Die Japaner sind ein Inselvolk. Für viele von ihnen ist diese Tatsache von überragender, vielleicht übertriebener Bedeutung. Im Japanischen ist Shima das Wort für Insel. Geschrieben wird es durch das Ideogramm eines Vogels dargestellt, der auf der Spitze eines Berges sitzt, so als habe er, erschöpft vom Fliegen, einen Ruheplatz in der Weite des Meeres gefunden. Das Wort für Land ist Kuni. Wenn beide Wörter zusammengehen, entsteht daraus das zauberhaft klingende Shimaguni. Auf den Silben lastet eine Bedeutungsschwere, als handele es sich um den Titel eines verloren gegangenen Heldenepos. Auch in der Umgangssprache wird dieses Wort manchmal wie eine Beschwörungsformel verwendet, so als sei damit bereits alles gesagt. Im Gespräch mit Ausländern kann es das letzte Wort zum Thema Japan sein. Shimaguni. Das sagt alles – und alles, was man wissen kann – über einen Archipel, dessen Sitten und Gebräuche einem Fremden immer unverständlich bleiben müssen.
Wohl kaum ein Beobachter würde leugnen, dass Japans insularer Charakter greifbare Auswirkungen auf seine Geschichte und Kultur hatte, auch wenn die Japaner selbst die Bedeutung dieser Tatsache überschätzen. Dem Außenstehenden mag Japan als geheimnisvolles, ja unbegreifliches Land erscheinen. Ehe sich Japan in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter der Drohung amerikanischer Kriegsschiffe dem Westen öffnete, verbrachte es lange Perioden seiner Geschichte abgeschottet von westlichen, ja sogar asiatischen Einflüssen. Japan und China haben zu bestimmten Zeiten ihrer Geschichte den Bau von seetüchtigen Schiffen verboten. Im Fall Japans geschah das in der Absicht, das japanische Volk vor dem Gift fremder Ideen zu bewahren, sei es das Christentum oder Rebellion gegen den Shogun, der an der Spitze der feudalen Ordnung stand. Ein Vierteljahrtausend lang verboten die Herrschenden in Japan Ausländern bei Todesstrafe die Ein- oder Ausreise. Erst dann wurde das Land wie eine Muschel aufgebrochen. Solange aber das System des Sakoku oder verriegelten Landes galt, also seit dem frühen 17. Jahrhundert, waren nur minimale Kontakte mit Handelsleuten aus Korea, China und den Niederlanden erlaubt. Holländische Handelsschiffe durften nur die kleine, künstlich geschaffene Insel Dejima anlaufen. Das im Südwesten Japans vor der Küste Nagasakis gelegene fächerförmige Eiland war Einfuhrhafen und Gefängnis zugleich.
Auch schon vor der Zeit des Sakoku erlaubte das Meer, das den japanischen Archipel vom asiatischen Festland trennt, keinen nachhaltigen Einfluss Chinas auf Japan. Dort, wo Japan der Koreanischen Halbinsel am nächsten liegt, ungefähr dort, wo sich heute die Stadt Fukuoka auf Kyushu befindet, trennen immer noch 190 Kilometer Japan vom Festland. Das ist fast sechsmal mehr als die 33 Kilometer enge Stelle zwischen England und dem europäischen Kontinent. Bis China, dessen Kultur Japan so vieles zu verdanken hat, sind es sogar 800 Kilometer – eine für frühere Epochen geradezu gewaltige Entfernung.
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Jared Diamond, ein amerikanischer Wissenschaftler, der viel (und im Ergebnis kontrovers) über die Auswirkungen der Geografie auf die Geschichte einer Nation geschrieben hat, vertritt die These, dass Japans Lage – 190 Kilometer vom nächsten Kontinent entfernt – ein wesentlicher Faktor seiner Kultur geworden sei.1 Anders als viele Briten gern behaupten, sind die Inseln, die das Vereinigte Königreich bilden, über Jahrhunderte mit der Geschichte des Kontinents eng verbunden gewesen. In jedem, der vergangenen zehn Jahrhunderte, führten britische Armeen auf dem europäischen Festland Krieg. Umgekehrt wurde Großbritannien von Kelten, Römern, Sachsen, Wikingern und Normannen erobert. Im Gegensatz dazu haben sich japanische Armeen nur zweimal auf das asiatische Festland gewagt, einmal in den 1590er-Jahren, als das neuerlich geeinte Land einen Vorstoß auf der Koreanischen Halbinsel unternahm, und im späten 19. und im 20. Jahrhundert, als Japan Korea annektierte und China angriff. Umgekehrt, sieht man von der möglicherweise massiven Einwanderung von Koreanern vor 2300 Jahren einmal ab, ist Japan das Los der Eroberung, das andere Nationen so geprägt hat, erspart geblieben.2 Die Mongolen scheiterten zweimal, 1274 und 1281, bei ihrem Invasionsversuch. Beim zweiten Mal wurde den Schiffen Kublai Khans ein Taifun zum Verhängnis, ein »Götterwind« oder Kamikaze, der später zum Namen für die japanischen Selbstmordpiloten wurde.
Auch nach Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg blieb dem Land eine richtige Kolonialisierung erspart. Die Amerikaner unter dem Oberkommando von General Douglas MacArthur blieben nur sieben Jahre und verwalteten das Land in enger Zusammenarbeit mit der einheimischen Bürokratie. Das reichte nicht einmal, um eine Tradition in der Beherrschung der englischen Sprache zu begründen. Auch heute noch schneiden Japaner in Englischprüfungen schlechter ab als fast alle anderen asiatischen Völker. Bei seinen Besuchen in Japan wird der Dalai Lama manchmal gefragt, was dem Land besonders guttäte. Das geistliche Oberhaupt der Tibeter enttäuscht sein Publikum nie. Statt Philosophie und Religion hat er einen praktischen Rat, wie sich Japan besser in die übrige Welt integrieren könne. »Lernt Englisch«, empfiehlt er.3
Die Lage im äußersten Osten des eurasischen Kontinents verurteilte Japan zur Rückständigkeit. Ideen, die auf dem Festland entstanden, kamen erst spät herüber und trieben eigenwillige Blüten. Aus China und meist über die Koreanische Halbinsel kamen die Schrift, der Konfuzianismus, der Buddhismus sowie Architektur, Metallbearbeitung und Dichtung. Diese Ideen und Techniken verbanden sich mit der einheimischen japanischen Tradition und verwandelten sich dabei auf subtile Weise. Da ein ständiger Austausch wie bei Landgrenzen nicht stattfand, entwickelten sich die Ideen ganz eigentümlich. In der Religion verschmolz der Buddhismus mit Animismus, Ahnenverehrung und Schintoismus. Heutzutage gibt es Schreine, die Füchsen gewidmet sind, neben solchen, in der Buddha verehrt wird. Im Wissen um ihren religiösen Synkretismus sagen Japaner gern von sich, sie werden im Schinto-Glauben geboren, sie heiraten christlich und lassen sich buddhistisch bestatten. Bei Meinungsumfragen bezeichnen sich viele als atheistisch. Auch in der Sprache übernahm Japan die chinesische Schrift, die vor mehreren Tausend Jahren auf dem Festland entstanden war. In der späten Shang-Dynastie (1600–1029 vor Christus) ritzten Chinesen Schriftzeichen in Schildkrötenpanzer, die im Rahmen von Wahrsagezeremonien dienten. Viele Hundert Jahre später übernahm Japan, das die Schrift noch nicht kannte, die chinesischen Zeichen und passte sie seiner ganz anders gearteten Sprache an. Da die Anpassung aber zu wünschen übrig ließ, erfanden die Japaner zwei weitere, unter dem Namen Kana bekannte phonetische Alphabete. Das heute geschriebene Japanisch ist eine Mischung aus drei Schriften, einer chinesischen Ursprungs und zwei heimischen.
Die kulturelle Aneignung und subtile Umdeutung eines von außen kommenden Einflusses ist wohl kaum auf Japan beschränkt. Doch die Distanz, sowohl die geografische wie die psychologische, zwischen Japan und der Außenwelt verstärkte dieses Phänomen unverhältnismäßig. Japaner ahmen nach, was von außen kommt. Sie mischen Seetang oder Seeigel unter ihre Nudeln. Sie benutzen den Ausdruck Sebiro zur Bezeichnung von Herrenanzug, meist ohne zu wissen, dass das Wort eine Verballhornung von Savile Row darstellt, eine Straße in London, die für ihre Herrenschneider berühmt ist.4 In jüngerer Zeit haben Japaner westliche Technik übernommen und etwas Neues daraus gemacht. Unter den Händen japanischer Ingenieure wurden aus Eisenbahnen Hochgeschwindigkeitszüge und aus Mobiltelefonen leistungsstarke Computer (und elektronische Brieftaschen), lange bevor Apple sein iPhone lancierte. Die Japaner nahmen sich sogar des westlichen Wasserklosetts an und verwandelten es ihrem Sauberkeitsfimmel entsprechend in einen Hightech-Apparat mit Düsen und Heißluftstutzen. Allerdings verdrängt das Moderne in Japan nie ganz das Althergebrachte. In vielen öffentlichen Toiletten stehen solche technischen Wunderwerke neben spartanischen Aborten zum Kauern, die kaum mehr als ein Loch im Fußboden bieten.
Die Meere, die Japan umgeben, dämpfen nicht nur den Anprall fremder Einflüsse. Das Meer ist selbst Teil der japanischen Kultur geworden. Japaner haben eine innigere Beziehung zu dem sie umgebenden Salzwasser als die Angehörigen anderer großer Nationen. Kein Ort des japanischen Archipels ist weiter als 130 Kilometer vom Meer entfernt. Obwohl Milch und Fleisch in jüngster Zeit stärker vordringen, bleibt das Meer für die Japaner auch heute noch die Hauptquelle für Protein. Alte Jomon-Keramiken, die teilweise älter als 10000 Jahre sind, zeigen den Skelettabdruck verschiedener Fischarten und belegen, wie lange die Japaner schon dem Fischfang nachgehen.
Der Einfluss des Meeres ist überall zu spüren. Sportfans essen bei Baseballspielen Tintenfischbällchen. Ladenbesitzer schenken kleinen Kindern nicht etwa Süßigkeiten, sondern rohes Garnelenfleisch. So wie Engländer über das Wetter oder Fußball reden, begeistern sich Japaner über die bald anbrechende Saison einer bestimmten Fischsorte. In Tohoku und anderen Küstenregionen erinnert man sich an die Jahre großer Tsunamis wie an historische Schlachten. In der Sprache selbst wimmelt es von Wasserbildern. Ein Lakai oder Gehilfe ist ein »Goldfisch-Kaka«, das seinem Herrn folgt. Was man im Englischen ein »spike« (= Spitze) nennt, etwa in der Preisentwicklung des Goldes, heißt im Japanischen Unagi Nobori oder »auftauchender Aal«. (Vor ein paar Jahren kam auch ein Dosengetränk gleichen Namens auf den Markt.) Von japanischen Premierministern weiß man, dass sie sich selbst mit Fischen verglichen: Einer verglich sich mit einem Schlammbeißer, dieser Fisch passe gut zu trüber Politik.5 Selbst in Augenblicken größten Schreckens kann das Meer als Bildspender dienen. Eine Mutter, die mit eigenen Augen den unheilvoll aufgehenden Atompilz über Hiroshima sah, sprach entsetzt: »Es bewegt sich wie eine Meeresschnecke.«6
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Japan ist keine einzelne Insel, sondern ein ganzer Archipel. Die vier Hauptinseln Hokkaido, Honshu, Shikoku und Kyushu erstrecken sich über fast 2000 Kilometer von Nordosten bis Südwesten und bilden einen Inselbogen am Rand des eurasischen Kontinents. Damit entspricht Japan in etwa der Länge der amerikanischen Ostküste, wenngleich seine Fläche nicht größer ist als der Bundesstaat Montana. Mehr noch, über zwei Drittel von Japans Territorium bestehen aus tendenziell nicht bewohnbarem Bergland, und nur 17 Prozent des Bodens sind landwirtschaftlich nutzbar. Daher drängt sich die Bevölkerung von 127 Millionen auf einer Fläche von der Größe Bulgariens. In anderer Hinsicht ist Japan aber keinesfalls klein. Gehörte es zu Europa, wäre es die bei Weitem bevölkerungsreichste Nation des Kontinents, nämlich mehr als Großbritannien und Italien zusammen. Wirtschaftlich betrachtet bleibt es trotz zweier verlorener Jahrzehnte ein Riese mit einer halb so großen Industrieproduktion wie Deutschland.
Japans Insellage hat der Vorstellung Vorschub geleistet, es sei unter allen Kulturen einzigartig. Nun halten sich auch andere Länder für einzigartig. Während der Kampagne zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2012 versicherte der Kandidat der Republikaner Mitt Romney, er glaube an die »Einzigartigkeit, Amerikaner zu sein«. US-Präsident Barack Obama ist immer wieder gefragt worden, worin die Sonderrolle Amerikas bestehe. Und doch hat die Idee, dass Japan anders sei als alle anderen Kulturen, sowohl bei Ausländern wie auch bei den Japanern selbst Geltung gewonnen, obwohl, wie wir noch sehen werden, viele diese Idee heftig und zu Recht bestreiten. In Samuel Huntingtons 1996 erschienenem Buch The Clash of Civilizations (deutsch: Kampf der Kulturen) wird die Welt in sieben Kategorien unterteilt, von denen Japan allein eine eigene Kategorie bildet.
Im besten Fall geht es in Diskussionen über die Einzigartigkeit Japans um die Frage, was Japan von anderen Kulturen unterscheidet, insofern alle Kulturen ihre Eigentümlichkeiten haben. Doch die Vorstellung, dass Japan auf einzigartige Weise homogen und an der Gemeinschaft orientiert sei, ist zu einer fixen Idee geworden. Im schlimmsten Fall endet das in der Behauptung der rassischen Überlegenheit der Japaner. Schließlich war es die Idee des göttlichen Ursprungs Japans verbunden mit dem Kaiserkult – ein weitgehend im 19. Jahrhundert geschaffener Mythos –, die in den 1930er- und 1940er-Jahren den gefährlichen Glauben an ein höheres Schicksal schürte.
Die Japaner haben die angebliche Einzigartigkeit ihres Landes nicht allein gestaltet. Ruth Benedict, eine amerikanische Anthropologin, porträtierte die Japaner in ihrem 1946 erschienenen Buch The Chrysanthemum and the Sword als »den fremdesten Feind, mit dem die USA jemals in einem Kampf um Leben und Tod gestanden haben«. Bei ihrer Begründung, warum ein genaues Studium der japanischen Kultur unerlässlich sei, schreibt sie: »In keinem anderen Krieg mit einem starken Gegner war es so dringend nötig, dessen grundsätzlich andere Denk- und Verhaltensweisen zu berücksichtigen.« Die zugrunde liegende Unterstellung, dass die Japaner ein Volk mit einer anderen Moral als die der westlichen Nationen seien, machte die Rede von der Einzigartigkeit Japan salonfähig. Der Erfolg von The Chrysanthemum and the Sword blies nach dem Krieg einem schriftstellerischen Genre Leben ein, das unter dem Etikett Nihonjinron oder »Abhandlungen über die Einzigartigkeit Japans« firmierte. Das Genre hat seinen Ursprung im 17. Jahrhundert, erreichte seine Blüte aber erst in neuerer Zeit. Joji Mori, ein Dichter und Englischlehrer, schrieb 1977 ein Buch mit dem Titel The Shell-less Egg.7 Darin behauptet er, Europäer und Amerikaner seien wie Eier mit Schale, also in sich abgeschlossene Individuen. Japaner dagegen hätten keine Schale, sie seien klebrig und gallertartig. Wenn sie sich als Individuen betrachteten, dann nur in Beziehung zu Familie, Dorfgemeinschaft, Arbeitsplatz, Vorgesetzten, Untergebenen, Einheimischen und Fremden. Als in den 1980er-Jahren manche Japaner die Überzeugung vertraten, dass Japan dank dieser Charaktermerkmale die USA als wirtschaftliche Supermacht ablösen werde, konnte man in Buchhandlungen ganze Regale mit solchen Traktaten finden.
Nihonjinron basiert auf dem falschen Konzept einer rassisch einheitlichen Gesellschaft. Dabei genügt schon ein Blick auf die Gesichter in der U-Bahn in Tokio oder Osaka, um festzustellen, dass die Japaner ihre Ursprünge in verschiedenen Teilen Asiens haben. Dennoch hält sich die Idee von einem japanischen Wesen. Danach sind Japaner eher kooperative, sesshafte Reisbauern und nicht geschwätzige, nomadisierende Jäger und Sammler; sie besitzen ein Gespür für die Natur; sie verständigen sich ohne Worte mittels sozialer Telepathie, sie verlassen sich eher auf ihren Instinkt und ihr Herz statt auf kalte Logik, und sie haben einen feinen künstlerischen Sinn. Viel Aufhebens wird auch von den Vorteilen einer harmonischen Gesellschaft gemacht. Taiichi Ono, der als Vater der Just-in-time-Herstellung gilt, mit der nach dem Krieg die japanische Industrieproduktion revolutioniert wurde, legte einmal gegenüber einem Dokumentarfilmer das begeisterte Zeugnis ab: »Mit rassisch einheitlichem Personal sind Diskussion viel leichter zu führen. Für uns ist es ganz selbstverständlich, in allem, was wir unternehmen, im Konsens zu handeln.«8
Als ich zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Auslandskorrespondent nach Tokio kam, hatte die Rede von den einzigartigen Vorzügen Japans im Zuge der schwindenden Wirtschaftsmacht schon nachgelassen. »Wenn ich Leute von ishin-denshin reden höre, frage ich mich, was die wohl in ihren Köpfen haben«, sagte mir der Wissenschaftler Noritoshi Furuichi, mit Bezug auf die nur den Japanern eigene Fähigkeit zur Kommunikation ohne Worte. »Das Interessante an Nihonjinron ist lediglich, wie sehr die Japaner daran glauben wollen.«
Tatsächlich war die Idee des Nihonjinron noch nicht ganz aus der Mode gekommen. Im Jahr 2005 veröffentlichte Masahiko Fujiwara, ein Publizist und Professor der Mathematik an der Ochanomizu-Universität in Tokio, ein schmales Bändchen mit dem Titel Dignity of the Nation. Darin behauptet Fujiwara keineswegs wie in den 1980er-Jahren üblich, dass Japans einzigartige Vorzüge es dazu prädestinierten, die USA auf ihrem eigenen Feld der Wirtschaft zu schlagen. Nach fast zwei Jahrzehnten des Nullwachstums im Gefolge der geplatzten Wirtschaftsblase waren diese Träume ausgeträumt. Vielmehr kam er zurück auf Japans angebliches Wesen, das sich in der Samurai-Ehre und einer Moral, wie sie den Lesern von Ruth Benedict vertraut war, fassen lasse. Er sehnte sich zurück in die Zeit, als Japan noch nicht durch den Kontakt mit dem westlichen Kapitalismus beschmutzt war. Er rief in einer bisweilen schrillen nationalistischen Sprache zu einer Rückkehr in ein noch unverdorbenes mythisches Land auf.
Die Versuchung lag nahe, das Ganze als die Spinnereien eines Exzentrikers abzutun. Doch in den Monaten nach seiner Erstveröffentlichung fand Fujiwaras Buch bei Gesprächen mit Geschäftsleuten, Politikern und Verwaltungsbeamten immer wieder Erwähnung. In kurzer Zeit wurden sage und schreibe zwei Millionen Exemplare verkauft. Nur die Übersetzung des letzten Harry-Potter-Bandes verkaufte sich besser. Ich entschloss mich, Fujiwara zu interviewen, um mir selbst ein Bild zu machen. Zuerst zierte er sich. Am Telefon gab er sich reserviert und schien kein großes Interesse daran zu haben, einem Ausländer seine Gedanken zu erläutern. Er sei auf jeden Fall beschäftigt. Ein Treffen in Tokio sei nicht möglich, da er den Sommer im kühlen Klima der Berge verbringe. Am Ende gab er aber nach. Wenn mir die zweistündige Bahnreise nach Nagano in Zentraljapan nichts ausmache, würde er sich bei einem Arbeitsessen mit mir unterhalten.
Wir trafen uns in einem skandinavisch anmutenden Restaurant in einem luftigen, grünen Tal weit entfernt von der schwülen Hitze Tokios. Zuvor hatte ich an dem kleinen, schmucken Bahnhof von Chino ein Taxi genommen. Sogar hier draußen trug der Fahrer weiße Handschuhe. Das Navigationssystem blinkte aufmunternd. Alles war hier sauber und blank wie in den Schweizer Alpen. Fujiwara erwartete mich im Restaurant. Er war ein Mann Anfang der 60, mager und mit einer leicht schlaksigen Figur. Er trug ein kariertes Hemd und weiße sportliche Baumwollhosen. Sein graues Haar spross dicht und üppig wie unzähmbares Unkraut. Er sprach ein korrektes, wenn auch etwas gestelztes Englisch, was bei einem Mann verwunderte, der sich für die Abschaffung des Englischunterrichts in der Schule aussprach. Englisch sei so grundverschieden von Japanisch, dass es für japanische Kinder fast unmöglich ist, diese Sprache zu beherrschen. »Nur jedes zehntausendste Kind lernt beide Sprachen«, behauptete er. »Ich selbst habe so viel Zeit mit dem Englischlernen verbracht. Ich bereue das jetzt.« Im Übrigen, so fügte er leichthin an, sorge fehlende Kommunikationsfähigkeit dafür, Ausländer in dem Glauben zu lassen, dass Japaner tiefsinnige Menschen seien. Nur wenn die Japaner die Sprachbarriere überwinden, geben sie vor der Außenwelt zu erkennen, dass sie nichts zu sagen haben.
Der erste Gang unseres exquisiten Menüs bestand aus einer einzigen Garnele in einer dekorativen Gesellschaft von Kichererbsen. Mein Teller ähnelte dem seinen so sehr, dass ich mich beim Zählen der Kichererbsen ertappte, denn ich vermutete, dass der Koch uns genau dieselbe Anzahl Kichererbsen gegeben hatte. Die Antwort fand ich nicht, denn Fujiwara legte sogleich los. Meine erste Frage an ihn lautete, warum wohl Dignity of the Nation den Zeitgeist getroffen habe. Japan, so gab er zur Antwort, sei 60 Jahre lang der Schimäre des Wohlstands nachgejagt. Die Gier nach Reichtum hatte es für die Tollheit des kapitalistischen Modells blind gemacht. Mehr noch, es hatte darüber seine eigenen Tugenden vergessen. Nach 20 Jahren wirtschaftlicher Stagnation sehe man nun die Dinge wieder in der richtigen Perspektive. »Japan hatte früher das Geld verachtet«, stellte er fest, »wie übrigens auch englische Gentlemen. Aber nach dem Krieg gerieten wir unter amerikanischen Einfluss und verschrieben uns dem Gelderwerb.« Er beschwor das Goldene Zeitalter der Edo-Periode (1603–1868), als das Bushido, der Geist und der Verhaltenskodex der Samurai, dank Literatur und volkstümlichem Kabuki-Theater sowohl die Oberschicht als auch das einfache Volk prägte. »Die Menschen glaubten an das Bushido, und deshalb gab es 260 Jahre lang keine Kriege mehr«, sagte er mit Bezug auf die Friedensordnung, die dank der Vormacht des Tokugawa-Shogunats unter den Territorialfürsten herrschte. »Zu Beginn, also im zwölften Jahrhundert, war Bushido eine Art Fechtkunst, doch da es in der Edo-Periode keine Kriege mehr gab, entwickelte sich daraus ein System von Tugenden wie Mitgefühl für die Armen und Schwachen, Güte, Aufrichtigkeit, Fleiß, Geduld, Mut und Gerechtigkeit.«
Vieles davon ist durch den negativen Einfluss des Westens verloren gegangen, dessen Werte dem Prinzip jeder gegen jeden entspringen. Er zitierte die Kontroverse über westliche Firmen, die wirtschaftliche Begriffe wie »Shareholder-Value« und »feindliche Übernahmen« auch in Japan heimisch machen wollten. »Feindliche Übernahmen mögen ja logisch und legal sein, aber für uns Japaner ist das nichts Ehrenhaftes«, sagte er mit einem Lächeln. »Ich finde auch die Idee, dass ein Unternehmen den Aktionären gehört, schlicht erschreckend. Ein Unternehmen gehört den Mitarbeitern, die für es arbeiten. Das versteht sich doch von selbst.«
Unterdessen kam der zweite Gang, eine fein arrangierte Auswahl an Jakobsmuscheln. »Chinesische Gerichte schmecken vorzüglich, aber wir legen größeren Wert auf die Ästhetik. In der Kunst des Schreibens haben wir Shodo und für den Blumenschmuck Ikebana.« Damit meinte er die japanische Kalligrafie und die Kunst des Blumensteckens, womit alltägliche Verrichtungen über bloße Routinen hinausgehoben werden. In England hatte er mit Entsetzen (vielleicht aber auch heimlicher Freude) beobachtet, wie Cambridge-Professoren ihren Tee aus schadhaften Henkeltassen tranken. »In Japan haben wir die Teezeremonie. Alles, was wir tun, wird unter unseren Händen zu Kunst.«
Fujiwara sah den Grund für Japans Weg in den Militarismus darin, dass sein Land den Verhaltenskodex der Samurai aufgegeben und sich dem vorherrschenden westlichen Denken angeschlossen hatte. Im Streben, selbst eine Großmacht zu werden, äffte Japan die kolonialen Allüren der anderen Inselnation, Großbritannien, nach. »Ich betone immer«, sagte er, »dass Japan ein ungewöhnliches Land sein sollte. Wir sind aber zu einem Land wie jedes andere geworden, eine große Nation unter anderen. Für die anderen Länder mag das gut sein. Wir aber sollten zu unserer Sonderrolle stehen, vor allem in geistiger Hinsicht. In den vergangenen 200 Jahren seit Beginn der industriellen Revolution hat der Westen zu sehr auf das logische Denken gesetzt. Auch heute noch herrscht dort die Ansicht, wenn man sich nur an Logik und Vernunft halte, funktioniere alles. Dieser Ansicht bin ich nicht. Man braucht wirklich mehr als das. Nun, vielleicht könnte der christliche Glaube dieses alles übergreifende Ganze sein. Aber wir Japaner haben keine Religion wie das Christentum oder den Islam. Wir brauchen daher etwas anderes – tiefes Gefühl. Das hatten wir 20 Jahrhunderte lang.«
Dieses tiefe Gefühl, die klebrige Gallerte der schalenlosen Gesellschaft, soll verantwortlich sein für zahlreiche Facetten des Verhaltens der Japaner, angefangen von der Art und Weise, wie sie miteinander kommunizieren, bis zu ihrer angeblich anderen Wahrnehmung von Insektengeräuschen. Wir unterhielten uns noch gar nicht lange, da kam Fujiwara fast zwangsläufig auf die berüchtigten Untersuchungen des Dr. Tadanobu Tsunoda von der medizinischen Fakultät der Universität Tokio. In seinen Forschungen – und man sieht quasi die Elektroden an den Köpfen ernst blickender Probanden – kommt Dr. Tsunoda zu dem Schluss, dass das Hirn der Japaner andersgeartet sei als das der anderen Völker.9 Die Japaner, so behauptet er, hören den Klang von Tempelglocken, Insekten und sogar Schnarchgeräusche mit der linken Hirnhälfte, während es bei westlichen Menschen genau umgekehrt sei. In Fujiwaras Buch gibt es eine schreiend komische Schilderung über den Besuch eines amerikanischen Professors, der beim Zirpen der Grillen die Frage stellt: »Was für ein Geräusch ist das?« Fujiwara gibt sich entsetzt. Wie kann der Professor das nicht als Musik wahrnehmen? Wie haben wir nur den Krieg gegen solche Dummköpfe verlieren können? »Jeder Japaner hört Musik, wenn er Insekten summen und zirpen hört. Wenn wir im Spätherbst die Grillen zirpen hören, ist das Musik für uns. Wir empfinden den Gram des Herbstes, weil nun der Winter naht. Der Sommer ist endgültig vorbei. Jeder Japaner fühlt das. Wir fühlen den Gram über die Kürze unseres Lebens.«
Ich machte eine skeptische Miene, aber er fuhr in seinem Gedankengang fort. Er erläuterte einen anderen, verwandten Begriff, Mono no Aware. Dies wird manchmal mit »Pathos der Dinge« übersetzt, es kann aber auch ein spezifisches Gefühl für die Vergänglichkeit gemeint sein. Das sei der Grund, weshalb Japaner – und diese Erläuterung hört man jedes Frühjahr aufs Neue – Kirschblüten so sehr mögen, eben weil die Blütezeit nur so kurz ist und die Blütenblätter dann sanft zu Boden fallen. »Wenn die Kirschbäume ein halbes Jahr lang in Blüte stünden, würde kein Japaner davon Aufhebens machen. Für uns ist es schön, weil es innerhalb einer Woche verwelkt.«
Ich räumte ein, dass das bedeutende kulturelle Anschauungen seien, die Eltern ihren Kindern weitergegeben und über die Dichter und Philosophen nachgedacht hätten. Das Bild der Vergänglichkeit der Kirschblüte sei in der Tat eine schöne Metapher. Dennoch hielte ich es nicht für notwendig, zur Erklärung dieser Anschauungen auf Vermessungen des Hirns zurückzugreifen oder eine besondere japanische Sensibilität zu behaupten. Konnten die Reaktion auf Insektengeräusch und Kirschblüte und sicherlich viele andere Phänomene nicht viel plausibler mit kulturell vermittelten Assoziationen erklärt werden? Ich beschwor meine Vorstellung eines Kricketspiels auf einem englischen Dorfanger herauf. Wo ein Japaner nur rotgesichtige Männer in weißem Sportdress ziellos über ein Spielfeld rennen sieht, empfinden wir Engländer die Schönheit des Sommers, wir haben den Geschmack von Hopfen, Käse und Zwiebelringen auf der Zunge und hören fröhliches Kindergeschrei. Deswegen besitzen wir aber nicht natürlicherweise eine Sensibilität für das Geräusch von Leder an Weidenholz. Grundlage ist vielmehr eine gemeinsame kulturelle Erfahrung.
Fujiwara gab mir zum Teil recht, aber er wollte nicht von der Idee lassen, dass Japaner besonders naturverbunden seien. Warum schnitten sie dann Bonsaibäume auf ein künstliches Maß zurück? »Weil sie die Natur so sehr lieben, dass sie sie immer zur Hand haben möchten«, lautete seine ingeniöse Antwort. Warum hatte dieses Volk von Naturliebhabern aber solche Angst vor Regen, bohrte ich weiter. Ein flüchtiger Schauer reicht, und schon sprießt ein Wald von Regenschirmen hervor, ganz zu schweigen von jungen Damen, die schon bei ein paar Regentropfen zwischen Taxi und Bordstein hysterisch schreien. Mir mache es nichts aus, tüchtig nass zu werden, behauptete ich dreist, und deshalb hätte ich auch nie einen Regenschirm bei mir. Gehe ich deshalb nicht naturverbundener und für die Gaben der Natur dankbarer? Ich hätte Fujiwaras Erwiderung erraten, noch ehe er die Worte mit den Lippen formte. »Englischer Regen und japanischer Regen sind nicht das Gleiche«, sagte er.
***
Die Ansicht, Japan sei ein Inselvolk mit einer unergründlichen Kultur, ist nicht leicht ins Wanken zu bringen. Ich habe einmal einen Essay geschrieben, in dem ich die Vorstellung von der Ausnahmeerscheinung Japans zu widerlegen suchte.10 Bevor ich ihn abgab, gab ich ihn einer guten Freundin zu lesen, Sahoko Kaji, einer Wirtschaftsprofessorin an der Keio-Universität, deren Fachgebiet die Makroökonomie der Europäischen Union ist. Kaji spricht ein tadelloses Englisch, bewegt sich gleichermaßen souverän unter westlichen Menschen wie unter Japanern und tritt selbstbewusst auf wie moderne Frauen in London oder New York. Sie dürfte jetzt Anfang 50 sein und ist Mitautorin eines schmalen Bändchens mit dem ironischen Titel Xenophobe’s Guide to the Japanese. Darin macht sie sich mit zwei anderen Autoren über japanische Sitten und Gebräuche lustig – über die Vorliebe für »Liebeshotels«, den Zwang, einander zu beschenken, die Kunst des Verbeugens –, aber auch über die Fehldeutungen, zu denen diese Bräuche bei Fremden Anlass geben. In Anbetracht ihrer Weltläufigkeit und ihres Sinns für Ironie war ich über ihre Antwort auf meinen Essay doch sehr verblüfft:
»Mir scheint, dass die einzigen Menschen, die sich keine Gedanken machen, ob sie Japan verstehen, die Japaner selbst sind. Im westlichen Sinn des Wortes kann niemand Japan verstehen, weil es in Japan keine absoluten Begriffe gibt.
Ich fühle Mitleid, wenn ich sehe, wie westliche Menschen Japan oder die Japaner definieren wollen. Es gibt sogar wohlmeinende Japaner, die in ihrem Hang, freundlich zu ausländischen Gästen zu sein, westliche Begriffe benutzen, um Japan zu erklären.
Doch das ist vergebens. Sollte man wirklich einen Japaner treffen, der genau definieren kann, was es mit dem Japaner-Sein auf sich hat, dann ist dies kein Japaner beziehungsweise keine Japanerin. In Japan geht eins ins andere nahtlos über. Und das Wichtigste dabei ist, dass niemand (jedenfalls kein Japaner) sich darum kümmert, wo die Grenze verläuft. Daher würde ich dem Vergleich mit dem schalenlosen Ei beipflichten.
Ich kann meine Schwester als Beispiel anführen. Sie hat eine hohe Stellung im Außenministerium und ist Japanerin durch und durch. Aber sie würde niemals eine Grenze um sich ziehen, und sie würde auch nie auf die Idee kommen, irgendetwas zu definieren. Es hat also nicht damit zu tun, ob man Fremdsprachen beherrscht oder im Ausland gelebt hat.
Ich kann mit Menschen aus dem Westen keine Gespräche führen, ohne zu definieren und Grenzen zu ziehen. Und doch bin ich Japanerin in dem Sinn, dass ich einen Schritt Abstand nehme und mich über diese Menschen wundere, die etwas so Undefinierbares wie Japan unbedingt in Begriffe fassen wollen. Wozu das? Es ist doch vergebens. Ich werde es jedenfalls nicht versuchen.
Japan wäre nicht mehr Japan, wenn es definiert und verstanden würde. Ich fürchte, dass ich Sie jetzt verwirrt habe. Ich hätte einen Journalisten mit einer Abgabefrist nicht verwirren sollen, aber es ist nicht zu ändern.«
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Offenbar ist es nicht leicht, etwas zu definieren. Wie könnte man ein Individuum »definieren«, geschweige denn etwas so Komplexes wie die Kultur einer Nation? Aber warum sollte Japan schwieriger zu definieren sein als jede andere Kultur? Und warum sollten Japaner keine Definitionsgrenzen haben und weniger Vertrauen in absolute Begriffe haben als Menschen in anderen Weltgegenden?
Damals hatte ich gerade Japan Through the Looking Glass gelesen. Der Autor Alan Macfarlane ist Anthropologieprofessor an der Universität Cambridge. Anders als ich vertrat Macfarlane den Standpunkt, Japan unterscheide sich so grundsätzlich von anderen Kulturen, dass es nur aus seinen eigenen Begriffen verständlich sei. »Die Japaner scheinen mir nicht im trivialen Sinn des Wortes anders zu sein als der Westen und jede andere Kultur, sondern der Unterschied ist so tief, dass unsere Begriffswerkzeuge zum Verständnis nicht ausreichen.« Ich rief ihn eines Abends aus Tokio in seinem Haus in Cambridge an. Er gestand mir, so als spreche er über einen entlegenen Stamm aus dem Amazonasgebiet, dass ihm Japan immer unverständlicher werde, je länger er über diese Kultur nachdenke. »Wenn ich nach China oder Indien reise, entdecke ich Fremdes und Erstaunliches. Aber ich habe nicht das Gefühl zunehmender Verwirrung. Anders in Japan, anfangs scheint mir vieles ähnlich, aber dann werden die Dinge immer befremdlicher.«
Ich wäre unaufrichtig, wenn ich so täte, als wüsste ich nicht, wovon Macfarlane spricht. Immer wenn ich aus Japan wieder abreise, habe ich das Gefühl, dass mir mein Verständnis von Land und Leuten wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt. Auch erfahrene Japanologen finden es schwer, ein zuverlässiges Bild von Japan zu geben. Lafcadio Hearn, der in den 1890er-Jahren nach Japan kam, also wenige Jahrzehnte nachdem sich das Land dem Westen geöffnet hatte, schrieb: »Der Eindruck des Exotischen in Japan löst einen unmöglich zu beschreibenden Kitzel aus – ein Befremden, das wir nur empfinden, wenn wir etwas ganz und gar Unvergleichliches wahrnehmen.« Hearn, der Japan über alles liebte, war kein naiver Geist, noch weniger Rassist, er hat maßgeblich dazu beigetragen, Japan die Aura des Exotischen zu geben. Er nahm die japanische Staatsbürgerschaft an und lebte forthin unter dem Namen Yakumo Koizumi – oder Koizumi Yakumo nach der in Japan üblichen umgekehrten Reihenfolge der Namen. Er heiratete die Tochter eines Samurais, sprach fließend Japanisch und verbrachte die letzten 15 Jahre seines unsteten Lebens in Japan. Und doch schrieb er über dieses Land: »Zauber und Bewunderung sind nie verblasst, ja selbst jetzt, nach 14 Jahren Aufenthalt in Japan, brechen sie dank glücklicher Umstände wieder mächtig hervor.« Und auch er kannte schon ein Gefühl, das heutige Ausländer, die lange Jahre in Japan gelebt haben, immer wieder bekunden, wenn sie ihre Vorstellung vom Wesen Japans einfach nicht in Begriffe fassen können: »Vor langer Zeit sagte mir mein bester und liebster japanischer Freund kurz vor seinem Tod: ›Wenn du in vier, fünf Jahren vielleicht den Eindruck bekommst, dass du die Japaner überhaupt nicht verstehen kannst, dann erst fängst du an, etwas von ihnen zu verstehen.‹« Hearn gab seinem Buch den bezeichnenden Titel Japan: An Attempt at Interpretation. Ein Jahr nach diesem Versuch starb Hearn.
Es stimmt, man kann aus Dutzenden kleiner Gesten und Bedeutungen den Eindruck gewinnen, dass Japan im Vergleich mit anderen Ländern, jedenfalls mit europäischen, anders tickt. Eine moderne Gesellschaft, die aber einem geheimen Rhythmus zu folgen scheint. Globetrotter, die zum ersten Mal nach Japan kommen, sprechen oft von einer Begegnung mit einer befremdenden, aber zugleich faszinierenden Kultur. Pico Iyer, der schon ein Vierteljahrhundert in der Gegend von Kioto lebt, nennt Japan »nicht wie anderswo, sondern anders als überhaupt irgendwo«.11
Wie Hearn und Iyer fallen mir immer wieder Verhaltensweisen auf, die ich so noch nie wahrgenommen hatte. Ich bin nicht wenig erstaunt, dass in einem in vieler Hinsicht konservativen Land in öffentlichen Bedürfnisanstalten, wo Männer urinieren, plötzlich weibliches Personal hineinschneit. Ich vergesse oft, dass Japaner, wenn sie von sich selbst sprechen, nicht auf das Herz, sondern auf die Nase zeigen. Wenn sie jemandem eine Visitenkarte oder eine Banknote reichen, drehen sie sie immer erst, sodass die Beschriftung zum Empfänger gewandt ist, alles andere würde als unhöflich gelten. Im sprachlichen Umgang schwelgen die Japaner in Vieldeutigkeit. Die erste, zweite und dritte Person gehen oft ineinander über. Der Satz »Ich liebe dich« enthält weder das Wort für »ich« noch für »du«. Geschäftsleute stellen sich dadurch vor, dass sie sagen, zu welcher Firma sie gehören, so als ob ihre Identität und die ihrer Firma ein und dasselbe seien. »Ich bin Tanaka von der Mizuho Bank.« Das Höflichkeitssuffix »-san«, das gewöhnlich mit Herr oder Frau übersetzt wird, kann auch für Tiere verwendet werden, etwa: »Hast du den Herrn Elefanten im Zoo gesehen?«
Man sollte dergleichen aber nicht überbewerten. Vielleicht sollte man es gar nicht kommentieren. Jeder westliche Beobachter, der von dem Standpunkt ausgeht, dass alles, was er tut, das »Normale« ist, wird ähnlich befremdende Verhaltensweisen auch in Peru, Indien oder Neuguinea finden. Macfarlanes Auffassung ging aber darüber hinaus. Er behauptete, dass die Unterschiede zwischen Japan und den anderen Ländern sehr viel tiefer lägen. Während in den anderen modernen Gesellschaften eine Trennung von Geistigem und Alltäglich-Profanem stattgefunden habe, gab es in Japan eine solche Trennung zu keinem Zeitpunkt. In Japan gab es nie das, was Karl Jaspers eine »Achsenzeit« nannte, eine spannungsreiche Trennung zwischen der Welt der Materie und der Welt des Geistes. Die Japaner kennen weder Himmel noch Hölle, an denen sie ihre irdischen Taten zu messen hätten. »Japan verwarf die philosophische Vorstellung einer transzendenten Welt des Idealen und Guten, einer geistigen Welt jenseits des Menschen und der Natur, in Bezug zu der wir unsere Taten moralisch beurteilen und auf die hin wir unser Streben nach Erlösung orientieren.«12
Eine Geisha aus Kioto, die sich zur Ruhe gesetzt hatte und deren Leben teilweise in Arthur Goldens Memoirs of a Geisha erzählt wird, äußerte sich mir gegenüber in ähnlichen Worten. »Ich habe die Bibel gelesen«, sagte sie und unterstrich dann den Unterschied. »Unsere Götter werden uns dagegen nicht in Versuchung führen, um zu sehen, ob wir gut oder böse sind.«13 Aus Neugier fragte ich mehrere japanische Freunde und Freundinnen, wie sie sich, wenn überhaupt, Gott vorstellten. Eine junge Frau, die als Telefonverkäuferin arbeitete, sagte, sie denke dabei sofort an ihre tote Großmutter. Eine solche Antwort schien mir von einer westlichen Freundin schwer vorstellbar. Akira Chiba, ein Freund und Beamter im Außenministerium, äußerte: »Ich weiß nicht viel über den christlichen Glauben, aber von außen betrachtet scheint es so, als gebe es einen Unterschied zwischen der Rolle der Menschen und der Rolle Gottes, zwischen dem Bereich der Menschen und dem Bereich Gottes. In Japan sind die Götter überall, und sie sind bei uns. Wir leben im Wesentlichen mit den Göttern.«
Macfarlane erkannte nun überall diesen Tatbestand einer fehlenden Trennung. Sumo-Ringen mit seinen Reinigungsriten war gleichermaßen Sport und Religion. Ein Garten war Natur und Kunst, genauso wie das Essen, das ich gemeinsam mit Fujiwara einnahm. Ein Tempel war eine Stätte der Anbetung in einem Land ohne Glauben. Nationalökonomie, das hatte ja Fujiwara gesagt, war keine Wissenschaft, die der Moral entzogen wäre. »Gärten, Zeremonien, Menschen können nicht aus sich selbst heraus, sondern nur in Beziehung zu etwas anderem verstanden werden«, schrieb Macfarlane.14 Seine Vorstellung einer »Welt ohne trennende Unterschiede« entsprach genau Kajis Auffassung, Japan sei »ohne Schranken«, ein Land, wo »eins ins andere nahtlos übergeht«.
Auch in der Kunst stellte Macfarlane fehlende Trennungen fest. Japaner würden nicht zwischen Kunst und Handwerk unterscheiden. Ihre besten Künstler beziehungsweise Handwerker – Töpfer, Schwertschmiede, Hersteller von Papier- und Lackwaren, Kalligrafen – erfreuten sich hoher Anerkennung und erhielten die Auszeichnung »Nationale lebende Schätze«. Wie viele andere Beobachter entdeckte er in Japan Kunst auf Schritt und Tritt, in Blumenarrangements, in dekorativ hergerichteten Speisen auf Lack- oder Keramikgeschirr, ja sogar in den von Generation zu Generation überlieferten Bewegungen, wie ein Fisch zu filetieren oder ein Steingarten zu harken ist. »Für die Japaner gilt, was auch Keats behauptete: Wahrheit ist Schönheit und Schönheit ist Wahrheit.«
Im Haiku, einem aus 17 Silben bestehenden Gedichttypus, der eine Anspielung auf die Jahreszeit enthalten muss, haben wir einen Beleg für die Auffassung, dass in Japan kaum etwas Sinn erhält, wenn es sich nicht auf etwas anderes bezieht. Der bekannteste Haiku stammt von dem Dichter Basho und lautet:
Furu ike ya
kawazu tobikomu
mizu no oto
Hearn übersetzt dies folgendermaßen:
Alter Teich
Frösche springen hinein
Geräusch des Wassers
Die Übersetzung wirkt stumpf. Die Schönheit der japanischen Verse liegt im Bezug zu etwas Äußerem, zur Jahreszeit – Frühjahr ist die Paarungszeit der Frösche – im Naturbild, in der Evokation des Geräuschs, das durch das lautmalende Wort oto wiedergegeben wird.
Ein Weinkenner, der auch ein Experte für Sake ist, sagte mir einmal, dass besonders erlesene japanische Reisweine sich gerade durch fehlenden Geschmack auszeichnen, also durch das genaue Gegenteil von dem, was man bei einem Bordeaux oder einem Chardonnay schätzt. »Bei Sake geht es um das, was nicht da ist. Beim Wein geht es um den Gehalt. Man kann es mit der Sprache vergleichen. Die Pausen, das Schweigen, das nicht Genannte deuten an, was gemeint ist. Der erlesenste Sake hat fast keine Präsenz.«
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Japan für anders zu halten als alles sonst auf der Welt, ist eine verführerische Vorstellung. Und doch gibt es viele gute Gründe, diesen Gedanken zu verwerfen. Das Gefühl, Japan bewege sich nach einem Rhythmus, den Außenstehende nicht begreifen, hat bei den Japanern selbst eine geradezu morbide Vorliebe für ihre Verschiedenheit verstärkt. Der australische Publizist Gavan McCormack, sieht in Ruth Benedicts The Chrysanthemum and the Sword »einen der großen Propagandaerfolge des Jahrhunderts«.15 Das Buch schüre die Vorstellungen der Japaner über ihre Sonderstellung und habe dadurch dazu beigetragen, in den Nachkriegsjahren Japans psychologische Bande zu den asiatischen Nachbarn zu kappen und das Land näher an die USA zu binden. Wenn wir die Sache etwas genauer betrachten, stellen wir fest, dass vieles am angeblichen »Wesen« Japans relativ modernen Datums ist. Im 19. Jahrhundert fanden es nationalistische Politiker passend, einen im Kaiser zentrierten Kult zu installieren, um den sich die nachfeudalistische Nation scharen konnte. Ferner erhoben sie Schinto, eine auf animistischen Vorstellungen beruhende Naturreligion, zur japanischen Staatsreligion. Die verschiedenen Ausprägungen des Schintoismus wurden unter dem Banner des Kaisers vereint. Ins Zentrum dieser Religion stellte man die Sonnengöttin Amataresu, von der das kaiserliche Geschlecht angeblich abstammte. Seit den 1880er-Jahren begannen schulische Geschichtsbücher nicht mit den Steinzeitmenschen der Vorzeit, sondern mit der Geburt der Sonnengöttin und dem Ursprung der kaiserlichen Dynastie. Mit anderen Worten, vieles an der Einzigartigkeit Japans ist Propaganda. Eine animistische Naturreligion mit dem Kaiserkult zu verbinden war eine Propagandamasche. Der Kaiser verkörperte so grundlegend das Bild des japanischen Staates, dass sogar die amerikanische Besatzungsmacht seinen Status nicht anrührte und ihn von aller Verantwortung für den Krieg entlastete, der doch in seinem Namen unternommen worden war. »Er blieb das unangetastete Symbol einer genetischen Verschiedenheit und eines Nationalismus des Blutes, er verkörperte das überzeitliche Wesen Japans, das die Japaner von allen anderen Völkern und Kulturen unterschied und sie zu etwas Höherem machte.«16
Es ist viel zu einfach, kulturelle Gründe für etwas heranzuziehen, was in Wirklichkeit der Festigung der politischen Macht diente. So hat sich zum Beispiel herausgestellt, dass die Sitte, historische Ereignisse nach den Regierungszeiten der Kaiser einzuordnen, kein Ausdruck für Japans ausschließlich zyklische Zeitvorstellung ist, sondern dass diese Gepflogenheit erst aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammt, als der Kaiserkult geschaffen wurde. Über die Sehnsucht heutiger Nationalisten nach Japans singulärem Wesen schreibt McCormack: »Was sie für eine alte Tradition halten, war im Wesentlichen moderne Ideologie.«17
Als die Japaner nach dem Krieg den Kaiserkult gegen die »Vergötterung des Bruttosozialprodukts« eintauschten, mussten neue Begriffe zur Definition des Japanischen her. Noriko Hama, die an der Doshisha-Universität in Kioto lehrt, bestreitet die gängige Auffassung, wonach der Erfolg der japanischen Nachkriegswirtschaft auf bestimmte »japanische Tugenden« zurückzuführen sei. Vielmehr habe Japan einen gnadenlosen Kapitalismus praktiziert, der wenig mit den am Gemeinwohl orientierten Werten zu tun hatte, mit denen später das Wirtschaftswunder erklärt wurde. Laut Hama sind einige Errungenschaften der Nachkriegszeit wie zum Beispiel die Garantie eines lebenslangen Arbeitsplatzes und das Senioritätsprinzip, das Arbeitnehmer gemäß ihrem Alter und nicht auf Basis ihrer Fähigkeiten begünstigt, praktische Antworten auf die demografische Entwicklung und die Notwendigkeit, Arbeitskräfte für die herstellende Industrie zu beschaffen, gewesen. Darin drücke sich keineswegs ein spezifisch japanischer Hang zu sanfteren Formen des Kapitalismus aus. Je schwächer das Wachstum ausfällt und je mehr die Gesellschaft altert, lösen sich die einst als typisch japanisch etikettierten sozialen Errungenschaften rasch in Luft auf. Dank bestimmter Maßnahmen – Erhöhung des Anteils der Zeitarbeiter – verfügt Japan heute über flexiblere Arbeitnehmer als viele andere westliche Länder. Manche Japaner hatten in der lebenslangen Arbeitsplatzgarantie und im Senioritätsprinzip eine moderne Form des alten Bushido-Kodex gesehen. Wenn darin wirklich das Wesen Japans liegen sollte, dann ist dieses Wesen in Auflösung begriffen.
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Auch wenn es Anhänger des Essenzialismus anders sehen, Kulturen sind nicht unvergänglich. Wie Sprachen unterliegen sie dem Wandel und der Anpassung, auch wenn dieser Prozess über Generationen geht. Wer die Geschichte eines Landes oder gar dessen Zukunft auf der Grundlage angeblich unwandelbarer nationaler Merkmale und Tugenden erklären will, sitzt einer deterministischen Weltsicht auf. Wir sollten daher einige der Annahmen, die eine solche Weltsicht befördern, kritisch hinterfragen.
Den Ausgangspunkt bildet der Glaube, die Japaner als Inselvolk seien eine rassisch homogene Gesellschaft. Doch woher stammen eigentlich die Japaner? Zwei Phasen sind klar zu unterscheiden. Die ersten Einwanderer kamen wahrscheinlich über Landbrücken, die in der Eiszeit, als der Meeresspiegel niedrig war, die japanischen Inseln mit dem Festland verbanden. Aus Funden von Steinwerkzeugen geht hervor, dass ungefähr vor 500000 Jahren Menschen sowohl von Nordosten als auch von Südwesten ins Land kamen.18 Vor ungefähr 12000 Jahren, kurz nach dem weltweiten Schmelzen der Gletscher erreichten diese Jäger und Sammler ihre Blütezeit. Diese sogenannten Jomon-Menschen sind die Schöpfer der ältesten bisher entdeckten Keramik. Ihre Lebensweise war derjenigen der Ureinwohner des nordwestlichen Amerikas ähnlich. Ihre Nahrung war sehr abwechslungsreich: Sie aßen Nüsse, Beeren und Samen; mit der Harpune erlegten sie große Fische, ebenso Seehunde am Strand; mit Netzen fischten sie und benutzten auch Angelhaken, die sie aus den Geweihen des Rotwildes schnitzten. Hierarchien schienen sie kaum zu kennen.
Die Lebensweise der Jomon blieb gut 10000 Jahre unverändert, dann setzte um 400 vor Christus ein radikaler Wandel ein. Um diese Zeit begannen die Bewohner Japans, Werkzeuge aus Eisen zu benutzen und Reis auf Feldern mit durchdachten Bewässerungssystemen anzubauen. Diese Yayoi genannten neuen Menschen führten Praktiken ein, die bis dahin in Japan nicht bekannt waren. Sie webten, besaßen Gegenstände aus Bronze und Glasperlen und benutzten Gruben zur Vorratshaltung. Die sterblichen Reste der Verstorbenen setzten sie in Tongefäßen bei. Wer waren diese Menschen? Nach den Erkenntnissen von Genetikern und Archäologen dürfte es sich um Einwanderer aus Korea handeln, doch diese These wird von einigen japanischen Wissenschaftlern bestritten. Sie könnten in großer Zahl von der Koreanischen Halbinsel herübergekommen sein und hätten die einheimische Jomon-Bevölkerung verdrängt. Eine andere These lautet, dass sie nur in sehr viel kleinerer Zahl eingewandert sind, aber dank ihrer überlegenen Ackerbaumethoden im Lauf der Zeit sich sehr viel rascher vermehrt haben als die Jomon-Menschen. Welche These auch zutrifft, die neue Lebensweise der Yayoi breitete sich schnell erst auf der südlichen Insel Kyushu aus, dann sprang sie nach Shikoku über und erreichte bald auch die Hauptinsel Honshu. Nur auf der sehr viel kälteren Insel Hokkaido breitete sie sich nicht aus. Dass die japanische Nation sich aus den aus Korea eingewanderten Yayoi und den einheimischen Jomon zusammensetzt, ist mittlerweile der anerkannte Stand der Forschung. Doch das behagt jenen nicht, die Japan gern als eine Inselgesellschaft darstellen, deren Kultur und genetisches Erbe sich der Isolation vom Festland verdanken.
Außerdem ist das moderne Japan auch nicht so monokulturell, wie oft angenommen wird, wenngleich es kulturell einheitlicher erscheint als Gesellschaften mit hohem Migrantenanteil. Ein Wissenschaftler, der gern pointiert formuliert, nennt Japan sogar eine »multiethnische, multikulturelle Gesellschaft«, die sich dies freilich nicht eingesteht.19 In Japan leben rund zwei Millionen Nicht-Japaner bei einer Gesamtbevölkerung von 127 Millionen. Das sind 1,5 Prozent, also vergleichsweise wenig, verglichen mit den offeneren Gesellschaften von Ländern wie den USA, Großbritannien oder Spanien. Doch ist der Anteil nicht vernachlässigenswert. Rund eine Million der sogenannten Ausländer sind, ethnisch gesehen, Koreaner. Die meisten sind in Japan geboren und aufgewachsen. Es sind die Nachfahren jener Koreaner, die zwischen 1910 und 1945, als Korea eine japanische Kolonie war, mitunter unfreiwillig ins Land gekommen waren. In nicht so streng geschlossenen Gesellschaften wären diese Menschen schon längst naturalisiert. Auch dann bleiben immer noch eine Million gemeldete Ausländer und mindestens 200000 illegal sich im Land aufhaltende Personen, darunter viele Studenten, Saisonarbeiter und »Touristen«, deren Visa abgelaufen sind.
Ferner gibt es zwischen einer und drei Millionen sogenannter Burakumin, Nachfahren einer Paria-Kaste, die im Japan der Feudalzeit unter dem Namen Eta bekannt war. Wie in Indien waren Angehörige dieser Kaste dazu bestimmt, »unreine« Arbeiten in Schlachthäusern oder Gerbereien zu verrichten. Zwar hätte die Abschaffung der Kastenordnung im Jahr 1870 eigentlich für die Burakumin die Freiheit bringen sollen, aber Tatsache ist, dass sie bis in neuere Zeiten weiterhin diskriminiert wurden.20 Hinzu kommt die rund 1,3 Millionen zählende Bevölkerung von Okinawa, von denen viele ihre Herkunft in dem ehemals unabhängigen Königreich Ryukyu haben, das 1879 von Japan annektiert wurde. Schließlich gibt es auf der nördlichsten Insel Hokkaido auch heute noch verstreute Nachfahren der Ainu, eines Volks von Jägern und Sammlern. Die Ainu sind hellhäutiger, besitzen eine stärkere Körperbehaarung und sprechen eine vom Japanischen ganz verschiedene Sprache. Sie wurden vor 2300 Jahren in den Norden des Landes verdrängt. Wie Okinawa ist auch Hokkaido vergleichsweise spät Teil des japanischen Territoriums geworden. Viele Jahrhunderte lang kannte man sogar die Gebiete im Norden Honshus, wo 2011 Erdbeben und Tsunami wüteten, nur unter der abfälligen Bezeichnung Ezo, welche sich auch auf die einheimischen Ainu bezog.
Eine Gesellschaft, die sich selbst gern als homogen und im Wesentlichen aus einer bürgerlichen Mittelschicht bestehend begreift, neigt dazu, Klassen-, Geschlechts- oder regionale Unterschiede herunterzuspielen. Doch bestehen sie genauso wie in anderen Gesellschaften, die nicht wie Japan in Kriegszeiten von sich behaupten, dass in ihnen »100 Millionen Herzen wie eines schlagen«. Der japanische Soziologe Yoshio Sugimoto weist die Idee zurück, dass »der Nationalcharakter der Japaner nach einer einzigen Form gegossen [sei]«.21
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Die politischen Führer der Meiji-Restauration von 1868 mussten einen neuen Inhalt finden für das, was mit dem Japaner-Sein gemeint war. Die alte Feudalordnung hatte man im Namen der Moderne abgeschafft. Samurai mussten sich von Schwert und Zopffrisur trennen, gemeine Bürger, denen früher das Tragen von Waffen bei Todesstrafe verboten war, sollten, wenn es die Not erforderte, für den Staat ihr Leben hingeben. Das nationale Selbstverständnis musste auf eine neue Grundlage gestellt werden. Je stärker die imperialistischen Bestrebungen wurden, desto mehr verband sich die Idee von einer japanischen Identität mit der psychologischen Vorbereitung auf den Krieg. So wurde der kaiserliche Erziehungserlass von 1890 zu einem sakrosankten Text erhoben, den alle Schüler auswendig zu lernen hatten. Darin schworen die Söhne und Töchter Japans dem Kaiser Treue und Verehrung, und sie verpflichteten sich, sollte es notwendig werden, ihr Leben in seinem Namen hinzugeben. Was Ruth Benedict als unauslöschliche nationale Charakterzüge ansah – und sie nannte in diesem Zusammenhang das Beispiel eines japanischen Lehrers, der sein Leben hingeben würde, um das Bildnis des Kaisers aus dem brennenden Schulhaus zu retten –, sollte zutreffender als Gehirnwäsche bezeichnet werden. Ein halbes Jahrhundert später veröffentlichten Zeitungen zum Neujahrstag des Jahres 1946 eine kaiserliche Proklamation, der zufolge die »Auffassung, dass der Kaiser göttlichen Ursprungs [sei] und die Japaner den anderen Rassen überlegen und daher zur Weltherrschaft bestimmt [seien]«, falsch ist. Die Worte der kaiserlichen Proklamation machen deutlich, dass dies genau die Annahmen waren, die im Vorkriegs-Japan Geltung besaßen. Sogar noch heute sind die Mythen um die kaiserliche Familie nicht gänzlich ausgerottet. Mehr als 150 riesige Kofun-Grabmäler, die für die Kaiser zwischen 300 und 686 nach Christus errichtet wurden, bleiben für japanische Archäologen tabu. Die kaiserliche Familie vermutet wohl, dass sie unliebsame Wahrheiten enthalten, zum Beispiel, dass Japans kaiserliches Geschlecht seinen Ursprung auf der Koreanischen Halbinsel haben könnte.
Zeitgenössische Schriftsteller und Intellektuelle haben betont, dass es wichtiger sei, als Individuum zu handeln und nicht nach überkommenen Mustern. Einer von ihnen ist Haruki Murakami, dessen Protagonisten oft Außenseiter und Einzelgänger sind. Im Jahr 2009 erhielt Murakami den Jerusalem Prize, die höchste israelische Auszeichnung für einen ausländischen Schriftsteller. In Gegenwart von Staatspräsident Schimon Peres hielt der Geehrte eine Dankesrede, die von vielen als propalästinensisch verstanden wurde. »Hätte ich mich zu entscheiden zwischen einer festen, hohen Mauer und einem Ei, das an dieser Mauer zerschellt, würde ich mich immer auf die Seite des Eies stellen, egal wie gerecht die Mauer und wie ungerecht das Ei ist.« Man könnte die Rede, hört man in ihr die Anspielung an Joji Moris Bild vom schalenlosen Ei und der japanischen Gesellschaft als gallertartige Gemeinschaft, auch als Verteidigung des Individuums deuten. Sie vertritt das Gegenteil der Auffassung, die Japaner seien ein homogenes Volk. »Denn jeder von uns ist ein Ei, ein einzigartiges Selbst in einer zerbrechlichen Schale«, fährt Murakami fort und stellt sich damit gegen die Vertreter des Nihonjinron. »Jeder von uns steht einer hohen Mauer gegenüber. Diese hohe Mauer ist das System.«22
Chiba, mein Freund aus dem diplomatischen Dienst, behauptete, dass Bildung und Erziehung das Selbstbild der Japaner wesentlich prägten. »Uns wird schon in der Schule beigebracht, dass Japaner gewohnt sind, Dinge, die von außen kommen, aufzugreifen und dann so umzugestalten, dass sie zu Dingen werden, wie sie auf diesen Inseln gemacht werden. Das ist unser Selbstbild und das geben wir an unsere Kinder weiter. Japaner sind anders als die anderen.« Solchermaßen durch Schule und Erziehung verstärkt, könne diese Vorstellung zum Mantra werden: »Wir müssen alles so machen, wie die anderen auch, sonst blamieren wir uns. Konformismus und Traditionstreue sind in unserer Mentalität stark verankert.« Aber er bezweifelte, dass irgendetwas daran Japan einzigartig mache. »In der Vergangenheit waren wir anders als die anderen, weil wir rohen Fisch gegessen haben. Jetzt essen aber alle rohen Fisch, also ist das ein Punkt weniger«, sagte er in seiner ironischen Art. »Wir haben Sumo-Ringer, stark übergewichtige Männer, die sich gegenseitig auf die Matte legen wollen. Mittlerweile aber gibt es Mongolen und Weißrussen, die das Gleiche tun. Wieder ein Punkt weniger.« Chiba sagte auch, Japaner neigten dazu, sich mit Europäern und Amerikanern, aber selten mit anderen Asiaten zu vergleichen. Dadurch ergab es sich wie selbstverständlich, dass Japan eine singuläre Rolle in einer Welt erhielt, die überwiegend von einem europäischen, jüdisch-christlichen Standpunkt betrachtet wurde.
Das hat nicht nur Folgen für Japans Selbstbild, sondern auch für die Sicht der anderen auf Japan. Dazu lohnt sich ein kleines Gedankenexperiment. Man stelle sich vor, in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts hätte nicht Japan, sondern Thailand die Welt durch wirtschaftlichen Wohlstand und Hochtechnologie auf westlichem Niveau verblüfft. In diesem Fall gäbe es ganze Regale mit Büchern, die als Gründe für Thailands Erfolg dessen einzigartige Kultur, die gesellschaftliche Stellung des Königs, die unnachahmlichen thailändischen Geschäftsgepflogenheiten, die wohltuenden Eigenschaften der thailändischen Küche und so weiter anführen würden. Sobald wir Japan nicht mehr mit Europa oder Amerika vergleichen, sondern mit China oder Korea, dann sieht es nicht mehr so befremdend aus. »Korea hat seine eigenen Formen des Animismus, die sich vom japanischen nicht sehr unterscheiden, und in China gibt es einen vielgestaltigen Volksglauben, der seine Wurzeln im Taoismus hat, was wiederum nicht sehr weit entfernt ist von der Naturverehrung des Schintoismus«, sagt Ian Buruma, ein Experte für den Nordosten Asiens.23 Ihm zufolge bestünde das Problem darin, dass Ausländer für bare Münze nehmen, was Japaner über sich selbst sagen. »Dass die Verfechter der japanischen Sonderrolle ihre Kultur so grundverschieden von derjenigen Chinas beschreiben, diente allein der Verteidigung des eigenen Standpunktes. In Wirklichkeit ging der Einfluss Chinas sehr tief. Weil sie aber ihren eigenen Platz in der Welt behaupten wollten, haben sie die Unterschiede übertrieben.«
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Yoichi Funabashi genießt als Journalist und internationaler Kommentator sehr hohes Ansehen. Wir kennen uns schon lange. Ich fragte ihn, ob er der Auffassung zustimme, dass Japans singuläres Selbstverständnis im Interesse der nationalen Konsolidierung und der Stärkung der politischen Macht propagandistisch entwickelt worden sei. »Das dürfte in gewisser Hinsicht der Fall sein«, sagte er und führte eine Reihe von Büchern an, die alle um 1900 veröffentlicht worden waren, darunter Inazo Nitobes Bushido, the Soul of Japan und Kakuzo Okakuras The Way of Tea (deutsch: Das Buch vom Tee). »Zwar wird in diesen Werken der Begriff Nihonjinron nicht verwendet, aber alle sprechen von der Suche nach einem neuen Japan. Das ist ein revolutionärer Gedanke. Die Verfasser glaubten, dass die Tradition wegweisend für Japans Zukunft sei. Obwohl die Japaner damals so viel vom Ausland, insbesondere von Deutschland, Frankreich, England und schließlich Amerika lernten, ging es um die Verbindung der japanischen Seele mit ausländischem Know-how. Wir nennen das Wakon Yosai.« Das sind die Wörter für »japanischen Geist« und »westliches Wissen«.
Japan, so fuhr Funabashi fort, habe das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Seiten in seinem frenetischen militärischen Expansionismus der 1930er- und 1940er-Jahre verloren. »Wir waren von der Idee des japanischen Nationalismus vergiftet.« Nach der Kriegsniederlage fand das Land zu einem gewissen Gleichgewicht, insofern es erneut von avancierteren Staaten, vor allem von den USA, lernen wollte. »Nun verlieren wir aber wieder das prekäre Gleichgewicht. Das ist das Galapagos-Phänomen, die ungesunde ausschließliche Beschäftigung der Japaner mit sich selbst, mit ihrem Japanisch-Sein.«
Die Vorstellung, Japan sei eine Galapagos-Insel, deren Kultur sich vollkommen an ihre Umwelt angepasst habe, aber nicht an die übrige Welt, ist Mode geworden. Sie ist auch ins Wirtschaftsleben vorgedrungen und hat zur Entwicklung von Produkten geführt, die einheimische Vorlieben ansprechen und nur mit hier verwendeter Technologie funktionieren. »Dieses Phänomen trifft nicht nur für Mobiltelefone zu«, stellt Funabashi fest. »Es gilt auch für Sicherheitsvorschriften im Nuklearbereich, für Methoden des Englischunterrichts, für fast alles und jedes. Die Inselmentalität halte ich für gefährlich, da sie unseren Narzissmus und unseren Glauben an Japans Unvergleichlichkeit nährt. ›Wir brauchen nicht von anderen lernen. Andere Länder sollten unserem Weg folgen, denn unserer Produkte sind von den anspruchsvollsten Verbrauchern getestet worden.‹« Kunstpause. »Das ist ein Mythos.«
Ich fragte ihn, was er denn mit dem Wort Shimaguni, »Inselvolk«, verbinde. Er erzählte mir dazu eine Geschichte. Er habe sich ein halbes Jahr freigenommen, um ein Tagebuch über seine Reise in asiatische Meere zu schreiben. »Je länger ich die japanische Küste bereiste, desto inniger liebte ich diese kleine Insel«, begann er. Doch dann wandte er sich Richtung China. Er begann seine Reise in der nördlichen Hafenstadt Dalian, fuhr die lange Ostküste bis Tianjin hinab, weiter über Schanghai bis nach Hangzhou und beendete die Expedition in Guangzhou, dem Handelshafen im Perlflussdelta, unweit von Hongkong. »Ich war betroffen, ja erschüttert von der ungeheuren Weite der chinesischen Wasserwelt. Ich fühlte mich wie aus Träumen gerissen.« Die Reise machte Schluss mit Funabashis Vorstellung von der asiatischen Geografie, in der Japan, die einsame Insel, die Rolle der Seefahrernation spielte, während China, der Festlandsblock, fest verankert blieb. »Wir müssen uns der Realität stellen, dass auch China zur See fährt.«
Seine Einsicht erinnerte mich an etwas, was Hama, die Professorin von der Doshisha-Universität in Kioto, mir einmal gesagt hatte. Einer Inselnation stehe es frei, nach innen oder nach außen gewandt zu sein. »Es gab Zeiten, da war Japan ein Volk von Piraten, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß wie England. Wir hatten keine Furcht, hinaus aufs Meer zu fahren, wir waren Abenteurer und risikofreudig. Da wir eine Seefahrernation sind, müssen wir unterstellen, dass dies ein Merkmal des japanischen Nationalcharakters ist. Doch je mehr wir uns vom Rest der Welt abschlossen, desto weniger blieb uns von dem verwegenen Piratentemperament. Mir gefällt die kühne Gestalt des Piraten im Bild von Shimaguni. Doch in Gesprächen wird es heutzutage als Symbol für eine Inselmentalität gebraucht, die Nabelschau hält und den Blick nicht über die eigenen Küsten hinausrichtet.«
Funabashi führte weiter aus, dass Japan früher einmal nach außen gewandt war, sich aber dann in der Edo-Zeit des Tokugawa-Shogunats (1603–1868) ganz abgekapselt hatte. Aber sogar in der Zeit der Isolation (Sakoku) unterhielt das Land mehr Beziehungen zur Außenwelt als allgemein angenommen. »Shimaguni kann heißen, dass sich eine Insel vom Rest der Welt abschließt oder dass sie im Gegenteil in Verbindung mit der Welt steht. Im Fall Japans heißt das, wir neigen zu dem Glauben, wir könnten in die Zeiten zurückkehren, als wir eine Insel des Friedens fern von der Welt waren. Das wird aber nicht geschehen, und tatsächlich ist es auch nie so gewesen, nicht einmal in der Edo-Zeit. Diese japanische Abgeschlossenheit von der Welt ist Wunschvorstellung.« Er schwieg und schloss dann mit den Worten: »Wir können nicht zurück in die Edo-Zeit, wir können uns nicht abkapseln, das wäre gefährlich. So oder so müssen wir in Verbindung mit dem Rest der Welt leben.«
Die Insel Japan hatte viele Jahrhunderte lang eine komplexe und schwierige Beziehung zur Außenwelt. Das war schon so, ehe Japan im 16. Jahrhundert erste Kontakte mit Europa bekam und der Einfluss Chinas, obgleich dieses als Quelle der Kultur und der Gelehrsamkeit galt, als erdrückend empfunden wurde. Es traf in den folgenden Jahrhunderten zu, als die Europäer ihren »verruchten Kult«24 des Christentums ins Land brachten und später ihre unfairen Verträge und die angedrohte Kolonialisierung. Und es gilt auch heute noch in einer Zeit, da Japan von seinen früheren Kriegsgegnern in Asien misstrauisch beäugt wird und sein Verbündeter, die USA, auf der anderen Seite des Pazifiks liegt.
Sogar auf dem Gipfel seiner Wirtschaftsmacht in den 1980er-Jahren, da Japan schon als die Nummer eins der Weltwirtschaft gehandelt wurde, fehlte der Inselnation doch der geopolitische Einfluss. Weil die von Amerika diktierte pazifistische Verfassung eine eigene Armee verbot, wurde Japan zwar wirtschaftlich ein Riese, blieb aber diplomatisch ein Zwerg. Dies zeigte sich auf schmerzliche Weise 1990 während des ersten Irak-Krieges. Tokio hatte den Feldzug in Höhe von 13 Milliarden Dollar finanziert, doch auf der Dankesliste der Staaten, die Kuwait befreit hatten, erschien der Hauptfinanzier überhaupt nicht.
Japan, das im Hinblick auf seine hoch entwickelte Wirtschaft oft als »westliche Macht« bezeichnet wird, ist in Asien isoliert. Manche halten es für einen abhängigen Staat mit quasi kolonialen Banden zu seinem US-amerikanischen Herrn und Gebieter.25 Zwar gehört Japan zu den G 7, also zu der Gruppe der reichsten Länder der Nachkriegsära, die freilich an Bedeutung verliert, aber nie wurde es in den wirklich entscheidenden Klub der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates aufgenommen. Auch hat es nie die Führungsrolle in Asien gespielt, zu der seine wirtschaftliche Vormachtstellung eigentlich Anlass gegeben hätte. Mit seinen massiven Investitionen hat es Volkswirtschaften von Indonesien bis Thailand aufgeholfen, auf seinem Wachstumspfad eiferten ihm alle erfolgreichen asiatischen Länder, einschließlich Chinas, nach, und doch erfüllten sich seine Hoffnungen auf eine führende Rolle nicht, weil der fortschwelende Hass aus vergangenen Kriegen dies zunichtegemacht hat.
Japan kämpft schon seit Jahrhunderten um seinen Rang in der internationalen Staatenhierarchie. Die selbst verhängte Isolation ab 1630 verzögerte nur die Notwendigkeit, im internationalen Konzert mitzuspielen. Als es dann in der Meiji-Restauration den Schritt wagte und sich für die Hinwendung zu westlichem Wissen entschloss, hatte es anfangs triumphalen Erfolg: eine »europäische« Großmacht in asiatischem Gewand. Doch die Zeit spielte gegen Japan. Es wurde Kolonialmacht zu einem Zeitpunkt, als der krude Kolonialismus, wie ihn die Engländer, Spanier und Portugiesen lange Zeit praktiziert hatten, seine politische Legitimität verlor. Japans Hoffnungen, zum Großbritannien des Fernen Ostens zu werden, zerschlugen sich. Dass seine kolonialen Feldzüge im Hinblick auf die Geschichte nicht mehr angemessen waren, wurde noch verschlimmert durch die verheerenden Fehleinschätzungen seiner halbfaschistischen Regierung, die in ihrem fanatischen Kaiserkult die Unvermeidlichkeit der Niederlage nicht erkannte. Der Krieg endete für Japan beinahe mit seiner Auslöschung, und damit musste es sich von der Hoffnung, durch militärische Stärke zu internationalem »Status« zu gelangen, ein für alle Mal verabschieden. Was nun noch blieb, war der wirtschaftliche Weg.
Ein Wissenschaftler behauptet, Japans belastetes Verhältnis zur übrigen Welt sei der Grund für sein »lebhaft empfundenes Minderwertigkeitsgefühl und seine manchmal schon krankhafte Beschäftigung mit dem nationalen Status«.26 Ein US-amerikanischer Historiker, Kenneth Pyle, beschreibt geistvoll, dass die noch halbfeudale Gesellschaft nach dem Zusammenbruch der Feudalordnung im Jahr 1868 wie geblendet im Schein der aufgeklärten westlichen Kultur stand. »Japans Weltsicht, seine Auffassung von der Welt der Nationalstaaten, in die es nun eintrat, war eine Projektion der Vorstellungen, die es von seiner eigenen gesellschaftlichen Verfasstheit hatte«, schreibt Pyle. »Sein empfindlicher Sinn für seinen Rang in der Welt verdankt sich der über Jahrhunderte in einer Feudalgesellschaft geprägten Kultur der Ehre.«27 Es übertrug auf das internationale Staatensystem sein »Vertrauen in Hierarchie«. Mündlich führte Pyle dazu weiter aus: »Seit der Meiji-Zeit sind die Japaner sehr darauf bedacht, welche Sprosse sie auf der Leiter nach oben erklimmen: ›Wir haben jetzt die Türkei überholt, aber wir liegen noch hinter Spanien.‹ Diese Sorge um den internationalen Status ist ein Dauerthema geblieben.«28
Naoki Tanaka, ein Berater des früheren Premierministers Junichiro Koizumi, hat mir einmal beschrieben, wie Japan sich bei seinem Streben nach internationalem Status vom übrigen Asien abgewendet hat. »Nach der Meiji-Restauration hielten unsere Staatslenker die Regierenden in China und Korea für sehr korrupt. Um dem Druck aus Europa Paroli bieten zu können, dachten sie, dass die Abkoppelung von Asien erste Priorität haben müsse.«29
Die »geografische Tragödie« Japans in dem Sinn, dass Japan eine »europäische« Großmacht ist, der ihre Lage und ihre Geschichte zum Verhängnis werden, war und ist ein großes Thema. Als Japan im 19. Jahrhundert das intellektuelle Joch Chinas abschüttelte, entwarfen seine kühnsten Köpfe ein Japan in europäischen Begriffen. Japan wollte der Schmach, eine Kolonie zu werden, unbedingt entgehen. Seine asiatischen Nachbarn wie die Philippinen waren diesem Schicksal nicht entgangen, und sogar das mächtige China, das einst als das unüberwindbare Zentrum der Welt galt, hatte im ersten Opiumkrieg von 1839 bis 1842 eine Niederlage hinnehmen und sich unfairen Handelsabkommen beugen müssen. Am Ende war es »wie eine Melone« unter den Kolonialmächten aufgeteilt worden. Im Jahr 1878 herrschten europäische Großmächte und ihre Ableger über 67 Prozent der Landmasse der Erde, und 1914 waren es sogar unglaubliche 84 Prozent. Wollte man dieser nicht aufzuhaltenden Macht die Stirn bieten, gab es offenbar nur einen Weg, nämlich sich von Asien abkoppeln und selbst »europäisch« werden. Dazu musste das Land industrialisiert werden, und es musste eine moderne Verfassung erhalten. Ferner brauchte es auch Kolonien. Man betrachtete das damals als das Recht, ja die Pflicht jeder sich selbst ernst nehmenden Nation, die den Status einer Großmacht anstrebt.
Dieser geschichtliche Prozess – erst die Ablösung von Asien, dann das katastrophale Scheitern als imperialistische Macht – ist der Grund für die weiterhin schwierigen Beziehungen Japans zur übrigen Welt. Da Japan die Aufnahme in den westlichen Klub nicht gelang, befindet es sich nun in einem diplomatischen Schwebezustand, argwöhnisch beäugt von seinen Nachbarn, die es einst hatte erobern wollen. Wie es dazu kam, ist Gegenstand dieses Kapitels.
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Japan hat mit seiner Modernisierung bewiesen, was die Europäer, deren kolonialistische Ideologie auf rassistischen Annahmen basierte, für undenkbar hielten, dass nämlich Nicht-Weiße mit den westlichen Völkern gleichziehen, ja diese sogar überholen konnten. Diese Leistung hat aber für viele Asiaten unwiederbringlich seinen Glanz verloren, nicht nur wegen der brutalen Kriege, die Japan gegen seine Nachbarn geführt hat, sondern, subtiler, wegen des Verdachts, Japan habe sich aus dem asiatischen Block ganz lösen wollen.
Was wir heute als japanische Kultur kennen, hat zum größten Teil seinen Ursprung in China. Das Reich der Mitte, wie sein Name schon sagt, war das Zentrum der bekannten Welt und Ursprung aller Kultur, Technik, Religion und Ethik. Der Reisanbau kam vom Festland über die Halbinsel Korea nach Japan, ebenso die Techniken zur Bearbeitung von Bronze und Eisen. Seit dem ersten Jahrhundert nach Christus schickten viele Stammesfürsten, die damals in Japan regierten, Delegationen nach Korea, das selbst unter dem Einfluss Chinas stand.30 Ab 400 nach Christus schickte Japan regelmäßig Missionen ins Kaiserreich China, anfangs nach Nanking und später bis ins ferne Chang’an, die Hauptstadt Chinas in der Tang-Zeit. Bei ihrer Rückkehr brachten sie chinesische Bräuche und Lehren mit, vor allem den Buddhismus (der ursprünglich aus Indien kam) und den Konfuzianismus. Die japanische »Verfassung« von 604, eine dem Prinzen Shotoku zugeschriebene Erläuterung ethischer Vorschriften, beruht auf einer Fülle buddhistischer und konfuzianischer Lehrmeinungen. George Sansom, ein Historiker des vormodernen Japan, schreibt, der Buddhismus sei nicht nur eine neue Form des religiösen Kultes gewesen, sondern ein ganzes Glaubensgebäude. »Wie ein großer Zaubervogel, der mit mächtigen Schwingen über das Meer geflogen kam und ein vielfältiges Wissen mitbrachte, Literatur, Kunst, Handwerk und eine subtile Metaphysik, zu der es nichts Vergleichbares in der heimischen japanischen Tradition gab.«31 Prinz Shotoku gab zu Ehren Buddhas den Bau des prächtigen Horyuji-Tempels in Auftrag. Dieses Wunder der Holzschnitzkunst wurde zwischen den alten Hauptstädten Nara und Kioto errichtet und steht, bestens erhalten, auch heute noch da. Chinesische Vorstellungen von Steuern, Grundbesitz und staatlichen Rängen prägten nachhaltig die japanische Politik und Gesellschaft.
Obgleich die kulturelle Überlegenheit Chinas damals nicht infrage gestellt wurde, waren die Beziehungen nicht spannungsfrei. Im Jahr 604 legte der japanische Botschafter sein Beglaubigungsschreiben am Kaiserhof von Chang’an vor, aus dessen Worten hervorging, dass beide Nationen einander ebenbürtig seien. Der chinesische Kaiserhof sah darin nur eine lächerliche Anmaßung, für ihn war Japan ein bedeutungsloses Land am Rande der Welt.32 Die Japaner zahlten weiterhin geistigen und auch monetären Tribut an China. »Seit dem Beginn der Kulturentwicklung in Japan ist das Modell direkt oder indirekt immer China gewesen«33, behauptet Donald Keene, ein Kenner der japanischen Literatur. »Wie es nicht anders sein konnte, erfuhren die chinesischen Ideen in Japan eine beträchtliche Umgestaltung, so wie umgekehrt manche japanische spirituelle Anschauungen und ästhetische Ideen nie durch das chinesische Vorbild verändert wurden. Aber im Großen und Ganzen galt China als die Quelle aller Weisheit.«
Der Bruch mit China, denn nichts anderes war es, brauchte mehrere Hundert Jahre. Es begann in der Tokugawa-Zeit, benannt nach dem Geschlecht der Militärführer, die um 1600 die Macht über ganz Japan an sich rissen und bis zur Meiji-Restauration 1868 herrschten. »Mit zunehmendem Wissen über die Welt erkannten die Japaner, dass China nicht die Mitte der Welt darstellte und Schwächen zeigte«, erzählte mir der Wissenschaftler und Publizist Ian Buruma. »Sie kamen zu dem Schluss, dass es besser sei, sich neu zu positionieren.« Erst als die Meiji-Reformer auch der Tokugawa-Herrschaft ein Ende setzten, befreite sich Japan von dem geistigen Joch Chinas. Wenn man überhaupt einen genauen Zeitpunkt angeben kann, dann war das das Jahr, in dem sich Japan vom Sinozentrismus verabschiedete, in der Hoffnung, die erste »europäische« Macht in Asien zu werden. Damit begann Japans atemberaubende Modernisierung. Was folgte, waren militärische Abenteuer und schließlich die Niederlage im Zweiten Weltkrieg.
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Das Tokugawa-Shogunat, das mehr als zweieinhalb Jahrhunderte über Japan herrschte, kam im Jahr 1600 nach der Schlacht von Sekigahara an die Macht. In ihr vernichtete Ieyasu, der erste Vertreter der Tokugawa-Dynastie, die Truppen seiner Gegner und wurde zum unbestrittenen Herrscher über ganz Japan. Der Kaiser, der mehr symbolische als tatsächliche Macht besaß, verlieh ihm den einst erblichen Titel des Shoguns. Ieyasu errichtete ein absolutistisches Herrschaftssystem, wo wenige Jahrzehnte vorher noch ein politisches Gebilde aus mehreren Hundert Kleinfürstentümern gewesen war. Von seiner neuen Hauptstadt Edo aus, später Tokio genannt, erzwang er durch schiere Gewalt eine bisher nicht da gewesene Friedensordnung. Im Zeitraum von 1600 bis 1868 gab es so gut wie keinen Krieg, sodass die Samurai, deren Daseinszweck in der Verteidigung ihrer Daimyo-Lehnsherren bestand, zur Untätigkeit verurteilt waren. Im Zuge der Konsolidierung ihrer Macht unterdrückten die Tokugawa-Shogune jede mögliche Opposition, angefangen bei den buddhistischen Priestern über die Bauern bis zu den Daimyo und selbst dem Kaiserhof in Kioto.
Die Tokugawa duldeten auch keine Einmischung von außen. Die Christenverfolgung, die schon in den 1590er-Jahren begonnen hatte, verschärfte sich in den ersten Jahren des Tokugawa-Shogunats. Eine Konkurrenz durfte es nicht geben, vor allem nicht durch einen fremden Gott. Die ersten Missionare waren in den 1540er-Jahren mit den portugiesischen Kaufleuten gekommen. Um 1600 hatten sich bereits 300000 Japaner zum katholischen Glauben bekehren lassen.34 Die Angewohnheit der Portugiesen, nicht nur Seelen zu fangen, sondern auch Sklaven, machte sie auch schon vor der Machtübernahme durch die Tokugawa bei japanischen Herrschern nicht beliebt. Das nun folgende Verbot des Christentums ging mit genau kontrollierten Beziehungen zu allen Europäern einher. Von 1633 bis 1639 erließ Iemitsu, der Großenkel Ieyasus, mehrere Edikte, mit denen er Japans Verbindungen zur Außenwelt auf ein Minimum beschränkte. Die Verbreitung der christlichen Lehre wurde verboten. Japanische Schiffe durften nicht weiter westlich als bis nach Korea und nicht weiter südlich als bis zu den Ryukyu-Inseln, ein unabhängiges Königreich, das später annektiert wurde, segeln. Ausländer durften nicht im Landesinneren reisen, auch durften sie keine Bücher verteilen.35 Die Engländer hatten Japan schon aufgegeben, da aus Indien mehr zu holen war. Nach der Vertreibung der Portugiesen blieben von den Europäern nur noch die Holländer, die, allerdings beschränkt auf eine künstliche Insel, überhaupt Kontakt mit den Japanern hatten.
Uns Heutigen erscheinen solche Restriktionen als abscheulich fremdenfeindlich. Man muss sich aber bewusst machen, dass der Kontakt mit Europäern damals selten gut ausging. Die Holländer, die in Japan Anstand wahrten, hatten 1740 in Batavia, dem heutigen Jakarta, ein Massaker unter 10000 gebürtigen Chinesen veranstaltet. Japans stachelige Beziehungen zur Außenwelt haben dem Land keinesfalls immer zum Vorteil gereicht. Doch immerhin entging es als einziges Land in Asien der regelrechten Kolonialisierung.36
Die »Abschließung« war auch nie so strikt, wie es Herman Melvilles Charakterisierung als »doppelt verriegeltes Land« glauben machen will. Marius Jansen, ein Historiker Japans, vergleicht die Außenpolitik des Tokugawa-Shogunats »eher mit einem Bambusvorhang, nicht mit einer Berliner Mauer«.37 Handel und diplomatische Beziehungen wurden, wenngleich eingeschränkt, mit Korea und China weiterhin gepflegt. Japans Abschließung galt in erster Linie für den Westen. Die Japaner beobachteten die Ereignisse draußen in der Welt sehr genau, behauptet Jansen, daher »[sei] die japanische Zivilisation weder geistig noch kulturell noch technologisch abgeschottet gewesen«.38 Dennoch hatte die japanische Politik ihren Preis. Das Shogunat hatte sich entschieden, die Beziehungen zum Westen gerade in einer Epoche zu beschneiden, die sich als ausschlaggebend für die weitere Geschichte erweisen sollte, nämlich der Beginn der Industrialisierung und die koloniale Expansion der europäischen Großmächte, einschließlich der Neuen Welt.
Und entgegen Jansens Behauptung litt Japan an technischer Rückständigkeit. Feuerwaffen waren ein klares Beispiel. Im 16. Jahrhundert kämpften viele japanische Soldaten mit Waffen, die japanische Waffenschmiede nach dem Muster der Feuerwaffen der Portugiesen angefertigt hatten. Die Japaner verbesserten die Originale sogar dadurch, dass sie eine Vorrichtung ersannen, damit die Funken des Luntenschlosses den Schützen bei Nacht nicht verrieten.39 Doch in der fast 270 Jahre währenden Friedenszeit unter dem Tokugawa-Shogunat verkam die Kenntnis des Büchsenmachens. Die Samurai, die für reale Kämpfe nicht mehr gebraucht wurden, bevorzugten in jedem Fall das Schwert. So kam es, dass viele japanische Krieger, die 1853 dem Kommodore Matthew Perry bei seiner Landung entgegentraten, mit Steinschlossflinten aus dem 17. Jahrhundert bewaffnet waren.40
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Im 18. Jahrhundert hatten nur wenige Japaner schon einmal einen Ausländer gesehen, geschweige denn eine moderne Waffe. Manche, die in Nagasaki lebten, hatten vielleicht einen chinesischen Kaufmann oder Matrosen aus Übersee beäugt. Wer an der Straße nach Edo wohnte, konnte einmal einen Blick auf einen Holländer erhascht haben, der in einer Sänfte zur alljährlichen Ehrbezeigung beim Shogun gebracht wurde. Keene zufolge betrachteten die meisten Japaner Ausländer, vor allem stark behaarte Europäer, »als Gnome, die nur eine oberflächliche Verwandtschaft mit normalen Menschen besaßen«.41 Die Holländer beherrschten das klassische Chinesisch nicht, was an sich schon eine barbarische Unkenntnis darstellte, und man erzählte sich über sie, dass sie wie Hunde, mit denen sie oft verglichen wurden, zum Urinieren das Bein hoben.
Aller Unkultur zum Trotz musste man sich mit den Holländern, mit denen man Handel trieb, verständigen. Es dauerte bis 1670, dann gab es eine Reihe von Übersetzern und Dolmetschern, die Holländisch lesen und, wenngleich nicht fließend, sprechen konnten. 20 Familien in Nagasaki hatten das vererbbare Amt des Dolmetschers erhalten. Hinsichtlich Medizin und Astronomie hatten die Holländer den Japanern manches Neue zu lehren. Doch die Regierung blieb gegenüber westlichem Wissen und dessen Verbindung mit dem Christentum weiterhin misstrauisch. Chinesische Bücher über westliche Religion und Wissenschaft waren verboten, wenngleich einige illegale Abschriften den Weg in private Bibliotheken fanden. Der Hofastronom Kageyasu Takahashi musste seine Neugier auf westliches Wissen teuer bezahlen. Als er 1828 japanische Karten gegen vier Bände von Adam Johann von Krusensterns Voyage tauschte, ein Bericht über eine Weltumsegelung, wurde er wegen Spionage ins Gefängnis geworfen und starb noch in der Haft. Nach seinem Prozess, der mit dem Todesurteil endete, wurde seine in Salzlake konservierte Leiche dem Scharfrichter übergeben, um an ihr das Urteil durch Köpfen zu vollstrecken.42
Der Bann über westliche Gelehrsamkeit und Wissenschaft wurde erst 1720 gelockert, als Yoshimune Tokugawa die Beschäftigung mit dem westlichen Kalender anregte. Yoshimune hatte erfahren, dass die Europäer den Strom der Zeit genauer messen konnten als die Chinesen. Das, so dachte er, könne den Bedürfnissen der japanischen Bauern, die ein hartes Los zu tragen hatten und gelegentlich auch aufrührerisch waren, sehr entgegenkommen.43 Daraufhin bildete sich eine kleine, aber sehr engagierte Gruppe japanischer Gelehrter, bekannt unter dem Namen Rangaku-sha, die Adepten der holländischen Gelehrsamkeit. Langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass europäisches Wissen der Gelehrsamkeit Chinas nicht nur ebenbürtig, sondern in wesentlichen Punkten auch überlegen war. Damit war der erste Schritt zum Bruch mit der sinozentrischen Welt getan.
Ein wichtiger Beleg für die Überlegenheit der westlichen Wissenschaft fand sich im Bereich der Anatomie. Im Jahr 1771 erhielt der japanische Arzt Gempaku Sugita Kenntnis der Tafel Anatomia, eines anatomischen Handbuchs, das ein deutscher Arzt 40 Jahre vorher geschrieben hatte. »Ich konnte kein Wort lesen«, schrieb Sugita, »doch die Bilder von den Gefäßen, Knochen und Muskeln sahen anders aus als alles, was ich bisher gesehen hatte, und ich begriff, dass sie nach der Natur gezeichnet worden waren.«44 Zur damaligen Zeit waren Leichenöffnungen in Japan nicht üblich, und wenn überhaupt, dann führten sie Angehörige der Eta durch, der als unrein geltenden Kaste der Gerber und Schlächter.45 Kurze Zeit, nachdem Sugita seinen Buchfund gemacht hatte, wohnte er einer Leichenöffnung auf der Hinrichtungsstätte von Kotsugahara unweit von Edo bei. Die Sektion fand an der Leiche einer 50-jährigen Frau statt. Die als »Mutter Grüntee« bekannte Frau war wegen eines nicht weiter bezeichneten Verbrechens hingerichtet worden. Sugita schrieb dazu:
»Der Eta zeigte auf eine Partie des Körpers, die er herausgeschnitten hatte, und teilte den Zuschauern mit, dass es sich um die Lunge oder um eine Niere handele… Da die Partien selbstverständlich nicht beschriftet waren, mussten die Zuschauer sich mit dem zufriedengeben, was der Eta ihnen sagte.«46
Als Sugita die beobachtete Gruppierung der Organe mit den Abbildungen in dem europäischen Buch verglich, stellte er fest, dass sie mit dem tatsächlichen Sachverhalt genau übereinstimmten. Dies war nicht der Fall bei den alten chinesischen Medizinbüchern, die bisher als mustergültig galten, deren Abbildungen aber einen Fehler hatten: Sie entsprachen nicht der Wirklichkeit.
Mit solchen Entdeckungen setzte bei den Japanern die Erkenntnis ein, dass zumindest auf dem Gebiet der Wissenschaften die europäischen Gnome deutlich weiter waren als die chinesischen Gelehrten. Dass sich in Wissenschaft und Kultur nicht alles um China drehte, muss eine Revolution gewesen sein, vergleichbar der Entdeckung, dass sich die Sonne nicht um die Erde bewegte. Dies anzuerkennen, dass die holländischen »Hunde« auf manchen Gebieten den Japanern und Chinesen um Längen voraus waren, verlangte ein schmerzhaftes Umdenken. Unter dem Tokugawa-Shogunat bestand bis dahin die Leitidee Japans in einer Verbindung aus chinesischer Gelehrsamkeit und japanischem »Geist«. Für etwas Drittes war kein Platz. Wenn westliches Wissen als mustergültig anerkannt werden sollte, musste es den chinesischen Einfluss verdrängen.
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Zur Abkehr von China kam es nicht nur wegen der Überzeugungskraft der europäischen Wissenschaften. China selbst hatte seinen Glanz verloren. Im Jahr 1644 fiel die Ming-Dynastie im Ansturm der Mandschu-Invasion. »Dass China in die Hand einer fremden, ›barbarischen‹ Macht fiel«, schreibt ein Autor, »trug gewiss dazu bei, dass es an Ansehen bei den Japanern verlor. Das Bild des glänzenden kulturellen Ideals war nun befleckt.«47 In Japan gab es eine Bewegung namens Kokugaku, wörtlich »nationale Studien«, deren Bestreben es war, sich vom Einfluss Chinas zu lösen und sich auf autochthone Traditionen zu besinnen. In Japans heimischer Literatur und Religion schlummerte, so die Idee, eine ganze Kultur, die nur geweckt werden musste, um sich von fremder Bevormundung zu befreien. Ein besonderes Anliegen war ihr die Reinheit der japanischen Dichtung. »Die Feier der Natur und der Lobpreis des Gefühls, den sie hier entdeckten, schien weit entfernt vom didaktischen formalen Charakter konfuzianischer Gelehrsamkeit«, schreibt Jansen.48 Diese Ideen finden noch heute Anklang. Shintaro Ishihara, ein nationalistischer Politiker, der für seine antichinesischen Ansichten bekannt ist, berichtete mir, was der französische Romancier André Malraux einmal zu ihm gesagt habe. »Allein die Japaner verstünden, die Ewigkeit in einem Augenblick zu fassen«, teilte mir Ishihara mit seinem typischen, eulenhaften Zwinkern mit. »Der Haiku ist die konziseste dichterische Form überhaupt, und sie wurde nicht von Chinesen, sondern von uns Japanern geschaffen.«
Das Leben Yukichi Fukuzawas (1835–1901), des großen liberalen Denkers seiner Epoche, verkörpert den Bruch mit China. Fukuzawa unterschied sich von den anderen jungen Samurai der Meiji-Restauration von 1868. Für diese war die Hinwendung zum Westen kein Wert an sich, sondern sie wollten sich lediglich die Technik der Barbaren aneignen, um sie dann aus dem Land zu vertreiben. Fukuzawa hingegen dachte, Japan könne, wenn es sich westlichen Ideen öffnete, als ebenbürtiges Mitglied an der modernen Welt teilhaben. Nur so und nicht durch Nabelschau würde Japan zu einer starken, unabhängigen Nation werden.
Fukuzawas Leben überspannt die gewaltige historische Kluft zwischen der Epoche vor und nach der Meiji-Restauration. Wie Carmen Blacker in ihrem Vorwort zu einer Übersetzung von Fukuzawas fesselnder Autobiografie schreibt:
»Er wurde zu einer Zeit geboren, als Japan fast gänzlichen von der Außenwelt abgeschlossen war und ein hierarchisches Feudalsystem herrschte, das auf dem konfuzianischen Moralkodex basierte. Über den Krieg wurde noch in mittelalterlichen Begriffen gedacht, die Wirtschaft war überwiegend bäuerlich, modernes Wissen beschränkte sich auf das wenige, was durch holländische Bücher aus der Handelsniederlassung in Nagasaki ins Land kam. Als er starb, war Japan in jeder Hinsicht ein moderner Staat. Das japanische Heer und die Marine waren so gut ausgebildet, dass sie [1895] China geschlagen hatten und sich anschickten, Russland ebenfalls eine Niederlage beizubringen [1905].«49
Blacker führt aus, dass nach Fukuzawas Auffassung es nicht genüge, dass Japan über die Dinge der westlichen Zivilisation – Eisenbahnen, Kanonen, Schlachtschiffe, Zylinderhüte und Regenschirme – verfüge, um seinen Platz unter den Nationen der modernen Welt zu erobern. Vielmehr müsse es sich auch das Denken aneignen, aus dem die Entdeckungen und in deren Folge auch die Herstellung solcher Dinge erst möglich wurden.
Fukuzawa, der aus dem niederen Samurai-Adel stammte, war schon von Jugend an vom westlichen Denken angezogen und lernte Holländisch, um hinter die Geheimnisse zu kommen. In seiner Autobiografie schreibt er begeistert vom Enthusiasmus des Lernens. Seine Kommilitonen, so berichtet er, »interessierten sich für das Sezieren von Tieren, streunende Hunde und Katzen, und bisweilen auch für die Leichen hingerichteter Krimineller. Die Aspiranten für westliches Wissen waren schon eine abgebrühte Truppe, die vor nichts zurückschreckte.«50 Er brachte es in Holländisch zu beachtlichen Kenntnissen und war umso entsetzter, als er 1859 bei einem Besuch der Hafenstadt Yokohama feststellte, dass alle ausländischen Schilder in Englisch geschrieben waren. Damals waren die Schwarzen Schiffe des Kommodore Perry, »Festungen, die sich frei auf dem Wasser bewegten«, bedrohlich vor der Küste Japans aufgetaucht.51 Die USA hatten erhebliche Fortschritte gemacht, Japans Öffnung zu erzwingen. Im Jahr, in dem Fukuzawa Yokohama besichtigte, war die Stadt neben anderen zum Vertragshafen bestimmt worden. Wie in China, wo die Demütigung durch unfaire Verträge und »Exterritorialität« schon lange bekannt war, unterstanden ausländische Händler nicht japanischem Recht, sondern brauchten sich nur vor Konsulargerichten verantworten.
Fukuzawa schien sich mehr über seine fehlenden Englischkenntnisse zu entsetzen als über die Gefahren, die der japanischen Souveränität durch die Hafenöffnungen für Ausländer drohten. Er machte sich rasch daran, Englisch zu lernen – wie das Holländische werde auch diese Sprache »seitwärts geschrieben« –, und schaffte es, zum Dolmetscher der ersten japanischen Delegation ernannt zu werden, die 1860 nach Amerika aufbrach. Über seine Seereise über die fast unvorstellbar weite Strecke bis nach San Francisco schreibt er: »Ich vertraute der westlichen Technik durch und durch. Solange ich auf einem Schiff war, das mit den nautischen Kenntnissen der Westler geführt wurde, fürchtete ich mich nicht.«52
Obwohl dies nun schon 150 Jahre zurückliegt, sind die ersten Begegnungen mit der westlichen Kultur ein fester Bestandteil der japanischen Folklore. Vor ein paar Jahren machte ich die Bekanntschaft Ichizo Oharas, Mitglied des Abgeordnetenhauses und kurz vor dem Rückzug aus dem politischen Amt stehend, aber ein wunderbar lebensprühender Mann. Er erzählte mir, mit welcher Komik die ersten Expeditionen nach Amerika verbunden waren. »Sie waren in traditionelle Gewänder gekleidet und trugen japanische Dolche. Nun brauchten sie westliche Gesellschaftskleidung, hatten aber keine Schuhe«, sagte er lachend. »Sie gingen in ein Handelshaus um sich welche zu kaufen, aber die Schuhe waren so groß, dass zwei Japaner hineingepasst hätten. In Amerika gingen sie dann mit lautem Geklapper die Straße entlang. Die Schuhe machten die Begleitmusik. In San Francisco gingen sie in ihren weiten Anzügen und viel zu großen Schuhen an Land und die Leute verlachten sie. Der japanische Botschafter wusste nicht einmal, wie man mit Messer und Gabel isst.«
Wer heute Fukuzawas Autobiografie liest, staunt über seine Modernität. Er trat für das Individuum ein. Er hasste die feudalen Traditionen, unter denen seinem Vater als Angehörigem des niederen Adels Anerkennung und Aufstieg dank persönlichen Verdiensten versagt worden waren. »Die Feudalordnung ist der Todfeind meines Vaters gewesen, deshalb bin ich bei meiner Ehre verpflichtet, sie zu zerstören«. In der Schule, die er später gründete und aus der die Keio-Universität, eine der besten Japans, hervorgehen sollte, schaffte er die Vorschrift ab, dass sich Schüler vor ihren Lehrern verbeugen müssen, das sei reine Zeitverschwendung, lautete seine Begründung. »Ich gab nichts darauf, den Kopf höher zu halten als andere, aber auch nicht, mich vor meinen Vorgesetzten zu verbeugen.« Fukuzawas Stil wirkt auch auf den heutigen Leser so frisch wie am ersten Tag. Auffallend ist, wie entschieden er die, wie er sagt, »verderbliche Wirkung« der chinesischen Gelehrsamkeit verurteilt. Für ihn war das Feudalsystem mit seinen rückwärtsgewandten Moralbegriffen und Sitten die Verkörperung der traditionellen chinesischen Werte, die ausnahmslos über Bord zu werfen waren. Über seine Studentenzeit bilanziert er: »Wir entwickelten eine Abneigung gegen alles, was mit der chinesischen Kultur in Verbindung stand. Unsere vorherrschende Meinung in dieser Hinsicht war, dass unser Land sich gänzlich vom Einfluss der Chinesen befreien müsse.«53
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Als Kommodore Perry am 8. Juli 1853 in den Hafen von Uraga einlief, dachten nur wenige Japaner wie Fukuzawa. Viele waren entsetzt über die ungeheure Feuerkraft der Rauch ausstoßenden Kanonenschiffe, deren größtes, die 2450 Tonnen schwere Susquehanna, Perrys Flaggschiff, 20-mal größer als Japans größtes Kriegsschiff war.54 Das Gefühl des drohenden Untergangs musste noch durch das Wissen verstärkt worden sein, dass ein Jahrzehnt vor dem Opiumkrieg ein paar Tausend britische Seeleute das mächtige chinesische Kaiserreich in die Knie gezwungen hatten. Nun kamen die Barbaren auch zu ihnen. Japan mochte das Land der Götter sein, aber diese Abendländer verfügten über eine Technik, der auch das göttlichste Land nichts entgegenzusetzen hatte.
Und in gewisser Hinsicht kam es genau so. Nur 15 Jahre nach Perrys Ankunft begann mit der Meiji-Restauration ein grundlegender sozialer und politischer Umbau, der Revolution, Widerstand und Kapitulation in einem war. Japan konnte nicht länger am Rand der Welt in einer Art »splendid isolation« verharren, vielmehr musste es ein Verhältnis zur Außenwelt finden. Und darin zeigten sich die führenden Köpfe der Meiji-Restauration bedenkenlos pragmatisch. »Wenn es hart auf hart kam, hatten die Machtsicherung und die Erhaltung der Nation eindeutig Vorrang vor der Bewahrung von Japans kulturellen Sitten und Gebräuchen«, schreibt Pyle.55
Im Namen des Kaisers wurde die Feudalordnung abgeschafft, die Samurai wurden entwaffnet und Maßnahmen zu einer raschen Industrialisierung unternommen. Die Meiji betrieben aber den Wandel nicht um des Wandels willen, für sie war der Wandel das Mittel, um die Nation zu erhalten. Wie so oft in der Geschichte Japans änderte sich das Land, um es selbst zu bleiben – wie die Schreine in Ise. »Anders als andere moderne Revolutionen hatte die Meiji-Restauration einen zutiefst konservativen Charakter.«56
Die Verantwortlichen der Meiji-Restauration kamen zum größten Teil aus dem niederen Samurai-Adel. Sie waren Militärs, die dem Moralkodex der Samurai huldigten. Was sie zu Revolutionären machte, war ihr Wille, die feudale Gestalt der japanischen Kultur wegzufegen, damit das erhalten bliebe, was sie als das Wesen Japans betrachteten. Daher war ihre Entschlossenheit, vom Westen zu lernen, rein praktisch begründet. Japan musste lernen, wie man Eisenbahnzüge, Kanonen und Schlachtschiffe baut, nicht etwa, weil dies an sich erstrebenswerte Ziele wären, sondern weil sie damit der Aggression des Westens Paroli bieten konnten. Was sie antrieb, war die Devise: Kenne deinen Feind.
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Von Anfang an gab Japan seine Isolation nur widerwillig auf. Dieser Umstand hat seine internationalen Beziehungen bis auf den heutigen Tag geprägt. Die Verantwortlichen hinter der Meiji-Restauration waren Militärs, die sich umgehend den Wortschatz des Sozialdarwinismus aneigneten und von Jakuniku-kyoshoku sprachen (der Stärkere verschlingt den Schwächeren), wenn es um die Regeln der internationalen Politik ging.57 Aus diesen Anfängen wird auch verständlich, wie sich Japan vom möglichen Opfer der Kolonialisierung zum asiatischen Protagonisten des Imperialismus entwickeln konnte. Wir kritisieren die Japaner gern wegen ihrer kolonialen Raubzüge und übersehen dabei schnell, wie leicht es war, in Expansionsdrang und Krieg zu gleiten. »Seit der erzwungenen Öffnung des Landes in der Meiji-Zeit verstanden die Japaner unter Verwestlichung so viel, wie ein guter Imperialist zu sein«, sagte mir einmal John Dower.58 »Japans Erfolge vor dem Krieg, der Eifer, mit dem es den Westen nachahmte, bezogen sich nicht nur auf die Industrie oder die Kultur. Ein westlicher Staat werden schloss den Imperialismus ein.«
Selbst Fukuzawa, ein gemessen an den Maßstäben seiner Zeit höchst liberaler Mann, zweifelte nie an der Mission seines Landes, anderen Teilen Asiens das Licht zu bringen. Im Jahr 1895 schrieb er anlässlich Japans Sieg über China: »Meine Freude kennt keine Grenzen, mir fehlen die Worte, ich bin den Tränen nah, wenn ich an all jene denke, die zu früh gestorben sind, um das noch mitzuerleben.«59 Einige Jahre zuvor war ein anonymer Zeitungsartikel erschienen, der später Fukuzawa zugeschrieben wurde. Unter dem Titel »Abschied von Asien« schrieb er, China und Korea, die es nicht verstanden hatten, dem Vorbild der modernisierenden Meiji-Reformer nachzueifern, seien zu rückständig, um Japan auf dem Weg der »Zivilisierung« zu folgen. Japan solle daher »die Reihen der asiatischen Nationen verlassen und sich auf die Seite der zivilisierten Staaten des Abendlandes stellen«. Von da war es kein großer Sprung zu dem Vorschlag, Japan solle sich dem großen »zivilisierenden« Projekt der europäischen Großmächte anschließen und seinerseits Kolonien erwerben. »Für Fukuzawa drehte sich die Zukunft Ostasiens um einen chinesisch-japanischen Konflikt«, sagte mir Masamichi Komuro, als ich ihn in seinem Büro in der Keio-Universität besuchte. »Darum ging es letztlich: Würde Ostasien ein konfuzianischer oder ein moderner Staatenblock werden?«
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, gerade 30 Jahre nach der Meiji-Restauration, hatten sich Japans Beziehungen mit der Außenwelt grundlegend gewandelt. Aus einem abgelegenen Archipel am Rande Asiens war ein Staat geworden, der eine vorherrschende Stellung in dieser Weltregion erworben hatte und der, wenigstens formal, zu den Großmächten zählte. Seine Expansionspolitik begann in den 1880er-Jahren, als es Korea ähnlich unfaire Verträge aufnötigte, wie es einst die USA mit Japan gemacht hatten. Im Jahr 1894, wenige Wochen vor Ausbruch des Chinesisch-Japanischen Krieges, erreichte Japan sein lang ersehntes diplomatisches Ziel, die Revision der ungleichen Verträge, die es ein Vierteljahrhundert zuvor mit den USA unterzeichnen musste. Damit endete sein Status einer Quasi-Kolonie. Nach seinem Sieg über China im Jahr 1895 dehnte es seine Herrschaft auf Taiwan aus. China zahlte Japan Reparationen und erlaubte japanischen Schiffen, den Jangtsekiang hinaufzufahren. Im Jahr 1902 schließlich wurde das britisch-japanische Bündnis unterzeichnet, mit dem – zumindest auf dem Papier – erreicht schien, was Fukuzawa erträumt hatte, nämlich dass Japan als Großmacht im Fernen Osten mit Großbritannien im Westen auf gleicher Höhe steht. 1905 verblüffte Japan die Welt durch seinen Sieg über Russland und setzte sich, nichts Gutes verheißend, in der Mandschurei fest. 1910 annektierte es offiziell Korea. Aus dem potenziellen Opfer war ein Raubtier geworden. Was damals von einer »zivilisierten« Großmacht erwartet wurde, fasste Kakuzo Okakura, der Autor von The Book of Tea, knapp zusammen. »Der durchschnittliche Abendländer war es gewohnt, Japan als barbarisch anzusehen, solange es friedvoll vor sich hin lebte«, schrieb er. »Er nennt es zivilisiert, seit es auf den Schlachtfeldern der Mandschurei Massaker anrichtet.«60
Neben dem Auftreten draußen in der Welt wurden auch daheim systematische und oft grimmige Anstrengungen unternommen, ausländische Sitten in Japan einzuführen. In den feinen Kreisen wurde es üblich, Bälle zu besuchen, Gesellschaftskleidung und Zylinder zu tragen, aber die Vergnügungsviertel zu meiden. Ferner wurde der Verzehr von Rindfleisch Mode, Fukuzawa sagte, dies stärke den Körper. Das Kabuki-Theater, eine freizügige Variante der Bühnenunterhaltung, die ursprünglich in Kioto auf Darbietungen von Prostituierten am Flussufer zurückgeht, bekam nun eine gesetzte, klassische Form. Danjuro Ichikawa IX., dessen Nachfahren noch heute auf der Bühne stehen, wertete die Tradition des Kabuki-Theaters ab und behauptete, es habe sich von Schmutz ernährt. Statt sich im Kimono oder als Dämon verkleidet auf der Bühne zu produzieren, trat er nun mit weißer Fliege und Frack vor das Publikum.61 Die tonangebende Gesellschaft drang darauf, dem einfachen Volk westliche Begriffe von Sitte und Anstand zu oktroyieren, zum Beispiel Nacktheit in der Öffentlichkeit und gemischtgeschlechtliches Baden zu verbieten. In einer dieser Anweisungen hieß es, zwar »sei ein solches Verhalten unter Japanern üblich und errege keinen Anstoß, aber im Ausland werde verächtlich darauf herabgesehen. Man sollte es daher als eine Schande ansehen.«62
Allen Anstrengungen zum Trotz, ob auf dem Schlachtfeld, auf dem Parkett oder im Badehaus, erlangte Japan doch nicht die ersehnte Anerkennung. Auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919 bestand Tokio vergeblich darauf, das Prinzip der Gleichheit aller Rassen in die Gründungsakte des Völkerbundes aufzunehmen. Die Westmächte weigerten sich und gaben Anlass zur Verbitterung bei den Japanern. Diese deuteten die Weigerung – vielleicht zu Recht – dahin gehend, dass ein »gelbhäutiges« Volk niemals von rassistischen Abendländern als ebenbürtig angesehen werde.
Das Gefühl, dass Japan aus dem Klub des weißen Mannes stets ausgeschlossen sein würde, ist ein wichtiger psychologischer Faktor für sein Abgleiten in zügellosen Militarismus. Die Japaner sahen Woodrow Wilsons Eintreten für die Souveränität der Völker als heuchlerisch an. Nachdem die Westmächte sich ihre Kolonien unter den Nagel gerissen und ihre Herrschaft über die weltweit größten Rohstoffvorkommen gefestigt hatten, zielten sie nun darauf ab, Spätlinge wie Japan auszuschließen. Ein populäres Lied aus den 1880er-Jahren drückte sehr gut aus, was Japan von der trügerischen Zivilisiertheit der neuen Weltordnung hielt: »Ein Gesetz der Völker mag es ja geben, doch wenn der Tag der Entscheidung kommt, frisst der Starke den Schwachen.«63
Mit seinen Siegen über China und Russland und der Annexion Koreas begab sich Japan auf einen fatalen Weg. Aus den anfänglichen militärischen Triumphen schöpften die Japaner ein maßloses Selbstvertrauen und eine Schicksalsgläubigkeit, die zu brutalen Feldzügen in der ganzen Region führten. Bis der Krieg schließlich zu Ende war, starben Millionen Chinesen (nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden neun Millionen im Krieg getötet, wobei die Opfer von Hunger und Seuchen nicht mitgerechnet sind), und weitere Millionen anderer Asiaten kamen als direkte oder indirekte Folge des Krieges ebenfalls um. Zehntausende Zwangsarbeiter aus Indonesien, Korea, Malaysia, China und anderswo gingen in den Bergwerken oder auf den Gewaltmärschen beim Bau der Eisenbahnlinien zugrunde. Nach dem Krieg berechneten die Franzosen ihre Reparationsforderungen auf der Grundlage, dass während der japanischen Herrschaft in Indochina 5,5 Prozent der europäischen Bevölkerung und 2,5 Prozent der Einheimischen umgekommen waren. Auf dem pazifischen Kriegsschauplatz verloren die amerikanischen Truppen 101000 Mann, hinzu kamen 291500 Verletzte. Auch die Japaner blieben nicht verschont. Die Armee verlor 1,75 Millionen Soldaten, hinzu kamen 400000 Zivilisten, einschließlich der Opfer der Bombenangriffe auf Tokio und der beiden Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Die mehr als 2,1 Millionen Kriegstoten stellen drei Prozent der japanischen Bevölkerung dar.64
Als sich aber Japan nach seinem beispiellosen Sieg über Russland im Jahr 1905 weiterhin zum Krieg rüstete, feierten manche Asiaten die japanischen Ambitionen als einen Paukenschlag für die Befreiung Asiens und als Beweis, dass Nicht-Weiße den Europäern durchaus ebenbürtig sein konnten. So sagte Sun Yat-sen, der nationalistische chinesische Führer: »Wir betrachteten die russische Niederlage durch Japan als Niederlage des Westens durch den Osten.«65 Jawaharlal Nehru, der erste Premierminister des unabhängigen Indien, schrieb in seiner Autobiografie: »Japanische Siege begeisterten mich ... nationalistische Ideen schwirrten mir im Kopf. Ich träumte von der Freiheit Indiens und der Befreiung Asiens von europäischer Knechtschaft.«66 John Frederick Charles Fuller, ein britischer Armeeoffizier und Militärhistoriker, hatte keinen Zweifel an der Bedeutung von Japans Sieg. »Es war vor allem eine Herausforderung an die Vorherrschaft der westlichen Mächte in Asien«, schrieb er. »Der Fall von Port Arthur im Jahr 1905 muss wie der Fall von Konstantinopel im Jahr 1453 zu den wirklich großen geschichtlichen Ereignissen gerechnet werden.«67
Diese anfängliche Reaktion verlieh der japanischen Propaganda einen Anschein von Wahrheit, der zufolge der Einmarsch japanischer Truppen in Nachbarstaaten die Befreiung und nicht die Unterwerfung dieser Staaten zum Ziel hätte. Das erwies sich jedoch als Lüge. Der Anspruch wurde rasch vom offenen Rassismus widerlegt, den die Japaner gegenüber anderen Asiaten zeigten. Die Ideologie des Kaiserreiches, die an Japan als das »Land der Götter« glaubte, hatte den Japanern eingetrichtert, dass andere Asiaten ihnen unterlegen, wenn nicht gar Untermenschen seien. Beleg hierfür ist das Treiben der japanischen Armee im Marionettenstaat Mandschukuo. In der dort stationierten Einheit 731 wurden an chinesischen und koreanischen Gefangenen Vivisektionen sowie Experimente mit biologischen und chemischen Waffen vorgenommen. Die Japaner bezeichneten ihre Opfer als »Holzklötze«, nicht als Menschen. In ganz Asien merkten die Völker, die von der Kaiserlichen Japanischen Armee »befreit« worden waren, ziemlich rasch, dass ihre neuen Herren schlimmer waren als die alten. General Aung San, der Vater der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, half den Japanern, in Burma einzumarschieren, wurde aber dann gewahr, wie repressiv die japanischen »Befreier« auftraten. »Ich ging nach Japan, um mein Volk, das die Briten wie Zugvieh behandelten, zu retten«, sagte er 1942. »Nun aber werden wir wie Hunde behandelt.«68
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Innenpolitisch war es ein Fehler, die Institutionen zu stärken, die in der Meiji-Restauration geschaffen worden waren, denn mit ihnen geriet Japan in den Bann eines quasi-faschistischen Kaiserkultes. Fukuzawa hatte befürchtet, sein Land würde eine Philosophie, die auf ein selbständig denkendes Individuum setzt, nicht akzeptieren. Er hielt den mündigen Bürger für den modernen Staat für unabdingbar. »Kritisches Denken hielt er für wesentlich, und dazu gelangt man nur, wenn hierarchische Strukturen infrage gestellt werden«, sagte Komuro von der Keio-Universität. »Nur wenn das Individuum über Autonomie verfügt, kann auch die Nation ihre Geschicke selbst bestimmen.«
Doch Fukuzawas Hoffnungen erfüllten sich nicht, stattdessen wurde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts der Individualismus nach und nach erstickt, während das hierarchische Denken immer mächtiger auftrat. In Japan war die Feudalordnung nicht, wie in einigen europäischen Staaten, durch eine Revolution von unten hinweggefegt, sondern durch eine zur Modernisierung entschlossene Samurai-Clique von oben abgeschafft worden. Nun gab es zwar ein Parlament, ein eingeschränktes Wahlrecht, politische Parteien und einen Premierminister, aber ein Volkssouverän, das wesentliche Merkmal einer modernen Demokratie, fehlte. Das machte es einer konservativen Elite leicht, Menschen für ein nationales Projekt zu gewinnen, nämlich rasche Industrialisierung und Kolonialismus, beides unter dem Banner eines übersteigerten Kaiserkultes.
Mit dem Tod des Meiji-Kaisers im Jahr 1912 ging die Meiji-Zeit offiziell zu Ende. Für einen Kaiser, dessen Regierungszeit mit tief greifenden Modernisierungen verbunden war, genoss er eine Ergebenheit, die an die feudalen Zeiten erinnerte. Am 13. September 1912, dem Tag der Begräbniszeremonie des Kaisers, entledigte sich General Maresuke Nogi, der Held des Russisch-Japanischen Krieges, seines Gewands bis auf die Unterwäsche, während seine Ehefrau einen schwarzen Kimono anlegte. Nach einer Verbeugung vor dem Bild des Kaisers erdolchte der General erst seine Frau, dann beging er den rituellen Selbstmord, indem er sich mit dem Kurzschwert den Bauch aufschlitzte.69 So handelte traditionellerweise ein Samurai, aber nicht ein General, der für Modernisierung und Offenheit für westliches Wissen stand.
Der Kaiser, der Meiji auf dem Thron folgte, gab seinen Namen der Taisho-Zeit (1912–1926), in der die politischen Debatten im Land an Lebhaftigkeit zunahmen und in der eine stärker auf Bürgerbeteiligung orientierte Demokratie möglich schien. Der Kaiser selbst litt an Anfällen von Wahn, seine Regierung endete abrupt und hinterließ eine funktionierende Zivilgesellschaft. Das politische System hatte sich rascher entwickelt, als die Führer der Restauration beabsichtigt hatten. Die politischen Parteien gewannen an Einfluss. Die neue Arbeiterbewegung, eine Folge der raschen Industrialisierung, forderte mehr Rechte und Mitsprache. Immer häufiger kam es zu gewaltsamen Protesten auf der Straße. Höhepunkt war 1918 die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht für Männer. Im selben Jahr kam es zu Bauernaufständen im ganzen Land. Truppen wurden entsandt, um die Ordnung wiederherzustellen. Der Protest der Bauern war zum Teil eine Folge der wachsenden Bildung in allen Bevölkerungsschichten. Masato Miyachi, ein Historiker an der Universität Tokio, nannte es die »Ära der Volksunruhen«.70 Teile der Arbeiterbewegung liebäugelten sogar mit dem Marxismus, der in Europa für Unruhe sorgte. Die Verfassung gab eindeutige Vorgaben, wer die Macht im Staat besitzen sollte. Der Kaiser war zwar der Souverän, doch hatten die Verfassungsväter die Idee der alleinigen Ausübung der Exekutive durch den Kaiser verworfen.71 Eine Zeit lang hing die demokratische Zukunft Japans in der Schwebe.
Die »Taisho-Demokratie« erwies sich als Schimäre. Mit dem Erdbeben des Jahres 1923, das weite Teile Tokios in Trümmer legte und mehr als 130000 Todesopfer forderte, kam es auch zu einer politischen Wende. Die Polizei nutzte das allgemeine Chaos nach der Naturkatastrophe und verhaftete Linke und Anarchisten in großer Zahl. Zwar wurde 1925 das allgemeine Wahlrecht für Männer eingeführt, aber bei anderen bürgerlichen Freiheiten fuhr man einen repressiven Kurs. Politische Gruppen mit radikalen Forderungen wurden verboten. Das Gesetz zur Erhaltung des öffentlichen Friedens machte Kritik am Kaiser oder an den Eigentumsverhältnissen zu einem Vergehen, das mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden konnte.72 Als gegen Ende des Jahrzehnts die Wirtschaft in eine Rezession geriet, war das Terrain für einen weiteren Rechtsruck bereitet. Nach den allgemeinen Wahlen im Jahr 1928, an denen sich auch Parteien der Arbeiter beteiligt hatten, kam es erneut zu Massenverhaftungen linker Aktivisten.73 Am Ende verwarfen die herrschenden Kreise die Idee der politischen Willensbildung in Bausch und Bogen, da man sie als unvereinbar mit Japans wichtigstem nationalem Interesse hielt, nämlich mit der Ankurbelung einer Kriegsökonomie. »Für eine reiche, fortentwickelte Nation kann ein Zweiparteiensystem ein geeignetes Mittel sein, gute Politik zu machen«, schrieb 1931 Kazushige Ugaki, ein moderater Vertreter des Militärs, und setzte ein Argument hinzu, das autoritäre Staatslenker auch heute noch gern gebrauchen: »Aber ein Land, das sich erst spät entwickelt hat und nicht mit Bodenschätzen gesegnet ist, muss die Wohlfahrt seines Volkes nicht nur daheim, sondern auch außerhalb seiner Grenzen suchen. Das aber erfordert eine Politik der nationalen Einheit, und dazu ist ein Zweiparteiensystem nicht geeignet.«74
Die Geschicke Japans gerieten endgültig in die Hände der Militärs, als der liberale Premierminister Tsuyoshi Inukai am 15. Mai 1932 einem Attentat zum Opfer fiel. Inukai, der die Armee in seine politischen Schranken verweisen wollte, wurde von Fanatikern umgebracht, die behaupteten, den Kaiser in die ihm zukommende Stellung »wieder einzusetzen«. Nach Inukais Ermordung wurde das Amt des Premierministers nicht mehr mit Politikern aus den Parteien, sondern mit Militärs oder deren Sympathisanten besetzt. Dem Militarismus und der offenen Kriegsvorbereitung stand nun nichts mehr im Weg. Wer bei politischen Versammlungen das Militär kritisierte, wurde zum Schweigen gebracht. Allerdings führten radikale Parteien ihren Kampf auch jetzt noch fort. Die Sozialistische Massenpartei kam bei den Wahlen des Jahres 1937 auf fast zehn Prozent der Stimmen, was belegt, dass nicht alle Japaner dem Kaiserkult anhingen. Das änderte aber nichts daran, dass das japanische System mehr und mehr den faschistischen Staaten Deutschland und Italien glich. Betonung der angeblichen Reinheit der Yamoto-Rasse, eine quasi religiöse Verehrung des Kaisers und das starke, auch von manchen Linken geteilte Bestreben, japanische »Werte« anderen Ländern aufzuzwingen. In der Meiji-Zeit war die japanische Führungselite entschlossen, Asien zu verlassen, um gemeinsam mit den europäischen Großmächten an einem Tisch zu sitzen. Als die Einladung zum Abendessen ausblieb, war die Enttäuschung bei den Japanern groß. Viele führende Köpfe setzten nun auf Krieg. »Wir sind die sogenannte ›Gelbe Rasse‹. Wir werden kämpfen, damit die Überlegenheit einer Rasse anerkannt wird, die bisher nur Diskriminierung erfahren hat«, schreibt Sei Ito (1905–1969) in sein Tagebuch. »Unser Schicksal besteht nun einmal darin, dass wir uns nicht als führende Nation in der Welt darstellen können, solange wir nicht mit den Weißen gekämpft haben.«75
Ein Waffengang schien unvermeidlich, da Japans Bemühung um Gleichbehandlung keinen Erfolg brachte. Die Zahl der Schiffe, die Japan im Vergleich zu Großbritannien und die USA besitzen durfte, war durch ein internationales Abkommen begrenzt. Im Jahr 1933 missbilligte der Völkerbund Japans Vorgehen in der Mandschurei, woraufhin Japan empört seinen Austritt erklärte. Damit gab es seinen Ehrgeiz auf, als Mitglied in den Klub der Kolonialstaaten aufgenommen zu werden. Ohne Zügelung von außen setzten sich Japans Militärs unbehindert durch. Ab 1937 marschierten japanische Truppen von der Mandschurei kommend in China ein und drangen 1940 bis nach Nordindochina vor. Als Japan seinen Vormarsch ungebremst fortsetzte, antwortete Washington mit einem internationalen Ölembargo. In die Zange genommen, ging die japanische Führung im Dezember 1941 zu einem, wie sie behauptete, »Präventivschlag« auf Pearl Harbor über. Im Februar des folgenden Jahres eroberten die Japaner die Malaiische Halbinsel und Singapur und binnen Wochen Holländisch-Indien, das heutige Indonesien. Kurz darauf besetzten sie auch große Teile der Philippinen und Burmas.
Der Angriff auf Pearl Harbor wurde daheim mit Begeisterung aufgenommen. Viele sahen darin eine Vergeltung für Kommodore Perrys Angriff auf Japan in längst vergangenen Zeiten. Ein Dichter, Kotaro Takamura (1883–1956) sah in dem kühnen Handstreich gegen die Amerikaner Rache für Jahre der Demütigung und einen Beweis für die japanische Überlegenheit.
Nippon, Land der Götter
ein lebender Gott ist dein Herrscher76
Doch nun, da Amerika zum Kriegseintritt gezwungen wurde, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich das militärische Blatt wendete. Ein halbes Jahr nach Pearl Harbor verlor die japanische Marine die entscheidende Schlacht bei Midway, in der ihre Flotte dezimiert wurde und das neue Herrschaftsgebiet im Pazifik für Angriffe offen dalag. Die Amerikaner verfolgten ihre Strategie des Inselspringens und kamen auf diese Weise Japan immer näher. Mit der Eroberung Saipans im Juli 1944 geriet die japanische Hauptinsel in die Reichweite der amerikanischen Bomber. Nun begannen die großen Luftangriffe auf japanische Städte.
Leider war die japanische Militärführung nicht in der Lage, dem Unvermeidlichen ins Auge zu sehen. Die Marine wäre vielleicht bereit gewesen, über ein Ende des Krieges zu verhandeln, aber die bedingungslose Kapitulation, wie die Alliierten es verlangten, schien unannehmbar. Schreckliche Schlachten folgten, nicht zuletzt die Schlacht um Okinawa, die unter dem Namen »Taifun aus Stahl« in die Geschichte einging. In ihrem Verlauf flogen Kamikaze-Piloten circa 1500 Einsätze gegen amerikanische Kriegsschiffe, viele Inselbewohner, allesamt Zivilisten, begingen, freilich oft auf Drängen japanischer Truppen, massenhaft Selbstmord. Es war eine der grausamsten Schlachten des Zweiten Weltkrieges. Dann kamen am 6. und 9. August 1945 die beiden Atombombenabwürfe und schließlich die bedingungslose Kapitulation, gegen die sich die uneinsichtige japanische Armeeführung so lange gestemmt hatte.
Japan lag nun in Trümmern. Für die nächsten sieben Jahre wurde es zum Bittsteller Amerikas und der Besatzungsmacht unter General Douglas MacArthur, dem Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte. Japan hatte Asien verlassen, doch um den Preis, zum Untergebenen einer anderen Macht, der USA, zu werden.