Ein jedes Buch hat seinen Ursprung. Dieses verdankt seine Existenz einer gewaltigen Welle. Das Erdbeben und der Tsunami vom März 2011 wurden für mich zum Anlass, über Japan zu schreiben. Ich hatte dort von 2001 bis 2008 als Auslandskorrespondent gelebt und mich seither mit dem Gedanken getragen, ein Buch über diese Zeit zu schreiben. Doch der Druck des tagtäglichen Berichterstattens und der fehlende konkrete Anlass waren die Gründe, weshalb das Buchprojekt nur ein Projekt blieb. Ich verließ Japan Ende des Jahres 2008 und wendete mich anderen Dingen zu. Nach dem Erdbeben vom 11. März 2011 kehrte ich nach Japan zurück und berichtete über die Katastrophe im unmittelbaren Anschluss und in den folgenden Monaten. Ausmaß und Schrecken der Katastrophe und die Art und Weise, wie die Japaner sich der Anforderung stellten, gaben mir den Impetus, die Idee, die jahrelang in mir geschlummert hatte, jetzt in die Tat umzusetzen. Ich nahm mir vor, eine Nation zu porträtieren, die sich von immer neuen Schicksalsschlägen, angefangen von der Gefahr der Invasion durch die Mongolen bis zu immer wiederkehrenden Naturkatastrophen, nicht hat unterkriegen lassen. In meinem Buch wollte ich hauptsächlich auf meinen siebenjährigen Aufenthalt im Land zurückgreifen, also auf eine Zeit, in der Japan eine wirtschaftliche Rezession und damit einhergehend einen Vertrauensverlust erlitt, aber so weit wie möglich die Japaner selbst zu Wort kommen lassen. Dabei sollte weitgehend ein Bild des heutigen Japan entstehen, eines Landes, das allen offenkundigen Schwierigkeiten zum Trotz sich wandelt und sich den neuen Bedingungen anpasst, auch wenn dies von außen oft nicht bemerkt wird. Allerdings wurde bei dieser Beschreibung der geschichtliche Hintergrund nicht vergessen, da Ereignisse der Gegenwart selten ohne Bezug zur Vergangenheit wirklich verstanden werden können. Dies gilt in besonderem Maße für Japan, wo Tradition und Geschichte sich überall bemerkbar machen, gerade auch hinter dem Beton seiner kompromisslos modernen Stadtlandschaften.
Das vorliegende Buch handelt also nicht nur von dem verheerenden Tsunami, sondern ist viel breiter angelegt. Die dreifache, aus Erdbeben, Tsunami und Kernkraft-GAU bestehende Katastrophe bildet aber den Ausgangspunkt für eine Untersuchung der Frage, wie japanische Behörden und mehr noch wie die japanischen Bürger eine solche Herausforderung meistern. Die Krise brachte Schwächen, aber auch Tugenden an den Tag, vor allem aber etwas, was wir nicht vergessen sollten: die erstaunliche Widerstandsfähigkeit eines Volkes, das in einer der am meisten gefährdeten Regionen der Erde lebt. In Hongkong, wo ich jetzt lebe, sahen viele die Fernsehübertragungen aus dem Katastrophengebiet und staunten über die geordneten Warteschlangen vor Geschäften und in den Evakuierungszentren, über die würdige Gefasstheit der Überlebenden und über das fast völlige Fehlen von Kriminalität. Ein Land, das nach zwei Jahrzehnten der Stagnation eigentlich auf den Knien liegen sollte, erwies sich als stärker, als viele ihm zugetraut hätten. Es warf Licht auf das, was Pico Iyer den Japanern bescheinigt: »Selbstbeherrschung und der Gemeinsinn, der in Japan so hervorsticht. Ein Land, das auf seiner Sonderrolle gegenüber dem Rest der Welt beharrt, zeigte seine menschliche, mitfühlende und mutige Seite.«1
Ferner machte die Katastrophe die weiterhin bestehende Bedeutung Japans für die Weltwirtschaft deutlich. Auch die meisten Japaner wussten nicht, dass der Nordosten des Landes, den die Flutwelle mit Vehemenz traf, noch für etwas anderes als Reisanbau und Fischfang stand. Zwar gehört die nordöstliche Region Tohoku nicht zum industriellen Kernland Japans, doch stellte sich nun heraus, dass sie ein wichtiges Glied in der Zuliefererkette der globalen Wirtschaft war. Eine dort ansässige Firma stellte allein 40 Prozent der weltweit benötigten elektronischen Bauteile her, die in Servolenkungen von Autos und in Flachbildschirmen eine Funktion erfüllen. Nachdem die Flutwelle das Werk, wo sie hergestellt wurden, zerstört hatte, musste in Louisiana am anderen Ende der Welt General Motors die Autoproduktion stoppen. Wegen Stromknappheit nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima erhöhte Japan, das schon vorher der weltweit größte Importeur von Flüssiggas war, drastisch seine Einkäufe von Flüssiggas, Erdöl und schließlich auch Kohle. Damit wurde es zu einem bestimmenden Faktor in der globalen Energienachfrage.
Was die Japaner selbst als »Japan bashing« bezeichnen, hat teilweise seinen Grund in der Tatsache, dass ihr Land eine wesentliche Rolle in der Weltwirtschaft spielt. Niemand regt sich über die Schweiz auf, deren Wirtschaft in den 1990er-Jahren auch nur um rund ein Prozent wuchs, die also gemessen an Japan ebenfalls ein verlorenes Jahrzehnt zu beklagen hatte. Nun ist die Schweiz zwar ein wichtiger Finanzplatz, aber eine vergleichsweise kleine Industrienation. Japan ist ähnlich geschrumpft, steht aber immer noch für acht Prozent der weltweiten Produktion, verglichen mit drei bis vier Prozent für Großbritannien und 20 Prozent für die USA. Japan ist die größte Gläubigernation und nicht etwa die größte Schuldnernation, wie es manchmal den Anschein haben mag. Es hat die zweithöchsten Devisenreserven und konkurrierte 2012 mit China um den Rang des größten Halters US-amerikanischer Verbindlichkeiten. Der Tsunami brachte diese verdrängten Tatsachen wieder ins allgemeine Bewusstsein. Ironischerweise erinnerten sich viele Leute gerade zu dem Zeitpunkt, da Japan wirklich in der Krise steckte, wie wichtig dieses Land doch immer noch war.
Mit der Krise kam selbstverständlich auch weniger Erfreuliches an den Tag. Viele waren der Auffassung, dass der Tsunami, der Fabriken, Straßen und andere Infrastruktur zerstörte, die rund zehn Prozent des Bruttosozialprodukts ausmachten, nun den entscheidenden Schlag für den endgültigen wirtschaftlichen Niedergang Japans getan habe. Auf jeden Fall werde er den langsamen Exodus der industriellen Fertigung nach China und in andere billigere Produktionsländer erheblich beschleunigen. Doch die Anfälligkeit der Wirtschaft Japans war nicht alles, auch mit seiner politischen Verfassung stand es schlecht. Die Katastrophe in Fukushima enthüllte eine von Paternalismus, Lügen und Schlendrian gezeichnete öffentliche Kultur. Eigentlich hätte das Risiko eines nuklearen Unfalls in der am meisten erdbebengefährdeten Region der Erde vorhersehbar sein müssen, wie übrigens auch die besondere Gefährdung von Atomkraftwerken, die so nah an einer von Flutwellen heimgesuchten Küste errichtet wurden. Beamte, Politiker und Kraftwerksbetreiber hatten alle blind auf die Zuverlässigkeit des japanischen Systems vertraut. Auch in anderer Hinsicht hatten die japanischen Behörden geschlafen. Altenheime verfügten nicht über angemessene Evakuierungspläne. Nach Eintritt der Katastrophe brauchte die Zentralregierung zu lange, um das Ausmaß der Not im Katastrophengebiet festzustellen und geeignete finanzielle und technische Mittel einzusetzen. Viel zu sehr wurde auf die sprichwörtliche Geduld der Menschen im Nordosten Japans gebaut. Gewiss, verglichen mit der Hilfe der US-Regierung für das 2005 vom Wirbelsturm Katrina verwüstete New Orleans mochte Japans Reaktion um einiges effizienter sein, aber dennoch ließ sie vieles zu wünschen übrig.
Doch die japanische Geschichte hat schon früher Stunden der Krise gekannt, die zu Wendepunkten wurden. Manche hofften, dass das Land, solchermaßen aufgeschreckt, sich auf seine alte Stärke besinnt. John Dower, der mit seinem Buch Embracing Defeat wohl die profundeste Untersuchung eines ausländischen Wissenschaftlers zu den Verhältnissen im Nachkriegs-Japan vorgelegt hat, sprach von der Klarheit, die solche Krisen schaffen können. »Die Probleme liegen mit einem Mal offen und können jetzt angegangen werden«, meinte er mir gegenüber kurz nach dem Tsunami. Die Tragödie biete für das japanische Volk und nicht nur für die Politiker und Bürokraten die einmalige Gelegenheit, über seine Prioritäten nachzudenken und seine Gesellschaft zu erneuern. »Die Frage, die sich stellt, lautet: Schaffen sie es noch einmal? Werden neue Ideen in dem festgefahrenen System abgewürgt oder hilft die Krise, eine Demokratie mit mehr Bürgerbeteiligung zu schaffen? Können die Menschen wie in vergangenen Krisenzeiten mobilisiert werden, sich den Aufgaben zu stellen?«2
Der Originaltitel dieses Buches lautet Bending Adversity in Anlehnung an ein japanisches Sprichwort zu dem Bemühen, ein schweres Los in ein leichtes zu verwandeln, oder knapper gesagt, das Schicksal zu meistern. Schließlich hat Japan oft gezeigt, dass es über erstaunliche Kraftreserven verfügt. Quasi als einziges Land in Asien hat es sich gegen die kolonialistischen Begehrlichkeiten der westlichen Mächte erfolgreich gewehrt. Nach 1945 überwand es die eigene verheerende Niederlage durch ein Wirtschaftswunder, das nachhaltigen Eindruck auf ganz Asien einschließlich China ausgeübt hat. In beiden historischen Situationen hat es einen Weg aus der Not gefunden. Freilich hat Japan nicht in jedem Fall Widrigkeiten zu seinem Vorteil genutzt, sondern ist ihnen erlegen. Die Insellage hat ihm Sicherheit und ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl beschert. Oft ist es dadurch aber auch Gefangener seiner geografischen Lage geblieben und hat eine Inselbewohnermentalität entwickelt. Sein im 19. Jahrhundert geführter Kampf gegen die Gier der Kolonialstaaten endete damit, dass Japan selbst zu einem imperialistischen Beutezug aufbrach, der Millionen Tote und dem Land selbst beinahe die Vernichtung brachte. Wenn das Überwinden eines schweren Loses so aussah, wäre es wohl besser gewesen, es hinzunehmen. Selbst das in vieler Hinsicht beeindruckende Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit sehen manche nur als ein seelenloses Streben nach Geldakkumulation, nach internationalem Ansehen durch industrielle Produktion und Handelsmacht, nachdem Krieg und Eroberung fehlgeschlagen waren. Zwar hat Japan den Schlüssel zur wirtschaftlichen Entwicklung gefunden, aber vielleicht hat es dabei etwas von seiner Identität verloren.
Jetzt, da ihm seine wirtschaftliche Stärke abhandengekommen ist, hat es, wie mir Haruki Murakami einmal sagte, eine größere Chance, sich selbst wiederzufinden. Mit dem Kater nach dem Platzen der Spekulationsblase stellt sich existenzielle Angst ein, man sucht tastend einen Weg in die Zukunft. »Die Leute sind ratlos. Sie haben ihre alten Muster verloren und sie wissen nicht mehr, wer sie sind«, sagte mir eine japanische Freundin. Doch im Untergang von etwas Altem liegt immer die Möglichkeit zu etwas Neuem, also die Chance, aus der Not eine Tugend zu machen und etwas Besseres zu gestalten.
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Im Winter 2001 kam ich nach Japan. Ehe ich meine Arbeit als Auslandskorrespondent in Tokio aufnahm, verbrachte ich einen Monat mit dem Erlernen der Sprache und lebte bei einer Familie in der Stadt Kanazawa, ein Kioto en miniature an der zerklüfteten Küste des Japanischen Meeres. Kanazawa war eine schön gelegene Stadt, die viel von ihrem mittelalterlichen Erbe bewahrt hat. Dort gab es ein Samurai- und ein Geishaviertel, einen berühmten Park, den Kenroku-en, und eine sehr lebendige Künstlerszene aus Töpfern, Goldschmieden und Amateurschauspielern, die das traditionelle No-Spiel pflegten. Gleich am ersten Tag und kaum dem Flugzeug aus London entstiegen, führte man mich zu einer Teezeremonie in das aus dem 16. Jahrhundert stammende Schloss, ein imposanter weiß getünchter mit Wall und Graben versehener Bau. Mehrere Dutzend Zuschauer hatten sich auf dem Schlossgrundstück in einer pavillonartigen Anlage versammelt, wo die Zeremonie stattfinden sollte. Meine Gastmutter, Frau Nishida, führte mich nach vorn in die erste Reihe, damit ich dem Schauspiel aus der Nähe folgen konnte. Eine Frau im Kimono bereitete heißes Wasser auf einer tiefer gelegenen Feuerstelle, portionierte grünes Pulver mit einem hölzernen Löffel und schäumte es mit einem langen Teebesen auf. Jede Bewegung, von der Art und Weise, wie sie sich hinkniete, bis zum Reichen der Teeschale, war präzise und kunstgemäß und spiegelte die jahrhundertealte Tradition der Teezeremonie wider. Wie alle anderen kniete auch ich nach Seiza-Art, die Füße unter dem Gesäß und mit geradem Rücken. Nach anfänglichen Schmerzen gewöhnten sich meine Beine an diese Sitzweise und ich konnte meine Aufmerksamkeit auf das Geschehen vor mir richten. Nachdem der Tee eingeschenkt war, aßen wir zuerst einen eigens für diesen Zweck gebackenen Kuchen, den wir mit einem hölzernen Utensil in mundgerechte Portionen zerteilten. Dann betrachteten wir aufmerksam die Form und Glasur der Teeschale und spürten die Wärme des Tees durch den gebrannten Ton. Wir gaben der Schale eine und dann noch eine Vierteldrehung, bevor wir das jadegrüne, angenehm bitter schmeckende Getränk in raschen, geräuschvollen Schlucken zu uns nahmen.
Japan ist ein Land der Riten und eingeübten Rollen. Hier waren wir alle Darsteller einer jahrhundertealten Zeremonie, bei der jede Bewegung einem festen Brauch folgte. Nach der Teezeremonie erhoben sich die anderen Gäste und verabschiedeten sich. Da meine unteren Gliedmaßen fühllos geworden waren, konnte ich nicht sofort aufstehen. Ich blieb allein auf der Bühne und wartete minutenlang, bis mit einem schmerzhaften Prickeln wieder Leben in meine Beine kam. Noch heute halte ich dieses Erlebnis für meine Initiation in die Freuden und Leiden der japanischen Kultur.
Bereits in den ersten Tagen in Kanazawa war ich entschlossen, mich auf die neue Kultur einzulassen. Ich aß, was auf den Tisch kam, ob Krabbenhirn, Seeigel oder rohes Pferdefleisch. Nach und nach entdeckte ich, dass die japanische Küche, mochte sie auch gewöhnungsbedürftig sein, stets Frisches und Köstliches zu bieten hatte und tatsächlich besser war als alles, was ich bisher probiert hatte. Mit 37 Jahren begann ich Japanisch zu lernen und kämpfte mich durch eine Reihe von Prüfungen, für die ich 2000 Kanji-Schriftzeichen und ungewöhnliche grammatische Konstruktionen, die nicht einmal vielen japanischen Oberschülern bekannt waren, lernen musste. (Ich konnte am Ende ziemlich flüssig lesen und genau strukturierte Interviews führen, freilich konnte man von meinem Japanisch das Gleiche sagen, was Samuel Johnson über einen auf den Hinterbeinen gehenden Hund sagte: Es sehe nicht gut aus, aber das Erstaunliche daran sei, dass er überhaupt ging.) In Kanazawa lernte ich das Wohnen auf Tatami-Matten schätzen. Vor dem Eintreten stellte man die Schuhe in einem Vorraum, dem Genkan, ab, kniete sich zum Fernsehen auf die Matten und breitete zum Schlafen den Futon aus. Die Tatami-Matten verbreiteten einen angenehmen Moschusduft. Gebadet wurde in einer viereckigen Wanne, in die man sich erst setzte, nachdem man sich in einem separaten Duschbereich gereinigt hatte. Manchmal gingen wir auch in eine altmodische städtische Badeanstalt. Dort befanden sich im Außenbereich mehrere Becken mit kaltem, warmem und schwefeligem Wasser sowie vibrierende Massagestühle im Innenbereich. Ich sah es gern, dass Japaner vor dem Essen zum Dank immer erst die Hände falteten und dass Angestellte in Läden sich entschuldigten, ehe sie um den Zahlungsbetrag baten, so als ob das Bezahlen dem freundlichen menschlichen Miteinander unangemessen sei. Ich erfuhr, wo sich am Tisch der Platz für den Gast befand – immer möglichst weit weg von der Tür, weil man in früheren Zeiten dort am sichersten vor Überraschungsangriffen war. Ich bekam ein Verständnis für kleine, bedeutsame Gesten. Mein Japanischlehrer sagte mir zum Beispiel, es sei unhöflich, in einem beruflichen Gespräch zu sagen, man sei beschäftigt, denn das konnte so verstanden werden, als halte man sich für wichtiger als den anderen. Mir gefiel, dass auch in einfachen Speiselokalen jeder Gast vor dem Essen ein warmes Handtuch erhält und dass bei Regenwetter in Kaufhäusern eigens Apparate bereitstehen, wo Kunden ihre nassen Regenschirme in Plastikfolien einhüllen lassen können. Ich staunte, wie gesittetes Verhalten gesetzliche Regelungen überflüssig machte. Auf den Straßen lag nirgends Abfall. Niemand hätte auch nur im Traum daran gedacht, im Zug oder im Fahrstuhl auf einen Handyanruf zu antworten, nicht etwa, weil das verboten gewesen wäre, sondern weil sich das nicht gehörte. Sogar auf der Straße sprechen die Leute hinter vorgehaltener Hand in ihr Handy, um die Lautstärke ihrer Stimme zu dämpfen.
Als ich dann zum Berufsstart nach Tokio zog, war ich erneut begeistert. Der Klang dieser Metropole, ihre Vielfalt an Theatern und Galerien, Restaurants, Bars und Klubs, alles das macht Tokio zum New York Asiens, nur ungleich größer mit einer Bevölkerung im städtischen Großraum von 36 Millionen Einwohnern. Und doch war Tokio keineswegs der Siedlungsbrei, den ich mir vorgestellt hatte. Die meisten großen Städte hat man als Ansammlung von Dörfern beschrieben, doch für keine andere gilt dies mehr als für Tokio. Stadtviertel, darunter auch meine Wohngegend in Higashi Kitazawa, haben noch ein dörflich geprägtes soziales Leben. An Feiertagen versammeln sich alle, ob Banker oder Maurer, um Reis zu einem Brei zu stampfen, aus dem Mochi-Kuchen gemacht werden. Abends ziehen sie kurze indigoblaue Happi-Kittel an und tragen barfuß in Sandalen den heiligen Schrein wie eine Sänfte durch die schmalen, von Papierlampions erleuchteten Straßen ihrer Wohngegend. Tokio ist ein Labyrinth von Hunderten sogenannter Shotengai, Einkaufsgassen mit kleinen, fast budenartigen Läden, in denen handwerklich hergestellter Tofu und Süßigkeiten, Blumen und Früchte oder auch Reis in Säcken angeboten werden. Die Gassen sind so schmal, dass sie kaum für Autoverkehr geeignet sind. In weiten Teilen Tokios ist das Fahrrad das beliebteste Verkehrsmittel. Zwar fehlen der Stadt große Parks in genügender Zahl, aber in den vielen Wohnstraßen sprießt und wuchert das Grün in allen Winkeln und durch alle Ritzen. Tokio ist eine erstaunlich naturnahe Stadt. Im Sommer übertönt das Gezirp der Zikaden sogar den Verkehrslärm. Es gibt Heiligtümer für Füchse und Fische und sogar für Aale. Zu meinen bleibenden Erinnerungen gehört der Anblick von drei blau uniformierten Polizisten, die zu Frühlingsbeginn im Park von Shinjuku Gyoen standen und mit feierlichem Ernst eine Kirschblüte betrachteten. Bei einer unglaublich niedrigen Kriminalitätsrate konnten sie es sich leisten, die zarten rosa Kirschblüten mit einer Aufmerksamkeit zu studieren, als wären sie auf eine Leiche und ein blutbeflecktes Messer gestoßen.
Ich machte mich daran, einen möglichst repräsentativen Durchschnitt der japanischen Gesellschaft kennenzulernen, angefangen bei Schriftstellern wie Haruki Murakami und Kenzaburo Oe bis zum damaligen Premierminister Junichiro Koizumi. Ich traf Industriemanager und Banker, Politiker und Verwaltungsbeamte, Geishas, Kabuki-Schauspieler und Sumo-Ringer. Ich interviewte einfache Leute und Paradiesvögel, Autobauer und Krankenpfleger, Aktivisten und Traditionalisten, linksliberale Lehrer und konservative Schinto-Priester, Teenager und Greise. Vieles an der Kultur irritiert, aber alles in allem halte ich Japan für ein Land, in dem man gern lebt, vor allem als Ausländer, der alle Vorteile einer reibungslos funktionierenden Gesellschaft genießt, ohne deren Pflichten tragen zu müssen. Wenn Lebensqualität unter anderem heißt, einzeln verpackte Kekse und ein tadellos gepflegtes Aquarium in einer ganz gewöhnlichen U-Bahn-Station, dann gebührt Japan der erste Preis. Wo sonst kann man seinen Laptop ruhig auf dem Kaffeehaustisch lassen und sicher sein, dass er bei der Rückkehr immer noch dort steht? Welches andere Land hat Jahre schwerer wirtschaftlicher Rezession erlebt und zeigt doch kaum Zeichen sozialen Unfriedens?
Den tiefen Pessimismus, ja die Häme in vielen Publikationen über Japan konnte ich nur schwer mit der insgesamt doch wohlhabenden Gesellschaft, die mich umgab, in Einklang bringen. Dabei kam ich in ein Land, das gerade ein verlorenes Jahrzehnt hinter sich hatte und sich anschickte, da es sich neuerlich in einer tiefen Rezession befand, ein weiteres zu verlieren. Dennoch gab es kaum Zeichen von sozialer Not, verglichen mit den Verhältnissen, die mir aus meinem Heimatland Großbritannien bekannt waren. Japan stand vor großen Problemen: eine alternde Bevölkerung, eine beängstigend hohe Selbstmordrate, Mobbing in der Schule, eine hohe und immer noch wachsende Staatsverschuldung, eine stagnierende Wirtschaft und eine Schwäche der Elektronikindustrie. Aber von einer Krise war im Bewusstsein der Japaner nichts zu spüren (worin einige Beobachter gerade das Problem sahen). Vielmehr überwog bei mir der Eindruck, in einer wohlhabenden und in mancher Hinsicht dynamischen Gesellschaft zu leben, einer, die sich darin gefiel, sehr japanisch und sehr modern zu sein. Wolle ich echte Not sehen, so sagten mir viele, müsse ich den Großraum Tokio verlassen und die armen Provinzstädte und abgelegenen ländlichen Gemeinden besuchen, in denen nur noch die ganz Alten ausharrten. Bei meinen Reisen quer durch das Land, auf denen ich in fast alle 47 Präfekturen kam, sah ich tatsächlich hier und da Elend, Schatten einer zukünftigen Entwicklung und auch echte Armut. Ich fuhr über Schlaglochpisten, sah daniederliegende Industriebetriebe und kam in Dörfer, in denen Greise ohne Hilfe von außen mühsam ihr Leben fristeten. Manche Japaner, vor allem junge, schienen orientierungslos und ohne Schwung. Aber in den meisten Gegenden traf ich auf eine intakte Gesellschaft, auch wenn sie kämpfen musste, sich den wandelnden Bedingungen anzupassen.
Ob man beim Blick auf ein anderes Land das Urteil fällt, das Glas sei halb voll oder halb leer, mag eine Frage des Temperaments sein. Wenn in diesem Buch gelegentlich mehr Glanz über das moderne Japan verbreitet wird, als dies in anderen Publikationen üblich ist, dann möge das bitte nicht als Naivität missverstanden werden. Der Leser wird auch viel Negatives finden. Doch der anhaltende Pessimismus, der die Berichterstattung über Japan prägt, ist genauso irreführend wie die Lobhudeleien der 1980er-Jahre. Damals behaupteten viele Experten, Japan werde mit seiner Wirtschaftsmacht die Weltherrschaft erringen. Heute besteht die gängige Einschätzung darin, nicht nur ein halb leeres Glas zu sehen, sondern eines, das einen Sprung im Boden hat, aus dem der verbliebene Inhalt rasch entweicht. Japan, so heißt es, sei nicht fähig, sich zu verjüngen, und befinde sich auf dem absteigenden Ast. Japans Industrie sterbe ab, die Frauen würden dort unterdrückt, viele Menschen seien selbstmordgefährdet, die ganze Gesellschaft schotte sich ab und der staatliche Schuldenberg sei nicht mehr abzutragen. Darin steckt zweifellos ein Körnchen Wahrheit, aber ein realistisches Bild ergibt sich daraus nicht. Manche Beobachter haben das Bild eines seelisch kranken Japan gezeichnet. Grundlage hierfür sind Berichte über eine neurotische Gesellschaft mit Scharen von jugendlichen Stubenhockern, die nie ihr Haus verlassen. Mit ähnlichem Recht könnte man aber auch die USA als das Land bezeichnen, in dem Massenmord, Drogenabhängigkeit und Gettobildung zu Hause sind, oder Großbritannien als eine Klassengesellschaft darstellen, die in ihrer Unterschicht jugendliche Hooligans heranzüchte und in der nächtliche Messerstechereien zum Alltag gehören. Das wären zweifellos groteske Verzerrungen der Wirklichkeit. Jedes Land, auch Japan, verdient eine ausgewogene Beurteilung. Denn allen Problemen zum Trotz bleibt Japan eine widerstands- und anpassungsfähige Gesellschaft. Aus seiner Geschichte geht hervor, dass es die Fähigkeit besitzt, Schwierigkeiten ins Gesicht zu sehen und viele davon auch zu bewältigen – wobei sich übrigens zeigt, dass einige Schwierigkeiten nicht, wie oft behauptet, typisch japanisch sind.
Japans Wandel ist mit dem Wiederaufbau des Schreins in Ise verglichen worden, dem wohl bedeutendsten Schinto-Heiligtum, das auf das dritte Jahrhundert zurückgeht. Der Schrein ist ganz anders, als man erwarten könnte. Das Heiligtum besteht aus 125 einzelnen Schreinen, von denen ein jeder einer bestimmten Gottheit geweiht ist. Auch der Wald, in dem die Schreine stehen, ist heilig, insofern ist Ise weniger die St.-Paul’s-Kathedrale als vielmehr ein Hyde Park mit Gottheiten. Alle 20 Jahre werden die aus Holz gefertigten Schreine bis auf das Fundament abgerissen und in genau denselben Maßen wieder neu errichtet. Man kann sich daher streiten, ob das Heiligtum zwei Jahrtausende oder zwei Jahrzehnte alt ist. Ebenso hat Japan die Fähigkeit zu grundlegendem Wandel bewiesen, ohne seine Vergangenheit und seinen Glauben zu verleugnen. Der ehemalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger äußerte einmal gegenüber Zhou Enlai, Mao Zedongs rechter Hand, er mache Japans »Stammeswesen« für diese Fähigkeit zum rasanten Wandel verantwortlich. »Die Japaner halten ihre Gesellschaft für so einzigartig, dass sie sich an alles anpassen können und doch ihr nationales Wesen bewahren. Daher sind sie zu plötzlichen Kehrtwendungen fähig. Sie haben den Schritt vom Feudalismus zum Kaiserkult in zwei, drei Jahren vollzogen. Vom Kaiserkult zur Demokratie brauchten sie nur drei Monate.«3
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Der japanische Soziologe Yoshio Sugimoto behauptet von Kritikern, dass sie versucht seien, »sich entweder dem Lager der ›Japan-Bewunderer‹ oder dem Lager der ›Japan-Schmäher‹ anzuschließen und entsprechend die japanische Gesellschaft in Schwarz-Weiß-Manier zu beschreiben«.4 Manche ausländische Japan-Kenner, auch solche, die sich jahrelang nicht von diesem Land trennen konnten, halten Japan für hoffnungslos fremden- und frauenfeindlich, hierarchisch strukturiert, allem Neuen verschlossen und unfähig, sich der eigenen Geschichte zu stellen. Andere wiederum bewundern Dinge, die mir schon in Kanazawa aufgefallen waren, nämlich soziale Kohärenz, Respekt vor der Tradition, Höflichkeit, Sinn für Qualität und relative Gleichheit. Beide Sichtweisen sind durchaus miteinander vereinbar. Sugimoto empfiehlt, einen Abgleich zu machen, bei dem »die wünschenswerten und die abstoßenden Seiten in ihrer Verbundenheit gesehen werden«.
Nehmen wir ein kleines Beispiel. Man kann bewundern, dass ein Lehrling des Bunraku-Marionettenspiels – bei dem eine Marionette von drei Personen geführt wird – 30 Jahre zum Erlernen seiner Kunst braucht. Die ersten zehn Jahre darf er nur die Beine der Marionette bewegen, dann ist er berechtigt, den linken Arm zu führen. Nach einem weiteren Jahrzehnt sind ihm dann auch der rechte Arm und der Kopf erlaubt. Aber es braucht noch weitere zehn Jahre, ehe er als ein echter Meister angesehen wird. Bei manchen Marionettenaufführungen sieht das Publikum nur den Kopf des Hauptspielers, während seine beiden Lehrlinge eine schwarze Kapuze tragen. Solche Pedanterie ist in Japan in allen Lebensbereichen anzutreffen. Manche Sushi-Meister erlauben ihren Lehrlingen jahrelang nicht, Fisch auch nur zu berühren. Ein Bonsai-Meister erzählte mir, er sei drei Jahre ohne Entgelt in die Lehre gegangen, ehe sein Meister ihm gestattete, einen Baum zu beschneiden. Diese übertriebene Sorgfalt im Detail und die Achtung vor überlieferten Regeln sind Gründe für die hohe Qualität, die man überall in Japan, ob in einer Restaurantküche oder in einer Werkhalle, antrifft. Und doch sei angemerkt, wie erdrückend und innovationshemmend eine Disziplin wirken muss, die auf der antiquierten Anschauung beruht, dass ein Lehrling das tradierte Wissen von einem unfehlbaren Meister aufnehmen müsse. Die Malerin Yayoi Kusama, die in unkontrollierbaren kreativen Ausbrüchen ihre Leinwände mit Tupfern bedeckt, gestand mir einmal, dass ihr beim Gedanken an das traditionelle Meister-Schüler-Verhältnis speiübel werde. Unsere Bewunderung für Produkte der japanischen Gesellschaft und unsere Vorbehalte gegenüber der Art und Weise, wie sie hervorgebracht werden, sind nur schwer unter einen Hut zu bringen.
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel aus dem Alltag. Wir können die Morgengymnastik in japanischen Firmen lächerlich und konformistisch finden. In Tokio habe ich oft schmunzelnd beobachtet, wie sich Bauarbeiter in ihrer Einheitskluft vor der Baustelle versammelten und gemeinsam Gymnastik machten. Gleichzeitig beschlich mich eine heimliche Bewunderung für ein Ritual, das zweifellos zur Gesundheit und Fitness der Japaner beitrug – von denen viele bis ins hohe Alter beneidenswert schlank und gelenkig bleiben – und das Körperertüchtigung »demokratisierte«, sodass sie nicht mehr nur in privaten Fitnessklubs praktiziert wird.
Vor- und Nachteile findet man in jeder Gesellschaft. Mit Blick auf Japan kann eine solche Betrachtungsweise sehr hilfreich sein. Im Wirtschaftsleben werden japanische Unternehmen oft kritisiert, weil sie sich zu sehr gegen Stellenabbau und Rationalisierung stemmen. Das schadet den Aktionären, deren Dividende geschmälert wird, weil das oberste Ziel des Unternehmens nicht in der Profitmaximierung liegt. Solche Praktiken dämpfen auch die Kräfte der schöpferischen Zerstörung, durch die dynamische Volkswirtschaften wie die US-amerikanische ständig Arbeitskräfte und Ressourcen in produktivere Wirtschaftsregionen verschieben. So werden alte Industriestandorte aufgegeben und neue aufgebaut. Dafür hat Japan aber eine deutlich niedrigere Erwerbslosenquote – um die vier Prozent – als andere Länder. Der Staat muss weniger ausgeben für Arbeitslosenunterstützung, und die Gesellschaft insgesamt zahlt weniger für die Begleiterscheinungen der Langzeitarbeitslosigkeit wie zum Beispiel höhere Kriminalität oder Krankheit. Gewiss, für die Produktivität der Unternehmen mag das Einbußen bringen. Volkswirtschaften, die eine härtere Gangart bevorzugen, sind wahrscheinlich langfristig leistungsfähiger. Doch muss es in jeder demokratischen Gesellschaft eine legitime Debatte darüber geben, wie das richtige Verhältnis zwischen Anteilseignern und Aktionären aussehen soll.
Dass Nachteile auch ihr Gutes haben, trifft womöglich sogar für das zu, was viele als Japans größtes Übel ansehen, nämlich seine nach innen gekehrte »Galapagos«-Mentalität. Begreiflicherweise wird diese Mentalität gewöhnlich als rein negativ dargestellt. Sie war und ist immer noch schuld daran, dass Japan nicht, wie es Yukichi Fukuzawa, ein liberaler Denker des 19. Jahrhunderts, einmal formuliert hat, »ins Geben und Nehmen mit der übrigen Welt« eingebunden ist. Japan verschließt sich zu sehr sowohl dem ausländischen Kapital wie auch der Einwanderung. Auf der anderen Seite hat gerade Japans Bewusstsein, ein besonderes Volk zu sein, wesentlich dazu beigetragen, alles das zu bewahren, was viele am meisten an diesem Land bewundern. Pico Iyer, ein britischer Essayist, der seit 25 Jahren in Kioto lebt, sagte mir, alles, was er als das Eigenwillige und Bezaubernde an der japanischen Kultur so schätze, würde schon lange nicht mehr existieren, wäre diese Nation offener. »Das sichere Gefühl, wer dazugehört und wer nicht, befähigt Japan, so reibungslos und harmonisch zu funktionieren«, sagt er und er fährt fort: »Die japanische Gesellschaft erinnert mich an ein Orchester, in dem jeder nach derselben Partitur spielt, jeder kennt genau seinen Part und alles läuft wie am Schnürchen, solange jeder seinen Teil beiträgt.« Nicht alle ausländischen Besucher sind so nachsichtig. David Mitchell, der Autor von Cloud Atlas, erzählte mir einmal von der Zeit, als er mit seiner japanischen Ehefrau und ihren zwei kleinen Kindern in der bedrückenden Atmosphäre der alten Samurai-Stadt Hagi in Westjapan lebte. Die Mütter in der Schule bezeichneten seine Kinder stets als die »Halben« – der übliche und für japanische Ohren nicht abschätzige Ausdruck für jemanden, der halb japanisch ist. Der Ausdruck brachte Mitchell auf die Palme. Er verwendete viel Zeit darauf zu erklären, dass seine Kinder nicht »halb«, sondern »beides« seien, also ein Ganzes. Japaner, so sein Urteil, kämen mit dem Leben auf »kulturellen Grenzen oder Schwellen« nicht zurecht. Nach einem Jahr zog Mitchell mit seiner Familie wieder zurück nach Irland.
Sugimotos Erklärungsmodell hat auch seine Schwächen. Es kann zu falschen Dichotomien führen. Japan könnte sehr wohl offener und internationaler sein und dabei doch zivilisiert und harmonisch bleiben. Starke, selbstbewusste Gesellschaften können Einflüsse und Menschen von außen in sich aufnehmen, ohne ihr inneres Gleichgewicht zu verlieren. Japan würde es guttun, seine Universitäten ausländischen Studenten zu öffnen und seine eigenen Söhne und Töchter zu ermuntern, auf der Suche nach neuen Ideen in die Welt zu gehen, wie es einst seine Meiji-Pioniere taten. Vielleicht könnte Japan einen Weg finden, wie man höhere wirtschaftliche Effizienz mit niedrigen Erwerbslosenzahlen verbindet oder wie man eine Generation selbstbewusster Individualisten heranzieht, die sich dennoch nicht der kollektiven Morgengymnastik verweigern. Gesellschaftssysteme sind freilich nicht so leicht zu entwirren. Ihre Stärken sind oft zugleich ihre Schwächen und umgekehrt. Kulturen sind keine Speisekarten, aus denen man nach Belieben bestellen kann.
Das ist einer der Gründe, weshalb dieses Buch kaum Rezepte bietet. Wer eine Antwort darauf sucht, wie die Japaner ihre Wirtschaft beleben oder ihre Denkhaltung ändern können, wende sich an eine andere Adresse. Nur der Ordnung halber: Ich pflichte einigen gängigen Rezepten bei. Auch ich bin der Ansicht, dass Japan lebenswerter wäre, wenn das Land nicht so abgeschottet, wenn es nicht so konservativ wäre, wenn es offener mit seiner imperialistischen jüngeren Geschichte umginge und wenn es den Begabungen der Frauen Raum gäbe. Es würde dem Land guttun, wenn es mehr Teilhabe am politischen Entscheidungsprozess zuließe und das marode politische System erneuerte. Ohne Zweifel sollte es Anstrengungen für mehr Wirtschaftswachstum machen – vielleicht durch eine Mischung aus wirtschaftlicher Liberalisierung, Freihandel und aggressiver Geldpolitik. Die japanische Gesellschaft würde insgesamt dynamischer, wenn es mehr Unternehmer gäbe, die Risiken eingehen, und wenn das Bildungssystem kreativeres Denken fördern würde. Mittelfristig wären wohl Steuererhöhungen und Ausgabensenkungen oder beides nötig, um die Finanzen zu ordnen. Doch solche Ratschläge bringen uns nicht viel weiter. Schließlich sagen viele Wissenschaftler und Entscheidungsträger in Japan ungefähr das Gleiche. Die Liste der Hausaufgaben, die Japan zu erledigen hat, scheint evident, aber das ist leichter gesagt als getan.
In meinem Buch konzentriere ich mich auf Japan, wie ich es vorgefunden habe, und nicht auf ein Japan, wie ich es mir wünsche. Ich habe den Eindruck, dass sich seine Gesellschaft wandelt und anpasst, wenngleich auf manchmal frustrierende Weise. Wir sollten nicht meinen, Japan sei starr und unwandelbar, genauso wenig wie wir es für homogen halten sollten. Mögen die Japaner auch von sich selbst die Vorstellung einzigartiger Harmonie hegen, leben sie doch in einem Land, das wie jedes andere auch nach Klassen, Regionen, Alter und Geschlecht getrennt ist, das sich der Herausforderung durch Subkulturen stellen und den Strukturwandel bewältigen muss. Jede Aussage, die mit den Worten »Die Japaner denken …« beginnt, sollte mit größtem Misstrauen aufgenommen werden. Angesichts dieser Wirklichkeit sollen auf diesen Seiten die Japaner vor allem selbst zu Wort kommen, und zwar in der Vielfalt ihrer Erscheinungen und Stimmen. Manche ihrer Ansichten kann ich nicht umhin zu kritisieren, doch viele gebe ich ganz ungefiltert wieder.
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Teil I, »Tsunami«, berichtet davon, wie einfache Leute vor allem in den Küstenstädten, die die Flutwelle des 11. März 2011 am schlimmsten getroffen hatte, die Katastrophe durchgestanden haben. Ich war Berichterstatter vor Ort in den zehn Tagen unmittelbar nach dem Seebeben und kehrte in den darauffolgenden Monaten sowie im folgenden Jahr immer wieder nach Japan zurück. Aus Interviews und zeitgenössischen Berichten versuche ich ein Bild zu rekonstruieren von dem, was in den schrecklichen Augenblicken geschah, als die Flutwelle Rikuzentakata traf, einen kleinen Fischerort von 23000 Einwohnern in der Präfektur Iwate. Ich schreibe auch von meinen eigenen Eindrücken aus der benachbarten Stadt Ofunato, die ich in den Tagen, Wochen und Monaten nach der Katastrophe gesammelt habe. Aus diesen Kapiteln kristallisiert sich, dokumentiert an einem singulären Ereignis, die Idee der japanischen Widerstandsfähigkeit heraus. Für ein besseres Verständnis dieser Fähigkeit müssen wir tiefer in die Geschichte und Kultur eines Landes eintauchen, das wegen der ständigen Bedrohung durch Erdbeben, Tsunamis, Vulkane und Wirbelstürme schon lange »für Schicksalsschläge gewappnet ist«.5
Teil II, »Das doppelt verriegelte Land«, umfasst ein Kapitel darüber, wie Japan von sich selbst die Vorstellung einer besonderen Nation bildete. Zu einem Teil stammt seine Widerstandsfähigkeit aus seinem Selbstverständnis, anders zu sein, freilich behaupte ich, dass dieses Selbstverständnis eine Quelle der Kraft wie auch der Schwäche ist. Angesichts der technischen Überlegenheit des Westens vollzog Japan im 19. Jahrhundert einen Bruch mit der konfuzianischen Tradition. Es löste sich aus der asiatischen Welt und nannte sich fortan »europäisch«. Dann fiel es über seine Nachbarn her und unterjochte sie. Auch heute noch ist es für Japan nicht leicht, den Weg zurückzufinden. Japan bleibt eine Insel in einer Weltgegend, in der der alte Hass noch nicht überwunden ist. Sogar Börsenhändler sprechen von »Asien außer Japan«.
Teil III, »Verlorene und wiedergewonnene Jahrzehnte«, bildet das Zentrum des Buches. Hier geht es im Wesentlichen um das gegenwärtige Japan nach der Wirtschaftsblase, es beginnt aber mit einem Rückblick auf Japans Auferstehung aus den Ruinen des Krieges und seinen Aufstieg zur Wirtschaftsmacht in den 1970er- und 1980er-Jahren. Auf das Platzen der Blase in den 1990er-Jahren folgte eine lange Periode relativer Stagnation, in die auch die Doppelkrise des Jahres 1995 fiel, nämlich das Erdbeben, bei dem Kobe zum großen Teil zerstört wurde, und das Auftauchen einer religiösen Sekte, die einen Anschlag auf Pendler in der Tokioter U-Bahn verübte. Jenes Jahr brachte, wie Murakami hervorhob, einen Wendepunkt für Japan, denn selbst einfache Menschen begriffen, dass es keine Rückkehr zu den Zeiten vor der Blase gab. In den Jahren des Wachstums war der Wille, mit dem Lebensstandard der westlichen Länder gleichzuziehen, der zentrale Punkt des japanischen Selbstverständnisses nach der Kriegsniederlage. Zwar hat Japan dieses Ziel erreicht, aber mit dem Platzen der Blase wurde es um seinen nationalen Lebenszweck gebracht. Japan hat seinen Kampfgeist, seinen Konjo verloren.
Teil IV, »Leben jenseits von Wachstum«, handelt davon, wie sich das heutige Japan an die neuen Verhältnisse angepasst hat. Wir stellen die Behauptung auf, dass das Land nicht im Stillstand verharrt, wie manche Beobachter meinen, obgleich der Wandel nicht durchweg gelungen und auch noch nicht abgeschlossen ist. Zwei weitere Kapitel haben wirtschaftliche Themen – »Japan als Nummer drei« und »Leben jenseits von Wachstum« – und zeigen, dass Japan seinen Lebensstandard gehalten und den sozialen Zusammenhalt verteidigt hat. Seine Wirtschaft ist zwar nicht robust, steht aber nicht so schlecht da, wie diejenigen behaupten, die Japan als Synonym für alles nehmen, was wirtschaftlich falsch gemacht werden könne. Beurteilt man Japans Wirtschaft im Hinblick auf den Lebensstandard der Bevölkerung und auf die Renditen der Investoren, dann sind die vergangenen 20 Jahre wirtschaftlich nicht so verheerend gewesen.
Japan hat seinen Lebensstandard gehalten um den Preis einer bis dahin nicht da gewesenen hohen Verschuldung des Staatshaushalts. Experten meinen, dass dieser Weg unfehlbar in die Krise führe. Irgendwann wird der Staat diese Schulden abtragen müssen, entweder zwangsweise (was eher unwahrscheinlich ist) durch Kürzung der staatlichen Sozialausgaben, oder indem er die Inflation still wirken lässt. Möglicherweise wäre es besser gewesen, im Interesse einer langfristigen Verjüngung der Wirtschaft mehr Pleiten und industrielle Umstrukturierungen zu erlauben.
Doch wie auch Europa und die USA jetzt gerade erleben, erholt man sich nicht so leicht von einem schweren wirtschaftlichen Schock. Als es hart auf hart kam, waren sogar die USA mit ihrer freien Marktwirtschaft nicht bereit, ihre Banken und ihre Autoindustrie pleitegehen zu lassen. Zu Beginn des Jahres 2013 lag die Arbeitslosigkeit bei rund acht Prozent, und die Konjunktur war immer noch schwach, wenngleich sie sich langsam erholt. In Großbritannien war die Arbeitslosenrate doppelt so hoch, und die Wirtschaft war gegenüber 2008 um vier Prozent geschrumpft. Ländern wie Spanien oder Griechenland ging es noch deutlich schlechter. Wie Japan haben auch andere Länder mit hohen Defiziten und niedrigem Wachstum zu kämpfen und müssen zu bisher kaum vorstellbaren geldpolitischen Maßnahmen greifen, um ihre Volkswirtschaften einigermaßen in Gang zu halten. Japan wird gern als ein warnendes Beispiel angesehen. Die Lektion könnte weniger darin bestehen, wie schlecht Japan mit dem Platzen der Spekulationsblase fertiggeworden ist, als vielmehr wie gut es noch immer dasteht. Wenn uns das japanische Beispiel eines lehren kann, dann dieses: Man vermeide Spekulationsblasen.
Das Kapitel »Samurai mit Tolle« beschäftigt sich mit der Amtsperiode des Premierministers Koizumi, als sich das ganze Land um einen neuen Staatslenker scharte, der Lösungen für die Wirtschaft versprach. Koizumi versuchte, auch dem politischen System, das in der stagnierenden Wirtschaft vor sich hin dümpelte, neues Leben einzuhauchen. Seine Drohung, die eigene Partei zu zerstören und eine 50-jährige Vorherrschaft zu beenden, führte zu seinem Abgang, doch seither hat kein lebensfähiges Zweiparteiensystem den alten Status quo ersetzt. Japans politisches System bleibt weiterhin ohne Kurs. In den beiden letzten Kapiteln – »Der gelobte Weg« und »Hinter dem Schirm hervor« – geht es um den sozialen Wandel, der mit dem Zerbrechen des herkömmlichen Modells im Nachkriegs-Japan einsetzte. Die Bürger leben jetzt mit weniger Gewissheiten und, vor allem die Jugend und die Frauen, auch weniger sicher. Mit der Erosion alter Gewissheiten kommen aber auch neue Gelegenheiten. Die beiden Kapitel untersuchen, wie die Japaner mit diesen Problemen fertig werden.
Teil V, »Quo vadis, Japan?«, befasst sich mit der ernsten diplomatischen Herausforderung, der Japan in einer Zeit gegenübersteht, da seine eigene Macht schwindet und diejenige Chinas zunimmt. Chinas Erwachen bringt Japan in eine schwierige Lage, denn eine unbewältigte Vergangenheit und territoriale Streitigkeiten belasten das politische Klima in dieser Weltregion. Der Streit mit China wegen ein paar unbewohnter Inseln zwischen Okinawa und Taiwan ist Gegenstand anhaltender Spannungen zwischen den beiden Ländern geworden. Die chinesische Drohung facht in Japan die alte Frage an, welcher Platz Japan in der Welt gebührt und was seine Identität ausmacht.
Teil VI, »Nach dem Tsunami«, schaut genauer auf das, was sich in der japanischen Gesellschaft geändert hat und was nicht. Die Ereignisse in Fukushima legen nahe, dass viel vom »alten Japan« weiter besteht. Die Unfähigkeit, angemessen auf den Reaktorunfall zu reagieren und die Öffentlichkeit zu informieren, ist ein Beleg für ein fehlerhaftes politisches System mitsamt seiner Bürokratie. Doch in der Krise zeigte sich auch Gutes. Japan spürt, dass es Verbindungen mit dem Rest der Welt hat, wie die zahlreichen Spenden aus nah und fern bewiesen haben. Eine Beamtin des Außenministeriums war den Tränen nahe, als sie mir mitteilte, die afghanische Stadt Kandahar habe 50000 Dollar für den Wiederaufbau gespendet. Die Japaner selbst entdeckten den Nordosten ihres Landes neu, der zwar immer schon von den Dichtern wegen seiner landschaftlichen Schönheit gepriesen wurde, der aber im Allgemeinen als rückständig galt. Nun imponierte ihnen die unglaubliche Zähigkeit der dortigen Menschen, was auf Japanisch Gamanzuyoi heißt. Freiwillige kamen in Scharen, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Die Zivilgesellschaft, gestärkt durch die Gesetzgebung der vergangenen Jahre und ein wachsendes bürgerliches Engagement, machte auf sich aufmerksam. Die Japaner, die nach dem Krieg heftige ideologische Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken erlebt hatten, ehe das Wirtschaftswunder der 1960er-Jahre allen Zwist überdeckte, lernen nun wieder, was es heißt, sich zu organisieren, eine gesellschaftliche Debatte zu führen und den Konsens infrage zu stellen. Diese Tendenz macht sich nach Fukushima stärker bemerkbar, zumal die Antiatomkraftbewegung an Zustrom gewann und die durch Tsunami beziehungsweise radioaktive Strahlung Betroffenen auf Entschädigung pochten.
Und schließlich haben einfache japanische Bürger in den Fischerorten im Nordosten Japans, kaum dass die Scherben weggefegt und die Toten gezählt waren, mit beeindruckender Menschlichkeit und seelischer Stärke begonnen, ihre zerstörten Existenzen wieder aufzubauen. Ein japanischer Dramatiker sagte, das Handeln dieser Menschen zeuge »von einer starken Tradition, eingedenk der Vergänglichkeit des Lebens dennoch seinen Weg zu gehen«.6 Die einzige Gewissheit, die sie hatten, war, dass der nächste Tsunami kommen werde. In vielen Fällen zeigten sie einen Pioniergeist, den man eher im amerikanischen Westen als in Japan erwartet hätte, wo man zu Unrecht nur Uniformität und subalternes Denken vermutet. Nach der Doppelkatastrophe von Erdbeben und Tsunami warteten die Leute im Nordosten nicht auf die Hilfe eines Staates, in den sie wenig Vertrauen haben. Stattdessen stellten sie sich der Situation und packten selbst an. In ihren persönlichen Geschichten, die von Durchhaltevermögen und Überlebenswillen künden, steckt für uns eine Botschaft der Hoffnung und des Mutes.