Sie sah aus wie jede andere japanische Provinzstadt. Es gab einen Shiga Hair Salon mit einem rot-weiß-blauen Barber’s Pole, in dem Haarschnitte und »Glätteisenwellen« angeboten wurden. Nebenan gab es den Watanabe Cake Shop, der seit 1990 in einem zweistöckigen nachgeahmten Fachwerkhaus residierte. Am Eingang des nahe gelegenen Jokokuji-Tempels stand ein kleiner Granit-Buddha mit einem ausgeblichenen pinken Zeremonienschal um den Hals. Koreanische Popmusik quoll aus unsichtbaren Lautsprechern und brach die erdrückende Stille. Das Einzige, das in der Stadt Odaka etwa 15 Kilometer nördlich des Fukushima-Daiichi-Atomreaktors fehlte, waren Menschen.
Odaka wurde evakuiert, nachdem tags zuvor, am 11. März, ein Tsunami die schlimmste Nuklearkatastrophe seit Tschernobyl hervorgerufen hatte. Im allgemeinen Chaos hatte man alle 12800 Bewohner angewiesen, die Stadt zu verlassen. Sie gehörten damit zu den 150000 Menschen, die im Zuge der Dreifachkatastrophe aus dem Umkreis des Reaktors evakuiert wurden. In einer der weltweit am besten geordneten Gesellschaften verliefen die Maßnahmen derart planlos, dass viele Menschen ihr Zuhause verließen, ohne zu wissen, dass es zu einem Atomunfall gekommen war. Manche flohen allein mit den Kleidern, die sie am Leib trugen. Sie ließen Wertgegenstände, Krankenakten und auch ihre Haustiere zurück, deren Mitnahme ihnen verboten war. »Wir wussten nicht, dass es eine Wasserstoffexplosion im Reaktor gegeben hatte, also konnten wir auch nicht ahnen, dass wir evakuiert würden«, berichtete später ein Bewohner Odakas vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss.1
Nach der gewaltigen Explosion am Nachmittag des 12. März, welche die Stahl- und Betonkonstruktion des Reaktors sprengte, zum Glück aber den Reaktorkern intakt ließ, wurde der Evakuationsradius auf 20 Kilometer verdoppelt. In den darauffolgenden Tagen sagte man den Menschen außerhalb der Sperrzone, sie sollten sich aus Sicherheitsgründen nur drinnen aufhalten. Manche müssen sich gefragt haben, wie sicher die Situation tatsächlich war, da amerikanische Soldaten an Bord der USS Ronald Reagan aus Angst vor Strahlung 320 Kilometer vom Unglücksort zurückwichen.
Odaka ist seit der Evakuierung eine Geisterstadt. Beinahe alle Bewohner haben die Stadt verlassen, obgleich manche sich dem offiziellen Befehl widersetzten und meinten, sie würden lieber verstrahlt werden, als in einer vergammelten Turnhalle oder überfüllten Notunterkunft zu wohnen. Einige Familien schlichen sich zurück in die Stadt, um nach ihren Häusern und allein gelassenen Haustieren zu sehen. Monatelang sollen verdreckte Hundemeuten auf der Suche nach Futter durch die Straßen gezogen sein. Als ich Odaka 2012, ein Jahr nach dem Tsunami, besuchte, fiel mir der Wildwuchs am Rand der Straße auf. Jetzt erst wurde mir bewusst, wie gepflegt Japan ansonsten ist. Im Schaufenster eines Autoteilehandels waren Gras und Sträucher aus Rissen im Boden gesprossen. Das Baseballfeld einer Schule war überwuchert, und ein Hochleitungskabel sackte unter dem Gewicht Dutzender nachtschwarzer Krähen zusammen, die dort hockend in die drückende Sommerluft krächzten. (Jemand aus einer weiter nördlich gelegenen Küstenstadt hatte mir erzählt, dass sich wenige Tage vor dem Erdbeben unzählige Krähen versammelt hatten. Bei Beginn des Erdbebens, jedoch noch vor Eintreffen des Tsunamis, waren die Krähen auf Nimmerwiedersehen verschwunden.) In manchen Seitenstraßen Odakas waren Häuser unter dem Druck des Erdbebens zusammengebrochen, und ihre Ziegel lagen zerschlagen am Boden wie ein Haufen Knochen. Da es mehr als drei Kilometer von der Küste entfernt liegt, konnte Odaka der vollen Wucht des Tsunamis entgehen. Doch selbst hier gab es Anzeichen von Wasserschäden.
Die »Todeszone« rund um das Atomkraftwerk hatte etwas Surreales. Freiwillige hatten reihenweise Sonnenblumen gepflanzt, da Wissenschaftler die Hoffnung geäußert hatten, die Pflanzen könnten radioaktive Partikel aus der Erde filtern. Kurz vor einer Straßensperre, die von schwitzenden Polizisten in schweren blauen Uniformen bewacht wurde, stand ein einsamer Getränkeautomat – so wie er an jeder Straßenecke in Japans Konsummärchenwelt stehen könnte. Hinter der Scheibe sah man heiße Getränke in kleinen Plastikflaschen, Tüten oder Dosen aufgereiht: Kaffee, Espresso und mehrere Sorten grüner Tee. Auch kalte Getränke gab es: Cola, Mineralwasser, Fanta, Sportgetränke. Die Maschine stand kurz vor dem Sperrgebiet, also im angeblich »sicheren« Japan. Doch bis zum »kontaminierten Japan«, wo die Strahlung zu hoch war, als dass sich dort Menschen aufhalten dürften, waren es nur ein paar Schritte. Wer würde ein Getränk aus einem Automaten ziehen, der im Schatten Fukushimas stand? Im Moment war das Getränkeangebot wohl überflüssig. Die Firma, die ihn unterhielt, hatte ein schlichtes weißes Schild an der Scheibe angebracht: »Derzeit kein Verkauf.«
Die Dorfgemeinde Iitate lag ebenfalls außerhalb der Sperrzone. Dennoch wurde das Gebiet als »Hotspot« bezeichnet, an dem sich Radioaktivität wie ein unsichtbarer Nebel in hohen Dosen niederschlug. Obwohl Iitate 40 Kilometer von Fukushimas Atomreaktor entfernt lag, gehörte Iitate zu den sechs Orten, an denen Spuren von Plutonium im Boden nachgewiesen wurden. Nun war hier beinahe alles verlassen – bis auf die Männer in orangefarbenen Jacken, die durch die leeren Häuser patrouillierten. Die Welt war zu Recht beeindruckt von der Ordnung und Disziplin, die japanische Bürger nach der Tsunami-Katastrophe zeigten. Wie erstaunte Reporter ausländischer Medien meldeten, gab es keinerlei Berichte über Plünderungen. Man war nicht in New Orleans. Dennoch gab es einzelne Fälle von Kriminalität. Ein Japaner, der wenige Kilometer vom Atomreaktor entfernt gewohnt hatte, erzählte Beamten: »Es war immer eine Enttäuschung, wenn wir kurz nach Hause durften und dann feststellen mussten, dass wir wieder bestohlen worden waren.«2
Die Lichter im Altenheim von Iitate brannten noch. Als man den Ort evakuierte, kamen die Behörden zu dem Entschluss, dass eine Evakuation für die älteren Bewohner zu traumatisch wäre. Zudem würden diese Menschen mit aller Wahrscheinlichkeit sterben, bevor sich bei ihnen Auswirkungen einer Strahlenvergiftung zeigen würden. Die Jungen flohen aus Iitate, die Alten standen Schlange, um hineingelassen zu werden. Die Plätze in japanischen Seniorenheimen sind so knapp, dass sich nun an die 100 ältere Menschen meldeten, die hofften, in die Einrichtung in Iitate einziehen zu können. Anders als die jungen Leute und Familien waren sie gewillt, die ihnen verbleibenden Jahre in der unheimlichen Stille der Todeszone zu verbringen.
In den vergangenen Monaten hatten Männer in futuristischen Schutzanzügen die oberen Erdschichten aus den Gärten gekratzt und Wände mit Hochdruckreinigern abgespritzt. Man versuchte, das Gebiet strahlungsfrei zu machen. Auf einem Feld wurden dicke Plastiksäcke voller Erde gestapelt, die jeweils unterschiedliche kleine Etiketten bekamen: 4,5 µSv/h, 7,32 µSv/h, 7,67 µSv/h. Die rätselhaften Beschriftungen gaben an, wie viel Mikrosievert der Boden noch abstrahlte. Die großen Säcke trugen die Aufschrift: Kari Okiba, das heißt »vorläufiges Zwischenlager«. Die provisorischen Stapel waren keine permanente Lösung. Einheimische bezweifelten, dass man durch das ganze Abspritzen, Abkratzen und Verpacken etwas erreichen könne. Mit jedem neuen Regen schossen die Messwerte wieder in die Höhe, da frische kontaminierte Partikel aus den umliegenden Hügeln gewaschen wurden. Eine Frau, die tagsüber im Altenheim von Iitate arbeitete, pendelte nun aus einem viele Kilometer entfernten Ort dorthin. Auf die Frage, ob sie eines Tages ihre kleinen Kinder zurückbringen würde, schüttelte sie langsam den Kopf.
Nach meinen eigenen Beobachtungen schienen die Strahlungswerte tatsächlich gefallen zu sein. Als ich im Sommer 2011 in Iitate gewesen war, hatte mein Geigerzähler quasi verrückt gespielt und alle 20 Sekunden Warnsignale ausgestoßen. Jetzt, im März 2012, blieb er nahezu ruhig. Auf meiner Reise im vorherigen Sommer war ich auf einer verlassenen Straße Yosuke Saito begegnet, einem 34-jährigen Mitarbeiter eines Fuhrunternehmens. Wir waren beide erschrocken, auf einen anderen Menschen zu treffen. An dem Tag wurde das Obon gefeiert, ein Fest zur Ehrung der Seelen der verstorbenen Ahnen. Saito kam eben aus seinem verlassenen Haus zurück, wo er Weihrauch für seine Ahnen entzündet hatte. So blieben also nur die Alten und die Geister der Toten in Iitate.
***
Die Dreifachkatastrophe in Fukushima war der schlimmste Atomunfall innerhalb eines Vierteljahrhunderts. Wie die Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 erreichte sie Stufe sieben, die höchste Stufe der internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse. Die partielle Kernschmelze in dem Atomkraftwerk Three Mile Island in Pennsylvania im Jahr 1979 wurde mit fünf bewertet. Die Katastrophe von Fukushima, eine ausgedehnte Anlage mit sechs an der Küste liegenden Nuklearreaktoren, hatte weltweit Auswirkungen. Sie erschütterte den Glauben an die Sicherheit oder gar die Berechtigung von Atomenergie. In den Wochen nach dem Unfall kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel an, Deutschland werde innerhalb eines Jahrzehnts aus der Atomenergie aussteigen.3 Das japanische Establishment hatte wirtschaftlichen Reichtum an Atomenergie geknüpft, obwohl Japan als einziges Land die nukleare Zerstörung erlebt hatte. Nun bekam der lange gewahrte Konsens Risse.
Der Unfall offenbarte schlagartig – und das ist buchstäblich zu verstehen – einige der schlimmsten Merkmale des »alten Japan« mit seiner elitären bürokratischen Kultur. Diese Kultur hatte Japan in den Nachkriegsjahren gute Dienste geleistet, als es darum ging, wirtschaftlich aufzuholen. Doch sie offenbarte nun tiefe Brüche. Laut einer vernichtenden parlamentarischen Untersuchung war Fukushima keine Naturkatastrophe, sondern ein »allein menschengemachter« Unfall und das Ergebnis »bewusster Achtlosigkeit«. Die Untersuchung wurde von dem Mediziner und ehemaligen Präsidenten des japanischen Wissenschaftsrats Kiyoshi Kurokawa geleitet und fand heraus, dass sämtliche Kontrollinstanzen, die Regierung und der Betreiber des Atomkraftwerks das »Anrecht der Nation auf die Verhinderung nuklearer Unfälle« betrogen hatte. Diese Version der Geschehnisse unterschied sich beträchtlich von jener der Tokyo Electric Power Company (Tepco), der privaten Betreiberfirma von Fukushima. Sie schrieb die Katastrophe allein dem Jahrhundertnaturereignis zu, nämlich einem nicht vorhersehbaren Tsunami von gewaltiger Stärke, dem nichts entgegenzusetzen war.
Dem widersprach der parlamentarische Ausschuss deutlich. Der Unfall sei vorhersehbar gewesen, schloss der 641 Seiten starke Bericht. Es gab hinreichend Beweise dafür, dass schon früher Tsunamis ähnlicher Stärke auf Japan getroffen waren. Tepco aber habe beschlossen, das zu ignorieren. Die Nachlässigkeit der Betreiberfirma, so die Untersuchung, sei das Ergebnis einer systematischen Verdunkelung durch geheime Absprachen von Tepco und den Kontrollbehörden. Beide opferten die Sicherheit ihrem blinden Enthusiasmus für die Atomenergie und ihrem arroganten Glauben an die japanische Technologie. Da man mit einem Unglück nicht rechnete, war man beim Eintreffen der Katastrophe erschreckend unvorbereitet. Videoaufnahmen aus dem Reaktor aus den Tagen nach dem Unglück zeigen ein verzweifeltes Chaos. Nach der zweiten Explosion bat der Manager des Kraftwerks seine Vorgesetzten um Verstärkung. »Die Anlage ist im Schockzustand«, sagte er. »Wir tun, was wir können, aber die Moral schwindet.«4
Zuerst hatte es so ausgesehen, als würde der Reaktor dem Angriff der Natur trotzen. Als am Morgen des 11. März um 2:46 Uhr die Erde heftig zu beben begann, taten die drei in Betrieb stehenden Reaktoren das, was sie tun sollten: Sie schalteten sich ab.5 Neutronenabsorbierende Steuerstäbe fuhren aus dem Boden und unterbrachen die Kernspaltung. Der Reaktor wurde vom Stromnetz genommen, doch Generatoren hielten die Notfallsysteme am Laufen. Als aber das heftige Beben endete, sollte sich noch viel Schlimmeres ereignen. Die Anlage stand eingekeilt zwischen dem Meer und den hinter ihr liegenden Hügeln. Zwischen dem Atomreaktor und dem gewaltigen Tsunami, der auf die Küste zurollte, war eine nur 5,70 Meter hohe Schutzmauer. Als die Welle 50 Minuten später mit voller Wucht einschlug, war sie 14 Meter hoch.
Sobald die Welle die Wehre durchbrochen hatte, schoss das Wasser, Autos und Trümmer vor sich herschiebend, dem Reaktor entgegen. Die Welle flutete die Dieselgeneratoren zur Notstromversorgung, die sich ausgerechnet im unteren Teil der Turbinengebäude zwischen Reaktor und Meer befanden. Der gesamte Komplex wurde in Dunkelheit getaucht. Bald darauf setzte das Kernkühlungssystem aus. Planlos versuchte man, wieder Strom zu bekommen. Tepco ließ einen Generator-Lkw zur Anlage zu bringen, doch als dieser schließlich eintraf, passten die Anschlüsse nicht. Der größte Reaktorbetreiber Japans benahm sich wie ein schlecht vorbereiteter Reisender, der keinen Adapter eingepackt hat. Innerhalb weniger Stunden fiel die Notkühlung aus, die Reaktor Nummer eins in Schach gehalten hatte. Nun konnte nichts mehr die Uranbrennstäbe daran hindern, das Wasser bis zum Siedepunkt zu erhitzen, wodurch sich Dampf anreicherte und es schließlich zu einer Explosion radioaktiven Gases kam. Tatsächlich baute sich in den folgenden Stunden enormer Druck auf, der die Grenzwerte um das Zweifache überstieg. Die Verantwortlichen von Tepco gerieten in Panik und waren gezwungen, eine schwere Entscheidung zu treffen. Um eine noch größere Explosion und ein dramatisches Strahlungsleck zu verhindern, mussten sie selbst ein kleineres Leck schaffen, indem sie radioaktiven Dampf in die Atmosphäre entließen. Doch selbst diese Maßnahme funktionierte nicht reibungslos. Die Ventile klemmten und die mit Taschenlampen bewaffneten Techniker versuchten über Stunden, sie in der Finsternis per Hand zu öffnen.
Schließlich begann man einen Tag nach dem Tsunami, am Samstagmorgen um 10:00 Uhr, mit dem Entlüften der Reaktorblöcke. Es war ein letzter Versuch, der sich aber als unzureichend erwies. Um 15:36 Uhr kam es zu einer gewaltigen Explosion. Millionen Menschen, darunter auch ich, beobachteten im Fernsehen, wie das Reaktorgebäude zerbarst und Trümmerteile durch die Luft flogen. Einen Moment lang wusste niemand, ob der Reaktorkern der Erschütterung standgehalten hatte. Das hatte er, aber inzwischen hatte sich für zwei weitere Reaktoren eine Gefahrenlage ergeben. Am Montag entließen Techniker radioaktiven Dampf aus allen drei Problemreaktoren und pumpten zur Kühlung Meerwasser in die Reaktorkerne. Diese verzweifelte Maßnahme beinhaltete, dass die Anlagen nie wieder in Betrieb genommen werden könnten. Doch auch das reichte nicht aus. Am Montagvormittag, zwei Tage nach der ersten Explosion, zerriss eine noch größere Explosion Reaktor drei. Die Probleme hatten sich auf einen Vorratstank mit »verbrauchtem« Uranbrennstoff ausgeweitet. Ohne zirkulierendes Wasser würden die Stäbe kritisch überhitzt. Am Dienstagmorgen brach ein Feuer im Abklingbecken aus. Währenddessen waren die Brennstäbe in Reaktor drei geschmolzen und es kam zu einer dritten Explosion, durch die 10000-fach erhöhte Strahlung frei wurde.
Die Krise geriet außer Kontrolle, und Tepco zog einen Großteil der 800 in der Anlage beschäftigten Techniker ab. Damit blieb ein nur einige Dutzend Arbeiter starker Grundstock erhalten – die sogenannten »Tapferen 50«, die weiter darum kämpften, die schlimmste zivile Nuklearkatastrophe in Japans Geschichte einzudämmen. Später gab es Spekulationen, Tepcos Management habe diskutiert, die Anlage komplett zu räumen. In diesen dramatischen Stunden hatte die Regierung geheime Notfallpläne zur Evakuierung Tokios, der weltgrößten Metropole, besprochen.6 Kurokawas parlamentarischer Untersuchungsausschuss fand jedoch keine Hinweise darauf, dass Tepco jemals beabsichtigt hätte, sämtliche Mitarbeiter aus der Reaktoranlage in Fukushima abzuziehen.
Jedenfalls waren am nächsten Tag wieder 300 Arbeiter an ihren Plätzen. Sie arbeiteten unter den schlimmsten Bedingungen, schliefen jeweils nur wenige Stunden in bleihaltige Decken gehüllt auf Betonböden und teilten sich magere Rationen Fertigkost. Inmitten des Chaos wandten sich die Manager entschuldigend an die Arbeiter und fragten, ob diese ihnen Geld leihen könnten, damit ein Team ausgeschickt werden könnte, um Wasser, Lebensmittel und Treibstoff zu kaufen.7 Normalerweise durften Arbeiter einer Strahlendosis von höchstens 100 Millisievert innerhalb von fünf Jahren ausgesetzt sein. Ab diesem Wert soll das Krebsrisiko steigen. In dem verzweifelten Versuch, die Krise weiter einzudämmen, wurde die Grenze vorübergehend auf 250 Millisievert angehoben, das sind fünfmal höhere Werte als für Arbeiter in US-amerikanischen Nuklearanlagen gelten.8 Das Tepco-Management bat die Arbeiter über eine Lautsprecheransage, sie möchten bitte »Verständnis« dafür haben, dass man sie Strahlungsdosen aussetze, die weit über dem normalen Niveau lägen.9
Die verschiedenen Bemühungen, die Lage unter Kontrolle zu bringen, wandelten sich zur Farce. Militärhubschrauber schöpften Wasser aus dem Meer und füllten es in das Loch, das eine der Explosionen gerissen hatte. Das meiste Wasser ging unterwegs verloren. Löschwagen, die aus dem gesamten Land nach Fukushima beordert wurden, begossen die Reaktoren mit ihren winzigen Schläuchen. Als radioaktives Flutwasser ins Meer gelangte, versuchten die gut ausgebildeten Tepco-Techniker, die Lecks mit Zeitung und windelartigen Zelltüchern zu stopfen.10 Die Wochen vergingen, und das Kraftwerk stolperte von einer Krise in die andere. Im April entließ Tepco 10000 Tonnen kontaminiertes Wasser aus Speichertanks ins Meer, um Platz für noch verseuchteres Wasser zu schaffen.
Erst im Dezember, neun Monate nach der ersten Explosion, brachte man die Reaktoranlage schließlich in die Kaltabschaltung und damit einen relativ sicheren Zustand. Doch selbst dann gab es noch Befürchtungen wegen eines Abklingbeckens, das laut Expertenmeinung einzustürzen drohte, falls es ein weiteres Erdbeben gäbe. Dies würde dann zu einem noch massiveren Strahlungsaustritt führen als im März. Natürlich stand außer Frage, dass das ausgebrannte und überflutete Atomkraftwerk nie wieder in Betrieb genommen werden könnte. Die Stilllegung würde Jahrzehnte dauern und Milliarden, wenn nicht Abermilliarden Dollar kosten. »Fukushima« bedeutet eigentlich »Gesegnete Insel«. Davon war nun nichts zu spüren.
***
Der parlamentarische Untersuchungsausschuss übte heftigste Kritik an dem als »Nukleardorf« bezeichneten Netzwerk aus Unternehmen, Bürokraten und Aufsichtsinstanzen, die sich gemeinsam für Japans Atomindustrie zuständig zeichneten. Japan hatte Mitte der 1960er-Jahre mit der Produktion von Atomenergie begonnen und sein Atomprogramm drastisch beschleunigt, als es in den 1970er-Jahren zu Ölkrisen kam, die offenbarten, wie abhängig man von ausländischer Energie war. Japans tragische koloniale Bestrebungen in den 1930er- und 1940er-Jahren waren zumindest in Teilen durch die Aneignung von Ressourcen motiviert – in einer japanischen Version der deutschen »Lebensraum«-Ideologie. Nach dem Krieg trat Yasuhiro Nakasone, der Mitte der 1980er-Jahre Premierminister werden sollte, als früher Verfechter der Atomenergie auf. Im August 1945 hatte er als junger Marineoffizier aus der Ferne den Atompilz über Hiroshima gesehen. »In diesem Moment ahnte ich, dass wir uns in ein Atomzeitalter begeben würden«, schrieb er später.11 Die Atomkraft löste nicht nur Japans Energieprobleme. Sie ermöglichte zudem, sich die Technologie zur nuklearen Bewaffnung anzueignen. Yoichi Funabashi, Herausgeber der Asahi und Vorsitzender der nach dem Tsunami ins Leben gerufenen Rebuild Japan Initiative Foundation, meinte: »Ein besonders schockierendes Erlebnis der japanischen Nachkriegsgeschichte waren Chinas Atomtests im Jahre 1964. Es war das Jahr der Olympischen Spiele in Tokio, und manche sahen die Tests als mutwilligen Versuch, Japan herabzusetzen, indem Chinas neue Macht demonstriert wurde.« Funabashi berichtete, manche Politiker hätten sich als Reaktion auf die chinesische Provokation eine atomare Bewaffnung Japans gewünscht. Immerhin konnte man eine gewisse »Uneindeutigkeit« erreichen, indem man die Technologie zum Bau einer Atombombe entwickelte und die Aufbereitung von Uran und Plutonium beherrschte.12
In den 1970er-Jahren widmeten sich die Anhänger der nuklearen Aufrüstung ihrem Projekt mit demselben Eifer, der den gesamten japanischen Nachkriegsaufschwung prägte. Man begann mit dem Kauf britischer und amerikanischer Reaktoren, machte sich aber bald daran, das Know-how nach Japan zu holen. Es wurden Standorte für Atomkraftwerke ausgesucht, und man landete dann meist in ärmeren, weniger dicht bevölkerten Regionen wie Japans Nordostküste, wo man großzügigen Subventionen nur schwer widerstehen konnte. Als im März 2011 der Tsunami den Reaktor von Fukushima zerstörte, wurden nicht weniger als 30 Prozent des japanischen Strombedarfs durch Atomenergie gedeckt. Es gab Pläne zum Bau von weiteren 14 Reaktoren, wodurch Atomkraft bis 2030 den halben Beitrag zur nationalen Stromversorgung leisten sollte.
Atomenergie wurde quasi zur nationalen Notwendigkeit, und die Sicherheit der Reaktoren zum Glaubensgrundsatz. Wie sonst sollte man den Bau von 54 Atomkraftwerken rechtfertigen? Fast jeder zehnte der weltweit vorhandenen Reaktoren stand nun im erdbebengefährdetsten Land der Welt. Der atomare Imperativ brachte eine Kultur der Leugnung, Arroganz und Vertuschung von atemraubendem Ausmaß hervor. Die japanische Atomaufsichtsbehörde, die eigentlich die Betreiber der Kernkraftwerke kontrollieren sollte, war Teil des Handelsministeriums – Japans eifrigstem Befürworter der Kernenergie. Es war ungefähr so, als überlasse man der National Rifle Association die Waffenkontrolle in den USA. Wissenschaftler wurden von der Atomindustrie finanziert, genauso wie man die Medien durch kostspielige Werbekampagnen kaufte. Das Parlament setzte durch, dass in Schulbüchern keine Atomunfälle wie Tschernobyl behandelt wurden. Viele Kraftwerksbetreiber errichteten PR-Vergnügungsparks, mit lächelnden Uraniumatomen als Logo. Eines dieser atomaren Disneylands, das Norimitsu Onihsi für die New York Times besuchte, rekrutierte gar Lewis Carrolls Alice als Kernkraftwerbefigur. »Es ist einfach schrecklich«, sagt der weiße Hase in der Ausstellung. »Wir haben keine Energie mehr, Alice.« Als dann ein Roboter-Dodo erklärt, es gebe eine saubere, sichere und erneuerbare Alternative namens Atomenergie, ist Alice begeistert. »Für das ressourcenarme Japan ist das die perfekte Lösung«, freut sie sich – und verschwindet wahrscheinlich kurz darauf im Kaninchenbau.13
Die Atomindustrie verfolgte eine höchst suspekte Einstellungspolitik und schuf damit eine Kleinversion des Zweiklassensystems, das den Arbeitsmarkt seit der Finanzkrise beherrscht. Ein Großteil der gefährlichen Arbeiten wurde von Leiharbeitern erledigt, die weniger Lohn bekamen und höheren Strahlungen ausgesetzt waren als die regulären Angestellten. Im Fall von Fukushima kamen in dem Jahr bis März 2010 beinahe 90 Prozent der Arbeiter von Subunternehmen und Subsubunternehmen. Diese »nuklearen Zigeuner« zogen von Kernkraftwerk zu Kernkraftwerk und wurden während der regelmäßigen Wartungsabschaltungen dazu eingesetzt, Strahlung abzuwaschen. Oftmals benutzten sie dazu so primitive Werkzeuge wie Wischmobs und Putztücher. Sie wurden aus den Reihen arbeitsloser Bauarbeiter, Bauern, Wanderarbeiter und Obdachloser rekrutiert, wobei manche auch von Yakuza-Gangstern angeheuert wurden.14 Selbst nach der Katastrophe beschäftigte Tepco weiter Hunderte von Leiharbeitern. Tagelöhner lockte man mit Angeboten von bis zu 1000 Dollar pro Tag. Zwei Arbeiter einer Leihfirma mussten stationär behandelt werden, nachdem sie in radioaktives Wasser getreten waren. Viele andere wurden weit höheren Strahlendosen ausgesetzt als vertretbar. Katsunobu Onda, Autor von Tepco: The Dark Empire, gibt an, dass über Jahre hinweg Zehntausende Leiharbeiter bedenklichen Strahlenwerten ausgesetzt waren.15
Der Sicherheitsglaube war derart verbreitet, dass viele Reaktorbetreiber nie das Thema Evakuierung ansprachen, da sie ja sonst die Möglichkeit eines Unfalls in Betracht gezogen hätten. Journalisten, die über Strahlungslecks schrieben, wurden lächerlich gemacht, da sie angeblich nichts von Technik verstünden. Als sich 2006 in Niigata ein Erdbeben ereignete, trat eine riesige schwarze Rauchwolke aus der Reaktoranlage Kashiwazaki. (Die Feuerwehr konnte die Flammen nicht löschen, denn – wer hätte es gedacht? – die Wasserleitungen waren durch das Erdbeben unterbrochen.) Die Journalisten mahnte man, keine Alarmstimmung zu verbreiten. Die im Umkreis des Atommeilers lebenden Menschen sollten offenbar einer millionenfach stärkeren Strahlung ausgesetzt werden, als sie bei einem Hin- und Rückflug von Tokio nach New York herrscht. Wie die Besitzer der Titanic, die nicht genug Rettungsboote anbringen ließen, weil sie das Schiff für unsinkbar hielten, so hatten die Betreiber von Fukushima nicht genug Busse bereitstehen, um ihre Mitarbeiter zu evakuieren. Prüfer der Aufsichtsbehörde hatte man »geködert«, so der Bericht der Untersuchungskommission. Anstatt die Betreiber zu mehr Sicherheit anzuhalten, hatten sie ihnen geholfen, die Vorschriften zu umgehen.
Anhaltspunkte dafür, dass die Atomaufsicht nur zum Schein existierte, gab es seit Jahren. Mehrere Unfälle und Vertuschungsversuche verdeutlichten, dass die Atomindustrie systematisch an der Sicherheit sparte und falsche Angaben machte. 1995 hatte man das Ausmaß eines Unfalls im schnellen Brüter Monju zu vertuschen versucht. Vier Jahre später starben zwei unzureichend ausgebildete Arbeiter des Tokaimura-Reaktors an Organversagen als Folge einer akuten Strahlenkrankheit, die sie sich beim Mischen von Uran in Eimern zugezogen hatten. 2002 gestand Tepco, Sicherheitsdaten zu Mängeln an seinen Reaktoren über zwei Jahrzehnte hinweg manipuliert zu haben. Die daraufhin getroffenen »durchgreifenden« Maßnahmen schienen weniger darauf ausgerichtet, Tepco zu bestrafen, als vielmehr die Nutzung alternder Meiler zu verlängern. Zum Zeitpunkt der Katastrophe hatte Fukushima eine 40-jährige Laufzeit hinter sich. Ein investigativer Journalist verglich nach einem Besuch vor Ort die verwitterten Rohre im Innern des Reaktors mit den »Adern eines Monsters«, die nur darauf warteten, zu platzen.16 2004 gab es bei einem Unfall in einem Atomreaktor in Mihama vier Tote und sieben Verletzte, als Heißdampf aus einem defekten Rohr schoss. Im Juli 2007 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 6,8 den riesigen Nuklearkomplex Kashiwazaki-Kariwa, die größte Reaktoranlage der Welt. Später stellte sich heraus, dass das Kraftwerk für Erdbeben dieses Ausmaßes nicht ausgerichtet war. Es wurde sogar vermutet, dass man es unabsichtlich direkt auf einer Erdbebenader errichtet hatte.
Es sollte also nicht überraschen, dass es auch nach dem Unfall in Fukushima an Transparenz mangelte. Tepco stritt konsequent ab, dass es zu einer Kernschmelze gekommen war, und Sympathisanten der Atomindustrie beschuldigten ausländische Medien der »Panikmache«. Doch es war tatsächlich zur Kernschmelze gekommen. Tepco gestand später ein, dass Brennstäbe in drei Reaktoren zu kleinen Uranklumpen zusammengeschmolzen waren. Damit waren die Bedingungen einer Kernschmelze selbst nach engster Definition erreicht. Über Lautsprecher wurde verkündet: »Der Brennstoff ist nun seit geraumer Zeit freigelegt, und es besteht die Möglichkeit einer Kernschmelze. Ich wiederhole: Es besteht die Möglichkeit einer Kernschmelze.«17 Tepco sträubte sich auch, Meerwasser in die Reaktoren zu leiten – wahrscheinlich, weil dann Ausrüstung im Wert von Milliarden Dollar verloren ginge. Masao Yoshida, der Leiter der Anlage, nahm die Sache jedoch mutig in die Hand und ließ eigenmächtig Meerwasser ein. Nicht alle Beteiligten handelten so entschlossen. Nach dem Unglück war Tepcos Vorsitzender Masataka Shimizu tagelang verschwunden. Er hielt sich in seinem Büro versteckt, während sich die Katastrophe entwickelte.
Der interessanteste Teil des umfangreichen Untersuchungsberichts war auf der ersten Seite zu finden. In seiner »Botschaft des Vorsitzenden« gab Kurokawa nicht einzelnen Personen die Schuld an dem Unglück, sondern eher der in Japan vorherrschenden Denkweise. »Dieses Unglück war ›made in Japan‹«, sagte er. »Seine grundlegenden Ursachen sind in den tief sitzenden Konventionen der japanischen Kultur zu suchen: unserem reflexartigen Gehorsam; unserem Zögern, Autoritäten infrage zu stellen; unserem Drang, ›im Programm fortzufahren‹; unserer Konformität und unserem Inselstatus.«
Kurokawas Liste der angeblichen »kulturellen Mängel« war eine Art Anti-Nihonjinron. Das Nihonjinron umfasst Tausende in der Nachkriegszeit verfasste Werke über das japanische »Wesen«, die in japanischen Buchhandlungen immer noch in separaten Abteilungen zu finden sind. Die meisten Autoren des Nihonjinron feierten die angeblich überlegenen Eigenschaften des Japanischen: Hier zähle die Gruppe mehr als das Individuum, Gefühl mehr als Logik und stillschweigendes Einverständnis mehr als das gesprochene Wort. Kurokawa jedoch kehrte diese Grundsätze um. Die nationalen Eigenschaften, auf die Japaner so stolz seien, sagte er, wären in Wahrheit fatale Schwächen. »Hätten andere Japaner an der Stelle jener gestanden, die für diesen Unfall Verantwortung tragen, wäre das Ergebnis dasselbe gewesen«, vermutete er. Denn die »Geisteshaltung«, die jene katastrophalen Entscheidungen rundum Fukushima befördert hätte, sei »überall in Japan zu finden«.
Kurokawas pauschale kulturelle Schuldzuweisung stieß auf heftige Erwiderung. So entgegnete man, er habe dadurch, dass er der Gesellschaft als Ganzes die Schuld gab, geschickt die einzelnen Verantwortlichen vom Haken gelassen. Wenn man so wollte, konnte man gar Parallelen zur Japans kollektiver Kriegsverantwortung ziehen: Schuldig waren alle und keiner. Gerald Curtis, Japan-Experte von der Columbia University, war einer von vielen, der Anstoß an Kurokawas Schlussfolgerungen nahm. »Man sucht in diesem Dokument vergeblich nach einem Schuldigen«, schrieb er in einem bissigen Kommentar.18 »Der gesamten Kultur die Schuld zu geben ist natürlich die ultimative Ausrede.« Dabei spielen Einzelne sehr wohl eine Rolle, meint Curtis. Tepcos Präsident verschlimmerte die Situation, indem er sich hoffnungslos unkommunikativ gab. Yoshida, der heroische Kraftwerksleiter, der sich den Anordnungen widersetzte und die Reaktoren mit Meerwasser flutete, verhinderte wahrscheinlich Schlimmeres. Er war alles andere als ein Duckmäuser, der im Interesse der Gruppenzugehörigkeit oder dem Verlangen, nur nichts Abweichendes zu tun, blind Befehle befolgt hätte. Geheime Absprachen und Vertuschungsversuche seien beileibe kein japanisches Phänomen, so Curtis. Hatte es nicht auch in den USA ein betrügerisches Einverständnis zwischen Bankern und den Kontrollinstanzen gegeben, die bewusst wegschauten, als einige der größten Finanzhäuser des Landes die Nation an den Rand des finanziellen Ruins führten? Wenn die japanische Kultur die Interessen des Unternehmens vor die Interessen der Öffentlichkeit stelle, »dann sind wir alle Japaner«, folgerte Curtis.
Betrachtet man Kultur als unveränderlich, so sind Kurokawas Erklärungen tatsächlich so gut wie wertlos. Doch Kultur als eine feste, unwandelbare Größe zu betrachten, grenzt an geografischen und ethnischen Determinismus. Kurokawa hat vielleicht etwas ganz anderes sagen wollen. Nur wenige, die einmal eine Zeit in Japan gelebt haben, würden verneinen, dass sie manche der von ihm definierten Eigenschaften wiedererkennen: Da ist eine Tendenz, nach innen zu schauen, sich Autoritäten zu fügen und die Bedeutung des Einzelnen herunterzuspielen. Doch kein ernst zu nehmender Betrachter der japanischen Kultur würde so tun, als sei damit alles gesagt. Denn die Menschen in Japan – ob einzeln oder im Kollektiv – fechten diese Normen ständig an. Die von Kurokawa herausgestellten Eigenschaften sind nicht so sehr als Beschreibung von »Kultur« zu verstehen. Sie sind eine Kritik an Japans Nachkriegsinstitutionen und -normen. Wenn das mit »Kultur« gemeint war, ist damit impliziert, dass sie veränderbar ist.
Kurokawa glaubt, dieselben Eigenschaften, die Japan beim Aufbau des Nachkriegswirtschaftswunders geholfen hätten, seien nun zu den negativen Eigenschaften des »nuklearen Dorfs« mutiert. Die Planung obliegt einer bürokratischen Elite, Staatsgelder werden in bevorzugte Projekte gesteckt, und das Wahlvolk wird selten konsultiert – all dies waren Elemente des Nachkriegserfolgs. Aber sie trugen den Samen der Katastrophe in sich. Die Atomlobby erklärte es zur Staatsmission, die Kernkraft auszubauen – koste es, was es wolle. Dies ließ sie zu einer »unaufhaltsamen Macht« werden, die »immun gegen die Kontrolle der Zivilgesellschaft« war, schreibt Kurokawa. Derart akzeptierte Normen konnten und durften nicht angezweifelt werden, meinte er. Hier fordert er das genaue Gegenteil eines kulturellen Determinismus. »Wir müssen über unsere Verantwortung als Individuen in einer demokratischen Gesellschaft nachdenken«, sagte er über das kollektive Scheitern in Fukushima. Dazu müsse man seiner Ansicht nach die »Zivilgesellschaft« stärken. So gesehen waren Kurokawas Bemerkungen nicht geeignet, die Beteiligten freizusprechen. Sie waren ein Aufruf zu individuellem und kollektivem Handeln.
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Vor dem Tsunami gehörte Japan zu den Ländern mit der höchsten Abhängigkeit von Atomenergie. Nach dem Tsunami war alles anders. Im Mai 2012, 14 Monate nach der Dreifachkatastrophe, war kein einziges Kernkraftwerk mehr in Betrieb. Über ein paar Monate, bis ein Reaktor in Oi in Westjapan wieder eingeschaltet wurde, war das Land zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert atomfreie Zone. Das Erste, das bei dieser dramatischen Umkehr in der Energiepolitik auffiel, war: Die Lichter blieben an. Japan machte nicht dicht. Gleich in den ersten Monaten, nachdem der Tsunami einen Großteil der Atomkraft lahmgelegt hatte, lernte Japan, mit weniger Energie auszukommen. Autohersteller staffelten die Produktion über die Woche verteilt, damit sie nicht alle zugleich Strom aus dem Netz zogen. Toyota beispielsweise fertigte von Mittwoch bis Sonntag. In den Städten wurden die Thermostate von Klimaanlagen auf höhere Temperaturen eingestellt. Gebäude schlossen früher und verhinderten so lange abendliche Überstunden der Büroangestellten. Im Sommer 2011 fanden selbst die Pressekonferenzen von Tepco, einem der weltgrößten Energieerzeuger, bei abgeschaltetem Licht und geöffneten Fenstern statt. Immer wenn ein Schnellzug über die nahe gelegene Hochbahn donnerte, verschluckte der Lärm das Gesagte.19 Doch zu diesem Zeitpunkt wollte ohnehin kaum jemand hören, was Tepco zu sagen hatte.
Für viele Japaner wurde Energiesparen zur Mode. Es gab verbreitet Kritik an Japans begeisterter Stromverschwendung. Das grelle Leuchten der Automaten auf Tokios Straßen wurde auf Anordnung des Gouverneurs auf ein bescheidenes Glimmern gedimmt. Selbst der Kaiser und die Kaiserin sollen nach Aussage eines Palastsprechers ihren Teil zum Stromsparen beigetragen haben, indem sie abends Kerzen anzündeten.20 Die Einsparungen zeigten sofort Erfolg. Im Sommer 2011 stiegen die Temperaturen auf über 32 Grad Celsius, doch der Energieverbrauch fiel im Vergleich zum Vorjahr um ein Viertel. Manche fanden, Japan müsse zu viele Einbußen hinnehmen. »Überall ist die Lebensqualität gesunken«, beschwerte sich Yukio Okamoto, ein ehemaliger Karrierediplomat, während ihm in seinem stickigen Büro der Schweiß übers Gesicht rann. Genau wie die Terroranschläge von 9/11 einen Wendepunkt in der US-amerikanischen Geschichte markierten, sagte er, würde Japan nach 3/11 nie wieder dasselbe sein: »Die Stromknappheit wird die zivile und industrielle Gesellschaft prägen.«21 Okamoto meinte damit nicht nur private Unannehmlichkeiten. Wie viele befürchtete er, dass eine instabile Energieversorgung und höhere Energiepreise für die ohnehin schwächelnde japanische Industrie fatal wären.22 Die Unternehmen hätten schon mit dem katastrophal starken Yen zu kämpfen, mit hohen Unternehmenssteuern, unrealistischen Kohlendioxidemissionszielen und einem unflexiblen Arbeitsrecht. Japanische Hersteller würden von koreanischen Rivalen zerschlagen, die von einer billigen Währung und dem zollfreien Zugang zu ausländischen Märkten profitierten, da sie Freihandelsverträge geschlossen hätten, die dem protektionistischen Japan verwehrt waren. Wenn man nun noch höhere Strompreise einrechnete, so Okamoto, müsste man ernstlich um das Überleben der japanischen Unternehmen fürchten.
Und es gab weitere negative Auswirkungen. Energieeinsparungen konnten nur bedingt etwas erreichen. Um den Verlust atomarer Energie zu kompensieren, musste Japan mehr Öl und Flüssigerdgas importieren. Das trieb die Kohlendioxidemissionen in die Höhe. Die steigende Energierechnung vernichtete zudem Japans Handelsüberschuss und trieb das Land zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten ins Defizit.23 Obgleich Japan dank der Erträge aus ausländischen Investitionen immer noch einen Rechnungsüberschuss hatte, befürchteten viele, dass permanent höhere Energiepreise auch diesen gefährden könnten. Falls Japan ins Defizit stürzte, könnte es seine astronomischen öffentlichen Schulden nicht mehr bedienen. Yoshito Sengoku, ein erfahrener Politiker, hatte keinen Zweifel daran, was dies für Japan bedeuten würde. Er verglich den Verzicht auf Atomkraft mit einem »Gruppenselbstmord«.24
Viele Unternehmer stimmten dem zu. Sie hielten es für eine Utopie, Atomkraft durch erneuerbare Energien zu ersetzen. »Ob wir auf Atomkraft verzichten können? Meine Antwort ist Nein«, sagte der ehemalige Vorsitzende der Mitsubishi Corporation Minoru Makihara. »Irgendwo muss Atomenergie ins Spiel kommen.«25 Der ehemalige Sony-Chef Nobuyuki Idei war da ähnlicher Ansicht. »Atomkraft ist eine der wichtigsten Zukunftstechnologien«, sagte er. »Wir sollten sie nicht einfach aufgeben.«26 Selbst Kazuo Inamori, legendärer Begründer einer Firma, die als erste in Japan mit der Herstellung von Solarpaneelen begann, befand alternative Energien als zu unzuverlässig. Bis man nicht Möglichkeiten gefunden hätte, große Mengen an Wind- und Solarenergie zu speichern, so Inamori, sei es unvernünftig, vollkommen auf Atomenergie zu verzichten.27
Kernkraftbefürworter brachten vor, dass Atomkraft nicht nur sauberer und stabiler wäre, sondern auch günstiger. Vor dem Tsunami hieß es, Atomenergie koste fünf bis sieben Yen pro Kilowattstunde, verglichen mit elf Yen für Windenergie, zwölf bis 20 Yen für Erdwärme und 47 Yen für Solarenergie. Nach dem Tsunami jedoch sahen sich die Kernkraftgegner die Zahlen genauer an. Die angeblich so günstige Atomkraft, sagten sie, würde die versteckten Kosten nicht berücksichtigen: Hierzu gehörten Subventionen (man könnte es auch Bestechungsgelder nennen), die den Gemeinden gezahlt würden, in denen Kernkraftwerke errichtet wurden, oder auch die Kosten für die Endlagerung radioaktiver Abfälle. Selbst wenn man die Milliarden Dollar unberücksichtigt ließe, die für die Aufräumarbeiten nach der Fukushima-Katastrophe benötigt würden, müsste man die Kosten für Atomenergie bei 12,23 Yen pro Kilowattstunde festsetzen, berechnete der Energiefachmann Kenichi Oshima von der Universität Ritsumeikan. Damit sei sie teurer als Erdwärme oder Wasserkraft.28 Kein anderer als Jeff Immelt, Chef von General Electric und einer der Pioniere der zivilen Atomkraft, dessen Firma beim Aufbau der Reaktoranlage von Fukushima half, ist inzwischen zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kostenvorteile der Atomkraft bröckeln. Die Entdeckung großer Schiefergasvorkommen in den USA und anderswo habe die Energiekosten auf den Kopf gestellt, weil Strom aus Gaskraftwerken bedeutend günstiger wurde. Und dies zu einem Zeitpunkt, da in Reaktion auf Fukushima die Kosten der Kernenergie aufgrund höherer Sicherheitsanforderungen unweigerlich steigen würden. »Es wird immer mehr Gas gefunden. Da lässt sich Atomenergie nicht mehr so leicht rechtfertigen«, sagte Immelt. »Gas ist derart günstig, und ab einem bestimmten Punkt gibt einfach die Ökonomie den Ausschlag.« In Zukunft, glaubt er, wird es eine »Kombination aus Gas und entweder Wind- oder Solarenergie geben … dahin werden die meisten Länder tendieren.«29
Taro Kono, einer der wenigen Parlamentarier der Liberaldemokraten, der lange gegen Kernenergie eingestellt war, glaubt, dass das »nukleare Dorf« die Entwicklung erneuerbarer Energien bewusst gehemmt hat. Im Jahr 2000 hätte die Atomlobby einen Gesetzesentwurf abgeschmettert, durch den ein »Einspeisetarif« eingeführt werden sollte, der Erzeugern alternativer Energien einen konkurrenzfähigen Preis zugesichert hätte. Es brauchte erst die Katastrophe von Fukushima, um die Regierung davon zu überzeugen, einen generellen Einspeisetarif festzulegen, durch den Energieunternehmen gezwungen wurden, unbegrenzte Mengen an erneuerbaren Energien von unabhängigen Anbietern zu kaufen.30
Etwa acht bis neun Prozent der japanischen Stromversorgung werden durch erneuerbare Energien gedeckt – größtenteils durch Wasserkraft und nur zu einem Prozent durch Wind- und Solarkraft. In Deutschland, das viel aggressiver Anreize für erneuerbare Energien geschaffen hat, liefern diese 25 Prozent des Stroms. Theoretisch könnte ein Einspeisetarif auch in Japan Ansporn sein, doch Befürworter erneuerbarer Energien meinen, das neue Gesetz wäre noch zu eng gefasst. Taro Kono, dem ich in seinem spärlich beleuchteten Energiesparbüro gegenübersaß, sagte mir, Japan habe weltweit das drittgrößte Erdwärmepotenzial und das sechstgrößte Küstengebiet für Offshore-Windkraftanlagen. Zudem sei Japan einst der Solarenergiepionier gewesen, habe diesen Vorsprung aber einfach aufgegeben, ärgerte er sich.
Masayoshi Son, Gründer der Telekommunikationsfirma SoftBank und einer der mutigsten Unternehmer Japans, setzte sich rasch für erneuerbare Energien ein. Sein Unternehmen verkündete, man wolle mindestens zehn große Solarstromanlagen bauen und so einen »Ostjapanischen Solargürtel« bilden. Wenn er die Aufsichtsbehörden dazu bringen könnte, ein Fünftel des ungenutzten Ackerlands für Solaranlagen zur Verfügung zu stellen, rechnete Son, wurde er genauso viel Energie wie Tepco produzieren können.31 »Wir wollen natürliche Energien überall in Japan verbreiten«, versprach er dem Publikum bei der Einweihung seines ersten Solarprojekts in Kioto, das ordnungsgemäß im Juli 2012 startete.32 Son hoffte, er könnte andere zu ähnlichen Unternehmungen anspornen. Even Lawson, ein Minimarktbetreiber ohne Erfahrung in der Stromerzeugung, kündigte an, er wolle 2000 seiner Filialen mit Solarenergie ausrüsten. Überschüssige Kapazitäten sollten an den Netzbetreiber verkauft werden.33 Diese neue Stimmung griff der Internetunternehmer Hiroshi Mikitani auf, der seine Antiatomkrafthaltung amtlich machte, indem er aus der mächtigen Unternehmenslobby Keidanren ausstieg. Seine Entscheidung verkündete er nirgendwo anders als auf Twitter und erklärte, Keidanren verhalte sich unreflektiert atomfreundlich. Seine eigene Firma, der Onlineshop Rakuten, habe den Stromverbrauch durch einfache Maßnahmen um 35 Prozent senken können, sagte er. Düstere Warnungen, nach denen das Land ohne Atomenergie nicht überleben könne, betrachtete er mit Skepsis.34
Besonders aber überraschte, wie deutlich sich die öffentliche Meinung gegen Atomenergie aussprach. Sporadische Umfragen ergaben, dass mindestens die Hälfte der Bevölkerung dafür war, nach und nach aus der Atomenergie auszusteigen, wobei sich nur ein Viertel dafür aussprach, die Kernkraft beizubehalten.35 Eine Antiatomkraftbewegung formierte sich. In den ersten Monaten nach der Katastrophe von Fukushima war deutlich geworden, dass die Proteste auf der anderen Seite der Welt, nämlich in Deutschland, viel heftiger gewesen waren als die Proteste in Japan. Doch je mehr Zeit verging, desto größer wurde die Zahl der Atomkraftgegner. Im Sommer 2012 dann fanden regelmäßige Demonstrationen vor dem Amtssitz des Premierministers statt, zu denen Zehntausende Menschen zusammenkamen.36 Im Juli hielt der Nobelpreisträger Kenzaburo Oe, der in seinen Hiroshima-Notizen über die Auswirkungen der Atombombe geschrieben hatte, eine Antiatomkraftrede. Die Zuhörer im Yoyogi-Park bildeten die größte Menschenmenge seit den Massenprotesten in den 1960ern gegen die Erneuerung des Sicherheitspakts mit den USA. Die Organisatoren gaben an, es seien 170000 Menschen zu den »Sayonara Nukes«-Protesten gekommen, und selbst die Polizei ging von 75000 Personen aus.37 Die japanische Rundfunkgesellschaft, immer noch auf offiziellen Kurs getrimmt, berichtete kaum über das Ereignis, das sich in Laufnähe von ihrer Zentrale abspielte.38
Angespornt wurden die Menschen durch die Angst vor Strahlung, aber auch durch ihre Wut über die Arroganz und Inkompetenz der Verantwortlichen. Der Zorn wuchs, als auf zynische Weise deutlich wurde, dass das »nukleare Dorf« seine Täuschungsabsichten nicht etwa abgelegt hatte. Als es darum ging, ein Kernkraftwerk in Kyushu neu zu starten, versuchte der Betreiber, die Bürgeranhörungen zu manipulieren, indem er sie mit Pro-Kernenergie-Wortmeldungen überhäufte, die scheinbar von normalen Personen aus der Menge stammten. Als man dem Betreiber auf die Schliche kam, sorgte die öffentliche Entrüstung dafür, dass die Anlage bis auf Weiteres geschlossen wurde. Manche Gemeinden im Umkreis von Atommeilern waren inzwischen abhängig von den Subventionen, doch die Stimmung der Bürger richtete sich gegen die Atomindustrie. Dies galt vor allem für Städte und Dörfer, die sich in der Nähe eines Reaktors befanden, aber doch noch so weit entfernt lagen, dass sie nicht von staatlichen Transfers profitierten. Lokalpolitiker nahmen die Antiatomkraftstimmung auf und erschwerten es der zentralen Regierung, abgeschaltete Reaktoren wieder in Betrieb zu nehmen. »Ich kann einfach nicht glauben, dass wir Atomenergie brauchen, weil es nicht genug Strom gibt«, sagte Toru Hashimoto, der populistische Bürgermeister von Osaka. »Strom gibt es mehr als genug.«39
Naoto Kan – derselbe Premierminister, der in Panik vor dem »Ende dieser Nation« erwogen hatte, 30 Millionen Menschen aus Tokio zu evakuieren – führte die Antiatomliga an.40 2011 schritt voran, und mit Blick auf das Ende seiner Amtszeit beschloss Kan, die Atomindustrie mit ihm abdanken zu lassen. Er ordnete eine Neubewertung der nationalen Energiepolitik an. Ihr Ergebnis eröffnete die Möglichkeit, gänzlich auf Kernkraft zu verzichten. Kans Standpunkt war eindeutig. »Unsere Nation sollte sich bemühen, eine Gesellschaft zu werden, die ohne Atomenergie auskommt«, sagte er. Kan ließ eine Reihe von »Stresstests« durchführen, mit denen festgestellt werden sollte, ob die Atomreaktoren extremen Situationen standhalten würden. Tepco wurde verstaatlicht. Man plante, die Atomaufsichtsbehörde aufzulösen, da ihre Kontrolle sich als derart unzureichend herausgestellt hatte. Eine neue Kontrollinstanz sollte unabhängig von dem pro Atomkraft eingestellten Handelsministerium arbeiten und stattdessen dem Umweltministerium angeschlossen sein. Die Energieindustrie, so hieß es, dürfe nicht mehr allein über die Stromerzeugung und die Stromverteilung walten – diese monopolistische Struktur hatte ihr erlaubt, einen der höchsten Strompreise weltweit zu verlangen. Kans Bemühungen um einen Atomausstieg überdauerten schließlich seine Amtszeit. Im September 2012 beschloss die Regierung gegen den Protest der Atombranche, bis 2040 auf sämtliche Kernenergie zu verzichten.
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Angestoßen wurde die Debatte vor allem durch die Angst vor radioaktiver Strahlung. Die Japaner hegten als Opfer von zwei Atombomben einen besonderen Abscheu für die unsichtbare Bedrohung. Das seit den 1950er-Jahren auftretende Filmmonster Godzilla ist ein Symbol für die gewaltige Kraft, die durch nukleare Explosionen freigesetzt wird. Nachdem durch das Unglück in Fukushima Strahlung in die Atmosphäre und in die Meere getrieben wurde, lernte die Öffentlichkeit rasch, mit Vokabeln wie Millisievert, Becquerel und Cäsium umzugehen. Abgefülltes Wasser verschwand buchstäblich über Nacht aus den Supermärkten, nachdem die Regierung verkündet hatte, dass der Anteil des Nuklids Jod-131 in Tokios Trinkwasser zweifach über den für Kleinkinder empfohlenen Werten lag. Im April entdeckte man, dass kleine Sandaale, die in Gewässern südlich von Fukushima gefangen wurden, 526 Becquerel aufwiesen, höhere Strahlenwerte als mit 500 Becquerel gewöhnlich erlaubt. In den darauffolgenden Monaten wurde eine Vielfalt von Fisch, Gemüse und Reis auf größere Strahlenwerte als normal getestet. Kühe auf Höfen überall in Japan waren mit Reisstroh aus kontaminierten Gebieten gefüttert worden, wodurch Panik bezüglich des Fleischkonsums ausgelöst wurde. Selbst zwei Zwergwale, die vor der Küste von Hokkaido gefangen wurden, wiesen Spuren von radioaktivem Cäsium auf, obwohl die Fischereiaufsicht ihren Verzehr als ungefährlich eingestuft hatte.41 Die Regierung warnte Eltern, ihren Kleinkindern keine Milch aus kontaminierten Regionen zu geben. Als 15 Monate nach der Katastrophe ein 20 Meter hohes Dock in Oregon angespült wurde, testete man auch dieses auf Strahlung. Insgesamt wurde an Amerikas Pazifikküste mit mehr als einer Tonne Schrott aus Japan gerechnet.
Etwa 18 Monate nach dem Unfall entdeckten Wissenschaftler von der Ryukyu-Universität in Okinawa, dass Schmetterlinge in der Umgebung von Fukushima Mutationen wie eingedrückte Augen und verkümmerte Flügel aufwiesen. Eine andere, etwa zur selben Zeit veröffentlichte Studie jedoch zeigte, dass die Strahlungswerte bei den im Umkreis von Fukushima lebenden Menschen extrem gering waren.42 Konfrontiert mit solch widersprüchlichen Informationen wussten die japanischen Bürger kaum noch, was unbedenklich war und was nicht, oder welche Vorkehrungen vernünftig sein könnten. Manche achteten peinlich darauf, keinen Fisch, kein Gemüse und kein Fleisch aus der Umgebung von Fukushima zu kaufen. Andere verfolgten genau den umgekehrten Ansatz, indem sie ausschließlich Produkte aus eben jenen Regionen kauften, um ihre Solidarität mit den betroffenen Bauern zu demonstrieren.
Um die Langzeitauswirkungen auf die Gesundheit ermessen zu können, gab es eigentlich nur Tschernobyl als Vergleichspunkt. Seit dem GAU in dem ukrainischen Reaktor vor einem Vierteljahrhundert waren 6000 Fälle von Schilddrüsenkrebs, beinahe ausschließlich bei Kindern unter 16 festgestellt worden. Tödlich waren nur 20 Fälle verlaufen. Eine Studie von Wissenschaftlern der Stanford University kam zu dem Schluss, dass es nach dem Fukushima-Unfall zusätzliche Krebsfälle in einer Größenordnung von 15 bis 1300 geben könnte. Man rechnete mit 130 Todesfällen.43 Manche Wissenschaftler bemerkten, den japanischen Behörden wäre ganz und gar nicht daran gelegen, die wahren Gefahren der Strahlung zu vertuschen – im Gegenteil verschlimmere man die Situation, indem man Panik säe. Der Tschernobyl-erfahrene Hämatologe Robert Gale behauptete gar, angesichts der relativ geringen Kontaminierungsrate nach Fukushima sei die Angst vor der Strahlung schlimmer als die Strahlung selbst.44 Der Tod von 600 älteren Personen beispielsweise wurde als »katastrophenbedingt« eingestuft und sei eine Konsequenz der übereilten Evakuierung aus der Region um Fukushima.45 Shunichi Yamashita von der Medizinischen Universität Fukushima gab zu bedenken, dass das gesundheitliche Risiko bei den vorhandenen relativ niedrigen Strahlenmengen gering sei. Auch er wurde zur Hassfigur. In Internetforen wurde Yamashita gar mit Josef Mengele verglichen. Tatsächlich aber blieb Yamashita, dessen Mutter den Atombombenabwurf auf Nagasaki überlebt hatte, mutig bei seinem durch Datenanalyse gewonnenen Standpunkt.46
Es gab große Verärgerung darüber, dass evakuierte Bevölkerungsteile angeblich in Zonen mit noch höherer Strahlenbelastung gebracht wurden, da die Regierung nicht darüber informiert hatte, dass sich der Wind gedreht hatte. Nur sehr zögerlich wurden Informationen über »Hotspots« wie Iitate veröffentlicht. Von dort evakuierte man die Bewohner erst gut zwei Monate nach der Dreifachkatastrophe. Manche Hotspots wurden sogar in Tokio entdeckt, am Rand von Baseballfeldern oder in Blätterhaufen. Umfragen aus den Monaten nach dem Unfall zeigen, dass bis zu vier Fünftel der Japaner den Erklärungen der Regierung misstrauten. Man war generell der Ansicht, die Behörden würden die Kontaminierungsrisiken herunterspielen, da sonst massive Entschädigungszahlungen auf sie zukämen. In den Nachrichten wurden Karten mit Strahlungswerten wie sonst die Wettervorhersage gezeigt.
Der öffentliche Zorn über den Mangel an glaubwürdigen Informationen kochte gelegentlich hoch und widerlegte damit das allgemeine Vorurteil, Japaner seien passiv und apolitisch. Wenn sie sich ungerecht behandelt fühlten, konnten auch sie hartnäckig und kämpferisch auftreten. Wenige Monate nach dem Unglück reiste eine Gruppe von Demonstranten aus Fukushima nach Tokio, wo man sich vor dem Ministerium für Bildung und Technologie versammelte. Die Protestler trieb die Sorge um ihre Kinder. Die lokalen Behörden hatten nämlich – aus Sicht der Betroffenen willkürlich – beschlossen, die Strahlungsgrenze anzuheben, nach der Schulen in Fukushima wieder geöffnet werden dürften. Nach dem lautstarken Protest der Eltern machte das Ministerium einen Rückzieher und legte die Strahlungsgrenze wieder auf das niedrigere Niveau fest.47
Als eine Reporterin einer ausländischen Zeitung nach Fukushima reiste, um über die Strahlungswerte in Schulen zu berichten, gab ihr die zweifache Mutter Tomoko Hatsuzawa einen Brief, der an die »Menschen in den USA und überall auf der Welt« gerichtet war. Er begann:
»Es tut mir so leid wegen des Urans und Plutoniums, das Japan in die Umwelt abgegeben hat. Der radioaktive Niederschlag von Fukushima hat die Erde schon mehrmals umkreist, hat Hawaii, Alaska und sogar New York erreicht. Wir leben in 60 Kilometer Entfernung von dem Reaktor, und unsere Häuser wurden noch schlimmer kontaminiert als in Tschernobyl. Das Cäsium-137, das sie im Boden finden, bleibt noch 30 Jahre hier. Aber die Regierung will uns nicht helfen. Man sagt uns, wir sollen bleiben. Unsere Kinder sollen Masken und Mützen tragen und weiter zur Schule gehen.
In diesem Sommer werden unsere Kinder nicht schwimmen gehen können. Sie können nicht draußen spielen. Sie können unsere köstlichen Pfirsiche nicht essen. Sie können nicht einmal den Reis essen, den die Bauern hier in Fukushima anbauen. Sie können unsere schönen Flüsse, Berge und Seen nicht besuchen. Das macht mich traurig. Es erfüllt mich mit großem Bedauern.«
Der Brief, eine Mischung aus lyrischer Klage und Protest, schloss mit der Bitte, das Ausland möge Druck auf die japanische Regierung ausüben und sie zum Handeln bewegen.
Dabei war es nicht so, als ob die Bewohner Fukushimas nicht selbst Druck ausübten. Bei einer Bürgeranhörung wurden aus Tokio angereiste Regierungsbeamte von den Versammelten traktiert. »Sagen Sie uns nur eins: Haben wir keine Rechte?«, riefen sie, während die Bürokraten Plattitüden von sich gaben. Als die geplagten Politiker die Zusammenkunft schließlich beendeten und zum Ausgang strebten, wurden sie von Anwohnern über den Gang gejagt, die mit Flaschen wedelten, in denen sich der Urin ihrer Kinder befand. Sie verlangten, dass dieser getestet würde. Das Treffen endete im Chaos, wobei die Funktionäre – wahrscheinlich das erste und einzige Mal in ihrer Karriere – von Demonstranten umgeben waren, die im Sprechchor baten: »Wir flehen Sie an: Nehmen Sie diesen Urin mit!«48
Der Regierung traute man nicht mehr zu, in der Strahlenkatastrophe richtig zu agieren. Im Grunde traute man ihr überhaupt nicht mehr zu, das Richtige zu tun. Das Verhalten der japanischen Führung nach dem Tsunami vergrößerte nur die Verbitterung der Bevölkerung über ein politisches System, an das sie ohnehin nicht mehr glaubte. Schon länger hatte unter der Oberfläche die Vorstellung gebrodelt, dass das japanische Volk kompetenter und verlässlicher sei als seine Führung und dass viele Probleme des Landes wahrscheinlich besser außerhalb der politischen Sphäre gelöst werden könnten. Diese Idee gewann nun neue Kraft.
Tatsächlich war der Glaube an die politische Führung schon seit dem Börsenkrach von 1990 geschwunden. Die Regierungspartei hatte ganz einfach ihre altbewährte Klientelpolitik weitergeführt, obgleich gar kein Geld mehr zu verteilen war. Schnelles Wachstum gehörte der Vergangenheit an, und so ging die Gönnerpolitik nicht mehr so leicht von der Hand. Das Vertrauen in die Bürokraten, die doch einst als unfehlbare Hüter des Wirtschaftswunders gegolten hatten, war tief erschüttert. Zu viele hatten sich als unaufrichtig und inkompetent erwiesen – eine üble Kombination, die man nicht mehr dulden wollte. Zumindest bei manchen Wählern hatte es ein kurzes Wiedererwachen der Politikbegeisterung gegeben, als Junichiro Koizumi fünfeinhalb Jahre lang mit seltener Souveränität und Überzeugung das Ruder übernommen hatte. In den Augen seiner Unterstützer hatte er das Land belebt und sowohl politisch als auch wirtschaftlich für neuen Antrieb gesorgt. Er versprach einen radikalen Wandel. Doch abgesehen von diesem Intermezzo – das für manche aufregend, für manche vernichtend war – hatten die Politiker oftmals unbemerkt einander abgelöst.
Im Jahr 2009 dann geschah etwas radikal Neues. Zumindest schien es so. Nach einem halben Jahrhundert der liberaldemokratischen Herrschaft wurde die Demokratische Partei, eine relativ junge, Mitte-links ausgerichtete Gruppierung unter der Führung von Yukio Hatoyama, ins Amt gewählt. Ein Vorbote des Wandels war die Bürgermeisterwahl in Chiba, einem relativ unscheinbaren Vorort von Tokio, die ein Oppositionskandidat mit dem bewusst dilettantischen Etikett »jung, ohne Politikerfahrung und ohne Geld« gewann. Bei den nachfolgenden allgemeinen Wahlen im August 2009 profitierte die Demokratische Partei davon, dass die Öffentlichkeit den eingefahrenen Politikstil offensichtlich satthatte. Sie konnte die Wahlen mühelos für sich entscheiden. Natürlich ging es vornehmlich darum, die ewige Liberaldemokratische Partei aus dem Amt zu werfen, die ja seit dem Abgang Koizumis eher geschlafwandelt als regiert hatte. Man hatte nicht unbedingt mehr Vertrauen, dass ein neues Kabinett die Sache besser machen würde. Schließlich waren einige der führenden Mitglieder der Demokratischen Partei Überläufer der Regierungspartei. Genau wie bei den Liberaldemokraten, die so lange die Geschäfte gelenkt hatten, bestand auch die Demokratische Partei aus einem Sammelsurium von Sozialkonservativen und Liberalen, Schuldenbremsern und Verschwendern, Marktwirtschaftlern und Sozialisten, Nationalisten und Internationalisten.
Daher gab es auch keine große Aufregung über ein Ereignis, das nur oberflächlich aussah wie eine dramatische politische Umwälzung. Am Wahlabend wurde ein ausländisches Fernsehteam auf die Straßen Tokios geschickt, um die Feiern zu filmen, mit denen man nach einem halben Jahrhundert politischer Hegemonie rechnete. Doch das Team kam mit leeren Händen zurück. Vor der Parteizentrale hatte sich keine Menschenmenge versammelt, keine Hupen dröhnten, niemand tanzte im Straßenbrunnen. Noriko Hama von der Universität Doshisha sagte, das Wahlvolk habe nicht naiv unschuldig, sondern eher spielerisch berechnend gehandelt. Ein weiterer Freund erinnerte sich an die aufrichtige Begeisterung, die 2008 zur Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten geführt hatte: Die Japaner, meinte er, hätten sich für einen Wandel entschieden, an den sie nicht glaubten, und für einen Regierungschef, der sie keineswegs begeistere.
Dennoch hielt die Demokratische Partei zumindest an der Oberfläche das Versprechen des Neuen. Die Gruppierung hatte sich nach dem Vorbild von Großbritanniens New Labour formiert und mehrere Jahre zuvor begonnen, in detaillierten Parteiprogrammen ihre politische Überzeugung darzulegen – eine Neuheit in einem Land, in dem die Wahlentscheidung traditionell eher mit Sympathien als mit Überzeugungen zu tun hatte. Hatoyama, den man wegen seines leicht entrückten Auftretens auch den »Alien« nannte, schien beinahe überrascht, auf einmal das Land zu führen. Er zeigte so wenig Triumphgefühl, dass man, wenn man seine Siegerrede am Wahlabend ohne Ton angeschaut hätte, gut und gerne hätte denken können, er habe verloren. Doch seine Regierung hatte ein ehrgeiziges Programm. Hatoyama sagte, Politik müsse wieder von der Öffentlichkeit gestaltet werden, so wie Koizumi es angestrebt hatte. Dazu müsse man die gesichtslosen Bürokraten, die so lange hinter den Kulissen die Fäden gezogen hatten, in die Schranken weisen. Seine Partei würde Japan von der schäbigen Klientelpolitik befreien, die seit Jahrzehnten geherrscht hatte, und stattdessen eine Ära der Kompetenz und Technokratie einläuten. Es sollte familienfreundliche Politik gemacht werden, und die Regierung versprach, das Kindergeld auf 26000 Yen (etwa 200 Euro) im Monat zu verdoppeln, um die Kaufkraft der Haushalte zu erhöhen und der sinkenden Geburtenrate entgegenzuwirken. Das Gleichgewicht sollte wieder zugunsten der Konsumenten ausgerichtet werden, weg von den großen Unternehmen und besonders den Mammutexporteuren, nach denen sich die japanische Wirtschaft seit Jahrzehnten ausrichtete. Die Regierung sollte sich um die Beziehung zu seinen asiatischen Nachbarn bemühen und Wege beschreiten, die darüber hinausgingen, Amerikas pazifischer Pudel zu sein.
Manche Politikbeobachter dachten, selbst wenn die neue Regierung strauchelte, wäre ihr Sieg doch vielleicht der Beginn eines gesünderen Zweiparteiensystems. Man hoffte, dass sich die Wähler künftig wie in westlichen Demokratien zwischen zwei konkurrierenden Ideologien entscheiden könnten. Es würde dann nicht mehr nur eine einzelne Partei geben, deren rivalisierende Fraktionen den Kurs aushandelten und sich hinter verschlossenen Türen die Posten zuteilten. Stattdessen sollte es zwei Parteien geben, die klar definierte alternative Visionen vorgaben und den Wählern eine echte Entscheidung ermöglichten, zum Beispiel zwischen einem Japan mit höheren Steuern und mehr Sozialleistungen oder einem Japan mit weniger Staat und mehr Raum für den freien Markt. Doch die beiden Parteien blieben ideologisch zu unscharf definiert. Gerald Curtis von der Columbia University befand, Japan sei schlecht geeignet für eine Politik nach US-Muster, bei der die Bürger meist einer politischen Farbe Gefolgschaft leisten. »Japan ist nicht geteilt. Es gibt keine fundamentalen Unterschiede oder tiefen Brüche wie Herkunft oder Religion«, sagte er. »Auf gewisse Weise gibt es nur den Unterschied: ›Kaufen Sie einen Nissan oder einen Toyota?‹«49 In diesem gesellschaftlichen Umfeld ist es schwer, eine starke ideologische Überzeugung zu vertreten.
Die drei Jahre, die die Demokratische Partei an der Regierung war, waren eine vergebene Chance. Die Bürger hatten einen neuen Politikstil gewählt. Doch sie bekamen noch mehr Kurzzeit-Premiers und halb verwirklichte Ideen. (Zum Beispiel mussten die Demokraten ihre Kindergeldversprechen zurücknehmen, als die Wirtschaft kurz nach der Lehman-Krise einbrach.) Wie beschrieben konnte sich Hatoyama knapp neun Monate halten. Er scheiterte hauptsächlich an der nicht erfolgten Verlegung der Okinawa-Militärbasen. Seinem Nachfolger Naoto Kan, einem ehemaligen Patentanwalt, erging es nicht viel besser. Er hatte das Unglück, am 11. März im Amt zu sein, als das Erdbeben und der Tsunami zuschlugen. Doch seine Regierung steckte schon seit geraumer Zeit in der Klemme. Anfangs erntete man noch Lob, da rasch 100000 Männer der Selbstverteidigungsstreitkräfte entsandt wurden, um bei der Rettungsaktion zu helfen, doch als es in Fukushima zur Nuklearkatastrophe kam, schwand das Vertrauen in die Behörden so schnell wie das Wasser aus den Abklingbecken des Reaktors. Man warf Kan unzureichende Kommunikation vor und gab ihm – was angesichts von Tepcos Inkompetenz ungerechtfertigt gewesen sein mag – die Schuld am Missmanagement zwischen Kabinett und Reaktorbetreiber. Zu einem späteren Zeitpunkt gab es Beschwerden, da die Errichtung von Notunterkünften angeblich zu schleppend voranging, obwohl die Regierung innerhalb von zehn Wochen nach dem Unglück 27200 Einheiten schuf.50 Allgemein konnte die Bevölkerung nicht verstehen, wie sich die Regierung in Zeiten eines nationalen Unglücks interne Machtkämpfe liefern konnte. Im Juni 2011, als immer noch 100000 Menschen in Notunterkünften verharrten und die kritische Situation in Fukushima noch nicht vollständig unter Kontrolle gebracht war, beschäftigten sich die Parlamentarier damit, einen Misstrauensantrag gegen Kan vorzubereiten. Die Unfähigkeit der politischen Klasse, sich während einer nationalen Krise zusammenzutun, wurde nur wenige Tage nach dem Tsunami deutlich, als Oppositionsführer Sadakazu Tanigaki das Angebot zurückwies, als stellvertretender Premierminister einem Notfallkabinett beizutreten.51
Manchmal schien es, als lebten die Politiker auf einem anderen Planeten. Als er gerade neun Tage als Minister für den Wiederaufbau der Katastrophengebiete im Amt war, trat Ryu Matsumoto auch schon zurück, da ein Video aufgetaucht war, auf dem er den Gouverneur eines der Notstandsgebiete zusammenstauchte. Der arme Mann hatte den »Fehler« begangen, einige Minuten zu spät zu einer Besprechung zu erscheinen. Matsumoto wies den Gouverneur, der durch den Tsunami auf einen Schlag Tausende seiner Bürger verloren hatte, aufs Schärfste zurecht und sagte ihm, eine solche Taktlosigkeit sei unentschuldbar. Matsumotos ausgewiesene Gefühllosigkeit fasste für viele zusammen, woran eine herrschende Elite krankte, die den Bezug zur Realität verloren hatte. Sechs Monate nachdem die Wellen an die Nordostküste geschlagen waren, war auch Kans Regierung zerbrochen.
Der dritte und letzte Premierminister der Demokratischen Partei war Yoshihiko Noda – ein Mann, der keine großen Erwartungen weckte, indem er die Rolle des Staatschefs mit der eines Busfahrers verglich. Gerechterweise muss man aber sagen, dass Noda einige Dinge in Bewegung brachte. Seine Regierung verabschiedete zusätzliche Haushaltsmittel und stockte die Mittel zum Wiederaufbau von Tohoku auf 200 Milliarden Dollar auf. Zudem begann man vorsichtige, von Protektionisten scharf kritisierte Gespräche über den Beitritt zur Trans-Pacific Partnership, einem Freihandelsabkommen zwischen Brunei, Chile, Neuseeland und Singapur, dem sich womöglich auch die USA anschließen. Von potenziell weitreichender Konsequenz war auch ein Gesetzentwurf zur Verdopplung der Mehrwertsteuer bis 2015 – für manche der erste ernst zu nehmende Versuch seit Jahren, das Schuldenproblem in den Griff zu bekommen. In seiner urigen Ausdrucksweise warnte Noda, eine europäische Pleite wie in Griechenland sei »kein Feuer am anderen Ufer des Flusses«. Doch mit Steuererhöhungen ließen sich kaum Wahlen gewinnen. Selbst Wirtschaftswissenschaftler hielten sie für verfrüht und befürchteten, sie würden die Wirtschaft in eine erneute Rezession stürzen, anstatt Japan finanziell gesunden zu lassen. Die Verabschiedung des Gesetzes wurde an das Versprechen vorgezogener Wahlen geknüpft, die dann Ende 2012 stattfanden. Die Demokratische Partei verlor und gab die Macht nach nur drei Jahren an die Liberaldemokraten zurück. Nodas Bus war den Abhang hinuntergeschlittert.
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Nicht nur die Demokratische Partei hatte enttäuscht. Eine noch größere Unzufriedenheit herrschte über die politische Klasse an sich. Die Reaktion auf den Tsunami schien noch einmal eine Überzeugung herauszustellen, die sich über Jahrzehnte gebildet hatte. »Jeder einzelne Japaner hat unglaubliche Kraft bewiesen, aber als kollektive Einheit sind wir glaube ich gescheitert«, sagte mir Toshiaki Miura, Berichterstatter bei der Asahi. Ein Land, bei dem man oft an ein starkes Kollektiv, aber eher machtlose Individuen denkt, bewies nun das komplette Gegenteil, meinte er. Wie sich herausgestellt habe, sei Japan ein Land mit starken Individuen und einem schwachen Staat. Ich musste bei dieser Gelegenheit daran denken, was mir mein Freund Shijuro Ogata oft gesagt hat: »Japan ist ein Land, das gute Soldaten, aber schlechte Kommandanten hat.« Sawako Shirahase, Soziologin an der Universität Tokio, kam zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. »Es ist seltsam«, sagte sie über den munteren Wechsel farbloser Premiers. »Man hat die japanische Gesellschaft immer als sehr von oben bestimmt beschrieben. Aber wir haben gelernt, dass wir auch ohne Führung auskommen.«
Die Japaner lernten auf vielerlei Art, ohne Führung zu leben, also selbst gestaltend tätig zu werden. Langsam, aber sicher bildete sich eine Zivilgesellschaft heraus – und zwar in einem Land, dessen Bewohnern nicht ganz zu Unrecht nachgesagt wurde, sie seien passiv und hierarchietreu. Doch die Menschen bekamen bestimmte Veränderungen konkret zu spüren. Die Mutterfirma Japan kümmerte sich nicht mehr so eifrig um ihre Bürger, wie sie es früher getan hatte. Immer mehr Japaner hatten befristete Arbeitsverträge statt lebenslanger Beschäftigungsgarantie. Immer mehr Menschen lebten am Rande einer Gesellschaft, die sich im Vergleich zu anderen modernen Nationen als besonders egalitär betrachtet hatte. Hama erklärte, selbst die Sprache habe sich geändert. Sie verwies auf Hatoyamas Antrittsrede von 2009, als er das Wahlvolk als »Shimin«, als »Staatsbürger« oder »Citoyens« im Sinne der Französischen Revolution bezeichnet hatte. Normalerweise spreche man nämlich von Kokumin, den »Menschen, die zu einem Land gehören« oder von Sha-in, den »Menschen, die zu einem Unternehmen gehören«. Staatsbürger aber gehörten niemandem. Aus den Reihen der »Untergebenen und Angestellten« entwickelte sich eine Zivilgesellschaft.
In vielen Lebensbereichen gab es Anzeichen dafür, dass die Menschen die Dinge nun selbst in die Hand nahmen. Ein Bereich war der Non-Profit-Sektor. Greifbar wurde diese Entwicklung erstmals beim Erdbeben in Kobe im Jahr 1995, dem »Jahr eins der Freiwilligenära«. Im Januar 1995 waren mehr als eine Million Freiwillige spontan in die betroffene Stadt gekommen, um zu helfen. Auf eine solche Welle der Unterstützung war man nicht vorbereitet. Die Freiwilligen wurden weithin für ihr bürgerliches Engagement gelobt, und die meisten wurden in Kobe herzlich empfangen. Doch viele zeigten sich unorganisiert. Manche, die ohne Essen und Unterkunft in der Erdbebenzone ankamen, bezeichnete man auch als Meiwaku Borantia, als »lästige Helfer«.52 Kobe markierte den Beginn einer neuen Solidarität und eines gemeinschaftlichen Engagements, doch die Bemühungen blieben meistenteils amateurhaft. Das änderte sich bis zu Japans nächster großer Katastrophe. Als der Tsunami einschlug, gab es in Japan bereits 4000053 registrierte Hilfsorganisationen. Der Non-Profit-Sektor war professioneller, besser finanziert und besser koordiniert. Freiwilligenorganisationen wurden im Rahmen weitverbreiteter »sozialer Verantwortung« von großen Unternehmen gestützt. Als sich das Unglück ereignete, wurden rasch Freiwillige entsandt, um Nahrung, medizinische Versorgung und moralische Unterstützung in die betroffenen Küstengebiete zu bringen. Private Unternehmen schickten Tausende ihrer Angestellten als humanitäre Freiwillige und logistische Helfer in die Region, damit Fabriken wiederaufgebaut und in Betrieb genommen werden konnten. In den Wochen und Monaten nach dem Unglück wurden in oftmals unglaublicher Geschwindigkeit Versorgungswege wiederhergestellt.
Die Regierung versuchte, diese Gruppen zu koordinieren, und betraute wenige Tage nach dem Unglück die bekannte ehemalige Aktivistin Kiyomi Tsujimoto, Mitbegründerin des »Peace Boat«, mit der Aufgabe, die Freiwilligenarbeiten zu organisieren. Ihre Ernennung wurde positiv aufgenommen, doch in der Praxis war ihre Rolle nicht immer eindeutig. In den am schlimmsten betroffenen Gebieten des Landes wurden die Regierungsmaßnahmen meist niedergemacht, während man die Arbeit der Freiwilligen lobte. Typisch war beispielsweise der Kommentar von Shigemitsu Hatakeyama, einem mit dem Leben davongekommenen Austernfischer aus Kesennuma in der Präfektur Miyagi: »Seit dem Erdbeben habe ich von der Regierung rein gar nichts bekommen«, berichtete er mir vorwurfsvoll. »Die Freiwilligen haben uns Essen gebracht.« Und es waren auch die Freiwilligen, erzählte er, die ihm konkrete Ratschläge dazu gegeben hätten, wie er seine zerstörte Austernfischerei wieder aufbauen könnte. Er wollte nun eine Unterkunft für Touristen schaffen und ein kleines Restaurant eröffnen, in dem Besucher seine frisch gefangenen Austern genießen könnten. Oft entwickelten sich Freundschaften zwischen Bewohnern und Freiwilligen, die nach Tohoku geströmt waren, um dort Gebäude instand zu setzen, Müll und Dreck wegzuschaffen oder wasserdurchtränkte Besitztümer zu retten. Ein Wissenschaftler, der sich mit dem japanischen Non-Profit-Sektor beschäftigt hat, bestätigte, dass seit Kobe eine »neue Professionalität, Organisation, gesellschaftliche Legitimation und Institutionalisierung« erreicht wurde.54
Keiko Kiyama, Generalsekretärin der Japan Emergency NGOs – Organisationen, die im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan, Irak und Pakistan aktiv waren und die Freiwilligeneinsätze in Tohoku organisierten –, ist ebenfalls der Ansicht, dass sich seit Kobe viel getan hat. Doch Japans Dritter Sektor, erzählte sie mir, habe das US-amerikanische oder europäische Niveau noch nicht erreicht. »Selbst jetzt habe ich den Eindruck, dass die Zivilgesellschaft noch nicht stark genug ist. Wir Japaner können gut allein oder in einer kleinen Gruppe arbeiten, aber das Organisatorische beherrschen wir nur unzureichend. Wir müssen in der Lage sein, kleine Unterschiede für das größere Ziel zu opfern. Uns fällt es schwer, zu einer großen Idee zu gelangen.« Kiyama glaubt nicht, dass die Regierung in der Lage gewesen wäre, den Ansturm der Freiwilligen zu bewältigen. Bürokratie könne erdrückend sein, sagte sie, und die Verwaltungen könnten nur schwer umdenken. Sie hätten Mühe, mit Vorschlägen umzugehen, die außerhalb ihrer unmittelbaren bürokratischen Erfahrung lägen – wenn beispielsweise gemeinnützige Gruppen den Opfern von Unglücken bitter benötigte psychologische Hilfe zukommen lassen wollten. Ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation Give2Asia erzählte mir von einer Begebenheit, die zu bestätigen schien, dass die regeltreue Bürokratie eifersüchtig über ihr Terrain wachte. Man hatte Organisationen gesagt, sie müssten aus Gründen der Gerechtigkeit immer genau die gleichen Dinge an alle Empfänger verteilen. »Sie mussten immer 70000 Stück von allem haben, und es musste immer dieselbe Marke und alles gleich sein«, erzählte der Give2Asia-Mitarbeiter. »Wir haben von einer Organisation gehört, die 197 Bananen verteilen wollten, aber in der Notunterkunft waren 199 Menschen, also haben sie die Lieferung abgelehnt – weil es nicht genug für alle gab.«55
Abgesehen von diesen Hürden berichtete mir Toshiaki Miura von der Asahi, dass sich tatsächlich etwas gewandelt hätte. Vier Monate nach dem Tsunami hatte sich sein Freund, ein Juraabsolvent, bereit erklärt, jedes Wochenende auf eigene Faust nach Tohoku zu fahren und den Menschen dort Lebensmittel und Unterstützung zu bringen. »Inzwischen ist es für gute, kluge Menschen ganz natürlich, so zu denken und sich ehrenamtlich zu engagieren. Das ist etwas ganz Neues«, sagte Miura. Auch ich war beeindruckt von der Zahl Freiwilliger, die ich in Tohoku sah, und das nicht nur einige Tage unmittelbar nach dem Tsunami, sondern noch Monate darauf. Wenn man durch zerstörte Küstenorte fuhr, traf man nicht selten auf eine Basketballschulmannschaft oder Büroarbeiter von Mitsubishi, die ein überschwemmtes Reisfeld ausgruben oder sorgsam Fotoalben ordneten, die sie aus überfluteten Häusern gerettet hatten. Auch die Selbstverteidigungsstreitkräfte sah man überall, wie sie nach Toten suchten oder den Lebenden Essen brachten. In einer Stadt hatten sie in einem Parkhaus unter einer militärgrünen Plane ein mobiles Bad errichtet, damit die Überlebenden des Tsunamis das ihnen so wichtige Baderitual vollziehen konnten. »Ich habe den Eindruck, dass sich in vielen Bereichen der Gesellschaft ein neuer Geist und neue Ideen regen«, sagte Miura über die Veränderungen, die er seit dem Tsunami beobachtet hatte. »Diese Krise hat die Saat für ein Umdenken mit sich gebracht. Obwohl wir noch keine neue Ideologie oder einen neuen Typus der Führung entwickelt haben, haben die Menschen doch begonnen, anders zu denken.«
Es wäre unbedacht, zu behaupten, dass ein einzelnes Ereignis und selbst ein so traumatisches Erlebnis wie der Tsunami im März 2011 die Gesellschaft über Nacht verändern könnte. Wahrscheinlicher ist, dass die Krise Veränderungen beleuchtet hat, die sich schon seit Jahren abspielten. Da Japan sich einem deutlich geringeren Wirtschaftswachstum anpassen musste, haben sich Einzelpersonen und Personengruppen auf vielerlei Art zu engagieren versucht. Ich habe miterlebt, wie kleine Städte und Dörfer, beispielsweise in der Präfektur Oita im südlichen Kyushu, die Betreuung ihrer älteren Mitbürger selbst organisierten, indem im Turnus Hausbesuche gemacht und Kurse wie Kalligrafie oder Ortsgeschichte angeboten wurden. Die Entwicklung einer lebendigen Zivilgesellschaft hängt teils von veränderten Normen und teils von einer veränderten Gesetzeslage ab, meint der Japanologe Jeff Kingston. In seinem Buch Japan’s Quiet Transformation beschreibt er, wie sich die Gesetze und mit ihnen die Einstellungen der Menschen langsam verändert haben und so eine »verkümmerte« Zivilgesellschaft neu aufkeimen konnte. »Der normale Bürger verlangt eine demokratischere Gesellschaft, die sich durch eine transparentere Regierung, mehr öffentliche Beteiligung und Kontrolle und eine stärkere Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit auszeichnet.«56
Bedeutende Fortschritte erreichte man laut Kingston auf dem Gebiet der Informationsfreiheit – oder besser gesagt dem Anrecht der Bürger, informiert zu werden. Mit den 1990er-Jahren wurde die Forderung nach einem Öffentlichkeitsprinzip immer lauter. Der Wunsch nach größerer Transparenz existierte mindestens seit den 1960er-Jahren, als Bürgerbewegungen meistenteils ohne Erfolg Informationen über den Einsatz von Pestiziden, Nahrungszusätzen und über pharmazeutische Nebenwirkungen verlangten. 1985 sahen sich die Familien der mehr als 520 Opfer eines der schlimmsten Flugzeugunglücke Japans gezwungen, sich auf den US-amerikanischen Freedom of Information Act zu berufen, um an Informationen über den Absturz zu gelangen, und offenbarten damit die Unzulänglichkeit der japanischen Gesetze. Bürgerinitiativen zwangen schließlich die Präfekturverwaltungen, eine Verordnung zur Informationsfreiheit zu erlassen. Die japanischen Bürger nutzten ihre neue Kontrolle, um auf Vergehen der Politiker aufmerksam zu machen: Dazu gehörten falsch abgerechnete Reisekosten und unwahrscheinlich hohe Spesenabrechnungen. In einem Fall hatten Beamte mehrfach Fahrten mit einer Schnellzuglinie abgerechnet, die noch nicht einmal in Betrieb war.
Die Gerichte unterstützten nun die Forderung der Bürger nach einer Auskunftspflicht. Nach jahrelangem Druck wurde schließlich 2011 eine landesweite Offenlegungspflicht vereinbart. Jeff Kingston glaubt, die öffentliche Skepsis angesichts der Nuklearkatastrophe von Fukushima zeigte, wie weit die Entwicklung schon fortgeschritten war. Die Menschen wollten sich nicht mit abgedroschenen Erklärungen oder abgekarteten Bürgeranhörungen abspeisen lassen. Sie wollten keine Taschenspielertricks der Regierung mehr dulden, wenn zum Beispiel Schulspielplätze durch Schiebereien wieder als »sicher« galten, weil man ganz einfach die Strahlengrenze anhob. Und sie wollten keine Regierung tolerieren, die sie unaufrichtig fanden und die ihrer Ansicht nach nicht in der Lage war, die Katastrophe zu bewältigen. Der öffentliche Druck brachte die Regierung schließlich ins Wanken, und es kam zu einem unabhängigen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu dem Atomunfall. Es gab öffentliche Anhörungen mit dokumentierten Zeugenaussagen. Informationen wurden über das Internet verbreitet – unter anderem wurden Videos veröffentlicht, die Szenen aus den Reaktoren kurz nach dem Unglück zeigten. »Trotz mancher Rückschläge brachte dies das Thema Transparenz ein großes Stück voran«, meint Kingston.57
Es gab viele weitere Beispiele einer aktiveren Zivilgesellschaft. Manches, wie die Berufung von Schöffen in Strafprozessen, geschah auf Initiative der Regierung. Anderes, wie der Widerstand gegen die Einführung eines staatlichen Erkennungssystems, war das Ergebnis von Bürgerprotesten gegen einen als erdrückend empfundenen Staat. Das 2002 eingeführte »Juki Net« sollte zu jedem japanischen Bürger einen Datensatz zusammenstellen, mit Angaben wie Name, Alter, Geschlecht, Geburtsdatum, Wohnort und einer elfstelligen Identifikationsnummer. Angesichts der wohlgeordneten japanischen Gesellschaft und dem fest etablierten Familienregister, das mindestens auf 1872 zurückgeht, hatte man vielleicht nicht damit gerechnet, dass diese Pläne für solchen Aufruhr sorgen würden. Doch Bürgergruppen gingen wütend auf die Barrikaden und reichten nicht weniger als 35 Klagen gegen die Pläne ein. Yoshiaki Takashi, pensionierter Mitarbeiter einer Handelsfirma, sprach wohl vielen aus dem Herzen, als er sagte: »Die Regierung hat Menschen eine Nummer zugewiesen, als wären wir Tiere oder Industrieprodukte. Ich ärgere mich, dass jemand meine persönlichen Daten haben will, obgleich er doch nichts damit zu schaffen hat.«58
Während der Tsunami-Katastrophe gingen auch Journalisten neue Wege. Nicht nur dass sie neue Medien nutzten, um Informationen über die Geschehnisse zu verbreiten – viele verfolgten auch eine Berichterstattung, vor der etablierte Medien zurückschreckten. Als Zeitungen ihre Reporter aus den strahlenverseuchten Gebieten herausbeorderten, waren freie Journalisten in die Lücke gesprungen. Berichte von ausländischen Medien oder Experten, die den offiziellen japanischen Bekanntmachungen widersprachen, wurden rasch übersetzt und über das Internet verbreitet. Manche Journalisten übertrugen Pressekonferenzen live im Netz und umgingen so die Mainstream-Medien, die oft einen nichtssagenden Bericht der Ereignisse lieferten. Eine Studie über die Auswirkungen sozialer Medien während der Katastrophe fand »Beweise, dass die Nutzung sozialer Medien durch diese eigenständigen Journalisten/Übersetzer andere Reporter ermutigten und bestärkten, herausfordernde Fragen zu stellen«.59
Mein Freund, der Fotograf Toshiki Senoue, verbrachte Wochen am Stück im Niemandsland rund um Fukushima und dokumentierte, was mit den verlassenen Städten und Dörfern im Schatten der Reaktoranlage geschah. Er hatte einen Weg an den streng bewachten Kontrollpunkten vorbei in die Sperrzone gefunden und konnte das Gebiet auf diese Weise unbemerkt betreten und verlassen. Er machte Fotos und detaillierte Notizen, um dann später ein Buch herauszugeben, durch das die Menschen erfahren könnten, was sich in einer nuklear verseuchten Zone abspielte, die offiziell für Medien nicht zugänglich war. Einmal wurde er von der Polizei festgehalten und gewarnt, dass der Aufenthalt in der Sperrzone illegal sei. Toshiki gab nichts darum. »Ich lasse mir nicht von der Regierung sagen, wohin ich in meinem Land gehen kann und wohin nicht«, sagte er mir. Bis dahin hatte er sich zumindest einen Geigerzähler besorgt.
Seizaburo Sato wurde 1929 in der Präfektur Iwate geboren. Er erinnerte sich, dass er als Jugendlicher lernte, mit einem angespitzten Bambusstock zu kämpfen – für den Fall, dass die Amerikaner einmarschierten. Zum Ende des Krieges überflogen US-Flugzeuge die Felder und ließen Kugeln niederprasseln. Sato konnte sich nur verstecken. Einmal, erzählte er, hockte er nur hinter einem kleinen Baumstumpf, als ein Tiefflieger über ihn hinwegdröhnte. Als Japan kapituliert hatte, kamen die Flugzeuge zurück. Dieses Mal ließen sie Fässer mit Kleidung und Medikamenten fallen. Es gab damals keine Transportmittel, sagte Sato, also kam er nie rechtzeitig dorthin. Die Fässer schienen immer auf irgendeinem entlegenen Hügel zu landen. »Wir hatten den Krieg verloren, also gab es wenig zu essen und keine Arbeit«, erinnerte er sich an die Jahre nach der Niederlage. »Damals brauchte man Zimmerer und Stuckateure. Diese Leute bekamen Arbeit.«60 Satos Eltern schickten ihn nach Sendai, inzwischen »Hauptstadt« des Nordens, wo er in die Lehre gehen sollte. Er blieb vier Jahre und verdiente nur ein Taschengeld – genug, um ab und zu ins Kino zu gehen. In Sendai donnerten die Amerikaner in Lastern vorbei. Einmal ging er sich ein Baseballspiel ansehen. »Da habe ich meine erste Cola getrunken.« Mädchen machten ihm damals Angst. Außerdem schickte es sich nicht, sie in der Öffentlichkeit anzusprechen. Die einzigen, bei denen er sich entspannt geben konnte, waren die »Shampoo Girls« beim Friseur. Mit Anfang 20 zog Sato zurück in seine Heimatstadt in der Präfektur Iwate und lernte dort, Shoji-Raumteiler und Türen zu bauen. Nun bekam er Lohn, und er träumte davon, sich ein Fahrrad, ein Radio oder sogar eine Armbanduhr zu kaufen. »Meine Eltern erzählten mir, da sei dieses Mädchen. Warum ich sie nicht heiratete?« Damals gab es weniger Liebesheiraten. Die meisten Verbindungen wurden arrangiert. Sato tat, was man ihm sagte. Er zog mit seiner Braut in den Fischerort, in dem ihre Familie seit 18 Generationen ansässig war. Der Ort hieß Ofunato.
***
Zum ersten Mal begegnete ich Sato eine Woche nach dem Tsunami. Mir war ein alter Mann aufgefallen, der einen Schutzhelm trug und in den Trümmern seines ehemaligen Zuhauses herumstocherte. Anders als die anderen Gebäude, die zu unkenntlichen Aufschüttungen zusammengefallen waren, konnte sich Satos Haus noch aufrecht halten. Es trug noch ein Dach auf einer Unterkonstruktion, die Wände jedoch waren nicht vorhanden. Alles, was sich einmal im Haus befunden hatte, war durch die Gewalt des Wassers nach draußen geschoben worden. Selbst die Tatami-Matten, das beinahe geheiligte Kernstück eines jeden japanischen Zuhauses, lagen im Matsch verteilt. Dort, wo wohl einmal Satos Wohnzimmer gewesen war, stand eine weiße Limousine. Oder vielleicht stand sie auch noch davor. In dem unbeschreiblichen Trümmerhaufen von Ofunato ließ sich kaum noch etwas erkennen.
Ich kletterte die steile Böschung hinab, um herauszufinden, was der alte Mann dort machte. Er schien kleine Erinnerungsstücke aufzusammeln – alle kleinen Dinge, die er aus dem Salz und Schlick retten konnte. Am meisten beeindruckte mich seine Zielstrebigkeit. Denn seine Tätigkeit erschien sinnlos – so zerstört, zerfasert und durchnässt war alles. Es war, als wollte man eine Mülldeponie aufräumen. Doch Sato hatte den Entschluss gefasst, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen. »Gambarimasu«, antwortete er mit dem gängigen japanischen Ausdruck, als ich ihn fragte, was er mache. »Wir müssen uns durchkämpfen.«
Sato war 82 Jahre alt. Neben dem Helm, der beinahe komisch wirkte, trug er eine bläuliche Windjacke und violette Gummistiefel. Er war auf einem Auge blind, als Folge eines Baustellenunfalls vor 40 Jahren. Das schien ihn aber nicht übermäßig zu beeinträchtigen. Schließlich hatte er sich auch noch der Freiwilligen Feuerwehr angeschlossen. Aus den Trümmern hatte er unter anderem seine Feuerwehrschirmmütze bergen können. Er nahm den Helm ab, setzte die Mütze auf und salutierte. Sie war voller Wasser, das nun über sein Gesicht tropfte, doch er bewahrte unbeirrt Haltung. In Satos Wohnzimmer roch es nach Meerwasser. Ich trat vorsichtig über die Schwelle auf den schuttbedeckten Fußboden. Ich hatte die Schuhe anbehalten, was unter normalen Umständen ein Affront gewesen wäre. Doch das hier waren keine normalen Umstände, und auch Sato hatte noch die Stiefel an. Er deutete auf einen schwarz und golden lackierten Schrein, den er für seine Mutter gebaut hatte, die im Jahr zuvor gestorben war. Der Schrein, ein in Ehren gehaltenes Stück, war auf wunderbare Weise das einzige Möbel im Haus, das dem Ansturm des Meeres standgehalten hatte.
Ich kehrte noch zweimal nach unserer ersten Begegnung nach Ofunato zurück, um zu sehen, wie es Sato ging. Das erste Mal im August 2011, fünf Monate später. Sato stand auf der Straße, über irgendetwas gebeugt, und hielt einen Bohrer in der Hand. Wie sich herausstellte, baute er eine Schiebetür. Allemal besser, als eine zu kaufen, sagte er. Er hatte ein gelbes Handtuch um den Kopf gewickelt, gegen den Schweiß. Er trug kurze Hosen, ein kurzärmliges Hemd und alte Lederschuhe, die er hinten plattgetreten hatte, um einfacher hinein- und herauszuschlüpfen. Sato war mit Frau und Tochter in ein kleines Haus oben auf der steilen Böschung gezogen, nur einen Steinwurf von dem zerstörten Haus entfernt, an dem ich ihm beim ersten Mal begegnet war. Sämtliche Trümmer waren beseitigt. Die Regierung zahle die Miete für seine neue Unterkunft, sagte er. Er dürfe zwei Jahre dort wohnen. Drinnen roch es nach frisch ausgelegten Tatamis. Die alten, mit Meerwasser vollgesogenen Tatami-Matten hatte man rausgeworfen. Mit der Hilfe einiger Nachbarn war es Sato gelungen, den schweren Butsudan-Schrein, den er für seine Mutter gebaut hatte, die Böschung hinauf in sein neues Haus zu schleppen. Das wuchtige Möbelstück erdrückte die eher beengte Umgebung. »Nur zwei Familien aus dieser Gegend konnten ihren Butsudan retten«, sagte er. An der Wand hingen ein Bild des Showa-Kaisers Hirohito und eine Urkunde über den 30-jährigen Dienst als freiwilliger Feuerwehrmann.
Sato nahm mich mit in seinen kleinen Garten in den Hügeln über der Stadt. Den steilen Pfad dort hinauf fuhr er jeden Tag mit seiner kleinen Honda CD Benly (Benly oder benri heißt auf Japanisch »praktisch«). Es war ein großes Stück Land, auf dem er eine beeindruckende Vielfalt von Pflanzen und Gemüsen anbaute: Dattelpflaumen, Daikon-Rettich, Tomaten, Zwiebeln, Perilla, Gurken, Paprika, Satsuma, Kartoffeln, Auberginen, Edamame-Sojabohnen und Mais. Er hatte Netze aufgehängt, um die Krähen abzuhalten, und einen Windfänger in Form eines japanischen Flugzeugs mit der Flagge der aufgehenden Sonne. Eine Vogelscheuche in der Ecke trug einen Sturzhelm, der an das Modell erinnerte, das Sato vor fünf Monaten aufgehabt hatte.
Im folgenden Sommer kam ich wieder. Es war Juni 2012, und Sato war noch immer gut in Form. Er hatte eben in einem benachbarten Haus einen Fußboden verlegt. Als ich kam, werkelte er gerade in seinem Schuppen. Ich habe ihn nie still sitzen sehen. Sato wurde in einem meiner Artikel erwähnt, und er verwahrte eine Ausgabe der Zeitschrift in einer besonderen Holzschachtel, auf deren Deckel er das Titelblatt – ein Foto der Zerstörung – geklebt hatte.61 »Das ist mein Tsunami-Schatz«, sagte er, nahm die Zeitschrift vorsichtig heraus und blätterte darin. Ofunato, erzählte Sato, sei weniger schlimm zerstört als Rikuzentakata im nächsten Tal. »Die drüben haben nichts. Wir hier in Ofunato können Reis essen und haben Notunterkünfte«, sagte er. »Nach dem Krieg hat man im Müll nach Blech gesucht, um damit Häuser zu bauen. Heute beschweren sich die Leute, wenn sie keine Heizung oder Klimaanlage haben.« Sato schnaubte über die verweichlichten Japaner.
Ofunato war tatsächlich langsam wieder zum Leben erwacht, wie Sato erzählt hatte. An der Küste lag zwar noch alles brach, aber Müll und Schutt waren entfernt worden. Etwas vom Wasser entfernt hatte man ein »provisorisches Geschäftsviertel« errichtet: mehrere Fertighäuser an »Straßen« auf erhöhten Holzterrassen. Es gab Geschäfte, in denen Elektronik, Kosmetik, CDs und Kuchen verkauft wurden. Und es gab den Chou Chou Apparel Shop, auf den natürlich auch eine temporäre Einkaufspassage nicht verzichten konnte. Und ein Jiaozi/Bier-Restaurant. Ich wollte mir besonders eine Sache ansehen: Hy’s Café. Es wurde von Hiromi Shimodate und Yasuko Kimura betrieben, den beiden Frauen, die ich nach dem Tsunami wie Flüchtlinge an den Bahngleisen hatte entlanggehen sehen. Das ursprüngliche Hy’s Café war zerstört worden, doch hier stand es nun wieder, auferstanden aus den Trümmern.
Damals hatten die beiden an den verbogenen Gleisen den Schutt durchsucht. Hunderte Meter von dem Ort entfernt, an dem einmal ihr Café gestanden hatte, hatte Shimodate ein kleines Sieb gefunden. Nachdem ich gegangen war, hatten sie noch mehr Dinge entdeckt. Auf wundersame Weise intakt gebliebene Parfaitgläser zum Beispiel und eine noch brauchbare Pfanne. Außerdem eine Espressomaschine und einen elektrischen Eisschaber zum Bereiten von Kakigori, einem Dessert, obwohl beide Geräte hoffnungslos zerstört waren. Sie fanden Holzmöbel, die von den Wassermassen klein gehackt worden waren, aber auch ein paar Stahlstühle, die noch intakt waren. »An denen war nichts dran«, sagte Shimodate. »Ich habe sie an die Seite gestellt, aber als ich am nächsten Tag zurückkam, waren sie weg.«
Im neuen Hy’s war es gemütlich. An einer Tafel stand mit Kreide geschrieben das Menu. An diesem Tag wurde Nudelsalat empfohlen. Ich bestellte einen »Französischen Kaffee« aus der Pressstempelkanne. Es schien absurd, ihn hier bei den beiden Frauen zu trinken, die ich an jenem düsteren, kalten Tag hatte im Müll kramen sehen. Shimodate war in eine Behelfsunterkunft gezogen, ein kompaktes Fertighaus. Davor war sie bei ihrem Bruder untergekommen, der den Shimodate Auto Body Shop betrieb. Doch das Gebäude hatte sich nach einer Reihe von Nachbeben bedenklich zur Seite geneigt. Noch monatelang hatte die Erde geruckelt, und mit jedem neuen Stoß war das Haus weiter gekippt. Shimodate hatte deshalb beschlossen, umzuziehen. Sie setzte sich als Freiwillige ein. Sie half, Versorgungspakete aus anderen Teilen Japans zu verteilen. Sie hatte eine Freundin in Tokio, die Schauspielerin war und in ihrem Bekanntenkreis um Kleiderspenden gebeten hatte, die sie dann nach Ofunato schickte. Bald stolzierten die Fischerfrauen in den eleganten Kleidern von Tokios Diven durch die Stadt. Mehr als alles andere wünschten sich die Leute, wieder frischen Fisch essen zu können, erzählte Shimodate. Einige Monate nach dem Tsunami sahen sie dann voller Freude die Lichter der Tintenfischboote, wie sie nachts in die Bucht leuchteten. »Wir hatten ein schlechtes Gewissen, Dinge aus dem Meer zu essen. Alle diese Menschen waren wegen des Meeres gestorben. Wir fanden, es wäre besser, die 100 Tage zu warten«, erklärte sie mit Bezug auf die buddhistische Trauerphase.
Der Name »Hy« steht für die Initialen der beiden Frauen: Hiromi und Yasuko. Shimodate hatte befürchtet, die Leute hätten weder Lust noch Geld, um auswärts essen zu gehen, aber das kleine Restaurant war immer rege besucht, seit es vor ein paar Monaten wiedereröffnet hatte. Die beiden waren frohen Mutes. »Wir sahen an diesem Tag wahrscheinlich wirklich erbärmlich aus, wie wir da durch die Kälte liefen und den Boden absuchten«, sagte Kimura. Jetzt, ohne Atemmaske, wirkte sie wie eine andere Person, hübsch und schön gekleidet. An ihrem Handy hing ein kleiner rosaroter Teddybär.
Ofunato war schneller auf die Beine gekommen als andere Küstenstädte. Das schlimmer zerstörte Rikuzentakata habe noch keine behelfsmäßige Ladenstraße errichten können, erzählte Kimura. Dennoch sei die Bevölkerung in Ofunato seit dem Tsunami leicht geschrumpft. Die Leute wären nach Sendai, ins Zentrum des »Wiederaufbaubooms« gegangen, um Arbeit zu suchen, oder auch nach Tokio. Die beiden Frauen wussten noch nicht, wo sie wohnen sollten, wenn die Behelfsunterkünfte aufgelöst würden. Man überlegte, neue Wohnungen in den Hügeln zu errichten, aber es war noch nichts entschieden. »Es gibt nicht genug geeignetes Land, um weiter oben Häuser zu bauen«, erklärte Shimodate. »Man könnte die Berge abflachen, um dort Wohnungen zu errichten, aber ich nehme an, es wird schwer werden, die Leute zum Umziehen zu bewegen. Also wird man die Stadt wahrscheinlich hier wiederaufbauen«, fügte sie hinzu und meinte damit genau den alten Standort. »Wahrscheinlich muss man Erdreich heranschaffen, damit die Häuser höher liegen.« Überall entlang der Küste war das Land bis zu anderthalb Meter eingesunken, wodurch es gefährlicher denn je war, am Wasser zu wohnen. Selbst wenn man geeignetes Land fände, wüsste Shimodate nicht, ob sie es sich leisten könnte, ein neues Haus zu bauen. Manche Bewohner Ofunatos zahlten immer noch Häuser ab, die das Meer fortgespült hatte.
An einer Wand des Cafés hing ein Konzertplakat. Im angekündigten Hauptprogramm spielte eine Rap-Band namens Deftech, die Vorband stammte aus der Gegend und hieß Lawblow. Das Konzert sollte im Juli stattfinden. Lawblow hatte ein Video zu seinem Song »Ie ni kaerou«, »Lass uns nach Hause gehen« gedreht. Es zeigte Bewohner Ofunatos, die durch die von Trümmern umrahmten Straßen liefen, aber von ihrem Wunsch sangen, neu anzufangen. Das Lied war furchtbar kitschig, aber wenn die Leute es hörten, fingen sie an zu weinen, erzählte Kimura. Dann kamen weitere Kunden ins Café: Zwei Frauen, die einen Abend auswärts verbringen wollten. Sie bestellten Bier vom Fass, einen Caesar Salad, Bratkartoffeln und eine Portion Edamame. Shimodate ging in die Küche, um das Essen zu bereiten. Der Kaffee, sagte sie, ginge aufs Haus.
In Ofunato spürte man, wie sich die Menschen zusammentaten. Aus den Trümmern und Brachflächen bauten sie so etwas wie eine Stadt. Doch die Lage in Ofunato war weit entfernt davon, normal zu sein. Jemand erzählte mir, ein Taxifahrer stünde weiterhin vor dem Bahnhof, obwohl das kleine Gebäude von den Wassermassen weggespült worden war. Das erinnerte mich an die Geschichte vom treuen Hund Hachiko, der jeden Abend vor dem Bahnhof Shibuya auf sein Herrchen wartete. Dieser starb eines Tages und tauchte deshalb nicht auf. Unbeirrt kam Hachiko am nächsten Abend wieder zum Bahnhof und wartete. Neun Jahre lang kam Hachiko jeden Abend, bis auch er schließlich starb. Ich stellte mir Ofunatos treuen Taxifahrer ähnlich vor. Schließlich kam auch er, um auf nicht vorhandene Reisende zu warten, die aus nicht vorhandenen Zügen stiegen.
***
In dem etwa einem Jahr, seit dem mich Kazuyoshi Sasaki durch die leer gefegten Innenräume des Capital Hotel geführt hatte, hatte sich viel verändert. Zum einen war Sasaki mit überwältigenden 1400 Stimmen zum Stadtrat gewählt worden. Das Capital Hotel stand noch immer leer. Doch es gab Pläne, etwa 18 Meter über dem Meeresspiegel ein neues Hotel zu errichten. Die Bauarbeiten sollten im August beginnen, finanziert mit mehreren hundert Millionen Dollar der Regierung. Yoshimori Oyama, Manager des alten Hotels, erzählte, das neue Haus solle etwa halb so groß wie das ursprüngliche werden. Oyama wollte das Hotel lieber am ursprünglichen Standort wiederaufbauen. Durch seine Bauweise konnte es einem Tsunami standhalten, sagte er, und tatsächlich war die Welle durch das Gebäude gekracht, ohne die Grundkonstruktion zu zerstören. Oyama legte seine Argumente dar, doch andere legten Einspruch ein. Die Hotelgäste hätten Angst, so nah am Wasser zu übernachten, hieß es. Sie würden die Sicherheit eines höher gelegenen Terrains vorziehen.
Die flache Talebene, auf der einmal Rikuzentakata gestanden hatte, war vom Schutt befreit. Wo die Trümmer gelegen hatten, spross nun dünnes Gras und forderte den Boden für die Natur zurück. Ich kam an einem kühlen Sommerabend, und von einem Aussichtspunkt über dem leeren Tal hörte ich Vögel zwitschern und Kinderrufe beim Baseballspielen. Von einer Stadt mit 23000 Einwohnern waren etwa ein Dutzend Gebäude übrig. Doch selbst sie waren entkernt. Die Menschen, die hier einmal gewohnt hatten, waren in Behelfsunterkünfte gezogen oder zu Freunden und Verwandten in den umgebenden Hügeln. Manche waren ganz fortgegangen und würden vielleicht nie wiederkommen. Mehr als 1900 Menschen waren tot. Ein paar Autos krochen über den Talboden und zeichneten die Straßen nach, die sich wie ein Netz durch die halb vergessene Stadt zogen. Dahinter lag das Meer, flach wie ein blauer Spiegel. Man konnte sich nur schwer vorstellen, wie es derart hochkochen und die Gebäude und ihre Bewohner verschlingen konnte. Es hing immer noch ein leichter Pinienduft in der Luft, der wohl von den dicht bewaldeten Hügeln ringsum stammte, denn die 70000 Pinien vom Strand waren fortgerissen worden. Ich stand neben einer gut einen Meter hohen Steinsäule, in die das Datum 3.11.2011 eingraviert war. Das kleine Monument zeigte den Höchststand des Wassers an. Wie die alten Steinstelen entlang der Küste sollte es künftigen Generationen eine Warnung sein.
Den Menschen in Rikuzentakata bedeuteten ihre Boote alles. Als am 3. November die Erde zu beben aufhörte und das Wasser in der Bucht den Schlamm aufwühlte – ein Anzeichen für einen nahenden Tsunami –, eilten viele Fischer zu ihren Kähnen. Auch der 60-jährige Shuichi Kanno. Trotz der Einwände seiner Tochter hastete er nicht etwa in Richtung der Hügel, sondern zum Wasser. »Ohne ein Boot kann ich mein Leben nicht denken«, sagte er. Er beschloss, den größten seiner drei Kähne zu retten, indem er ihn in den Tsunami steuerte – eine Überlebenstechnik, die Fischern seit Generationen beigebracht wurde. »Ich hatte keine Angst. Mein einziger Gedanke war, mein Boot zu retten. Das habe ich auch beim Chile-Erdbeben getan«, erzählte er. Er meinte den Tsunami von 1960, der Rikuzentakata getroffen hatte, nachdem es auf halbem Weg um die Erde ein Erdbeben gegeben hatte.
Wer sein Boot verlor, kam nur schwer zurecht. Die Entschädigungen der Regierung ließen auf sich warten und waren unzureichend, erzählte Sachiko Kanno, Shuichis 62-jährige Frau. »Es ist kein Geld da und keine Schiffbauer, die sie herstellen. Das kann Jahre dauern, und bis dahin sind wir alle grau.« Kanno war eine robuste Frau mit strahlenden Augen. Wäscheklammern hingen griffbereit an ihrer Schürze, die sie über einem Hauskleid und einer Trainingshose trug. »Die ohne Boot sammeln Seetang. Das ist in dieser Gegend normal. Oder sie arbeiten auf Baustellen oder in den Reisfeldern. Manche machen auch gar nichts.« Derzeit sei Uni-Saison, erzählte sie, wenn die Fischer die kostbaren Seeigel fangen, für die man überall in Japan hohe Preise erzielen könne. Um die stacheligen Kreaturen am Meeresgrund zu erwischen, benutzen sie mehrere Meter lange Stangen, an denen Spiegel angebracht sind. Doch viele dieser Stangen seien fortgespült worden, und zwischen den Mitgliedern der Gewerkschaft war Streit ausgebrochen, da manche sagten, es wäre ungerecht, wenn nur die Fischer, die noch Stangen hätten, Seeigel fangen könnten. Daraufhin habe es ein Treffen gegeben, um einen Kompromiss auszuhandeln.
An diesem Morgen traf ich Stadtrat Sasaki. Er nahm mich mit zum Fumonji-Tempel, in dem die sterblichen Überreste von nicht identifizierten Tsunami-Opfern in Mulltücher gewickelt in Holzkisten aufbewahrt wurden. Inzwischen waren es nur noch 23 Kisten, statt beinahe 300 wie bei meinem ersten Besuch. Die anderen waren anhand ihrer DNA identifiziert und von den Familien abgeholt worden. Doch es gab auch eine neue Kiste. Im April hatte es einen Taifun gegeben. Er hatte eine Leiche an den Strand gespült, die sich mehr als ein Jahr zuvor der Tsunami geholt hatte. »Wir sind zu 95 Prozent sicher, wer das ist«, sagte Sasaki. »Wir brauchen nur noch einen DNA-Nachweis.« Die angespülte Leiche trug Reste einer Capital-Hotel-Uniform. Sasaki meinte, es müsste sich um eine seiner Kolleginnen handeln, die man seit dem Tsunami vermisse. »Wir sind alle mit dem Bus entkommen, aber sie hat ihr Auto genommen, weil sie ihre Mutter ins Evakuierungslager fahren wollte.« Er schluckte und schwieg. »Es kommt uns vor, als sei sie zu uns zurückgekommen«, sagte er schließlich.
Rund um den Altar lagen Gaben aufgereiht, die Menschen aus ganz Japan geschickt hatten: Sportgetränke in Dosen, Weingummi, Marshmallows, Hokkaido-Kekse. Der blau gewandete Priester des Tempels deutete auf den Dachbalken des Gebäudes und erklärte, dieser sei aus einem einzigen Stück von zwölf Ken, also etwa 24 Metern gemacht. »Ein so langes Holz findet man heute nicht mehr«, sagte er. »Es muss ein Jahr gedauert haben, dieses Stück zu bearbeiten.« Der Tempel wurde im 13. Jahrhundert gegründet, aber im 16. Jahrhundert in einiger Entfernung von der Küste neu errichtet – wahrscheinlich nach einem Tsunami. In einem Winkel stand dort neben buddhistischen Gottheiten die Statue eines grimmigen, halb nackten Dämons, der in der einen Hand ein Schwert und in der anderen eine Art Steinschleuder hielt. Die düster dreinblickende Figur ritt auf einer Welle, die sich hinter ihr in Form eines Heiligenscheins aufbaute. »Das ist Nami-kiri Fudo – ein Gott, der die Wellen besiegt«, erklärte der Priester. »Dieser Tempel bietet seit alter Zeit Schutz gegen Tsunamis.«
Die Kräfte des Gottes reichten nicht aus, um das Unglück von 2011 abzuwenden. Anders als Ofunato, das langsam wieder Richtung Meer kroch, war Rikuzentakata derart zerstört worden, dass es wohl nie wieder am ursprünglichen Ort entstehen würde, mutmaßten die Leute. Die gesamte Stadt, die bei einer Volkszählung im Jahr 2010 noch 23302 Einwohner hatte, sollte von der Küste weg in die Hügel verschoben werden. Das hieß, falls es überhaupt noch genug Bewohner gäbe. Sasaki befürchtete, wenn die Unternehmen nicht bald wieder in Betrieb gehen würden, gäbe es keine andere Wahl, als sich woanders Arbeit zu suchen. Die Zahl der gemeldeten Bewohner Rikuzentakatas sei bereits auf 19000 gefallen und sinke mit jedem Monat weiter. Wie in Ofunato gab es Pläne, ein provisorisches Geschäftsviertel zu errichten, aber man hatte sich noch nicht auf einen Standort geeinigt. Aus Tokio flossen Wiederaufbaugelder – Sasaki sagte, das Budget der Stadt habe sich versiebenfacht –, aber es gab zu wenig Menschen, die die Sache in die Hand nahmen. Etwa ein Drittel der 300 Regierungsbeamten der Stadt waren bei dem Tsunami zu Tode gekommen und hinterließen nun einen Mangel an Fachwissen und Erfahrung. Man hatte vor, eine Ufermauer zu errichten, die doppelt so hoch sein sollte wie die zerstörte, und Sasaki war sicher, dass die Menschen irgendwann doch in die eigentliche Stadt zurückkehren würden. »Im Moment müssen die Menschen höhergelegen wohnen, aber nach einer Weile ziehen sie wieder an die Küste, weil sie das Meer lieben und respektieren«, sagte er. »Sie wissen, dass sie eines Tages wieder von einem Tsunami getroffen werden, aber sie können nicht anders. Es ist ihre Kultur.«
Einige Wiederaufbaumaßnahmen hatten schon begonnen. Sasaki nahm mich mit zu einer Hauseinweihung am Rand der Stadt, wo man die Fertigstellung einer städtischen Kantine feierte. Das Geld war von Bürgern aus Zushi gespendet worden, einer Stadt in der Präfektur Kanagawa außerhalb von Tokio. Vertreter aus Zushi waren eigens nach Rikuzentakata gekommen. Zimmerer in traditionellen Jikatabi-Stiefeln liefen umher. Auf einer Seite des Platzes stand der Rohbau eines neuen, scheunengroßen Gebäudes. Auf der anderen Seite waren große Zelte errichtet worden, in denen Freiwillige Nudeln und Kohl für Yakisoba kochten. Große Flaschen Sake standen bereit. Kinder durften den Reis für Mochi-Reiskuchen in großen Holzbottichen schlagen. Die Menge feuerte sie bei jedem Hieb des gewaltigen Mörsers an. Eine alte Frau gab Wasser in den Kübel – mit bloßen Händen, die sie immer kurz vor dem nächsten Stoß wegzog. Im neu errichteten Rohbau stand ein Kamidana, ein Hausaltar mit Gaben: Reis, Reiskuchen, eine Ananas, Bananen, ein großer Apfel, eine Flasche Sake und eine Brasse, die als Glücksbringer gilt.62 Auf dem Dach nagelten die Zimmerer noch eilig die letzten Holzplatten an. Die Atmosphäre war so, wie ich mir ein Scheunenrichtfest bei den Amish vorstellte.
Nach einigen eher lustigen als feierlich-ernsten Reden betrat ein Priester mit violettem Umhang und hohem schwarzen Hut, einem Eboshi, das Haus. Er zog eine Schriftrolle aus einem seitlich getragenen Köcher, entrollte sie und begann sie in einem Singsang vorzulesen. Sein Gesang klang wie aus einer anderen Welt, als würde jemand durch eine Muschel blasen. Die Worte selbst waren erstaunlich prosaisch. Er nannte die Baufirma, dankte den Zimmerern und listete das Essen auf, das in der Kantine serviert würde. Ungefähr so, als würde ein Priester »Schweineschnitzel, Reis mit Fisch und Soba-Nudeln« im Rhythmus des Vaterunsers singen. Eltern mahnten ihre Kinder, still zu sein und Respekt zu zeigen. Der Priester endete mit einem Geräusch wie eine fiepende Polizeisirene – der Ton wurde höher und lauter, dann leiser und tiefer, bis er ganz abklang. »Wir hoffen, dass wir noch viele Feiern wie diese erleben«, sagte Sasaki anschließend. »Sie sind ein Zeichen, dass wir Fortschritte machen.«
Ich wollte noch gerne die Ippon Matsu besichtigen: eine einzelne, 270 Jahre alte Kiefer, die dem Tsunami getrotzt hatte. Ich hatte den schlanken Baum aus der Ferne gesehen, der sich nun als Symbol des Überlebens vor dem Meer erhob. Wir fuhren näher heran. Die Kiefer stand neben einer kleinen Steinbrücke und hatte einen langen, dünnen Stamm, der nur ganz oben ein Bündel Zweige trug. Sie war fast 25 Meter hoch, obgleich sie sich etwas zur Seite neigte. Die untere Hälfte des Stamms war mit einem grünen Schutz umwickelt, der aussah wie ein Verband. Auf der anderen Straßenseite, Richtung Meer, stand ein lang gezogenes, verwittertes städtisches Gebäude, das an einer Seite eingebrochen war – wie ein Brontosaurus, der den Hals auf den Boden legt. Neben dem Baum stand eine Touristin und blickte den Stamm empor. Wie sich herausstellte, war sie 1995 in Kobe gewesen, als die Stadt von einem Erdbeben zerstört wurde. »Ist doch ein Wunder, oder?«, sagte sie kopfschüttelnd. »Von 70000 Bäumen hat dieser als einziger überlebt.« Sasaki erzählte mir, dass es in Wahrheit nicht so gut um die Kiefer stünde. Sie wäre praktisch tot. Nach dem Tsunami hatten Leute aus dem Ort den Stamm umwickelt, um ihn vor Schnee und Insekten zu schützen. Sie hatten einen Graben um den Baum geschaufelt und ein Fundament errichtet, damit kein einsickerndes Meerwasser die Wurzeln vergiftete. Aber das Land war so tief abgesunken, dass die Wurzeln ohnehin im Salzwasser standen. Der Baum war von Baumexperten aus dem ganzen Land untersucht worden. Normalerweise hätte er im Mai blühen sollen, erzählte Sasaki, aber es wären keine Blüten zu sehen gewesen. »Trotz all der Mühen haben die Experten den Baum für tot erklärt.«
Wissenschaftler des Tsukuba-Instituts nahmen daraufhin mehrere Zapfen der Kiefer, und es gelang ihnen, 18 Setzlinge aus den Samen zu züchten. Sasaki war sich noch nicht sicher, was mit der einsamen alten Kiefer selbst geschehen sollte. Eigentlich neigte er dazu, die Leute sollten den toten Baum vergessen und sich lieber den Lebenden widmen. Doch die einsame Kiefer war zum Symbol des Widerstands geworden, und zudem eine Touristenattraktion. Bürgermeister Futoshi Toba ließ sich umstimmen: »Als Symbol des Wiederaufbaus schenkt die einsame Kiefer den Bewohnern der Stadt emotionalen Halt«, sagte er.63
Die Verantwortlichen in Rikuzentakata hatten einen Plan. Sie sammelten bereits Spenden in Höhe von 150 Millionen Yen – also beinahe zwei Millionen Dollar –, die für die Verwirklichung ihres Vorhabens benötigt würden. Man hatte eine Facebook-Seite mit dem Titel »Ganbapeshi Rikuzentakata« (»Halte durch, Rikuzentakata!«) eingerichtet, um Gelder zusammenzubekommen.64 Wie Sasaki erläuterte, wollte man den Baum nach Kioto schicken, wo er »wie eine getrocknete Blume« haltbar gemacht würde. Der Stamm sollte in neun Stücke geteilt werden. Diese würden ausgehöhlt und behandelt und anschließend mit einem Rückgrat aus Carbon wieder zusammengebaut. Die Zweige dagegen wären komplizierter. Man hatte vor, realistische Nachbildungen aus hochwertigem Plastik herzustellen. Alles in allem hoffe man, den Baum bis März 2013 wieder am alten Standort zu haben, wo er am zweiten Jahrestag des Tsunamis als Mahnmal dienen sollte. Ich hörte Sasakis Ausführungen zu und dachte dabei über die Bedeutung dieser Kiefer nach. Ein Baum mit Plastikzweigen und einem neuartigen Carboninnenleben, hergestellt von Handwerkern aus der geschichtsträchtigen Stadt Kioto. Diese »Wunderkiefer«, dachte ich, wäre alt und doch neu, tot, aber konserviert. Sie wäre eine künstlich geschaffene Realität. Sie würde allen Widrigkeiten zum Trotz in den Himmel ragen. Sie würde anders sein, als sie früher war, und doch irgendwie dieselbe. Damit wäre sie, wie mir in diesem Moment klar wurde, ein sehr passendes Symbol für Japan.