Im Jahr 1666 gab ein Territorialherr namens Heitazaemon Yamazaki, ein ehemaliger Pionier, die Anordnung an die begüterten Kaufleute des Fleckens, aus dem später Rikuzentakata wurde, Kiefern anzupflanzen. Die robusten Schwarzkiefern sollten auf einem zweieinhalb Kilometer langen Streifen sandigen Strands zwischen dem Städtchen und dem Pazifischen Ozean gepflanzt werden. Die zerklüftete Küste des nordöstlichen Teils von Japan, Letzteres selbst eine abgelegene, unter Feudalherrschaft stehende Insel, gehörte damals zu den fischreichsten Gewässern der Erde. Neben einer Vielfalt von Fischen gab es und gibt es immer noch reichlich Seetang und Schalentiere. Aber die Gegend war auch rau und nicht ohne Gefahren. Die salzige Seeluft und die hohe Flut waren Gift für das Ackerland. Und ungefähr einmal in jeder Generation – nicht häufig, sodass es verdrängt werden konnte, aber doch oft genug, um nicht ganz vergessen zu werden – baute sich eine gewaltige Springflut am Horizont auf und brach über das Städtchen herein.
Und so pflanzten vor 350 Jahren die Einwohner von Rikuzentakata Bäume in der Hoffnung, für ihre Häuser und ihre Äcker einen Schutz gegen die Unbilden von Wind, Salz und Meer zu erhalten. In den ersten sieben Jahren wurden 18000 Bäume gepflanzt. Die folgenden Generationen verstärkten diesen natürlichen Schutzwall. Das Unternehmen gewann noch an Dringlichkeit, als die Goldminen in den nahe gelegenen Bergen erschöpft waren und die Bürger von Rikuzentakata nun ihre Produktion an Reis und anderen Feldfrüchten erhöhen mussten. Mitte des 18. Jahrhunderts standen schon 70000 Kiefern wie eine Schutztruppe in geschlossenen Reihen vor dem Ozean. Einheimische machten Spaziergänge auf den schattigen Pfaden des Kiefernhains oder veranstalteten Essen mit Blick aufs Meer. Junge Paare verabredeten sich zum Rendezvous an dunklen Plätzen. In neuerer Zeit wurden die 70000 Kiefern eine Touristenattraktion. Im Jahr 1927, ein Jahr nach der Thronbesteigung des Kaisers Hirohito, wurde der Strand in die Liste der 100 schönsten Landschaften Japans aufgenommen. Die uralten Bäume standen weiterhin in Reih und Glied entlang des weißen Sandstrands zwischen den Holzhäusern von Rikuzentakata und der Bucht, die mit den vielen anderen steilen Einschnitten der wildromantischen Küste ein gezacktes Muster wie die Zähne einer Säge bildete.
Noch näher an der Gegenwart, genauer im Jahr 1989, dem Todesjahr Kaiser Hirohitos, wuchs gleich hinter dem Strand ein Gebäude in den Himmel. Das Capital Hotel war mit seinen sieben Stockwerken aus weiß getünchtem Backstein und mit einer Wendeltreppe, die es mit der Treppe zum Erste-Klasse-Deck der Titanic aufnahm, das höchste und imposanteste Bauwerk der Stadt. In der Hotelhalle hing ein großes Gemälde, auf dem man kleine Kinder sorglos am Strand spielen sah. Durch eine Glastür gelangte man auf die Terrasse zu einem ovalen Swimmingpool. Da das Hotel gern für Hochzeiten genutzt wurde, war für die Bräute eigens ein Raum reserviert, wo sie sich für die Trauzeremonie umziehen und zugleich einen Blick auf den berühmten Kiefernhain von Rikuzentakata werfen konnten.
Das Geld für den Bau des Capital Hotel kam aus der Spekulationsblase der wilden 1980er-Jahre. Als die Blase platzte, ging das Hotel wie so viele Anlageobjekte in den Besitz der Stadtverwaltung über. Die Hauptinvestoren waren anfangs der Direktor einer Baufirma und ein ortsansässiger Sänger von schmalzigen Enka-Schlagern. Beide wollten der heimischen Wirtschaft etwas Gutes tun, und das Capital Hotel war sicherlich dafür geeignet. Seine weiß getünchte Fassade und seine zum Meer orientierte Lage machten es bei den 23000 Einwohnern des rauen Küstenstädtchens zur ersten Wahl für Familienfeste, Innungsfeiern und Bestattungszeremonien. Wie der Verkaufsleiter des Hotels, Kazuyoshi Sasaki, sagte: »Für eine Kleinstadt in der Provinz war das wirklich ein schönes Hotel.«
Für einen Japaner war Sasaki recht stämmig, er hatte ein freundliches Gesicht und einen selbstironischen Humor. Auch wenn er über sehr ernste Dinge sprach, lag stets ein leises Lächeln auf seinen Lippen. Nun ein Mann Ende der 50er, war er in Rikuzentakata geboren wie vor ihm seine Eltern, seine Großeltern und Urgroßeltern. Im Jahr 1734, also zu einer Zeit, als Japan vom Rest der Welt fast ganz abgeschnitten war, gründeten Sasakis Vorfahren eine Firma, um aus Kamelien Samenöl zu gewinnen. Die Firma trug den Namen Aburaya. Im Lauf der Jahre wurde aus dem kleinen Laden ein allgemeiner Lebensmittelhersteller mit angeschlossenem Großhandelsgeschäft, der sich über mehrere Generationen bis ins 21. Jahrhundert hielt. Erst 2006 nach über 270 Jahren Firmentradition ging Aburaya pleite als Folge der zurückgehenden Einwohnerzahl in Rikuzentakata und des harten Wettbewerbs mit größeren, gewiefteren Konkurrenten. Sasaki dachte zuerst daran, die Stadt möglichst rasch zu verlassen, um, wie er es sah, der Schande zu entgehen, seine Mitarbeiter um ihre Stelle gebracht und die Familientradition verraten zu haben. Doch die Firma musste in geordneter Form abgewickelt werden. Deshalb blieben Sasaki und seine Frau in Rikuzentakata, und Sasaki fand eine neue Beschäftigung im Capital Hotel.
Am Morgen des 11. März 2011, einem Freitag, hatte sich Sasaki auf den Weg gemacht, um im Namen des Hotels dem gerade verstorbenen Yukio Shimizu, einem Mitglied des Stadtrates, die letzte Ehre zu erweisen. Viele Freunde und Familienangehörige hatten sich zur Totenwache versammelt und nahmen Abschied von dem Verstorbenen, damit dessen Seele leichter die Reise ins Yomi no Kuni, ins Jenseits, antreten könne. Bei solchen Gelegenheiten verbrennen die Trauernden Weihrauch und leisten dem Verstorbenen singend und betend eine Nacht lang Gesellschaft. Sasaki hatte sich in das Trauerhaus begeben, um die Sitzordnung für die buddhistische Bestattungszeremonie zu besprechen, die am nächsten Tag im Capital Hotel stattfinden sollte. Das Haus, in dem Shimizus Totenwache abgehalten wurde, befand sich in Höhenlage in den Bergen über dem Talgrund, wo sich die Stadt Rikuzentakata ausdehnte. Sasaki stellte später ironisch fest: »Wenn sich die Leute nicht zur Totenwache versammelt hätten, wären wohl viele von ihnen umgekommen.«
Sasaki selbst blieb nicht lange im Trauerhaus. Am frühen Nachmittag kehrte er ins Capital Hotel zurück und betrat um 14:46 Uhr sein Büro. Er erinnert sich genau an den Zeitpunkt, denn gerade in jenem Augenblick begann die Erde zu beben.
***
Japaner haben eine lange Erfahrung mit Erdbeben. In früheren Epochen schrieben sie diese wiederkehrenden Ereignisse Onamazu, einem riesigen Wels zu, der angeblich die japanischen Inseln auf seinem Rücken trug. Gewöhnlich wurde der Fisch von einem mächtigen Felsblock auf den Meeresboden gedrückt, den wiederum der Erdgott Kashima in Stellung hielt. Wenn aber Kashima einmal in seiner Wachsamkeit nachließ, wand sich Onamazu los, schüttelte sich und brachte damit die Erde zum Beben.1 In den Tagen des Großen Erdbebens von Ansei im Jahre 1854, bei dem die Verheerungen von Kyushu bis Tokio reichten, kamen Holzschnitte von dem mythischen Wels in der Hauptstadt auf. Die Japaner haben auch die Tsunamis, die oft im Gefolge großer Erdbeben auftreten, in lebhafter Erinnerung. Die monumentale Bronzestatue des Buddha in Kamakura ist ungeschützt dem Wetter ausgesetzt, denn die Halle, in der er einst stand, wurde 1498 von einer gewaltigen Welle fortgespült. Die japanische Küste wird von verwitterten, an kleine Grabsteine erinnernde Steintafeln gesäumt, die künftige Generationen warnen, ihre Häuser weiter weg vom Meeresufer zu bauen. Lafcadio Hearn, ein irisch-griechischer Schriftsteller, der im späten 19. Jahrhundert 15 Jahre lang in Japan verbrachte, schildert sein Gastland als »ein Land der Instabilität, in dem Flüsse ihr Bett, Küsten ihren Verlauf und Täler ihr Niveau verändern«.2 Ein japanischer Seismologe hat errechnet, dass der gesamte Archipel seit dem fünften Jahrhundert 220 Erdbeben katastrophaler Stärke erlebt habe.3 In der Neuzeit erfuhren die Japaner, dass die Inseln, auf denen sich ihre Vorfahren niedergelassen hatten, zu der geologisch unruhigsten Region der Erdkruste gehören, wo mehrere tektonische Platten zusammenstoßen und einen Teil des sogenannten Pazifischen Feuerrings bilden. Jedes neunte Erdbeben ereignet sich in dieser unruhigen Region, weshalb Japan die am meisten durch Erdbeben heimgesuchte Nation ist. Den größten Teil des Jahres über ist irgendwo in Japan ein leichtes Beben spürbar. Die Menschen sind so sehr an diese Unannehmlichkeiten gewöhnt, dass sie bei kurzen Beben, selbst wenn die Schiebetüren scheppern oder Lampenschirme schaukeln, nicht einmal im Gespräch innehalten.
Aber das Erdbeben am 11. März um 14:46 Uhr war kein leichtes Beben. Jeder, der an jenem Nachmittag spürte, wie der Boden plötzlich zu wackeln begann, wusste augenblicklich, dass etwas ganz und gar Ungewöhnliches geschah. Mit einer Stärke von 9,0 Punkten auf der Richterskala war es das viertstärkste Erdbeben, seitdem es historische Aufzeichnungen gibt. Seine Mächtigkeit entsprach der Energie von 600 Millionen Atombomben der Hiroshima-Klasse. Das Epizentrum lag unter dem Meeresgrund 72 Kilometer von der Nordostküste Japans entfernt und südlich von Rikuzentakata. Geologen ermittelten später, dass es sich um ein großes Unterwasserseebeben handelte, solche die an den Rändern tektonischer Platten entstehen, und sich an der Stelle ereignete, wo sich die Pazifische Platte unter die Nordamerikanische Platte, auf der sich auch Japan befindet, schiebt.4 Ein Kommentator veranschaulichte den Vorgang, bei dem diese Platte der Erdkruste nach oben geschoben wurde, mit dem Bild einer Spielkarte, die zwischen Daumen und Zeigefinger gebogen werde.5 Bog sich die Platte zu weit, löste sich die aufgebaute Spannung ruckartig und zwang die Nordamerikanische Platte, zurückzuschnellen. In diesem Augenblick verschob sich die Hauptinsel Japans um rund vier Meter nach Osten.
Der Ruck ereignete sich 32 Kilometer unter dem Meeresgrund. Eine solch vergleichsweise geringe Tiefe bedeutet, dass sich ein Großteil der Energie an die Oberfläche fortpflanzt. Daher war das Beben atemberaubende sechs Minuten lang in weiten Teilen Japans zu spüren. Viele Menschen erzählten später, das Beben habe noch an Stärke zugenommen, während sie um Erlösung beteten. In Tokio schwankten die Hochhäuser, von denen viele auf elastischen Fundamenten ruhten, wie Bambus im Wind. Das Schwanken wurde so heftig, dass Büroangestellten übel wurde, als ob sie in einem Boot auf hoher See gewesen wären. In Rikuzentakata, wo man dem Epizentrum viel näher lag, bebte die Erde noch stärker. Ein Zeuge beschreibt das dabei entstandene Geräusch wie Donnerhall.6 Kaum war das höllische Donnern zu Ende, hatten die meisten Menschen nur einen Gedanken: Tsunami.
Sasaki, die Papiere für Shimizus Bestattung noch in der Hand, hastete die Treppe zum Dach des Capital Hotels hinauf, das drei Stockwerke höher war als das höchste Gebäude in der Stadt. Die Lichter im Hotel waren ausgegangen, wie übrigens auch überall in Rikuzentakata. Im dunklen Treppenhaus ertasteten sich er und 30 weitere Hotelangestellte ihren Weg nach oben. Vom Dach aus blickten sie umher. Trotz der Heftigkeit des Bebens waren an den Gebäuden keine Spuren großer Schäden zu sehen. Das Meer sah flach und ruhig aus, obwohl die Tsunami-Sirene bereits heulte. Wenige Minuten später teilte der Hoteldirektor mit, dass ein Bus für die Evakuierung des Personals bereitstehe. Nachdem Hotelangestellte überprüft hatten, dass sich niemand mehr im Gebäude befand, fuhr der Bus gegen 15 Uhr los. Die Zufahrtsstraße zum Hotel war mit Privatautos verstopft, die sich alle retten wollten. Die Schranken des Bahnübergangs ein paar Häuserblocks landeinwärts waren geschlossen, sodass sich der Verkehr staute. Deshalb schlug der Bus eine andere, längere Route ein, die für einige Minuten der Küstenstraße folgte, ehe sie in die umliegenden Berge führte. Um 15:08 Uhr befanden sich Sasaki und das Personal des Capital Hotel in Sicherheit.
Weit draußen auf See, wo sich die Erdkruste gehoben hatte, setzte eine gewaltige Welle zu ihrer Verwüstung bringenden Reise an. Als sie viele Stunden später fast 13000 Kilometer weiter das Sulzberger Schelfeis im Süden der Antarktis erreichte, war ihre Kraft noch so groß, eine Eisfläche von der Größe Manhattans abzubrechen.7 Vorher hatte die Springflut mehr als 400 Kilometer der Nordostküste Japans verheert. Am Anfang pflanzte sich die Welle mit 800 Stundenkilometern fort, der Geschwindigkeit eines Düsenjets. Beim Annähern an die Küste nahm die Geschwindigkeit ab, erst auf das Tempo eines Hochgeschwindigkeitszuges, dann auf das eines Autos. Kurz nach 15:20 Uhr, etwas mehr als 30 Minuten nach dem ersten Beben, brandete die Welle in die Bucht, an der Rikuzentakata liegt.
Unser Bild von einem Tsunami ist von Hokusais herrlichem Holzschnitt geprägt, der eine mächtige, sich auftürmende Welle zeigt, die sich über das Land ergießt. Echte Tsunamis sind weniger poetisch, aber dafür unheilvoller. Auf hoher See ist die Welle gar nicht hoch, kann aber mehrere Hundert Kilometer lang sein. Tsunamis pflanzen sich, oft unbemerkt von sie passierenden Schiffen, als kräftige Woge fort, bis sie sich in Landnähe zu gewaltiger Höhe auftürmen. Tsunamis bestehen auch nicht aus einer einzigen großen Welle. Der erste Anprall ist auch nicht der verheerendste, oft richten sie größeren Schaden an, wenn die Welle zurückläuft und dann mit noch größerem Druck gegen die Küste donnert. In Rikuzentakata dauerte es nur Minuten, bis die Welle eine Bresche in die von den Stadtplanern für sicher gehaltene sechs Meter hohe Betonmauer geschlagen hatte. War dieses Hindernis überwunden, lag Rikuzentakata schutzlos vor ihr. Die Wassermassen ergossen sich an mehreren Stellen in die Stadt, füllten das zentrale Flussbett und rasten in die Talebene hinein, bis Land und Meer nicht mehr zu unterscheiden waren. Den Menschen blieb nur die Flucht.
Wer vom Boden aus das Herannahen des Tsunamis beobachtete, dem fiel zuerst ein Dunst auf, der von den unter der Wucht des Wassers zusammenbrechenden Gebäuden aufstieg. Der geisterhafte weiße Staub wallte vor der Welle wie ein schreckliches tödliches Omen. Begleitet wurde er vom Knirschen und Krachen der einstürzenden Gebäude. Manche riss die Welle in einem Stück von ihren Fundamenten fort, verwandelte sie in gefährliche Geschosse, die alles zertrümmerten, was ihnen in den Weg kam. Wer begriff, was da geschah, und das Nötige zur Flucht parat hatte, fuhr oder rannte hinauf in die Berge, während das Wasser sich unaufhaltsam in der Talebene ausbreitete. Viele Tsunami-Opfer waren zu alt und gebrechlich, um fortzulaufen, aber auch viele Jüngere in Rikuzentakata kamen beim Versuch um, älteren Verwandten und Nachbarn zu helfen. Es gab Leute, die sich hätten retten können, es aber nicht für nötig hielten, zu fliehen, weil sie so weit weg von der Küste waren. »Sie blieben in ihren Häusern, obwohl sie leicht die Anhöhen erreicht hätten«, sagte Sasaki. Nach Zeugenaussagen brauchte der Tsunami nur wenige Minuten, um das knapp vier Kilometer lange Tal zu durcheilen. »Die ganze Stadt war in vier Minuten überschwemmt«, präzisierte Sasaki, der bei der Erinnerung immer noch schockiert war. »Wer die Welle sah, für den war es bereits zu spät.«
Fotos, die eine Gymnasiastin in Rikuzentakata geschossen hat, belegen die ersten Minuten der verheerenden Welle. Auf den ersten Aufnahmen sieht man, wie das Wasser den Fluss hinaufsteigt, der die Stadt durchquert. Der Fluss führt zwar Hochwasser, scheint aber nicht zu größeren Schäden fähig. Ein paar Aufnahmen weiter ist das Wasser schon reißend und zerstört eine kleine Brücke. Ehe die erste Flutwelle abebben konnte, drängte schon die nächste über die Betonmauer und erhöhte die Wassermasse. Nach späteren Berechnungen muss die Welle zwölf Meter hoch gewesen sein, als sie durch das Tal eilte. Nun zeigen die Fotos losgerissene Holzhäuser, die mit intakten Dächern wie auf einem Lavastrom durch das Tal getragen werden. Ein ganzer »Mos Burger«, ein Restaurant einer Imbisskette, treibt wie ein führerloses Boot durch das Tal. Deutlich sieht man das große rote M des Firmenlogos auf dem Dach, wie es sich dem Krankenhaus nähert. Als es dort ankommt, ist das Dach auseinandergebrochen. Das Wasser sieht jetzt wie aufgewühlter Schlamm aus. Eine andere Fotoserie, diesmal von einem Feuerwehrmann aufgenommen, der auf eine Antenne geklettert war, liefert Bilder wie von einer sturmdurchtosten Meeresoberfläche. Der einzige Hinweis, dass es sich um überflutetes Land handelt, ist das Zifferblatt der Stadtuhr, das aus den kochenden Wogen schaut.
Die in die Bucht ein und aus rollenden Wassermassen rissen Trümmer mit sich und schleuderten sie – Boote und Häuser, Autos und Fabriken – todbringend gegen alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Holz, Beton, Glas, Knochen, alles wurde zu Geschossen. Baumstämme und Stahlträger brachen durch die Fensterfront des dritten Stockwerks des Maiya-Einkaufszentrums. Im städtischen Krankenhaus spielten sich grauenhafte Szenen ab. Wasser brach in die Krankenstation im vierten Stock ein, wo sich viele bettlägerige alte Patienten befanden. Das Wasser riss sie auf ihren Matratzen mit. Einige hatten das Glück, auf dem Dach zu landen, andere ertranken auf der Stelle. Die Überlebenden wurden vom Pflegepersonal in schwarze Müllsäcke gehüllt, um sie bei Temperaturen nahe null Grad vor dem Erfrieren zu retten. Die meisten verbrachten die Nacht auf dem Dach, während im Dunkel unter ihnen das Wasser weiter wütete.8
Überall in der Stadt kam es zu ähnlichen verzweifelten Überlebenskämpfen. Im Rathaus kletterten Verwaltungsangestellte auf das Dach des vierten Stocks. Von dort beobachteten sie mit Ferngläsern das Meer und sahen, wie die erste Welle die Betonmauer überwand. Binnen Minuten waren sie selbst von Wasser umgeben und Wellen schwappten über das Dach. Wer die Kraft besaß, hievte sich und andere auf eine erhöhte, gerade noch aus dem Wasser ragende Partie des Daches. Von hier blickte Bürgermeister Futoshi Toba, der es zu landesweitem Ruhm brachte, auf die Grundschule hinüber, wo seine beiden Kinder Schüler waren. »Ich wusste, dass meine beiden Kinder in der Schule waren und dass sich die Lehrer um sie kümmern würden«, sagte er.9 Er war mehr in Angst um seine Frau. Sie war wahrscheinlich zu Hause, als die Erde bebte, und von seinem erhöhten Aussichtspunkt sah Toba, dass sein Haus überflutet war. Die Telefonverbindungen funktionierten nicht mehr. Es bestand daher keine Möglichkeit, sich nach ihrem Verbleib zu erkunden, bis das Wasser wieder abgeflossen sein würde. Toba fühlte sich zwischen den Pflichten eines Bürgermeisters und denen eines Familienvaters und Ehemanns hin- und hergerissen. »Ich bin schließlich auch nur ein Mensch«, sagte er später, »und man macht sich einfach Sorgen.« Am Ende überlebten seine Kinder. Seinem Sohn, dem 12-jährigen Taiga in der Takata-Grundschule, riet dessen Lehrer, um sein Leben zu rennen. Später sagte der Junge einem Reporter: »Es war wie in einem Godzilla-Horrorfilm. Man sah, wie die Welle immer näher kam und dabei Häuser niederriss. Die Welle kam langsam, aber mit ungeheurer Kraft.«10 Taigas Mutter, die Ehefrau des Bürgermeisters, hatte nicht so viel Glück. Sie war eine von den mehr als 1900 Einwohnern, die an jenem schrecklichen Tag vom Wasser fortgespült wurden.
In der Takata-Oberschule am anderen Ende der Stadt wurde die Schwimmmannschaft vermisst. Vor dem Ausbruch des Erdbebens hatten sich die zehn Mitglieder auf den Weg zum Training im nagelneuen städtischen Hallenbad gemacht. Die Schwimmabteilung warb mit einer Inschrift: »Wenn Wasser dein bevorzugtes Element ist, dann ist es auch die Medizin für Frieden, Gesundheit und ein langes Leben.« Weder die Mannschaft noch ihre junge Schwimmlehrerin wurden jemals wiedergesehen.11
Mehr als 70 Personen hatten sich in der Sporthalle, eine von mehreren Notunterkünften, eingefunden. Die Fachleute, die die Notfallpläne für Tsunami-Katastrophen ausgearbeitet hatten, waren der Ansicht, dieses Gebäude sei außer Reichweite der höchsten Wellen. Als sich die Nachricht verbreitete, dass die erste Welle die Betonschutzmauer durchbrochen hatte, flüchteten sie auf die Zuschauerränge, von wo aus sie schon seit vielen Jahren Basketballspiele und Taiko-Trommelwettbewerbe verfolgt hatten. Dann brach Wasser in das Gebäude ein, konnte nicht abfließen und wirbelte in dem kuppelförmigen Bau wie in einer Waschmaschine herum. Sasaki beschrieb später das Geräusch mit den japanischen Wörtern »guru, guru, guru«. Die entsetzten Menschen versuchten, an den Stahlträgern hinaufzuklettern, die das Dach der Halle stützen. Einigen gelang es, doch insgesamt 67 Menschen starben an jenem Abend. Die Uhr über den Sitzreihen im zweiten Rang blieb um 15:30 Uhr stehen und zeigte damit an, wann das Wasser die Decke fast erreicht hatte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wurde der Druck der Wassermassen so groß, dass sie durch die rückwärtige Hallenwand brachen und ihren Weg der Verwüstung draußen fortsetzten. Einheimische nannten das gewaltige Loch, das im zerstörten Gebäude gähnte, später »das Teufelsmaul«.12
Während sich diese schrecklichen Szenen in der Stadt abspielten, stand Sasaki auf seinem Beobachtungsposten oben in den Bergen und sah auf die Überschwemmung hinunter. Auch er war in Sorge um seine Frau, die 57-jährige Miwako. Da es kein Funknetz mehr gab, konnte er sie nicht telefonisch erreichen. Auch er beobachtete entsetzt, wie die Welle über die Betonschutzmauer fuhr. Der Staub eingestürzter Gebäude hing als gespenstischer Rauch in der Luft. Dann sah er etwas, was er niemals für möglich gehalten hätte. Der Wald aus 70000 Kiefern verschwand nach und nach vor seinen Augen. Jede neue Welle knickte die hoch aufragenden Baumstämme wie Streichhölzer um. Der Anblick war so gespenstisch und irreal wie der wandernde Wald von Dunsinane in Shakespeares Macbeth. »Ich fühlte mich wie benommen und begriff nicht recht, was da geschah«, erinnerte sich Sasaki.13
Seine Frau war wohl unterwegs gewesen, ihre Soba-Nudeln zu liefern, als plötzlich die Erde zu beben begann. Beim Geheul der Tsunami-Sirene musste sie versucht haben, zu ihrem Haus zurückzukehren, das zwei Kilometer von der Küste entfernt lag. Sie schaffte es nicht. Ein Feuerwehrmann, der zu den ersten Rettungsleuten gehörte, die in die Stadt kamen, beschrieb die Szene wie folgt: »Die Leute auf den erhöhten Posten schrien wie außer sich, ihre Münder weit offen. Den ganzen Fluss hinauf fanden wir keine lebenden Menschen, nicht einen.«14 Nach nur wenigen Minuten war die ganze Stadt Rikuzentakata wie ausradiert. Ein Zehntel der Einwohnerschaft war tot oder vermisst. Von vier Fünfteln der Häuser blieb nur noch Kleinholz übrig. Sogar die wenigen Betonbauten, darunter auch das Capital Hotel, waren zerstört, Trümmer in den reißenden Wassermassen hatten das Innere demoliert. Wie Sasaki mit eigenen Augen gesehen hatte, verschwanden binnen weniger Minuten auch die 70000 Kiefern, das Wahrzeichen der Stadt seit über 100 Jahren, in den wütenden Fluten. Sogar der Strand, auf dem die Bäume gestanden hatten, war aufgewühlt und zum Teil fortgespült worden. Die gesamte Topografie der Stadt war nicht wiederzuerkennen, die Küste zeigte jetzt andere Konturen. Der Boden entlang der Küste war um fast 60 Zentimeter abgesunken.15 Nichts war mehr so, wie es vorher gewesen war. Vielleicht mit einer Ausnahme. Wie durch ein Wunder war eine 30 Meter hohe Kiefer, umgeben von all den anderen geknickten Bäumen, herausfordernd stehen geblieben. Die Überlebenden von Rikuzentakata nannten sie schlicht die einsame Kiefer.
Die Maschine war fast leer und befand sich bei strahlend blauem Himmel im Anflug auf den Tokioter Flughafen Haneda. Ich reckte den Hals, um alles dort unten sehen zu können. In meiner Vorstellung war Japan nicht mehr der Landrücken, der fest mit der Erdkruste verbunden war, sondern ein Fetzen Land, das von Feuer und atomaren Explosionen geschüttelt wurde, eine dünne Kruste, die auf einem siedenden Meer schwamm. Doch aus dieser Höhe besehen, schien die Landebahn ganz normal und das Land trittfest zu sein. Es war ein schöner heller Nachmittag. Rund 240 Kilometer nördlich von Tokio nahm in dem beschädigten Atomkraftwerk von Fukushima die schlimmste Nuklearkatastrophe seit Tschernobyl ihren Lauf. 160 Kilometer davon entfernt lag Rikuzentakata. Der Tsunami hatte Tokio zwar ganz verschont, aber die Riesenstadt von 36 Millionen Einwohnern wurde weiterhin von Nachbeben der Stärke 6,0 geschüttelt, was in Städten mit weniger erdbebensicheren Gebäuden zu großen Schäden geführt hätte. Es war der 15. März 2011.
Am Tag des Erdbebens hatte ich in Peking zu tun. Einige Personen, die ich an jenem Tag traf, behaupteten auch dort, 2100 Kilometer entfernt, Erdstöße gespürt zu haben. Aber als ich einen Anruf von einem Kollegen erhielt, der mir mitteilte, vor der Küste nordöstlich von Japan habe es ein Erdbeben gegeben, hakte ich das zunächst als »nichts Besonderes« ab. Ich lebte nicht mehr in Japan, hatte mich aber während meines Aufenthalts dort an Erdbeben gewöhnt, da viele gekommen und gegangen waren, ohne großen Schaden anzurichten. Erst als mein Telefon erneut klingelte und es nun hieß, ein gewaltiger Tsunami nähere sich der Küste Japans, eilte ich in mein Pekinger Hotel zurück, um Genaueres zu erfahren. Vor dem Fernsehgerät im Hotel sah ich fassungslos die Filmaufnahmen, die inzwischen so bekannt geworden sind. Nur wenige Naturkatastrophen solcher Größenordnung können als Direktübertragung im Fernsehen angeschaut werden. Beim Anblick der ersten Bilder dieser Wasserbrühe, in der, wie es schien, Spielzeugautos und Streichhölzer schwammen, wusste ich nicht, was ich davon halten sollte. Dann kamen Aufnahmen von brennenden Häusern, die vom Wasser auf den Strand geworfen wurden; ganze Schiffe stießen gegen Gebäude oder drehten sich in Strudeln draußen auf See; eine Flughafenlandebahn verschwand unter einer Wasserdecke. Ein Fernsehsender zeigte Luftaufnahme der Stadt Minamisanriku in der Präfektur Miyagi vor und nach dem Tsunami. Auf der ersten Aufnahme war die Stadt noch da, in der zweiten war sie verschwunden. Besonders beängstigend waren die Bilder von der Explosion im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi, auf denen man Teile der geborstenen Betonhülle hoch durch die Luft fliegen sah. Eine weitere Explosion wurde von einem Feuerball und einer Rauchwolke begleitet.
Zwei Videostreifen, die bei mir einen bleibenden Eindruck hinterließen, kamen aus einem ganz anderen Bereich. Einer zeigte Angestellte eines Supermarktes im Augenblick, als die Erde zu beben begann. Statt sich nach draußen in Sicherheit zu bringen, eilten die Angestellten zu den wackelnden Regalen. Mit Händen, Armen und dem ganzen Körper versuchte das reinlich gekleidete Personal zu verhindern, dass Sojasoßenflaschen, Orangensaftkartons, Nudelpakete und Suppentüten zu Boden fielen. Im Großen und Ganzen war ihre Mühe vergebens, aber das Arbeitsethos der Japaner schien auch in Augenblicken großer Gefahr ungebrochen. Auf dem anderen Video hatte ein Aufnahmeteam eine junge Frau angetroffen, die ganz benommen über ein Feld ging. Sie hatte einen Ausritt gemacht, aber von ihrem Pferd war nichts zu sehen. Die Landschaft war zu einer Einöde ohne erkennbare Merkmale geworden, abgesehen von ein paar übel zugerichteten Bäumen. Immer noch in Reithosen und eng anliegendem Reitdress schaute die Frau fassungslos ins Nichts um sie herum. »Was hier eigentlich sein sollte, ist nicht mehr hier«, sprach sie wie zu sich selbst.
In den darauffolgenden Tagen klärte sich das Bild, und das Ausmaß der Katastrophe wurde offenbar. Das Erdbeben hatte eine solche Gewalt, dass sich die Achse der Erdkugel leicht verschob, sich ihre Drehgeschwindigkeit änderte und sich die Tageslänge um 1,8 Mikrosekunden verkürzte. Die Zahl der Todesopfer belief sich offiziell auf mehrere Hundert, aber Zehntausende wurden immer noch vermisst. Eine halbe Million musste evakuiert werden. Das Atomkraftwerk Fukushima schien außer Kontrolle geraten zu sein. Dessen Betreiber, Tokyo Electric Power Company (Tepco) bestritt, dass es zu einer Kernschmelze gekommen sei, doch die Firma hatte den Reaktor mit Meerwasser geflutet. Dies deutete auf einen verzweifelten Versuch, die Situation zu retten. Amtlicherseits hieß es, die Strahlung aus dem Atomkraftwerk sei tausendmal höher als gewöhnlich, weshalb die Bevölkerung in einem Radius von zwei Kilometern evakuiert wurde. Die Sperrzone wurde rasch auf zehn und schließlich 20 Kilometer ausgeweitet. Bewohner im nahen Umkreis wurden aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben.
Vor meinem Flug nach Tokio hatte ich versucht, japanische Freunde telefonisch zu erreichen. Manche hatten sich in andere Gebiete Japans abgesetzt, wo sie vor den nervenaufreibenden Nachbeben und der zunehmenden Strahlungsgefahr sicher waren. Diejenigen, die die Stellung hielten, wirkten am Telefon mitgenommen, ihre Stimmen klangen angespannt, ja verängstigt. Ein Angestellter eines Handelshauses versicherte mir, die Verantwortlichen bei Tepco würden alles Menschenmögliche tun. »Ich habe gehört, die Franzosen sollen jedem raten, das Land zu verlassen. Sie sollten vielleicht lieber nicht kommen.« Ich hatte einen weiteren Freund, Toshiki Senoue, einen Abenteurer und Fotografen, kontaktiert und ihn gefragt, ob er bereit sei, mit mir nach Norden ins Katastrophengebiet zu reisen. Er schrieb mir eine E-Mail und bestätigte, dass er bereit sei, aber ich solle doch bitte einen Geigerzähler mitbringen.
***
Tokio war wie verwandelt und blieb sich doch gleich. Auf dem eleganten neuen Flughafen Haneda standen, um Strom zu sparen, die Rolltreppen und Laufbänder still, aber die Lautsprecherdurchsagen in charakteristisch hoher Stimmlage mahnten die Fluggäste immer noch, am Geländer festen Halt zu suchen. Mein Taxifahrer trug wie üblich weiße Handschuhe und machte eine Verbeugung, als ich an sein Auto trat. Auf der Rückbank lag wie üblich eine weiße Zierdecke. Als ich im Fond saß, schloss sich die Tür automatisch. Während wir geräuschlos dahinglitten, erläuterte mir der Fahrer, gerade habe es ein weiteres starkes Nachbeben gegeben. Bei unserer Fahrt durch ein Bilderbuch-Tokio waren die Straßen fast leer. Über uns wölbte sich der Himmel in einem angenehmen Graublau.
Das Bürohochhaus mit den getönten Fensterscheiben, in dem ich früher mein Büro hatte, stand in Uchisaiwaicho, unweit des mit Wassergraben und Mauer bewehrten kaiserlichen Palastes. Als wir dort ankamen, war die Eingangshalle des Hochhauses leer, die Starbucks-Filiale geschlossen. Die Regale des Lebensmittelladens, die normalerweise mit Reisbällchen, Lunchpaketen, getrockneten Snacks, Gebäck und einer Auswahl an Teekartons gefüllt sind, waren leer gekauft. Im Badezimmer hatte man die Handtrockner abgeschaltet und ein Papier mit der Aufschrift Setsuden – »Stromsparen« darauf geklebt. Die Klobrillen wurden aber immer noch beheizt (auf einen gewissen Luxus kann man eben nicht verzichten). Als in den folgenden Wochen der Zwang zum Stromsparen nicht mehr abzuwenden war, wurde auch dieser typisch japanische Luxus geopfert. So sah das Leben in Tokio in Zeiten des Setsuden aus.
Im Büro der Financial Times im 21. Stock des Gebäudes traf ich Mitsuko Matsutani, die verlässliche Büroleiterin, und Nobuko Juji, ihre langjährige Sekretärin, und fand sie sichtlich geschockt von den Ereignissen. Sie schilderten, wie die Bürotürme einander immer näher kamen, als sie ins Wanken gerieten. Die Angestellten waren alle 21 Treppen hinunter gelaufen und hatten sich gegenüber im Hibiya-Park, einem nach europäischer Art angelegten Park, versammelt. Bei dem massiven Nachbeben hatten alle geglaubt, dass der Turm einstürzen werde. Auch jetzt, mehrere Tage danach, sei der Weg zum Büro schwierig. Züge, die normalerweise auf die Minute, ja auf die Sekunde pünktlich waren, hatten nun lange Verspätungen. Im Übrigen machte es Angst, unterirdische Verkehrswege zu benutzen, wenn die Erde immer noch bebte. Gerüchte gingen um, es könnte zu Stromausfällen und schlimmer noch zu einem Zusammenbruch des gesamten Verkehrssystems kommen. Die Behörden hatten vor einem weiteren schweren Erdbeben in den folgenden Tagen gewarnt. Vielleicht werde das dann das »Große Beben« sein, worauf sich Tokio schon lange gefasst machte. Als ich das Büro für meinen ersten Termin, ein Treffen mit einem alten Bekannten, Kaoru Yosano, den 72-jährigen Minister für Wirtschafts- und Finanzpolitik, verlies, reichte mir Matsutani einen Schutzhelm. Mir war nicht klar, ob das ein Scherz sein sollte oder nicht.
In dem alten funktionalen Backsteinbau des Ministeriums war die Stimmung ebenfalls gedämpft. An der Rezeption saßen zwei Angestellte mit Wolldecken über den Knien, um sich warm zu halten. Die Heizung und ein Großteil der Beleuchtung waren abgestellt worden. Yosano, der sonst maßgeschneiderte Anzüge trug, kam diesmal in einem blauen Arbeitskittel und hohen Gummistiefeln. Das war jetzt die amtliche Kleidung des Kabinetts, das sich spartanisch wie in Kriegszeiten zeigte. Premierminister Naoto Kan hatte gewarnt, dass dies Japans schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg sei: »Ob wir Japaner die Krise überwinden, hängt von einem jeden von uns ab.«
Yosano zog langsam die Stiefel aus und streckte die Füße. Sein Amtszimmer war geräumig, aber ohne Luxus eingerichtet. Als ich ihn fragte, ob diese Katastrophe der Nation neuen Schwung geben könne, schaute er mich erst schweigend an, ehe er eine Hand zur Faust ballte. Der Minister beantwortete Fragen nach dem Ausmaß der Schäden und deren mögliche Folgen für die Wirtschaft. Da es geheißen hatte, das Gebäude des Ministeriums sei nicht erdbebensicher, blickte das Personal bei jedem leichten Nachbeben – und im Verlauf unseres einstündigen Gesprächs gab es einige davon – besorgt hinauf zu den Rissen in der Decke und den wackelnden Lampenfassungen. Yosano, der erst vor Kurzem wieder von einem Krebsleiden genesen war, steckte sich in der Gesprächspause eine weitere Zigarette an.
Ich wusste es damals nicht, aber ungefähr zur selben Zeit wandte sich Kaiser Akihito, der 77-jährige Monarch, in einer Fernsehansprache an sein Volk. Er tat dies zum ersten Mal in den 22 Jahren seiner bisherigen Regierungszeit. Sein Vater Hirohito hatte am 15. August 1945 eine berühmt gewordene Ansprache gehalten. Der Kaiser, den seine Untertanen für einen lebenden Gott hielten und denen seine Stimme unbekannt war, sprach in einer schwer zu deutenden höfischen Sprache von der bedingungslosen Kapitulation Japans, obwohl er dieses Wort nicht benutzte. Der Krieg habe »sich nicht zu Japans Vorteil entwickelt«, so drückte er sich verhüllend aus. Seine Untertanen mögen sich darauf gefasst machen, »das Untragbare zu ertragen«. Zu dieser Aussage kam es, nachdem zwei Atombomben über Japan abgeworfen worden waren und die Kapitulation mit der nachfolgenden Besetzung des Landes nicht mehr abzuwenden war. Mehr als sechs Jahrzehnte später musste sein Sohn nach einer Naturkatastrophe und einem atomaren GAU eine ähnlich düstere Ansprache halten. Akihito, im dunklen Anzug und mit dunkler Krawatte, saß vor einem Reispapierschirm und sprach sechs Minuten lang. Ob es ein Zufall war oder nicht, so lange hatte auch das Erdbeben gedauert. »Die Zahl der Toten nimmt mit jedem Tag zu, und wir wissen nicht, wie viele Menschen der Katastrophe zum Opfer gefallen sind«, sagte er. »Ich hoffe, dass möglichst viele Menschen gerettet werden können. Viele müssen bei bitterer Kälte evakuiert werden, zudem fehlt es an Wasser und Brennstoff.« Angesichts der sich zuspitzenden Nuklearkatastrophe zeigte er sich tief besorgt. »Ich hoffe aufrichtig, dass wir in dieser Situation noch Schlimmeres verhindern können.«16
Die Lage hinter den Kulissen war noch schlimmer, als der Kaiser hatte durchblicken lassen. An jenem Morgen – ich war noch im Flugzeug unterwegs – war es im AKW Fukushima zu einer Wasserstoffexplosion gekommen, der dritten Explosion innerhalb von drei Tagen. Premierminister Kan, ein ehemaliger Sozialaktivist, begab sich in die Tokioter Zentrale der Tokyo Electric Power Company. Aus einer späteren Untersuchung der Nuklearkatastrophe geht hervor, dass Kan auf den Vorschlag der Tepco, das AKW ganz aufzugeben, mit Wut reagiert habe.17 In einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Unternehmenschef Masataka Shimizu fuhr ihn der Premier an: »Was zum Teufel ist eigentlich los?« Die Situation war kritisch, sodass Kan in seinem Kabinett auch die schlimmstmögliche Wendung diskutierte. Würde man Fukushima Daiichi aufgeben, könnte das AKW außer Kontrolle geraten und die Evakuierung der anderen in der Nähe gelegenen Werke notwendig machen, was die Gefahr einer weiteren Kernschmelze brächte. Yukio Edano, der stets nüchtern ausschauende Regierungssprecher, der dank seiner regelmäßigen Fernsehauftritte zum Gesicht des Krisenmanagements wurde, warnte im privaten Kreis seine Kollegen vor einer »teuflischen Kettenreaktion«, an dessen Ende die Evakuierung der Hauptstadt stünde. »Wenn wir Fukushima Daini aufgeben, dann verlieren wir auch Tokai«, sagte er mit Bezug auf zwei weitere AKWs. »Wenn aber das eintritt, dann ist es nur logisch, dass wir auch Tokio aufgeben.«18
In Tokio herrschte sicherlich eine verhohlene Furcht, obwohl damals noch niemand von den Szenarien wusste, die im Kabinett diskutiert wurden. Später kamen Gerüchte auf, wonach Leute mit engen Kontakten zur Regierung geheime Tipps bekommen hätten, die Hauptstadt zu verlassen. Tokio bei Nacht wirkte noch gespenstischer als bei Tag. Die Stadt schien, wie es ein Kollege ausdrückte, »wie auf die unterste Stufe herabgedimmt«.19 In normalen Zeiten ist Tokio von allen Städten der Erde vielleicht diejenige, die am hellsten leuchtet. Die teuren Boulevards der Ginza und die quirligen Straßen in Shibuya, Ikebukuro, Shinjuku und Akasaka strahlen in Neonglanz. Überall kurven gelbe, grüne und rote Taxis, während sich auf den Bürgersteigen smarte Geschäftsmänner, schicke Bürofrauen und aufgetakelte Hostessen in Abendkleidung drängen. Nun waren die Straßen dunkel und menschenleer. Die Sushi-Bars, Tonkatsu-Imbisse, die einfachen und teuren Restaurants, die Garküchen, Nudellokale, die traditionellen Izakaya-Kneipen, die Klubs, Jazz- und Karaoke-Bars und Amüsierbetriebe aller Art, was Tokio bei Nacht so einzigartig macht, alle hatten die Läden schon zwischen acht und neun Uhr abends heruntergelassen. Tokio dröhnt normalerweise bis zwei oder drei Uhr früh. Doch wenige Tage nach dem Erdbeben hatten es die Leute eilig, heimzukommen, ehe aus Strommangel der Zugverkehr ganz eingestellt wurde. In einem nur spärlich erleuchteten U-Bahn-Wagen sah ich einen Mann, der einen Helm mit Stirnlampe trug und damit seine Zeitung las. Sogar die Außenbeleuchtung des Tokyo Tower, einer Imitation des Eiffelturms, die als das Wahrzeichen der Stadt gilt, war abgeschaltet. Die Antenne auf seiner Spitze, so hieß es, stehe infolge des Erdbebens schief.
An jenem Abend rief ich einen alten Freund an, Shijuro Ogata. Er ist ein charmanter Mann mit einem weltoffenen Geist, und er spricht tadellos Englisch. Obwohl er früher einen prestigeträchtigen Posten bei der Bank of Japan hatte, nämlich stellvertretender Direktor für internationale Beziehungen, war er ohne jene Gespreiztheit, die wichtige Männer in Japan bisweilen entwickeln. Am Telefon gab sich Ogata gewohnt aufgeräumt. Ihm gehe es gut, sagte er. Seit dem Erdbeben habe er kaum das Haus verlassen, sei nur für ein paar Lebensmitteleinkäufe in die Läden des Viertels gegangen. Die Gelassenheit seiner Landsleute beeindrucke ihn sehr, viele hätten versucht, trotz des Bahnchaos und der Furcht vor weiteren Beben pünktlich zur Arbeit zu gelangen. In seinem Viertel sei es kaum zu Hamsterkäufen gekommen. Die Leute begnügten sich mit einem Karton Milch und einer Packung Tofu.
Ogata war weniger begeistert von den Verantwortlichen bei Tepco. Offenbar waren sie den Anforderungen, die Krise zu managen, nicht gewachsen, und vor allem konnten sie nicht mit der Öffentlichkeit kommunizieren. »Sie sind sehr ungeschickt und wissen nicht so recht, was eigentlich vorgeht«, sagte er untertreibend. Doch insgesamt glaubte er, dass Japan auch diese Krise durchstehen werde. »Ich wünsche mir«, sagte er zu mir, »dass durch die Krise der japanische Geist wiedererweckt wird, der sich nach dem Krieg im Wiederaufbau gezeigt hat.« Und dann verwendete er eine japanische Redensart, die ich vorher noch nie gehört hatte: wazawai wo tenjite fuku to nasu. Nachdem ich aufgelegt hatte, schaute ich im Wörterbuch nach. Die dort angebotene Übersetzung klang in meinen Ohren sehr nüchtern: »Das Beste aus einem schlechten Geschäft machen.« Ich dachte darüber nach und entschied mich für eine wörtlichere Übersetzung: »Ein schweres Los hinnehmen und es in ein glückliches verwandeln.«
***
Ich war schon einmal hier gewesen. Nur dass niemand vorher hier gewesen war. Fast auf den Tag genau vor vier Jahren war ich in den kleinen Fischerort Ofunato an der nordöstlichen Küste Japans rund 400 Kilometer nördlich von Tokio gereist. Tohoku ist das japanische Wort für »Nordosten« und das ist die Region, die vom Tsunami heimgesucht wurde. Damals war ich wegen einer Reportage über den Fischfang gekommen. Ich wollte wissen, wie Makrele, Bernsteinfisch, Thunfisch, Tintenfisch und Dutzende anderer Arten aus den reichen Fischgründen auf die Theken der Sushi-Bars und in die Kühltruhen der Supermärkte überall im Land gelangen. Früh am Morgen – sehr früh sogar – begleitete ich eine Crew auf ihrem Kutter. Wir waren noch im Dunkeln losgefahren und kehrten nach mehreren eisigen Stunden Fischfangs in den Hafen zurück. Inmitten der Fischereiutensilien tranken wir selbst gebrannten Schnaps und schlürften einen Fischeintopf, während das Schiff Kurs auf die Fischgründe hielt. Ich aß auch ein gegrilltes Stück Fleisch, das sich als Delfin herausstellte. Dann sahen wir, wie das große Netz leer im Meer versank und später mit einer silbrig glänzenden, zappelnden Fracht wieder an Bord gehievt wurde. Es war ein denkwürdiges Erlebnis und brachte mir Einblick in das vom Salzwasser geprägte Leben der Männer, die den Fisch für ihre städtischen Landsleute aus dem Meer holen. Jetzt war ich also wieder hier, nur fehlten die Fischkutter. Und Ofunato war auch nicht mehr hier.
In den Tagen unmittelbar nach dem Erdbeben war es nicht leicht, nach Ofunato zu gelangen – oder genauer gesagt an den Ort, wo früher Ofunato gewesen war. Die Straßen, die von Tokio nach Norden führten, waren streckenweise nicht befahrbar. Der Flughafen von Sendai, der größten Stadt im Norden, lag nach dem Tsunami unter Schlammmassen begraben. Flüge zu anderen Flughäfen in den drei am schwersten betroffenen Präfekturen – Fukushima, Miyagi und Iwate, wohin ich wollte – waren ausgebucht von freiwilligen Helfern und Rettungsteams, die Nachschub brachten. Am Ende flog ich nach Akita, eine Stadt im Norden, aber an der Küste des Japanischen Meeres, rund 160 Kilometer von Ofunato entfernt. Dort traf ich mich mit meinem Freund Toshiki, den Fotografen. Gemeinsam wollten wir mit dem Auto unser Ziel erreichen. Toshiki, der in den USA studiert hatte, war ein Raubein. Er war größer, ungebärdiger und ungepflegter als der durchschnittliche Japaner, jedenfalls all diejenigen, die Anzug tragen und für die großen Unternehmen arbeiten. Er liebte Motorräder, Autos und übernachtete gern in der freien Natur. Dennoch musste ich auch ihn erst überreden, ins Katastrophengebiet zu fahren. Am nächsten Morgen wollten wir losfahren. Gleich als Erstes musste ich ihm gestehen, dass ich keinen Geigerzähler dabei hatte.
Den Abend über sah ich Fernsehen in meinem gut eingerichteten, aber winzigen Hotelzimmer. Auf einem Sender verlas eine Frau mit schleppender, respektvoller Stimme eine nicht enden wollende Liste der Namen von Personen, die teils vermisst wurden, teils gefunden worden waren. Wie in Japan üblich wurde erst der Familienname genannt, dann fügte die Sprecherin das respektvolle Anhängsel san hinzu, »Sato Yoshie-san, Takahashi Michiko-san, Suzuki Mitsuko-san«. Die von den Japanern verwendeten chinesischen Schriftzeichen können unterschiedlich gelesen werden, und es ist nicht immer eindeutig, wie ungewöhnliche Namen auszusprechen sind (Yuko, eigentlich ein häufiger Vorname, kann zum Beispiel auch Hiroko ausgesprochen werden). Deshalb musste die Sprecherin bisweilen verschiedene Lesarten der Namen von vermissten oder womöglich toten Personen anbieten. »Kawano oder Kono-san«, sagte sie. »Kiyonari oder Kiyoshige-san.« Nicht nur Personen wurden vermisst, auch die Substanz ihrer Namen verflüchtigte sich.
Ich sprang zum nächsten Sender. Tokioter Feuerwehrleute in orangefarbener Kluft salutierten, ehe sie ausgesandt wurden, den schwelenden Brand im AKW Fukushima mit ihren kleinen Feuerwehrspritzen zu löschen. Als sie festen Schrittes auf das Kraftwerksgelände marschierten, dachte ich an die Kamikaze-Piloten, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs zu selbstmörderischen Einsätzen entsandt wurden. Ein anderer Sender hatte eine Unterhaltungsshow zum Spendensammeln umfunktioniert. Doraemon, ein blau-weißes, katzenartiges Wesen mit großen Taschen, aus denen es nützliche oder skurrile Gegenstände hervorholte, war für den guten Zweck herangezogen worden. Das Wesen bat Zuschauer, Geld zu spenden. Nach einer Stunde war ich wieder zu dem ersten Sender zurückgekehrt. Die Sprecherin verlas mit der gleichen Stimme immer noch die Namen auf ihrer Liste. »Ono Megumi-san, Uchiyama Tomoe-san, Uchiyama Mitsuo-san.«
Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg nach Ofunato. Wir beluden das Auto mit Lebensmitteln und Wasser, da beides in der vom Tsunami verwüsteten Küstenregion knapp sein sollte. Toshiki meinte, dass wir noch zusätzlichen Proviant brauchten, außerdem Sicherheitsschuhe, um über die Trümmer zu klettern. Die automatischen Türen des Baumarktes waren mit einer Liste der Artikel versehen, die wegen Panikkäufen nicht mehr erhältlich waren. Die Liste war recht lang: Benzinkanister, Batterien, Radios, Taschenlampen, Heizlüfter, Gasflaschen, Handy-Ladegeräte, Wasser, Tee. Die Katastrophe, so analysierte Toshiki die Lage, hatte enthüllt, was wesentlich ist: »Wasser, Feuer, Kommunikation«.
Die Fahrt nach Ofunato verlief ohne Zwischenfälle. Die Straßen waren so gut wie leer. Wir hatten einen Notfallpass organisiert, und nur für Autos mit einem solchen Pass durfte Benzin gekauft werden. Straßenmaut war außer Kraft gesetzt. Die Landschaft war bergig und waldreich, so weit das Auge reichte. Schneebedeckte Felder, kleine Dörfer unter einem metallgrauen Himmel. Wir kamen an ein paar Lebensmittelläden vorbei, die meisten nur mit Notbeleuchtung und Hinweisschildern mit der Aufschrift »Wir haben fertige Lunchpakete«. Ihr Angebot schien nicht darüber hinauszugehen. Nur ein paar Kilometer von der Küste entfernt fuhren wir an dem Maruhan Pachinko Palace vorbei. Das sind jene Spielhallen, in denen Japaner an lärmigen Spielautomaten mit Strömen von Metallkugeln ihre Freizeit verbringen. Toshiki schüttelte nur den Kopf beim Anblick des voll besetzten Parkplatzes. Unweit der Tragödie hockten die Leute dort drin in Schwaden von Zigarettenrauch und im Lärm klappernder Spielautomaten. Wenige Minuten später fuhren wir um die Kurve und kamen in das Tal, in dem bis vor Kurzem Ofunato gelegen hatte.
***
Wer es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, kann sich schwer eine Vorstellung von den Verheerungen machen, die ein Tsunami hinterlässt. Ein Kollege sagte, es sei, als ob man in ein Foto von Hiroshima nach der Atombombenexplosion hineinginge. Ich schrieb in mein Notizbuch, es sehe so aus, als habe die von Menschen gemachte Welt ihren Inhalt ausgespien. Alles, was gewöhnlich verdeckt ist – Röhren, Stromkabel, Matratzenfüllung, Metallträger, Unterwäsche, Elektroaggregate, Verdrahtungen – lag jetzt offen zutage wie das sonst Verborgene aus dem Inneren des modernen Lebens. Unter den Trümmern von Holzhäusern, unter verbogenen Stahl und leeren Sojasoßenflaschen fiel mir ein auf dem Rücken liegendes Reh auf, das mit glasigen Augen in den Himmel schaute. Daneben lag ein Wiesel, das offene Maul vom Tod versiegelt, ferner ein Adler, eine Eule, ein Pfau und ein weiteres Reh. Nach einer Weile begriff ich, was da vor mir lag. Das musste eine Trophäensammlung sein. Die Füße des Rehs und der anderen Tiere waren fest mit einem mit grünem Tuch bespannten Brett verschraubt.
Das waren die Dinge, die eigentlich hier nichts zu suchen hatten. Das meiste von dem, was hier einmal seinen Platz hatte – Häuser, Läden, Fabriken, Straßen –, war nun nicht mehr da. Sogar von stabilen Betonbauten blieben nur noch die Fundamente. Wie Puppenhäuser, deren Wände fortgerissen waren, standen sie da, ihr zerborstener Inhalt flatterte wie Papier im Wind. Überall lagen zerdrückte Autos herum, manche hingen in Bäumen, andere lagen auf der Seite oder auf dem Dach, wieder andere standen wie durch einen glücklichen Zufall auf vier Rädern. Eine Rolle grüner Maschendraht stand aufrecht auf einem zusammengebrochenen Balkon wie eine metallene Riesenschlange, die vor der Hölle Wache hielt. Ein Tankwagen steckte mit der Schnauze im Boden, ringsum lagen Zeitschriften mit Fotos halb nackter Frauen, die gerade aus der Dusche traten. Auch tote Fische waren weit landeinwärts gespült worden. Die kalte Luft war vom Salzgeruch des Meeres geschwängert.
Plötzlich entdeckte ich mitten in der Trümmerlandschaft zwei kleine Gestalten, die den verbogenen Gleisen einer Bahnstrecke folgten, an der jetzt der Bahnhof fehlte. Es hatte etwas Verstörendes an sich, Menschen den Boden des zermalmten Todestales absuchen zu sehen. Ich dachte an Cormac McCarthys Roman The Road, in dem ein Vater und sein Sohn durch eine von einer atomaren Katastrophe verwüstete Landschaft wandern. Als die Gestalten näher kamen, sah ich, dass eine der beiden Frauen einen roten Stock hatte. Sie trug eine blaue Strickmütze, einen Schal, Pullover, Jeans und einen rosafarbenen Rucksack. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet. Ihre Gefährtin war jünger und schlanker. Sie trug Brille und einen weißen Mundschutz. Auch sie hatte einen Rucksack. Während sie sich Zoll um Zoll vorwärtsschoben, suchten sie mit den Augen den Boden ab, wobei die eine mit ihrem Stock in den Trümmern stocherte oder beide sich bückten, um etwas genauer zu inspizieren.
Ich trat näher und fragte sie, was sie hier täten. Mir kam es so vor, als hätte ich Reisende in der Wüste getroffen. Beide verbeugten sich, die höfliche Geste wirkte befremdend in dieser surrealen Umgebung. Hiromi Shimodate, die rotwangige Frau, erzählte, sie suche mit ihrer Freundin nach Sachen aus ihrem Café, das sie gemeinsam geführt hatten. »Wir suchen nach Habseligkeiten, ein Stuhl oder sonst irgendetwas«, sagte sie. Vor genau einer Woche hatten sie beide im Café gesessen, als die Erde zu beben begann. Shimodate zeigte mit der Hand in Richtung Küste und deutete auf eine Ansammlung von Trümmern, die sich nicht von der übrigen Trümmerlandschaft abhob. Am Morgen des Erdbebens war sie ins Bürgermeisteramt gefahren, um ihre Steuererklärung abzugeben. Sie war mit ein paar Einkäufen ins Lokal zurückgekehrt, als gerade die beiden letzten Gäste vom Mittagstisch aufstanden. »Ich stand Kimura gegenüber«, und deutete auf ihre Gefährtin mit der Atemmaske, »und dachte, wir sollten uns etwas zu essen holen. Da bebte die Erde. Es war nicht wie sonst, das Beben dauerte lange. So etwas hatte ich noch nie erlebt.« Noch ehe die Erde wieder zur Ruhe kam, lief Shimodate nach draußen und schaute, wie es dem älteren Ehepaar ging, dem das Lokal gehörte. »Sie kauerten hinter dem Haus in der Nähe der Bahngeleise und stützten sich gegenseitig.«
Kaum hatte sich die Erde beruhigt, kehrte sie zu Kimura zurück. »Wir gingen zum Parkplatz. Dort standen nur mein Auto und Kimuras. Ein kleiner Fluss fließt da entlang, normalerweise ist der einen Meter tief. Aber nun führte er nur noch wenig Wasser, es war schwarz, und darin zappelten Fische. Wir dachten beide sofort: Das ist ein schlechtes Zeichen.« Wasser drang auch durch den Asphalt des Parkplatzes, der rissig geworden war. Die Frauen liefen eine jede zu ihrem Auto und fuhren los, Kimura nach links, Shimodate nach rechts. Shimodate geriet sofort in dichten Verkehr, alle wollten in die Berge. Shimodate nahm einen Umweg. Hätte sie es nicht getan, so sagte sie mir, wäre sie wohl nicht mehr am Leben. Vom Haus ihrer Schwester oben in den Bergen schaute sie ins Tal hinab. Eine gewaltige Welle brach sich ihre Bahn.
Shimodate verstummte. Yasuko Kimura holte ihr Handy hervor und zeigte mir auf dem Display ein Foto des Cafés. Es war rosa ausgemalt, und gerahmte Bilder hingen an der Wand. Obwohl die Aufnahme erst vor ein paar Tagen gemacht wurde, schien sie aus einer anderen Epoche zu stammen. Shimodate erläuterte, dass der Tsunami den Küstenverlauf verändert habe. »Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Meine Familie hat immer hier gelebt«, sagt sie von sich. »Das gilt aber für viele Leute hier. Die Landschaft, die wir immer vor Augen hatten, hat sich verändert. Das Wasser ist gestiegen, das sagen alle. Das Meer ist näher gekommen.«
Plötzlich stieß sie einen Schrei aus. »Schau, da ist etwas.« Sie sprang vor und fischte einen silbrig schimmernden Gegenstand aus einem Haufen Holz. Sie wischte ihn sauber und nun sah man, was es war – ein flaches Sieb mit einem schlichten Griff aus Draht. Damit schöpfte man Schaum von einer kochenden Suppe oder holte Tofu aus siedendem Öl. Sie hielt es in die Höhe, halb freudig, halb traurig wegen der verschwundenen Welt, die nur noch Erinnerung war. »Ich habe es sofort erkannt. Ich habe es jeden Tag benutzt«, sagte sie und fuhr mit dem Finger am Drahtgriff und an dem Sieb entlang, das nicht viel größer als ihr Handteller war. Dann hob sie den Blick und schaute noch einmal auf die Verwüstung ringsum, auf die zerstörten Gebäude, die zerbeulten Autos, die platt gewalzten Häuser. Erneut schaute sie auf das Sieb in ihrer Hand, ein kleines, vertrautes Küchenutensil in einer trostlosen Trümmerlandschaft. »Es ist ein Jammer.«
Kimura brach das Schweigen. »Viele alte Leute sind umgekommen. Sie sind gar nicht geflohen«, sagte sie. Die Alten aus Ofunato, von denen manche im Verlauf ihres Lebens drei schwere Tsunamis erlebt haben, erinnerten sich an die größte Welle, die 1960 auf das Erdbeben in Chile folgte. Es war das schwerste Erdbeben, seitdem es historische Aufzeichnungen gibt, und obwohl es sich auf der anderen Seite des Pazifiks ereignete, erreichte als Folge davon ein gewaltiger Tsunami die japanische Küste. »Damals kam die Welle nur bis hier«, sagte Kimura und zeigte auf eine Stelle nicht weit von uns entfernt. »Die Alten dachten, dass das Wasser nicht so weit kommen würde. Deshalb haben sie sich nicht vom Fleck gerührt.« Das war eine gängige Ansicht, berichtete sie. Alle, die glaubten, die Lehren der Geschichte verstanden zu haben, hatten es zu leicht genommen. Dennoch sei die Zahl der Toten und Vermissten, vergegenwärtigt man sich das Ausmaß der Zerstörungen, nicht so hoch, wie man hätte fürchten können. »Im nächsten Tal hat es die Leute aber viel schlimmer getroffen«, fügte Shimodate hinzu. Damals wusste ich es noch nicht. Die Stadt, die sie meinte, war Rikuzentakata.
Die Stadt der 70000 Kiefern befand sich nur 13 Kilometer südlich von Ofunato auf der anderen Seite des Bergrückens. Als wir dort ankamen, war es schon dunkel. Wir schalteten den Motor aus und genossen die Stille ringsum. Man ahnte die Verwüstung, sah aber nichts. Während wir langsam weiterfuhren, auf Scherben und Trümmer auf der Fahrbahn achtend, sahen wir im Scheinwerferlicht erste Anzeichen der Katastrophe, eine zermalmte Autokarosserie oder ein kieloben mitten auf dem Land stehender Rumpf eines Fischtrawlers. Im Dunkel der Nacht konnten wir keine Gebäude erkennen. Tatsächlich gab es auch keine mehr, mit Ausnahme ganz weniger Betonbauten, die dem Ansturm des Tsunamis widerstanden hatten. Zu ihnen gehörte auch das Capital Hotel.
***
Im August 2011 fuhr ich wieder mit Toshiki nach Norden. Diesmal machten wir uns von Tokio aus auf die 400 Kilometer lange Reise. Fünf Monate nach dem Erdbeben war in der Hauptstadt wieder die Normalität eingekehrt. Die Nachbeben, anfangs mehrere täglich, hatten aufgehört. Die Stadt fand vorsichtig, aber unaufhaltsam ihren gewohnten Rhythmus. In den Izakaya-Kneipen, wo Studenten und Büroangestellte gewaltige Mengen Sashimi, gegrillten Fisch und Fleischspieße mit noch gewaltigeren Mengen Bier und Sake hinunterspülten, herrschte wieder laute Geselligkeit. Busse und Bahnen verkehrten mit der gewohnten Pünktlichkeit. Andererseits blieben viele Gebäude nach wie vor dunkel und feucht (die Klimaanlagen waren auf »schwach« gestellt oder ganz abgeschaltet). Viele Rolltreppen standen nach wie vor still und waren mit gelbem Plastikband, als handele es sich um einen Tatort, abgesperrt. Ein Angestellter eines Großunternehmens berichtete mir, er trage jetzt immer eine Taschenlampe mit sich, um in den dunklen Gängen seines ultramodernen Bürohauses die Gesichter der Kollegen zu erkennen (schließlich lohnt es sich nicht, Bücklinge vor dem Botenjungen aus der Postabteilung zu machen). Ein paar Monate zuvor war das traditionelle Hanami-Kirschblütenfest deutlich leiser als in erdbebenfreien Zeiten gefeiert worden. Shintaro Ishihara, der rechtskonservative Gouverneur von Tokio, hatte öffentlich den Gedanken geäußert, der Tsunami müsse eine Rache der Götter für den japanischen »Egoismus« sein, und hatte es ferner für unangebracht gehalten, beim Anblick der Kirschblüten in den städtischen Parks Sake zu schlürfen, während Landsleute im Norden schwere Not litten.
Nach dem Schnee und Frost im März breiteten sich in Tohoku nun Fliegen und Stechmücken aus. Wenn man nach Rikuzentakata gehen konnte, waren die Aufräumungsarbeiten in den fünf Monaten sehr weit gediehen. Die Stadt war zwar immer noch eine Ruine, aber eine säuberlich geordnete. Der größte Teil der Trümmer war fortgeräumt oder zu Haufen aufgetürmt. Autos, zerbeult und zermalmt bis zur Unkenntlichkeit, standen aufgestapelt, als sollten sie verkauft werden. Trümmerholz befand sich auf einer Seite, Haushaltsmobiliar auf der anderen. Die Verantwortlichen vor Ort bemühten sich, die notwendigen Maßnahmen durchzuführen. In Japan gab es einfach nicht genug Platz, die Millionen Tonnen von Trümmern zu lagern. Allein in der Nachbarpräfektur Miyagi hatten Rettungskräfte 16 Millionen Tonnen zusammengekehrt, das entspricht der Menge des normalen Müllaufkommens in einem Zeitraum von 19 Jahren. In Rikuzentakata lag der Grundriss der Stadt nun trümmerfrei da. Ein flüchtiger Beobachter hätte denken können, er stehe in einer neuen Stadt, deren schachbrettartig verlaufende Straßen schon markiert waren. Die Silhouette des Capital Hotel stand in der flachen Landschaft wie eine postmoderne Version der Atombombenkuppel in Hiroshima. Es war nur noch ein einsames Gebäudegerüst in der Nähe des Erdbebenherdes.
Ich traf Sasaki außerhalb der Mauern des Hotels, in dem er früher angestellt war. Sein Telefonnummer hatte ich von einem der vielen Freiwilligen erhalten, die nach Rikuzentakata und andere ähnlich verwüstete Küstenstädte gekommen waren, um sich bei den Aufräumarbeiten zu beteiligen. Dann führte mich Sasaki durch das verwüstete Innere des Hotels. Sein Rundgang war so durchdacht wie der eines Immobilienmaklers, der mir einen Neubau zeigt und einen Kaufabschluss anstrebt. Von außen gesehen schien das Hotel halbwegs intakt, auch wenn die Wände im Erdgeschoss an einigen Stellen Lücken aufwiesen. Über dem Haupteingang prangte ein großes, schwungvolles Logo in Rot und Rosa. Das Hotel selbst war menschenleer. Drinnen roch es nach Meer, und überall lagen Glasscherben. Von der Decke hingen Kabel und Metallstreifen. Auch hier hatte man Holztrümmer zu Haufen zusammengetragen, ein paar Baumstrünke, die durch das Panoramafenster auf der Meerseite hereingebrochen waren, lagen ebenfalls hier herum. Wir stiegen die Treppe hinauf, deren Stufen noch mit einem dicken, jetzt schlammstarrenden Teppich bedeckt waren, dazu überall Kiefernzapfen. Auch zerbrochene Stühle standen in den Räumen. Wir stiegen auf dem gleichen Weg, den Sasaki nach dem Erdbeben genommen hatte, hinauf. Das fünfte Geschoss wies fast keine Schäden auf. Als wir ganz oben ankamen, war Sasaki schweißgebadet. Wir schauten auf die Bucht und den Ozean, der sich uns ruhig und friedlich darbot. Sasaki zeigte auf den Küstenstreifen, wo früher die 70000 Kiefern gestanden hatten, von denen nun nur noch ein einziger Baum übrig geblieben war. »Der Baum ist zum Symbol für unsere Hoffnung geworden«, sagte er.
Zu der Geschichte um die 70000 Kiefern von Rikuzentakata gibt es eine nicht so herzerwärmende Fortsetzung, die die Fähigkeit der Japaner, bei Schicksalsschlägen zusammenzustehen, in ein anderes Licht taucht. Sasaki erzählte sie mir, als wir sein vorübergehendes Zuhause, ein solide gebautes Holzhaus abseits der Stadt in den Bergen, besuchten. Auf einem kleinen niedrigen Tisch hatte er Wassermelonenstücke und Calpis, ein milchig-trübes, nicht alkoholisches Getränk bereitgestellt. In der Ecke des Zimmers befand sich ein Altar mit dem Foto seiner Frau, davor Äpfel und Räucherwerk. »Machen Sie es sich in meinem Palast bequem«, sagte er grinsend zu mir und legte ein Sitzkissen auf den Boden.
Als im März die Wasser des Tsunamis wieder abgeflossen waren und viele Leichen zurückgelassen hatten, wollten die Überlebenden ein Zeichen für den Tod der vielen setzen, die nun nicht mehr unter ihnen waren. »Noch waren nicht alle Toten identifiziert«, sagte Sasaki mit gesenktem Blick. »Ganze Familien waren ausgelöscht worden. Daher gab es niemanden, der für die Toten sorgte. Das sind nicht wenige.« Die Asche dieser Opfer wurde in Holzkistchen gefüllt, die wiederum in weiße Musselintücher gehüllt und dann im Fumonji-Tempel ausgestellt wurden. Dieser Tempel befindet sich wie viele buddhistische Heiligtümer in erhöhter Lage und hat den Tsunami unbeschadet überstanden. Viele Leichen konnten durch bloße Inaugenscheinnahme nicht identifiziert werden. Noch im Juni wurde eine Leiche vom Meer angespült. »Möglicherweise war der Tote unter Trümmern begraben gewesen und ist durch ein Nachbeben wieder freigekommen«, erläuterte Sasaki. Erst nachdem ein Laborassistent eine DNA-Analyse vorgenommen hatte, stellte sich heraus, dass es die Leiche eines Schulfreundes war.
Wäre es nicht eine passende Art, der Toten zu gedenken, so sagten sich die Überlebenden von Rikuzentakata, wenn wir sie mit den vom Tsunami gefällten Kiefern verbinden? Und so machten die Bürger aus einigen Kiefernstämmen 340 Holztafeln, in die sie Gebete und Gedenkworte für die Toten gravierten. Die Holztafeln wurden 680 Kilometer südwärts nach Kioto gebracht, wo sie bei dem jährlich im August stattfindenden Fest auf dem Berg Daimonji verbrannt werden sollten. In einem aufwendigen Schauspiel werden auf den Bergen um Kioto herum große Feuer abgebrannt, sodass daraus das mit drei Pinselstrichen geschriebene chinesische Zeichen mit der Bedeutung »dai« gleich »groß« entsteht. Das Fest mit dem Namen Gozan no Okuribi ist eine Zeremonie, mit der die Geister der Toten, die nach buddhistischer Tradition im schwülen Monat August ihre Angehörigen besuchen, wieder fortgeschickt werden.
Doch dabei tauchte ein Problem auf. Einwohner von Kioto protestierten, die Holztafeln könnten radioaktiv sein, da Rikuzentakata nur 160 Kilometer von dem außer Kontrolle geratenen AKW Fukushima entfernt war. Wegen dieses Risikos weigerten sich die Verantwortlichen, die Holztafeln bei der Zeremonie zu verbrennen. Kioto kann eine sehr abweisende Stadt sein. Ist Japan distanziert zur übrigen Welt, so ist Kioto noch distanzierter, nun auch gegenüber dem Rest Japans. Die Bürger von Kioto sprechen einen eigenen Dialekt, und viele von ihnen halten die Kultur ihrer Stadt für reiner als in anderen Landesteilen. Das arme und seit Jahrhunderten verachtete Tohoku gilt bei ihnen nicht viel. »Für Kioto sind wir Leute aus dem Norden wie Oni«, sagte Sasaki und verwendete den Ausdruck für Teufel. »Das Schreckliche daran ist, dass man glaubt, wir seien hier verstrahlt. Kioto soll hingegen das geistige Zentrum von Japan sein. Wir haben uns bemüht, mit dem beschriebenen Kiefernholz ein Zeichen zu setzen. Und was machen sie? Sie sehen nur sich selbst.«
Auch Japans Hibakusha, die Überlebenden der Atombomben, hatten oft mit der Diskriminierung durch Nachbarn zu kämpfen, die eine Ansteckung befürchteten. Nach dem Tsunami kam es vereinzelt zu Zwischenfällen, weil Rettungskräfte sich weigerten, Personen, die nahe am AKW Fukushima wohnten, zu transportieren, ja sogar in Notunterkünften wurden solche Personen erst aufgenommen, nachdem die auf Radioaktivität untersucht worden waren. Die 340 Holztafeln schickte man nach Rikuzentakata zurück, wo sie in einem großen Feuer zu Asche verbrannten.
Doch das war noch nicht das Ende der Geschichte. Kioto gab sich zerknirscht nach der allgemeinen Empörung und verkündete, es sei nun bereit, 500 Holztafeln aus den Kiefern von Rikuzentakata zu verbrennen. Daraufhin wurden neue Tafeln hergestellt und versandt. Eine Untersuchung ergab aber, dass sie leichte Spuren von radioaktivem Cäsium enthielten, das eine Halbwertszeit von 30 Jahren hat. Wieder lautete das Urteil, das Verbrennen sei zu riskant. Futoshi Toba, der Bürgermeister von Rikuzentakata, der seine Frau in dem Tsunami verloren hatte, entschuldigte sich öffentlich bei den Bürgern von Kioto für die Ängste, die man ihnen verursacht habe. Die Geste war nobel, aber eigentlich hätte man sich bei den Bürgern von Rikuzentakata entschuldigen müssen.
Der Kolumnist Hiroshi Fuse schrieb in einem Beitrag in der Lokalzeitung von Mainichi, wie traurig ihn diese Geschichte mache. »Manche Leute haben die Stadtverwaltung von Kioto und die Veranstalter wegen ihrer ›Engstirnigkeit‹ kritisiert, während andere ihre Entscheidung als ›kluges, nicht von Emotionen beeinflusstes Urteil‹ lobten«, schrieb er. Er persönlich frage sich, weshalb Leute über so geringe Strahlungswerte solches Geschrei erheben. »Ich habe beim Feuer vom 16. August in Kioto gebetet, dass das Holz der von Erdbeben und Tsunami verwüsteten Regionen beim Gozan no Okuribi des nächsten Jahres verbrannt werden darf.«20
Während Sasaki die Geschichte der abgewiesenen Kieferntafeln erzählte, bemerkte ich, dass Toshiki sich leise vom Tisch entfernt hatte. Als ich mich umschaute, sah ich, wie er Räucherwerk entzündete. Er kniete vor dem Altar und betete mit gesenktem Kopf vor dem Foto von Sasakis toter Ehefrau.