zur Hälfte der Rentenanwartschaften ihres Mannes.177 2001 wurde das Gesetz gegen häusliche Gewalt verabschiedet, was deutlich machte, dass Gewalt in der Ehe nicht länger als eine Familienangelegenheit behandelt wird. Ein Gesetz zur Vorbeugung von ehelicher Gewalt erlaubt Bezirksgerichten, gegen Gewalttäter ein bis zu sechsmonatiges Kontaktverbot zu verhängen und sie für begrenzte Zeit aus der Familienwohnung zu verweisen.
Bei den Frauen zwischen 45 und 64 ist die Scheidungsrate von 1960 bis 2005 um das 15-Fache gestiegen. Seit 1985 hat sich die Zahl der Scheidungen von Ehepaaren, die länger als 30 Jahre verheiratet sind, vervierfacht. Das lässt vermuten, dass Frauen, die durch rechtliche und gesellschaftliche Normen in einer unglücklichen Ehe gefangen waren, inzwischen Mittel und Wege finden, sich daraus zu befreien. Viele Scheidungen erfolgen, nachdem der Ehemann in den Ruhestand gegangen ist und die Frau feststellt, dass sie es mit ihrem Mann, der bisher immer abwesend war, nicht unter einem Dach aushält. Mit einer Formulierung, die zum Ausdruck bringt, dass Frauen nicht die still leidenden Mauerblümchen sind, als die sie manchmal dargestellt werden, werden Ehemänner im Ruhestand manchmal als Sodai Gomi bezeichnet, »Sperrmüll«, wie die ausrangierten Geräte, die zur Abfuhr hinausgestellt werden. Diese Phrase kann unter Umständen aber auch liebevoll gemeint sein.
Natürlich lassen sich auch junge Leute scheiden. »Narita-Scheidung«, benannt nach dem internationalen Flughafen, bezeichnet das Phänomen, dass manche Ehen die Flitterwochen nicht überdauern. Der Begriff wird auch verwendet, wenn weltoffene, selbstbewusste Frauen erleben, dass ihre einsprachigen, engstirnigen Ehemänner außerhalb von Japan nicht zurechtkommen. Immer mehr Frauen heiraten Ausländer. Pico Iyer, ein in Großbritannien geborener Essayist, der eine Japanerin geheiratet hat, sagte einmal zu mir: »Die Frauen können nur gewinnen, wenn sie Japan verlassen. Die Männer hängen in jeder Hinsicht am Status quo.«178
Die Auflösung der Familienstrukturen mag wachsendes Durchsetzungsvermögen der Frauen widerspiegeln, aber sie bringt auch Probleme mit sich. Entgegen der allgemeinen Auffassung, Japan sei ein Wohlfahrtsstaat, der sich von der Wiege bis zur Bahre um seine verhätschelten Bürger kümmere, ist das soziale Netz in Japan unterentwickelt. Für die Pflege sind traditionell die Familien zuständig, aber wegen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen sind die Familien immer weniger in der Lage, diese Aufgabe zu erfüllen. Durch Scheidungen werden immer mehr Frauen zu schlecht bezahlten Tätigkeiten gezwungen, sie vermehren die Zahl der »working poor« und der Alleinerziehenden, die kaum über die Runden kommen. Nach Angaben der UNESCO ist die Zahl armer Kinder in Japan 2012 auf 14,9 Prozent gestiegen, das ist weniger als in den Vereinigten Staaten, aber der neunthöchste Wert unter den 34 OECD-Staaten. Geschiedene Frauen machen einen überdurchschnittlich hohen Teil des 20 Millionen Menschen umfassenden »Prekariats« aus – des »prekären Proletariats« ohne Vollzeitanstellung.179 Die Hälfte der berufstätigen Frauen steckt in schlecht bezahlten Teilzeitjobs fest.180 Der Anteil der alleinerziehenden Mütter in Japan, die arbeiten, ist so hoch wie nirgendwo sonst in der industrialisierten Welt, ein Indiz, das die staatliche Unterstützung geringer ist – und mutmaßlich die Arbeitsethik ausgeprägter – als in anderen entwickelten Ländern.181 Die Erosion des alten Modells mit seinen Gewissheiten – einer lebenslangen Anstellung für den Mann und einem lebenslangen Hausfrauendasein für die Frau – hat die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in Bewegung gebracht. Aber Kirino war weniger optimistisch als manche andere, was die Vorteile dieses »großen gesellschaftlichen Stühlerückens«, wie sie es nannte, anging. Veränderungen in der Arbeitswelt könnten zwar für eine kleine Elite gut ausgebildeter Frauen mehr Chancen eröffnen. Aber für die Mehrheit bedeute ein »flexiblerer« Arbeitsmarkt Jobs in der Sackgasse mit Hungerlöhnen, so wie für die Frauen in ihrer fiktiven Lunchpaketfabrik.
Ich hielt Kirino entgegen, dass die Japanerinnen, zumindest die privilegierteren unter ihnen, sich durch gesellschaftliche Normen nicht mehr so einengen ließen, weltoffener seien, interessanter und mutiger. Mehr Frauen als Männer sprechen Englisch und sind schon einmal ins Ausland gereist. Wie Hama sagte, ist es immer noch üblich, dass ein Mann seiner Ehefrau den Gehaltsscheck aushändigt, die ihm, wenn er Glück hat, ein kleines »Taschengeld« gewährt. Offensichtlich haben die Frauen auch mehr Spaß im Leben. Ich erinnerte mich, dass ich einmal in Tokio mit einem leitenden Angestellten von Chanel im Château Joël Robuchon gespeist hatte, einem teuren französischen Restaurant. Von uns beiden abgesehen, waren alle anderen Gäste Frauen, ausnahmslos elegant gekleidet, und ganz selbstverständlich arbeiteten sie sich durch die Gänge von amuse bouche bis zu petits fours. Viele tranken Wein oder Champagner. Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie ihre überarbeiteten Ehemänner an mit Papieren überhäuften Tischen aufgewärmtes Schweinekotelett in sich hineinschaufelten. »Ich kann nicht eindeutig sagen, dass japanische Frauen unterdrückt werden oder nicht unterdrückt werden«, erwiderte Kirino, nachdem sie über meine Worte nachgedacht hatte. »Im Verborgenen hatten die Japanerinnen immer Macht, das stimmt. Und alle japanischen Männer leiden an Mazacon«, fügte sie hinzu und wählte die Kurzform von »Mutterkomplex«, um die obsessive Hingabe zu bezeichnen, die japanische Männer angeblich mit ihren Müttern verbindet. »Deshalb sind Japanerinnen scheinbar stark ... Sie haben von der Haushaltskasse gesprochen. Die Regelung bedeutet auch, dass die Männer sich keine Gedanken darüber machen müssen, wie man Geld spart. Mit solchen Sorgen haben sie nichts zu tun. Wenn man erst einmal verheiratet ist, geht es nicht mehr um Mann und Frau, sondern um Mann und Mutter. Nach der Heirat können Frauen Spaß haben. Das haben sie in dem französischen Restaurant gesehen.«
***
Kaori Nakahara182, eine berufstätige Frau Mitte 20, war privilegierter als die meisten anderen. Mit einem Abschluss von Hitotsubashi, einer der angesehensten japanischen Universitäten, trat sie als Führungsnachwuchs in eine große Bank ein. Aber ihren hohen Status erlebte sie weniger als einen Vorteil, sondern eher als ein Hindernis für die Eheschließung. »Viele japanische Männer hassen es, wenn die Frau erfolgreicher ist oder einen höheren Titel hat«, sagte sie. »Die jungen Karrierefrauen haben allesamt Schwierigkeiten, Freunde und potenzielle Ehepartner zu finden.« (Japanische Männer erzählten mir Ähnliches. Einer sagte: »Es gibt eine Vorliebe für Frauen des traditionellen Typs. Männer sind heutzutage nicht sehr selbstsicher, deshalb halten sie sich an Frauen, die kleiner sind als sie, die weniger verdienen und nicht so fähig sind wie sie. Für Überfliegerinnen ist der Markt nicht groß.«)
Nakahara sagte, am Arbeitsplatz spüre sie keine Diskriminierung. In manchen Situationen sei der Seltenheitsfaktor – in ihrem Jahrgang gab es in der Bank viermal so viele Männer als Nachwuchsführungskräfte wie Frauen – sogar ein Vorteil. Sie wurde manchmal zu Meetings eingeladen, an denen sie normalerweise nicht hätte teilnehmen können, einfach weil man es für besser hielt, auch ein paar Frauen dabeizuhaben. Aber etwas Sexismus erlebte sie trotzdem. Eine Freundin wurde einmal ermahnt, weil sie in einem Meeting eine sachliche Frage gestellt hatte. »Für eine Frau sprechen Sie sehr viel«, sagte ihr Chef anschließend zu ihr. Das hieß, dass es ungehörig war, einen älteren männlichen Angestellten öffentlich in Erklärungsnot zu bringen. Die wichtigste Rolle vieler Frauen im Büro sei es immer noch, gut auszusehen und unterwürfig zu sein. Die Empfangsschalter in vielen Bürogebäuden und Warenhäusern sind mit attraktiven Frauen besetzt, die wie Puppen aussehen und denen man antrainiert hat, mit unnatürlich hoher Stimme zu sprechen und sich jedem Besucher unverzüglich aufmerksam zuzuwenden. Puppenhafte Koketterie gilt allgemein als ein attraktiver Zug bei japanischen Frauen. »Sie bringen einfach nur Besucher nach oben in den Besprechungsraum, schauen hübsch aus und verbeugen sich, wenn jemand hereinkommt«, beschrieb Nakahara solche Frauen. »Sie können sich perfekt verbeugen. Wahrscheinlich hat man ihnen das beigebracht, als sie eingestellt wurden.«
Und dann ist da noch die Geselligkeit. Frauen sind generell willkommen, wenn die Kollegen nach der Arbeit ausgehen. Aber der Abend nach dem Büro endet oft mit niji kai, Trinken nach der Party, oder sanji kai, Trinken nach dem Trinken nach der Party. Je länger der Abend dauert, desto anzüglicher werden die Gespräche, und die Frauen klinken sich aus. Die Männer ziehen allein weiter in Animierbars und »Soapland«-Massagesalons. Manche Frauen finden, dass diese Tradition ihre Aufstiegschancen beeinträchtigt, weil sie den interessanten Firmenklatsch verpassen, der nach einem gemeinsamen Abend mit viel Alkohol sprudelt. Kumiko Shimotsubo, die Personalberaterin, die die traditionelle Straße zum Erfolg verpasst hat, nannte solche Unternehmungen »Nomunikation«, zusammengesetzt aus »Kommunikation« und nomu, dem japanischen Wort für trinken.
Nakahara erzählte die Geschichte eines jungen Bankangestellten. »Eines Tages lud sein Chef ihn ein. Er sagte ihm vorher nur, sie würden an einen Ort gehen, wo es Mädchen gebe. Jedenfalls gingen sie hin, und gleich nach der Begrüßung mussten sie die Hosen ausziehen, auch die Unterhosen und alles.« Dann wurden die beiden Männer, von der Taille aufwärts im Business-Outfit, in die exakte Nachbildung eines U-Bahn-Waggons komplimentiert. Dort gab es sogar Haltegriffe wie in den Abteilen, um die Illusion perfekt zu machen. Der junge Berufsanfänger und sein älterer Chef saßen einander gegenüber. »Dann kamen diese Mädchen in Schuluniformen und fassten sie eine Stunde lang an«, erzählte Nakahara. Am unangenehmsten war, sagte ihr Kollege ihr später, dass er die ganze Zeit zwischen den Beinen seines Chefs saß, der unterhalb der Taille nackt war. »Und die ganze Zeit«, jetzt brach Nakahara in Lachen aus, »lächelte sein Chef ihn an.«
Viele Japanerinnen verharmlosen solche Arten der Freizeitgestaltung. Es ist durchaus üblich, dass ganze Familien mit ihren kleinen Kindern in den neonerleuchteten Rotlichtbezirken spazieren gehen, die es in jeder größeren oder kleineren Stadt gibt. Viele junge Frauen, die dort arbeiten, sind nicht verzweifelt arm, sondern Studentinnen, die sich etwas dazuverdienen wollen. Kirino sagte, bei solchen Dingen bestünden in Japan weniger Tabus als in den Vereinigten Staaten. Aber anders als manche, die die Amerikaner für zu puritanisch hielten, war sie über die Situation in Japan ganz und gar nicht glücklich. »Die Art und Weise, wie die Sexindustrie in Japan funktioniert, regt mich wirklich auf, vor allem wenn junge Mädchen ausgebeutet werden. Manche Leute sagen: ›Aber nein. Sie arbeiten gern in dieser Branche.‹ Wenn ich das höre, bricht es mir das Herz. Die Existenz von Animierbars ist ein Grund, warum Männer und Frauen in Japan nicht miteinander zurechtkommen. Sehen Sie, es gibt Frauen, die Männern zu Diensten sind, ihnen Drinks eingießen, ihnen Zigaretten anzünden. Und zu Hause kümmern sich die Ehefrauen um die Bedürfnisse ihrer Männer. Das ist eine Aufspaltung der Rollen, man ist nett zu Männern in zwei unterschiedlichen Situationen. Und die Männer glauben, solange sie zahlen, wird man ihnen an solchen Orten zu Diensten sein. Und zu Hause bekommen sie diese Dienste von ihren Frauen. Japan ist wirklich ein Paradies für Männer.«