Zwei Monate bevor sich Japan den Alliierten ergab, sicherte sich Shijuro Ogata, der damals 17-jährige Sohn eines bekannten Zeitungsredakteurs, eine Eintrittskarte für ein Konzert der japanischen Philharmoniker. Es sollte Beethovens Neunte gespielt werden, und zwar in der Hibiya-Halle, einem Backsteinbau, der im Zuge der Modernisierungsbestrebungen nach dem Großen Kanto-Erdbeben von 1923 in der Hauptstadt errichtet worden war. Ogata erinnert sich, dass er an dem Konzertwochenende eine Straßenbahn von Shibuya nach Shimbashi nahm und eine Strecke von etwa fünf Kilometern fuhr. An dem Wegstück liegen heute dicht gedrängt die teuersten Viertel der Stadt, mit Neonreklamen, Hochhäusern, Bürotürmen, Parks, Wohnhäusern, Kaufhäusern, Boutiquen, Bowlingbahnen, Arkaden, Kinos, Theatern, Klubs, Museen und Tausenden von Cafés, Restaurants und Bars. Damals bot sich ein erschütterndes Bild. Ab Anfang 1945 hatten die USA Dutzende B-29-Langstreckenbomber geschickt, die im Tiefflug Brandbomben über der größtenteils aus Holz gebauten japanischen Hauptstadt abwerfen sollten. In der Nacht vom 9. auf den 10. März dröhnten etwa 300 Bomber über die Stadt, zerstörten über eine Fläche von 25 Quadratkilometern sämtliche Gebäude und entfesselten wütende Feuer. Allein in dieser Nacht starben etwa 100000 Zivilsten; eine Million Häuser ging in Flammen auf. Man spricht vom verheerendsten Bombenangriff der Menschheitsgeschichte, der offenbar noch tödlicher war als die Atombomben. Das Haus der Ogatas in dem damals aufstrebenden Stadtteil Shinjuku überstand den Angriff, konnte dann aber einem weiteren Angriff Ende März nicht standhalten. »Tokio war komplett verwüstet«, erinnert sich Ogata an seine Fahrt durch die verkohlte Wüste zur Hibiya-Konzerthalle. »Es war alles flach, ganz flach.«1
Ogata, inzwischen Mitte 80 und in Rente, nachdem er die meiste Zeit seines Berufslebens in der Bank of Japan verbracht hat, ist ein Mann mit freundlichem Gesicht und wachem Verstand. Er brachte mich auch auf das Sprichwort »Widrigkeiten umkehren« beziehungsweise »aus der Not eine Tugend machen« und glaubt fest daran, dass Japan sich wieder erholen wird, und das sowohl von den Verwüstungen des Tsunamis als auch von der gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Misere. In der Gefasstheit, mit der die Menschen auf das Unglück reagierten, erkennt er den Geist aus der Zeit nach 1945: Dieser befähigte die Japaner, sich den Widrigkeiten entgegenzustellen und aus den Zerstörungen des Krieges etwas Positives zu schaffen. Ogata mag den streitbaren politischen Diskurs und stellt gerne Meinungen in den Raum, die andere (und besonders die am rechten politischen Spektrum) etwas gewagt finden. Er verbringt viel Zeit im japanischen Presseklub und dem Klub der ausländischen Korrespondenten in Japan, wo er sich Vorträge und Pressekonferenzen anhört und sich über die Themen des Tages austauscht. Er verfügt über ein großes Repertoire kleiner Weisheiten, die er selten ohne ein Augenzwinkern anbringt. »Japan ist ein Land mit guten Soldaten und schlechten Kommandanten«, gehört zu seinen Lieblingssprüchen. Diese Erkenntnis lasse sich aus den Kriegserlebnissen Japans ziehen, doch sie ist, wie Ogata findet, auch auf das moderne Japan anwendbar, besonders in der aktuellen Phase der Unsicherheit. Seiner Ansicht nach drückt der Ausspruch den Fleiß und den Anstand des gemeinen Volkes aus. Diese Eigenschaften traten während der Nachwehen des Tsunamis erneut deutlich hervor – aber genauso auch die Enttäuschung gegenüber den nationalen Politikern. Obwohl Ogata an der Bank of Japan eine leitende Position innehatte, stellt er sich gern mit einem bescheidenen »Ich bin Sadakos Mann« vor, und deutet damit auf den größeren Ruhm seiner Frau hin, die als Flüchtlingsbeauftragte für die Vereinten Nationen tätig war und zu den bekanntesten Einwohnern Japans gehört.2
Ogatas Großvater und Urgroßvater väterlicherseits, beide lange vor der Meiji-Restauration geboren, waren beide Schüler des Rangaku, der »Hollandkunde«. Sein Vater Taketora war Chefredakteur der liberalen Asahi und trat Ende der 1920er-Jahre für eine stärkere Demokratisierung ein. Ogata erinnert sich, dass er trotz seiner liberalen Erziehung den Fall Nankings als Grundschüler feierte. Während Vergewaltigungen und Massaker an Zivilisten begannen, zeigen Archivfotografien reihenweise unschuldig dreinblickende japanische Schulkinder wie Ogata, die vor dem Kaiserpalast mit japanischen Militärflaggen, den »Flaggen der aufgehenden Sonne« wedeln. Vier Jahre später schockiert der Überraschungsangriff auf Pearl Harbor den jugendlichen Ogata, doch er gibt auch zu, dass die Nachrichten von den fernen Kämpfen einen spannenden Reiz hatten. »Die anfänglichen Siege beeindruckten viele – auch die, die anfangs gegen den Krieg eingestellt waren«, schreibt er in seinen Memoiren.3
Durch die Verbindungen seines Vaters zur Zeitungsbranche war Ogata besser über die Ereignisse informiert als die meisten Japaner. Für sie waren die zensierten, imperiale Propaganda verbreitenden Nachrichtenkanäle die einzige Informationsquelle. Er ahnte früher als die meisten, dass Japan den Krieg verlieren würde. Am 9. August, weniger als zwei Monate nachdem er bei dem Beethoven-Konzert gewesen war, erfuhr er von Marineoffizieren, dass Hiroshima von einer furchtbaren neuen Waffe zerstört worden war und die Sowjetunion den Nichtangriffspakt mit Japan gebrochen hatte. Obwohl Ogata noch nicht wusste, dass eine zweite Atombombe auf Nagasaki abgeworfen worden war, erkannte er, dass der Krieg nun bald zu Ende sein würde. In sein Tagebuch trägt er sechs Tage vor Japans bedingungsloser Kapitulation am 15. August ein: »Ein tragischer Tag in der Geschichte steht bevor.« Die psychologische Zerrüttung ist kaum vorstellbar. Japans Träume – wenn man das Hirngespinst der asiatischen Vorherrschaft so nennen kann – waren vorbei. Der ehemals so ferne, göttliche und unfehlbare Kaiser verkündete im Radio die Niederlage. Dörfler und Stadtbewohner versammelten sich vor knisternden Radios, die Köpfe fassungslos gesenkt. Niemand hatte vorher schon einmal die Stimme des Kaisers gehört – geschweige denn, wie sie solch undenkbare Worte aussprach. Shintaro Ishihara, der später Gouverneur der Präfektur Tokio werden sollte, war damals zwölf Jahre alt. »Ich fand, seine Stimme klang sehr hoch und weiblich«, erzählte er mir. »Wie der Schrei einer Katze.«4
Japan lag in Schutt und Asche. Seine Ideologie, seine Häuser waren nur noch Trümmer. Luftaufnahmen von Tokio, Osaka, Nagoya, Hiroshima und Nagasaki aus den Tagen nach der Kapitulation erinnern seltsam an den Anblick der Städte entlang der Nordostküste nach dem Tsunami im Jahre 2011. Man erkennt das Straßennetz, aber die Gebäude sind verschwunden. Nur hier und da ragen einzelne Fabrikschornsteine oder Steinhäuser aus dem Schutt. Japans Niederlage war total. Vier Fünftel seiner Flotte, ein Drittel seiner Industrieanlagen und beinahe ein Viertel seiner Schienenfahrzeuge, Autos und Lkw waren zerstört.5 Archivmaterial aus der Zeit kurz nach der Kapitulation zeigt Kinder in Lumpen und Holzpantinen, die in den Trümmern nach Verwertbarem suchen.
Mein Schwiegervater Gene Aaroe, 1945 Mitglied der amerikanischen Küstenwacht, erinnert sich, wie er kurz nach der Niederlage im nördlich gelegenen Hafen von Aomori anlegte. Er rechnete damals halb damit, in Kämpfe verwickelt zu werden. Schließlich hatte er miterlebt, wie die Flugzeuge der Kamikaze-Piloten flammend explodierten, als sie in der Schlacht von Okinawa versuchten, die um ihn liegenden Schiffe zu versenken. Wie viele Amerikaner hatte er Geschichten über fanatische kaisertreue Krieger gehört, die sich niemals ergeben und bis zum letzten Mann, ja bis zur letzten Frau und zum letzten Kind kämpfen würden.6 Stattdessen traf er auf ein demütiges und tief erschüttertes Volk. Die Menschen in Aomori hatten am Straßenrand Töpfe, Pfannen, Kimonos und andere Besitztümer aufgereiht, die sie den einrückenden Amerikanern zum Kauf anboten. Mein Schwiegervater kaufte ein für den rituellen Selbstmord gedachtes Harakiri-Messer, das er immer noch in einem Schrank in Seattle aufbewahrt. Die paar Dollar, die er für das Messer zahlte, wurden sicher gegen bitter benötigte Lebensmittel eingetauscht.
Zwei Wochen nach der Botschaft des Kaisers landete General Douglas MacArthur, Oberkommandierender der Allliierten Mächte in Japan, auf dem Flugplatz Atsugi bei Tokio. In seinem kakifarbenen Kampfanzug machte er eine beeindruckende Figur. Seine offenbare Unaufgeregtheit in der Rolle des zukünftigen Machthabers wurde noch unterstrichen durch eine große Maiskolbenpfeife, die ihm zwischen den Zähnen klemmte. Ein anschließend aufgenommenes Foto mit dem Kaiser zeigt einen entspannten Amerikaner, der den schmalen und nervösen japanischen Mann überragt. Nicht lange danach musste der Kaiser selbst das »Unerträgliche ertragen«: Er verkündete seinem Volk, dass Erzählungen über seine Göttlichkeit unangebracht seien.
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Zum ersten Mal in der Geschichte sollte Japan von einer fremden Macht okkupiert werden. Die Amerikaner blieben knapp sieben Jahre. Es sollte eine der außergewöhnlichsten Begegnungen des 20. Jahrhunderts werden, eine »sinnliche Umarmung von Sieger und Besiegtem«, wie es John Dower ausdrückt. MacArthur war konservativ, aber viele Mitglieder seines Stabs waren Anhänger des New Deal Roosevelts: Idealisten, die aus dem Scherbenhaufen, der nach Japans fehlgeschlagener Modernisierung übrig geblieben war, eine friedliche und demokratische Gesellschaft errichten wollten. Indem sie sich die vorhandenen bürokratischen Strukturen zunutze machten, setzten sie weitreichende Maßnahmen in Kraft, darunter eine Land- und Arbeitsreform, die Auflösung von Oligopolen, die Gleichberechtigung von Frauen, eine Amnestie für politische Gefangene aus dem linken Spektrum und die Ausarbeitung einer neuen pazifistischen Verfassung. Gleichzeitig wurden Regierung und Armee von militaristischen Kräften bereinigt, wobei MacArthur die umstrittene Entscheidung traf, den Kaiser vor einer Strafverfolgung zu schützen und ihn als Symbol der nationalen Einheit zu bewahren.
Unter den vielen Tausend, die unter anfänglichen Verdacht fielen, war auch Ogatas Vater Taketora. Trotz seines liberalen Hintergrunds hatte er ignoriert, wie die Asahi eine regierungstreue Linie eingeschlagen hatte. Zudem war er 1944 in das Kabinett berufen worden, um dem Informationsministerium vorzustehen. Nach dem Krieg wurde er kurzzeitig als Kriegsverbrecher behandelt und stand unter Hausarrest. Im März 1946 wurde er von den Anklägern vor das Tokioter Kriegsgericht bestellt, um über die politische Situation vor dem Krieg auszusagen. Nach dem Prozess wurden sieben Männer, darunter der ehemalige Premierminister Hideki Tojo, zum Tode verurteilt. 16 weitere erhielten lebenslange Haftstrafen. Abgesehen von diesem Schauprozess, den man als Asiens Äquivalent der Nürnberger Prozesse sehen kann, wurden Hunderte rangniedere Beamte für ihre Gräueltaten verurteilt und hingerichtet. Ogatas Vater durfte sich nicht mehr politisch engagieren, ihm wurden aber keine Kriegsverbrechen zur Last gelegt. Dennoch erinnert sich Ogata an ein Schreinfest, bei dem ein Betrunkener wiederholt an die Holzwand ihres Hauses hämmerte und schrie: »Taketora Ogata, Sie sind ein Kriegsverbrecher.« Es war ein unglücklicher Abend, erinnert sich Ogata.
Damals versuchten Millionen Japaner zu begreifen, wie ihre Gesellschaft sich auf einen so bösen Irrweg begeben konnte. In den Jahren unmittelbar nach dem Krieg erhielten sozialistische und kommunistische Parteien enormen Zulauf – derart, dass die amerikanischen Besatzer schon bestrebt waren, gegen die Kräfte vorzugehen, die sie doch selbst losgelassen hatten. Mit dem sogenannten »Reverse Course«, begann man ab 1948, als der Kalte Krieg immer festere Formen annahm, ein schärferes Vorgehen gegen Arbeiterorganisationen und führende linke Politiker. Schon 1947 war MacArthur persönlich eingeschritten, um einen angekündigten landesweiten Streik zu verhindern. Eleanor Hadley, die damit beauftragt worden war, die mächtigen Zaibatsu-Firmenkonglomerate zu zerschlagen, empfand dies als Heuchelei. »Es hieß, sie sollten sich organisieren und es gäbe ein Streikrecht«, sagt sie. »Aber als sie dann Macht erlangten, stoppte man sie.«7 Bis 1949 war die Red Purge oder »rote Säuberung«, die mit Entlassungen von »Unruhestiftern« aus Gewerkschaften, den Medien oder dem privaten Sektor einherging, so weitverbreitet, dass der Ausdruck als Reddo Pa-jii in die japanische Sprache aufgenommen wurde.
Der intellektuelle Aufruhr war so groß, dass alles infrage gestellt wurde. Ogata erinnert sich an eine Konferenz an seiner Universität, in der diskutiert wurde, ob man nicht die chinesischen Buchstaben aufgeben und das geschriebene Japanisch romanisieren solle. Laut einer Theorie stehe Japan zurück, weil die Kinder so lange bräuchten, Tausende komplexer Zeichen zu lernen, und deshalb weniger Zeit bliebe, sich mit modernen Naturwissenschaften zu beschäftigen. Selbst nach der Niederlage und Kränkung bei Kriegsende lebte der Drang weiter, dem asiatischen Erbe zu entkommen und in die Reihe der »zivilisierten« westlichen Nationen aufgenommen zu werden.
Die Mittel, mit denen dieses Ziel erreicht werden sollte, hatten sich jedoch grundlegend geändert. Japan war besetzt, und ab November 1946 hatte es eine Verfassung, die ihm das Recht absprach, Krieg zu führen oder eine ständige Armee, Marine oder Luftwaffe zu unterhalten. Der kolonialistische Weg zu internationaler Anerkennung war versperrt. Es blieb der wirtschaftliche. Ogata erzählt, dass er selbst dann, inmitten der Zerstörung des Krieges, nicht verzweifelte. »Wir waren eigentlich ziemlich optimistisch«, erinnert er sich gut gelaunt, als er dies mehr als 65 Jahre nach seiner Straßenbahnfahrt durch das zerstörte Tokio äußert. »Schließlich konnte es nicht weiter nach unten gehen. Der einzige Weg, wie man überleben konnte, führte nach oben.«
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Inzwischen wird Japan allgemein mit wirtschaftlichem Aufschwung identifiziert. Die erstaunlichen Errungenschaften zwischen 1950 und 1973, als die Wirtschaft durchschnittlich um rasante zehn Prozent pro Jahr wuchs, werden heute weniger beachtet als die neueren wirtschaftlichen Misserfolge. Die beiden vergangenen »verlorenen Jahrzehnte« – die nach Ansicht einiger gar nicht so verloren sind, wie es scheint – haben viele Kritiker überzeugt, dass die angeblichen wirtschaftlichen Stärken des Landes eine Schimäre waren und wir nun das wahre, eingeschränkte Japan vor uns haben. Das Land, von dem in den 1980er-Jahren viele erwarteten, dass es die USA als weltweit mächtigste Wirtschaftsnation ablösen würde, ist scheinbar böse auf die Nase gefallen. Im Ergebnis werden die einst angeblich wesentlichen Faktoren für den wirtschaftlichen Erfolg – Japans besondere Firmenkultur und die gelenkte Industriepolitik – nun manchmal als die Gründe für sein Scheitern in der Wildnis verspottet. »Die Lage Japans ist ein Skandal, ein Ärgernis, ein Vorwurf«, schrieb Paul Krugman, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, in einer Reihe von Veröffentlichungen über Japans krankende wirtschaftliche Lage nach der Spekulationsblase. Als dann die lähmende Krise die USA und Europa traf, änderte Krugman seinen Ton und zitierte Japan als Beispiel dafür, wie man eine wirtschaftliche Notlage durchschifft.8 Selbst nach 20 Jahren Rezession steht Japan immer noch für das weltweit erfolgreichste Modell einer Aufholwirtschaft. Keine andere nicht westliche Nation, außer Stadtstaaten wie Singapur oder Katar, hat den Lebensstandard erreicht, der für Japaner inzwischen selbstverständlich ist.9
Dabei wird leicht vergessen, wie wenig vielversprechend Japans wirtschaftliche Zukunft 1945 aussah. Zudem vergessen wir, dass das Land, das in Asien aufgrund seiner Kriegsaggression verständlicherweise geschmäht wurde, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dennoch für den Großteil der Region eine Inspiration darstellte. Japan wurde vielleicht nicht geliebt, aber es bewies, was schon immer selbstverständlich hätte sein sollen: Nicht-Europäer waren genauso befähigt, wirtschaftlichen Aufschwung und technischen Erfolg zu erzielen, wie Europäer. Diese einfache Wahrheit hatte sich anscheinend noch nicht verbreitet, als John Kenneth Galbraith 1958 zu Beginn seines Buchs The Affluent Society reiche Nationen in dem »vergleichbar kleinen Flecken der Erde, der von Europäern bewohnt wird« verortete.10 Japans implizite Botschaft jedoch erwies sich als Ansporn für Technokraten und führende Politiker in Singapur, Taiwan, Südkorea, Malaysia und Hongkong, die alle Japans exportorientiertes Entwicklungsmodell nachahmten. Das Selbstbildnis, das sich Japan erstmals in den 1930er-Jahren erträumte, etablierte sich nun auf wirtschaftlicher statt auf militärischer Ebene. Japan war der Leitwolf, dem die Länder Südostasiens folgten. Japan bewies arroganten Westlern und selbstzweifelnden Asiaten gleichermaßen, dass die Hautfarbe nicht über den Erfolg bestimmt.
Nichts dergleichen war 1945 vorherzusehen, zumindest nicht für Außenstehende. Japans Wirtschaft, seit der Meiji-Zeit im Aufbau, lag am Boden. Die industrielle Misere wurde noch dadurch verstärkt, dass in dem Jahr der Kapitulation die Ernte ausfiel. Ungünstiges Wetter, fehlender Dünger und mangelnde Arbeitskräfte sorgten für einen Nahrungsengpass durch Ernteverknappungen von 40 Prozent. Der japanische Animationsfilm Die letzten Glühwürmchen, der vier Jahrzehnte später entstand, beginnt damit, dass der Protagonist, ein 14-jähriger Junge, im Bahnhof Ueno vor Hunger stirbt – ein Schicksal, das in diesen ersten verzweifelten Nachkriegsmonaten vielen Menschen widerfuhr.11 Hungernde Tokioer kletterten auf Züge, die von Ueno aufs Land fuhren, beladen mit Kimonos und anderen Familienerbstücken, die sie gegen Essen eintauschen wollten. Die Züge waren derart überladen, dass sich die Menschen von außen an die Waggons hängten und die Bahnmitarbeiter Bretter vor die Fenster nagelten, damit die Scheiben nicht kaputtgingen. Kazue Matsumaru, eine Bauersfrau aus einem Dorf bei Tokio, beschrieb die ausgehungerten Massen, die aus den Zügen strömten: »Sie haben alles gekauft. Sogar die Blätter der Kartoffelpflanzen.«12 Es wurde auch viel gestohlen, und viele Lebensmittel wanderten auf den ausufernden Schwarzmarkt. In den Städten schliefen junge Frauen mit amerikanischen GIs und kamen so an Geld oder Nylonstrümpfe oder Konserven. »In den dunklen Ecken bestimmter Innenstadtbereiche tauchten jeden Abend Prostituierte, sogenannte ›panpan girls‹ auf und warteten auf die amerikanischen Soldaten«, erinnert sich Ogata.
Ungeachtet dieser Notlage waren die Amerikaner nicht bestrebt, Japans Wirtschaft in Schwung zu bringen. Es ging ihnen vornehmlich darum, die Industrieanlagen der Kriegszeit zu demontieren.13 Japan war seit den 1880er-Jahren, als die Regierenden der Meiji-Zeit begannen, ihr Land zu modernisieren, eine der am schnellsten wachsenden Ökonomien der Welt. Ab den 1930ern hatte man die Industrie auf den Kriegsbetrieb umgestellt. Die Amerikaner waren entschlossen, dass dies nie wieder geschehen dürfe. Werften, die Kriegsschiffe gefertigt hatten, durften nur noch hölzerne Fischerboote bauen. Die USA hatten ursprünglich vorgehabt, die meisten verbliebenen Fabriken abzubauen und die Maschinen als Reparationsleistung an Japans ehemalige Kriegsgegner zu geben. Diese Pläne wurden jedoch nach und nach zurückgefahren. Das geschah ursprünglich aus Mitgefühl für Japans verzweifelte wirtschaftliche Lage und aus Sorge, es könnte zu Unruhen kommen. Als aber der Kalte Krieg einsetzte, änderte sich Washingtons Blickwinkel. Seine strategischen Bedürfnisse konnte ein am Boden liegendes Japan nicht erfüllen. Man wünschte sich aber ein Bollwerk gegen den Kommunismus. Doch selbst als Amerika darüber nachzudenken begann, wie man Japan wirtschaftlich auf die Beine helfen könnte, dachte man immer an eine »bestenfalls zweitrangige« Wirtschaft. Nur einige Tage vor dem Ausbruch des Korea-Kriegs sagte John Foster Dulles, Sondergesandter von Präsident Harry Truman, Japan solle sich auf den Export von »Cocktailservietten« konzentrieren.14
Die USA mochten das Land als Fabrikanten von Deko-Artikeln sehen, doch Japans Bürokraten hatten andere Vorstellungen. Noch bevor der Krieg geendet hatte, hatten Regierungsbeamte im Geheimen ein Leben nach der Niederlage geplant. Saburo Okita, Wirtschaftsplaner der Nachkriegszeit, verschickte im August 1945 eine Nachricht mit der Bitte um eine Zusammenkunft. »Die Idee war, die Zukunft der japanischen Wirtschaft nach dem Krieg zu besprechen«, erklärte Okita seine heimlichen Pläne. »Doch wenn wir ein Treffen unter diesem Titel arrangiert hätten, wären wir von der Militärpolizei verhaftet worden.« Die Versammlung von Experten fand am 16. August, einen Tag nach Japans Kapitulation, in einem ausgebrannten Gebäude statt. Okita erinnerte sich, wie hoffnungslos die Situation schien. »Wenn man aus den Fenstern schaute, sah es aus wie eine versengte Ebene. Alle hungerten. Aber das Komitee, das über die Zukunft beriet, war wirklich engagiert. Man dachte: »Im Moment sieht es schlimm aus. Aber wenn es sich anstrengt, wird Japan wieder auf die Beine kommen, und das nicht mit militärischen Mitteln, sondern mit einer neuen Technologie und wirtschaftlicher Macht.«15
Die ersten Planer diskutierten verschiedene Modelle zum Wiederaufbau Japans, wobei einige argumentierten, Japan solle sich auf die Landwirtschaft konzentrieren. Der schließlich erarbeitete Konsens bestand darin, dieselben Methoden, die für den totalen Krieg eingesetzt worden waren, nun dafür zu nutzen, eine mächtige Industrie für Friedenszeiten aufzubauen. Seit Anfang der 1930er-Jahre hatte Japan den Übergang von leichter zu schwerer Industrie vollzogen und Kriegsschiffe, Bomben und Chemikalien statt Textilien und Kunsthandwerk gefertigt. Fukoku Kyohei – »reiches Land, starke Armee« – war das Kernstück der Meiji-Restauration gewesen, ein Ziel, das in den Militarismus geführt hatte. Jetzt, da es verboten war, zu kämpfen, konnte es sich ganz allein darauf konzentrieren, eine starke Wirtschaft aufzubauen.
Washington sollte bald bereuen, die pazifistische Klausel in Japans Verfassung aufgenommen zu haben. Doch mit der Yoshida-Doktrin – benannt nach Shigeru Yoshida, der einen Großteil des Nachkriegsjahrzehnts japanischer Premierminister war – machte sich Japan das Fehlen internationaler Verpflichtungen zunutze. Von der Last der Verteidigung befreit und vom US-Militär beschützt, konnte es sämtliche Energien in die wirtschaftliche Entwicklung stecken. Die Schaffung von Wohlstand wurde als Alternative zur Generierung nationalen Ansehens betrachtet. Dabei bestanden offenkundige Ähnlichkeiten zwischen Vorkriegs- und Nachkriegszielen und den Mitteln zu ihrer Verwirklichung. Kiyoshi Tomizuka, Professor für Ingenieurwesen an der Kaiserlichen Universität Tokio, schrieb im April 1945 in sein Tagebuch: »Eine Armee in Uniform ist nicht die einzig mögliche. Die Technologie und ein Kämpfergeist im Geschäftsanzug werden unsere Untergrundarmee sein.«16
Trotz dieser Vorsätze geriet die Wirtschaft 1948 in eine Krise. In den drei Jahren seit Kriegsende waren die Preise insgesamt um 1200 Prozent gestiegen. Arbeitskämpfe standen bevor. Die Amerikaner riefen Joseph Dodge auf den Plan, einen Banker aus Detroit, der als »Wirtschaftszar« einen drastischen Plan zur Eindämmung der Staatskosten und Entlassung von Beamten ersann. Die Inflation bekam man nach und nach in den Griff, und man senkte den Wechselkurs, um den Export anzukurbeln. Die Red Purge begann, und das ursprüngliche Vorhaben, Konglomerate zu zerschlagen, wurde stillschweigend aufgegeben. Die Arbeitslosigkeit stieg, der Konsum flachte ab, und viele Firmen gingen bankrott. Es drohte eine Rezession. Dann kam 1950 der Korea-Krieg und erwies sich als Rettung. Alles, was von der japanischen Industrie übrig geblieben war, kurbelte die Produktion an, um die Amerikaner mit Kriegsgerät auszurüsten. Yoshida sprach gar von einem »Geschenk Gottes«. Stillgelegte Fabriken begannen wieder zu arbeiten, als die USA, die nun alle Skrupel angesichts Japans Militärkomplex fallen ließen, Stacheldraht und Munition in Auftrag gaben. Andere Fabriken wiederum gingen den umgekehrten Weg und stellten von der militärischen Produktion der Vorkriegszeit auf die Herstellung ziviler Güter um. Eine Flugzeugfabrik in Osaka begann, Nägel für den Hausbau zu fertigen. Hersteller von Radioteilen widmeten sich fortan Glühlampen. Eine Firma wie Nikon, die einst Linsen für Zielfernrohre von Schusswaffen geschliffen hatte, begann mit der Produktion von Kameras und Ferngläsern.
Die Amerikaner ließen auch den Schiffbau wieder zu. Die Kure-Werften, die einst das größte je gebaute Kampfschiff, die Yamato, gefertigt hatten, stellten die Produktion auf Tanker und andere Handelsschiffe um. Zu der Zeit war Großbritannien für die Hälfte der weltweiten Schiffsproduktion verantwortlich. Aber selbst während der Schiffbau verboten war, hatten japanische Ingenieure den Traum gehegt, wieder tätig zu werden. Die Universitäten entließen weiter Schiffbauingenieure, obgleich es keine Arbeit für sie gab. In Kure begannen die Verantwortlichen mit der sogenannten Blockfertigung von Schiffen, bei der vorgefertigte Teile eines Schiffes zusammengeschweißt wurden. Schon bald ließ man Schiffe innerhalb von sieben Monaten vom Stapel – das war weniger als die Hälfte der Zeit, die man in anderen Ländern benötigte. Eine geheime Mission wurde an den schottischen Clyde geschickt, um den dortigen Schiffbau zu beobachten. Wie man feststellte, waren die japanischen Methoden bereits weiter fortgeschritten. Weniger als ein Jahrzehnt nachdem die Arbeit in den Werften wieder aufgenommen worden war, hatte Japan Großbritannien als größter Schiffbauer der Welt überholt.
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Kurz nach dem Eintreffen von Joseph Dodge wurde das Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie, das legendäre MITI, gegründet. Das Ministerium, das in der Folge viele für Japans wirtschaftliche Renaissance verantwortlich machten, war ein direkter Abkömmling des Munitionsministeriums. In dieser Funktion hatte es japanische Firmen angespornt, zur Ankurbelung der Waffenproduktion zusammenzuarbeiten. Jetzt sammelten die Bürokraten des MITI Japans industrielles Potenzial mit dem Ziel einer Wiederbelebung zu Friedenszeiten.
Ein Hauptinteresse galt dem Stahl, das ein Verantwortlicher als »Nahrung der Industrie« bezeichnete. Stahl war lebensnotwendig, aber er war auch rar. In der Nachkriegszeit stellte Japan nur fünf Millionen Tonnen her, verglichen mit 90 Millionen Tonnen in den USA. Jede produzierte Tonne benötigte den siebenfachen Arbeitskräfteeinsatz. Ähnlich wie bei der Iwakura-Mission in der Meiji-Zeit, als Japan Männer ausschickte, die in der westlichen Welt nach Modernisierungsansätzen Ausschau halten sollten, wurden nun Gruppen in die USA geschickt, um die dortige Stahlproduktion unter die Lupe zu nehmen. Das MITI kam zu dem Schluss, dass man neue Stahlfabriken an strategisch gelegenen Hafenplätzen benötigte. Mit den Werkzeugen einer teilweisen Planwirtschaft ordnete man die Urbarmachung weiter Flächen an, auf denen dann ultramoderne Stahlfabriken gebaut werden konnten. Wie später anderen favorisierten Branchen ermöglichte die Regierung den Firmen erleichterten Zugang zu günstigen Krediten und fremden Währungen. Währenddessen erkannten japanische Ingenieure schnell das Potenzial einer neuen Stahlfertigungstechnik durch das Aufblasen von Sauerstoff. Bis 1960 vervierfachte Japan seine Stahlproduktion auf 20 Millionen Tonnen, wobei sich die Effizienz enorm verbessert hatte. Fünf Jahre später sollte sich die Produktion erneut verdoppeln.
Ein ähnliches Phänomen wiederholte sich in der Autoindustrie. In den 1920er-Jahren gab es in Japan nur ein paar Tausend Kraftwagen, allesamt aus ausländischer Produktion. General Motors und Ford dominierten. Als Japan sich zu militarisieren begann, sah man dies als Bedrohung an. Amerikanische Firmen wurden ausgewiesen, und man wies Toyota und Nissan an, Militärlaster zu bauen. Toyota hatte bisher Webstühle hergestellt und begann Mitte der 1930er-Jahre mit dem Bau von Fahrzeugen. Deren Qualität blieb minderwertig. Doch einige Tage nach Japans Kapitulation verkündete Toyota-Chef Kiichiro Toyoda seinen Ingenieuren, sie müssten innerhalb von drei Jahren mit der amerikanischen Technologie Schritt halten. Selbst für Toyota war das ein fantastisches Ziel. Als das Unternehmen 1957 begann, unter der Marke Crown Automobile in die USA zu exportieren, floppte es damit jedoch. Die Fahrzeuge konnten nicht schnell genug beschleunigen, um es auf die amerikanischen Freeways zu schaffen. Zu Hause erging es Toyota besser, bedingt durch billige Kredite und hohe Schutzzölle auf ausländische Waren. Die Männer vom MITI hatten sich gegen die »Vernunftökonomen« aus anderen Teilen der Regierung zur Wehr gesetzt, die argumentiert hatten, man solle die Automobilproduktion den weit überlegenen Amerikanern überlassen. Wie andere Branchen erfuhren auch die Automobilhersteller einen Boom durch den Korea-Krieg. Nach den Worten Toyodas war dieser Toyotas »Rettung«: »Ich freute mich für meine Firma und hatte gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, weil mir ein Krieg in einem anderen Land gelegen kam.«17 Toyota verfolgte den Alleingang, doch andere Automobilhersteller fusionierten mit ausländischen Unternehmen. Das MITI stellte sicher, dass Japan nicht von überlegener Technologie aus dem Ausland überflutet wurde. Stattdessen gab man den Firmen strenge Zeitvorgaben, in denen sie die Teilefertigung indigenisieren und schließlich ganze Autos in Japan bauen sollten.
Die Beamten des MITI waren nicht abgeneigt, einen Merkantilismus zu praktizieren, der als »Industriepolitik« bekannt wurde. So wurden Neugründungen mit hohen Zollmauern geschützt, bis sie der ausländischen Konkurrenz standhalten konnten. Yoshihiko Morozumi, ein hochrangiger MITI-Beamter, sagte dazu: »Bis wir stark genug waren, hielten wir die Türen fest zu. Wenn wir sie zu früh öffneten, hätte der Wind vielleicht alles fortblasen können.«18 Es wäre jedoch falsch, anzunehmen, dass das MITI und andere Ministerien Japans industrielle und wirtschaftliche Erneuerung im Alleingang gemeistert hätten. Neuere Studien legen gar nahe, dass sich gerade die Branchen, in die sich die Regierung nicht einmischte, am besten schlugen.19 Diese Ansicht ist übertrieben. Doch neben der staatlichen Planung gab es sicher auch viele eigenständige unternehmerische Aktivitäten. Ein Beispiel hierfür ist Honda, das entgegen den Anordnungen des MITI Autohersteller wurde. Soichiro Honda, ein autodidaktischer Mechaniker, begann seine Karriere mit dem Tuning von Rennwagen und richtete sein Augenmerk nach dem Krieg auf Motorräder. Das erste Motorrad baute er, indem er einen kleinen Motor an ein normales Fahrrad montierte. Nachdem er dann die Honda Cub auf den Markt gebracht hatte, war er entschlossen, sich auch an Autos und Lkw zu wagen. Er erinnerte sich an ein Treffen mit MITI-Beamten, die ihn davon abhalten wollten, eine überfüllte Arena zu betreten. »Diese Bürokraten dachten immer noch in den alten Mustern der zentralen Kontrolle«, erinnerte er sich gut drei Jahrzehnte später. »Sie waren absolut keine Hilfe. Man glaubt kaum, wie schwer es mir das MITI gemacht hat. Als ich Autos bauen wollte, sagten sie: ›Lassen Sie das. Toyota und Nissan sind schon dabei.‹ Und ich entgegnete: ›Ich darf tun, was ich möchte. Der Krieg ist vorbei, wissen Sie.‹«20
Honda war sicher nicht der einzige Unternehmer, der ein Unternehmen aus dem Nichts schuf. Mehr als jede andere Firma steht Sony für Japans Aufstieg aus den Trümmern und seine Verwandlung von einem Hersteller minderwertiger Gebrauchsgegenstände zu einem Produzenten von Weltklassetechnologien. Alles nahm seinen Anfang in einem ausgebombten Haus: dem Gerippe des Shirokiya-Kaufhauses in Nihombashi, wo Masaru Ibuka Ende 1945 eine Reparaturwerkstatt für Radiogeräte eröffnete. Im darauffolgenden Jahr gründeten er und Akio Morita – von dem eigentlich erwartet worden war, dass er das 300 Jahre alte Sake-Geschäft seiner Familie weiterführen würde – eine Firma mit dem wenig verheißungsvollen Namen Tsushin Kogyo. Das Startkapital betrug 500 Dollar.
Morita und Ibuka hatten sich ein Jahr vor Kriegsende kennengelernt, als man sie beide in ein Projekt einspannte, bei dem eine Wärmesuchrakete entwickelt werden sollte. Ibuka, Elektroingenieur mit dicken Brillengläsern, »Schaufelhänden«21 und dem Akzent eines Arbeiters, war ein unermüdlicher Denker. Wenn er nach dem Krieg nach Amerika reiste, kam er mit Spielzeug zurück, das er aber erst seinen Kindern gab, nachdem er es selbst auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt hatte. Manchmal kaufte er auch zwei Exemplare, damit Morita und er zusammen daran basteln konnten. Schon früh experimentierte Ibuka mit elektrischen Reiskochern (ohne Erfolg) und Spulentonbandgeräten, die dann die ersten waren, die in Japan verkauft wurden. Der große Durchbruch kam in den 1950ern, als er den Bell Laboratories 25000 Dollar zahlte, um eine Lizenz für deren Transistortechnik zu erwerben. Er hatte vor, diese für den Gebrauch in Radiogeräten abzuwandeln. Bell meinte, dies sei unmöglich. Doch Ibuka gab den Plan nicht auf, und 1955 war Sony die erste Firma, die Transistorradios zu einem kommerziellen Erfolg machte. Der Transistor war ein wenig zu groß, um in eine Hemdtasche zu passen. Das Marketinggenie Morita ließ seine Verkäufer deshalb Hemden mit etwas größeren Taschen tragen, mit deren Hilfe sie dann die angeblich »tragbaren« Geräte demonstrierten.22
Morita war 13 Jahre jünger als Ibuka und der kommerziell denkende Part der Firma. Seine unternehmerische Natur zeigte sich besonders deutlich bei einem Besuch 1955 in New York. Die Uhrenfirma Bulova bot an, 100000 Sony-Transistorradios zu kaufen – ein Auftrag, der mehr wert war als die gesamte Kapitalisierung der jungen Firma. Einzige Bedingung war, dass man die Geräte unter dem Namen Bulova verkaufen wollte. Entgegen der Meinung des Sony-Vorstands lehnte Morita das Angebot ab, weil er argumentierte, Sony müsse sich einen eigenen Namen machen. Später nannte er diese Entscheidung die beste seiner Karriere. »Morita war ein Unternehmer im besten amerikanischen Sinne, ein mutiger Spekulant nach dem Muster eines John D. Rockefeller oder Bill Gates«, meint John Nathan, der ein herausragendes Buch über die Firmengeschichte von Sony verfasst hat.23 »Er hat sich bei den Produkten auf sein Bauchgefühl verlassen und Marktanalysen misstraut.«24
Sony und Honda hatten es auf dem heimischen Markt erst einmal schwer, da ihnen die Handelsbeziehungen der eingesessenen und staatlich geförderten Firmen fehlten. Beiden gelang der erste Durchbruch in den USA. Morita kritisierte Aspekte der japanischen Geschäftspolitik: beispielsweise die Wichtigkeit von Schul- und Universitätsabschlüssen bei der Einstellung von Mitarbeitern. Sony war eines der ersten Unternehmen, das Lohn nach Leistung zahlte. Alle, vom Chef bis zum untersten Mitarbeiter, trugen die gleiche Uniform – diese war aber immerhin vom Modedesigner Issey Miyake entworfen worden.25 Trotz seines Erfolgs wurde Morita von den Leuten beim MITI als arroganter Eigenbrötler angesehen.
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James Abegglen bin ich zum Ende seines Lebens mehrmals begegnet. 2006 saßen wir gemeinsam in seinem modern ausgestatteten Privatklub und aßen zu Mittag. Abegglen, der dort mit der Hochachtung für einen der ersten »japanisierten« Westler behandelt wurde, wirkte etwas gebrechlich, doch man merkte, dass er einmal eine imposante Erscheinung abgegeben hatte. Er besaß einen offenbar unerschütterlichen Glauben an die eigenen Ideale. Ein zweites Mal traf ich ihn, als ich in die Feier anlässlich seines 80. Geburtstags stolperte, die in einem eleganten Tokioter Hotel stattfand. Abegglens japanische Frau und Familie führten den Vorsitz, und die Großen der Geschäftswelt waren erschienen. Er hielt eine Rede, in der er die wichtigsten Etappen seines lebenslangen Engagements in Japan rekapitulierte. Der Sohn eines Käsefabrikanten aus Wisconsin lernte Japan erstmals als Teil der Invasoren kennen: Als US-Marine wurde er in der Schlacht um Iwojima verletzt. Später dann, als Mitarbeiter der US Strategic Bombing Survey, untersuchte er in Tokio und Hiroshima Kriegsschäden. 1955 kehrte er als Stipendiat der Ford Foundation zurück und begann die bis dahin nahezu unbekannte Welt des japanischen Unternehmens (japanisch: Kaisha) zu studieren, die er daraufhin zu internationalisieren half. Er bekam überraschend Zugang zu einigen Firmen, Zahnrädern in Japans Industriemaschine, darunter Nippon Electric Company, Sumitomo Chemical und Fuji Seitetsu, aus dem später Nippon Steel wurde.
Abegglen war der Erste, der die markantesten Eigenschaften des japanischen Modells herausstellte. Sie wurden in den nachfolgenden Jahrzehnten von vielen als das »Geheimnis« des wirtschaftlichen Erfolgs gepriesen. In seinem 1958 erschienenen Buch The Japanese Factory betont Abegglen die Bedeutung von firmeneigenen Gewerkschaften, deren Führer sowohl an Produktivitätssteigerungen als auch an der Verbesserung von Löhnen und Arbeitsbedingungen Interesse haben; von lebenslangen Arbeitsverhältnissen und dem Streben nach einem ständigen Wandel zum Besseren, dem Kaizen. Abegglen sah japanische Firmen als »soziale Organisationen«. Zumindest in großen Unternehmen erwartete man, dass die Mitarbeiter ihr gesamtes Arbeitsleben dort verbrachten. Aus der Perspektive der Arbeiter bedeutete dies absolute Jobsicherheit und die Aussicht auf kontinuierliche Beförderungen und Lohnsteigerungen bis zur Rente. Der berufliche Aufstieg wurde nicht durch »Verdienste«, sondern durch die Länge des Arbeitsverhältnisses bestimmt – ein System, das Loyalität und Kooperation förderte statt Konkurrenzkämpfe zwischen Kollegen. Die Unternehmen stellten massenweise Schulabgänger ein, weil sie ihre Arbeiter vor Ort einarbeiten (oder indoktrinieren) wollten und weil es sinnvoll erschien, sie in einer Phase des rasanten Wachstums und potenziellen Arbeitskräftemangels so früh wie möglich für sich zu sichern. »Besonders für den japanischen Mann spielen Unternehmen die Rolle einer religiösen Gemeinschaft«, sagte mir ein japanischer Akademiker.26 Es gab Firmenhymnen, Firmenschlafsäle, Firmenurlaube und natürlich viele Überstunden und Firmenfeiern. Das offizielle Lied von Matsushita, gesungen von Arbeitern in identischen grauen Overalls, ging so:
Wir schicken unsere Produkte an Menschen in aller Welt
Unser Fleiß und unsere Mühe sind wie das Wasser
Das der Quelle entspringt: Fortschritt, Fortschritt
Harmonisch vereint und immer ganz vorn: Matsushita Electric27
»Japanische Firmen sind nicht nur rein wirtschaftliche Instrumente mit dem Zweck, Anteilseigner und Chefs zu belohnen«, schrieb Abegglen.28 »Die angloamerikanische Vorstellung, dass alles dem Anteilseigner geschuldet ist, hat in Japan keine Entsprechung. Die wichtigsten Anteilseigner der Kaisha sind ihre Mitglieder, die Angestellten.« Westliche Beobachter belächelten oftmals die Eigenheiten großer japanischer Firmen. »Im Westen war man der Ansicht, dass man ein Unternehmen so auf keinen Fall führen kann«, sagte Abegglen.29 Der Umstand, dass Firmen ihren Anteilseignern nicht verpflichtet waren, ermöglichte ihnen seiner Ansicht nach eine langfristigere Planung. Laut einem Senior Partner der Boston Consulting Group, bei der Abegglen später einen Großteil seines Berufslebens verbrachte, pflegte er zu sagen: »Gewinne sind für jetzt oder später. Im Westen will man seine Gewinne sofort. Japaner wollen zuerst Wachstum und dann Gewinne.«30 Diese Haltung befreite japanische Firmen von vierteljährlichen Ertragszielen und erlaubte ihnen, sich auf ihren Marktanteil zu konzentrieren und die allmähliche Übernahme ganzer Industriezweige zu planen. Von Stahl über Schiffbau bis zu Autos und Halbleitern haben sie genau das auch getan.
Doch der Erfolg ist sicher nicht nur dem japanischen Geschäftsmodell zu verdanken. Viele organisatorische und technische Verfahren hat man sich auch vom Westen abgeschaut. William Deming, ein amerikanischer Berater, wurde in Japan sehr verehrt wegen seiner Vorlesungen, die er während der 1950er-Jahre über Qualitätsmanagement hielt. Japanische Geschäftsleute waren beinahe fanatisch darauf erpicht, die »Erfolgsmethode« zu erlernen, und sammelten überall Ideen. Anfang der 1950er-Jahre verbrachte Eiji Toyoda, der zukünftige Chef von Toyota, drei Monate in den River-Rouge-Werken von Ford in Michigan, um sich dort über Qualitätskontrolle und Massenproduktionsvorteile schlauzumachen. Einige besondere Merkmale des japanischen Systems erachtete man später dann doch als wichtig.
Die Amerikaner hatten versucht, die alten Zaibatsu, große japanische Mischkonzerne, zu zerschlagen, da diese als Teil der Kriegsmaschinerie angesehen wurden. Sie existierten aber in anderer Form weiter. Unternehmen hielten engen Kontakt durch Kreuzbeteiligungen und enge Beziehungen zu Zulieferern. Diese horizontalen und vertikalen Verbindungen, die in späteren Jahrzehnten kaum ein ausländischer Konkurrent durchbrechen konnte, waren als Keiretsu bekannt. Die locker verbundenen Gruppen, die oft von einer »Hausbank« versorgt wurden, die eher als Sponsor denn als profitorientierter Geldgeber agierte, sicherten die gegenseitige Unterstützung. Nach dem sogenannten »Konvoi-Prinzip« rückten die Unternehmen zusammen und stellten sicher, dass niemand zurückblieb. Das bedeutete aber nicht, wie mehrfach vermutet, dass es keine Konkurrenz gab. In vielerlei Hinsicht war gerade das Gegenteil der Fall. Einige Studien legen nahe, dass in der japanischen Wirtschaft eine schärfere Konkurrenz herrschte als in anderen Ländern, da die Wettbewerber nicht einfach pleitegingen und das Feld wenigen dominanten Spielern überließen. Es gab mindestens zehn Autofirmen, fünf Stahlfabrikanten und später zehn Halbleiterhersteller. Das Überangebot zog enge Gewinnspannen mit sich. So wurden das Streben nach Umsatz und die Eroberung ausländischer Märkte notwendig für den Erfolg. Vertikale Keiretsu zwischen großen Unternehmen und ihren zahlreichen Zulieferern unterschieden sich von den horizontalen Verbunden. Kleine Firmen, viele davon kleine Familienbetriebe in Industriestätten wie Osaka, bildeten das japanische Gegenstück zum deutschen Mittelstand. Sie fungierten als Stoßdämpfer für das große Geschäft. Die großen Unternehmen pressten sie gnadenlos aus, gaben kurzfristige Bestellungen ab und verlangten absolute Arbeitszeitflexibilität. Auf diese Weise wurde der Preis für Bauteile gering gehalten, und Japans berühmtes Just-in-time-System mit möglichst kleinen Lagerbeständen bei den Herstellern konnte beibehalten werden. Kleine Firmen mit weniger großzügigen Arbeitsbedingungen und geringerer Jobsicherheit übernahmen die Hauptlast. Dies ermöglichte großen Unternehmen, den Gesellschaftsvertrag zu erfüllen, der lebenslange Arbeitsverhältnisse und stetige Lohnsteigerungen garantierte und für den Japan berühmt wurde.
Das System hatte offensichtliche Schwachstellen. Die Industrieproduktion war wichtiger als Konsumgüter, Marktanteile wichtiger als Gewinne, Sparen wichtiger als Investieren und große Unternehmen wichtiger als kleine Betriebe. Die gesamte Wirtschaft drehte sich um den Export – ein Erbe, mit dem Japan noch heute lebt. Inländischen Sparern gaben Banken und Post geringe Zinsen, damit die Regierung günstige Kredite an die Industrie vergeben konnte. Große Unternehmen durften im Interesse des Profits die Umwelt verseuchen und im Dienste einer ausgeglichenen Handelsbilanz von japanischen Konsumenten mehr verlangen als von ausländischen. Ein Teil der Früchte aus Japans raschem Wachstum wurde so dem größeren und abstrakteren Ziel des Staatsaufbaus geopfert. Sie waren die Samen für Japans sogenannten »leeren Reichtum«.31
In seinen staatsbildenden Projekten jedoch war Japan äußerst erfolgreich. Nach einer Phase der politischen Unruhen im Umfeld der neuen Sicherheitsverträge zwischen den USA und Japan verkündete Minister Hayato Ikeda 1960 seine Pläne zur Verdopplung des Nationaleinkommens.32 Japan wuchs schneller, als irgendjemand erwartet hätte. In diesem Jahr hatte der französische Staatschef Charles de Gaulle den japanischen Premierminister noch abfällig als »Transistorverkäufer« betitelt.33 Zwei Jahre später regierte der Transistorverkäufer ein Land mit einer größeren Wirtschaftsleistung als Frankreich. 1967 konnte Japan auch Großbritannien einholen, und im Jahr darauf übertrumpfte es die Bundesrepublik Deutschland und wurde die größte kapitalistische Wirtschaftsmacht nach den USA. War Japan in den 1930er- und 1940er-Jahren hoffnungslos verloren, so war es nun voll wieder da.
Etwas von der Spannung der Aufholjahre wird in der Filmtrilogie Always: Sunset on Third Street eingefangen, deren erster Teil 2005 gezeigt wurde. Heute, da sich Japans Wirtschaft verlangsamt hat, schaut man gerne mit nostalgischem Blick auf die Jahre des schnellen Wachstums und fragt sich, welcher Geist die rasante Entwicklung wohl befördert hat.34 Im ersten Teil der Trilogie, der während der 1950er-Jahre in den Arbeitervierteln Tokios spielt, ist das Land damit beschäftigt, wieder auf die Beine zu kommen. Eine junge Frau kommt aus Aomori im ärmeren, ländlichen Norden nach Tokio, um bei Suzuki Auto zu arbeiten, einer kleinen Werkstatt, die sich um die paar Autos kümmert, die zu dieser Zeit auf der Straße zu sehen sind. Ihr Weg steht für den Massenexodus in die Städte, der in den Jahrzehnten nach dem Krieg stattfand. Bis zum Ende des Films haben die Hauptfiguren, die zwar immer noch arm sind, ihre Eiskühler gegen Kühlschränke ausgetauscht, und ein paar haben sogar einen Schwarz-Weiß-Fernseher erstanden. Ende der 1950er-Jahre sprach man in Japan in Anlehnung an die drei Throninsignien Schwert, Spiegel und Krummjuwel von den »drei Heiligtümern« Kühlschrank, Waschmaschine und Fernseher. Der Film und die beiden späteren Episoden spielen im Schatten des Tokio Tower, einer feuerwehrroten Version des Eiffelturms, die 1958 fertiggestellt wurde und ein Symbol für Japans wirtschaftlichen Aufstieg wurde. Der zum Teil aus verschrotteten, im Korea-Krieg verwendeten US-Panzern bestehende Tokio Tower ist 13 Meter höher als das französische Original und der größte selbsttragende Stahlturm der Welt. Im dritten Film, der 1964 spielt, bereitet sich die Bevölkerung auf die Olympischen Spiele vor, indem man sich Farbfernseher anschafft – neben Klimaanlage und Auto ein Teil des neuerdings begehrten Produkttrios. Am Ende des Films beginnt das Bauernmädchen aus Aomori seine Hochzeitsreise und steigt bezeichnenderweise in den rechtzeitig für die Olympischen Spiele fertiggestellten Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszug nach Osaka. Nur 19 Jahre nach der Kapitulation und scheinbar totalen Zerstörung hatte Japan den schnellsten Zug der Welt gebaut.
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Natürlich gab es auf Japans scheinbar unaufhaltsamen Weg nach oben noch mehr Hindernisse zu bewältigen. Am schlimmsten machte sich 1973 die Ölkrise bemerkbar. Die Ölpreise vervierfachten sich, nachdem die arabischen Mitglieder der OPEC als Antwort auf die amerikanische Unterstützung im Jom-Kippur-Krieg ein Embargo verhängt hatten. Japan verfügte über eine Reserve, die gerade einmal vier Tage reichte. Die Inflation stieg auf 30 Prozent, der Konsum brach ein. Aber Japan vollzog eine diplomatische und ökonomische Kehrtwende. Tokio schickte Gesandte in den Nahen Osten, distanzierte sich von der US-Politik und verbündete sich mit der arabischen Welt. Zu Hause konnte man die japanische Arbeiterschaft, insgesamt gefügiger als ihr westliches Gegenstück, dazu bringen, sich mit Lohnforderungen zu bescheiden. Es gelang, die amerikanische Robotertechnologie rasch zur Anwendung zu bringen, und die Unternehmen strengten sich an, ihren Energieverbrauch zu senken. Das MITI förderte nun »kopfgesteuerte Branchen« wie Elektronik und Computer, statt der energieintensiven Schwerindustrie, die man vorher bevorzugt hatte. Ein Jahrzehnt später hatte Japan seine Energieimporte von drei Prozent des BIP auf 1,6 Prozent des BIP gesenkt.35 Das Land ging aus den beiden Ölkrisen der 1970er, es gab noch eine zweite nach der Iranischen Revolution von 1979, mit einer größeren Energieeffizienz und einem stärkeren Wachstum als jede andere Wirtschaftsmacht hervor.
Es gab Begeisterung für das Gewonnene, aber genauso viele Bedenken wegen des Verlorenen. Schon 1953 zeigte das Meisterwerk Die Reise nach Tokio des Regisseurs Yasujiro Ozu eine sich rasch wandelnde urbane Gesellschaft, in der die gemeinschaftlichen Werte des ländlichen Japan verdrängt wurden. Ein älteres Elternpaar aus einem Ort am Meer besucht seine Kinder in Tokio und muss merken, dass der Nachwuchs zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, um ihnen noch Aufmerksamkeit zu schenken. Vor einem Hintergrund aus Kränen, Autos und Baustellen trippeln die beiden von einer Wohnung zur anderen, ähnlich wie König Lear zwischen den Burgen seiner Töchter hin und her geschoben wird. Einige Gesellschaftskritiker sahen Japans »Fortschritt« mit gemischten Gefühlen – besonders als die mit der rasanten Urbanisierung einhergehende ökologische Zerstörung offenbar wurde. Mit Blick auf das Jahrzehnt vor den Olympischen Spielen schrieb der dem linken Flügel zugeordnete Kommentator Minoru Morita: »Ich hatte den Eindruck, dass wir uns da eine scheußliche Gesellschaft errichtet hatten. In den Städten war die Atmosphäre vergiftet, unsere Flüsse waren verdreckt, die Meere verseucht und unsere natürliche Umgebung zerstört. Was unser Volk anging, so hatte es gelernt, den wirtschaftlichen Profit über alles zu stellen. Alle größeren humanistischen Ideale hatte es aufgegeben. Ich empfand es als eine Zeit der Verzweiflung.«36 Diese Ansicht war nicht weitverbreitet. Gängiger war die Meinung von Masaya Ito, Pressesprecher von Premierminister Ikeda, der Japan eine Verdopplung der Einnahmen zum Ziel gesetzt hatte. »Wie weit könnte die Wirtschaft noch wachsen?«, fragte er. »Es war wie ein Zauberkessel, aus dem immer mehr floss.«37
Japans Wachstum war in den 1970er-Jahren zwangsweise etwas zurückgegangen, aber ab den 1980er-Jahren hatte der Lebensstandard das Niveau anderer westlicher Staaten erreicht. Die von Abegglen beschriebenen Merkmale des industriellen Japan wurden nun als wichtige Elemente seines Erfolgs angesehen. Man glaubte sogar, westliche Firmen täten gut daran, einige Aspekte dieses Systems nachzuahmen, wenn sie den japanischen Ansturm überleben wollten. 1979 verfasste der US-Wissenschaftler Ezra Vogel das Buch Japan as Number One, in dem er Japans gesellschaftliche und industrielle Stärken darstellte und warnte, die USA müssten auf der Hut sein. Das Buch zeigte ein Japan, das von seiner Organisation, Bildung und Technologie her in der Lage war, es mit allen anderen aufzunehmen. Obwohl es eigentlich mit der Intention geschrieben worden war, US-Politiker aus ihrer von Vogel wahrgenommenen »Selbstgefälligkeit« zu wecken, wurde Japan as Number One in Japan ein größerer Erfolg als in Amerika. Es wurde gar der größte Sachbuch-Bestseller eines westlichen Autors. Die Gründe für diesen Erfolg sind nicht schwer zu erahnen. Schon der Titel des Buchs schien die Bestätigung dessen, wonach das Land schon mehr als 100 Jahre seit der Meiji-Restauration gestrebt hatte: ein Japan, das den Westen mit dessen eigenen Waffen schlagen konnte.
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Die Japaner wurden von der eigenen Hybris mitgerissen. Schon 1967, dem Jahr, in dem Japans Wirtschaft die Großbritanniens überholte, wies ein Professor der Universität Kioto Europa den Status eines netten Besichtigungsziels zu. Im darauffolgenden Jahrzehnt wurden Schriften zur »britischen Krankheit« populär. Diese definierte man als gesellschaftliche Krankheit, die mit einem verringerten Arbeitswillen, dem Pochen auf Rechten und einer abnehmenden Produktivität einherginge. Bücher zur »amerikanischen Krankheit« folgten. Die USA seien verschwenderisch und ineffizient, hieß es, amerikanische Unternehmen würden zu kurzfristig denken, und zudem mangele es auch dort an Arbeitsmoral. Japanische Ingenieure, die ausländische Firmen besuchten, zeigten sich erstaunt, wie oft die westlichen Arbeiter Pausen machten und wie früh sie nach Hause gingen. Die amerikanische Gesellschaft galt als zerfressen von Verbrechen, Drogen und Scheidung.
Eine 1983 von der japanischen Regierung durchgeführte Befragung offenbarte deutlich die lang gehegte Obsession des japanischen Staates: eine geradezu schrille Wahrnehmung von Unterlegenheit und Überlegenheit, welche die Aufholjagd mehr als ein Jahrhundert angetrieben hatte. »Halten Sie Japaner im Vergleich mit dem Westen für überlegen? Oder glauben Sie, dass Japaner unterlegen sind?«, lautete eine Frage. In den 1980er-Jahren antworteten 53 Prozent der Japaner, sie fühlten sich überlegen – verglichen mit nur 20 Prozent, die dies bejaht hatten, als man 1953 dieselbe unangenehme Frage gestellt hatte. In keiner der beiden Umfragen gab es die Möglichkeit, die Frage selbst als unpassend zu kennzeichnen.38
Ende der 1980er-Jahre begannen viele Amerikaner, von Japan als einer Bedrohung zu sprechen. Japans Handelsüberschüsse schwollen auf unerhörte Ausmaße an, seine Autos ersetzten die benzinfressenden US-Modelle und seine Unternehmen kauften renommierte Objekte auf: ein Traditionsgebäude hier, ein Hollywood-Filmstudio dort. Einige Beobachter, die daraufhin kollektiv als »Revisionisten« bekannt wurden, hatten eine Erklärung für Japans Erfolg. Sie bauten auf die wegweisende Arbeit Abegglens auf und legten dar, dass Japan für eine komplett neue Art des Wirtschaftens stand. Wenn die USA nicht ihren Laissez-faire-Stil aufgaben und einige Prinzipien der Produktion und des »strategischen Handels« von Japan übernahmen, so argumentierten die Experten, würden sie immer mehr an Einfluss verlieren.
Zu den Revisionisten gehörten Chalmers Johnson, der 1982 über die staatliche Planung durch das MITI geschrieben hatte, James Fallows, Verfasser von Looking at the Sun, und Clyde Prestowitz, ein ehemaliger Handelsunterhändler unter Ronald Reagan, der versucht hatte, Japans Märkte für Halbleiter, Telekommunikation und Medizin zu öffnen, und darüber so frustriert war, dass er zu der Überzeugung gelangte, Japan agiere grundsätzlich geschickter. Sein 1993 veröffentlichtes Buch hieß Trading Places. How We are Giving Our Future to Japan an How to Reclaim It. Prestowitz betont, man hätte es nicht darauf abgesehen, Japan zu diskreditieren: »Wir waren eigentlich Bewunderer des japanischen Systems und vertraten die Idee, dass die USA, wenn sie weiter mit Japan konkurrieren wollten, dieses System an entscheidenden Punkten nachahmen müssten. Verärgert waren wir nicht so sehr über die Japaner als über die amerikanische Regierung.« Die festgefahrenen US-Politiker, meint er, konnten nicht begreifen, wie Japan Amerika auf dem eigenen Spielfeld schlug. »Ich versuchte, den hohen Beamten der Reagan-Regierung mitzuteilen, dass Japan Football spielte, während wir Baseball spielten.«39
Ein drittes Buch, in dem es weniger um den Handel als um Japans politische und gesellschaftliche Organisation ging, stellte ebenfalls eine Welt dar, die sich von allem unterschied, was der Westen bisher gesehen hatte. Karel van Wolferens The Enigma of Japanese Power zeichnete das Porträt eines Landes ohne zentrale Autorität, in dem Entscheidungen beinahe organisch gefällt wurden. Für Anhänger des Freihandels, die versuchten, mit Japan zu verhandeln, bedeutete dies von vornherein, dass die Leute auf der anderen Seite des Konferenztisches keine Macht hatten, Veränderungen herbeizuführen. Van Wolferen lieferte eine feinsinnige Analyse, doch die verbreitetere Ansicht war eine krude Popularisierung der Revisionisten: Man stellte sich eine finstere Japan AG vor, in der gewiefte Planer Wettbewerber ausschalteten. Abegglen, der Japan eine »komplexe Kombination aus Kooperation und Wettbewerb« zusprach, hat sich immer gegen die Idee eines zentral gesteuerten Apparats gestellt. Gegenüber einem Journalisten sprach er von der weitverbreiteten Annahme, irgendwo in den Untiefen der japanischen Bürokratie gäbe es jemanden »mit langem Bart und dickem Computer«, und wenn man den ausfindig mache und erschieße, sei »das Problem erledigt«.40 Doch nach van Wolferens These gab es da niemanden, den man ausschalten könnte.
Was auch immer die Gründe für Japans Erfolg waren: Immer mehr setzte sich, zumindest in der Boulevardpresse, die Ansicht durch, dass Japan kurz davor war, den USA ihren Status als weltweit stärkste Wirtschaftsmacht streitig zu machen. In Anbetracht der Tatsache, dass Japan über eine nur halb so große Bevölkerung verfügte, war dies doch eine kühne Voraussage, denn dann müsste jeder Japaner im Durchschnitt doppelt so reich werden wie ein Amerikaner. 1988 reagierte der bekannte Investor George Soros auf einen heftigen Kursrutsch in New York und London und rechnete schon mit einem »Transfer ökonomischer und finanzieller Macht von den USA nach Japan«.41 Doch gerade als solche Vermutungen immer mehr Glauben fanden, steckte Japan mitten in einer grotesken Finanzblase. Als diese platzte, wurde die Idee einer wirtschaftlichen Vorherrschaft Japans für immer verworfen.
Es war nie klar, ob Nui Onoue selbst oder aber ihre große getöpferte Kröte das Orakel war. Aber wie dem auch sei: Wenn Onoue ihre wöchentlichen Séancen unter dem Vorsitz der einen Meter großen, bräunlichen Kröte abhielt, parkten draußen vor dem Egawa, ihrem exklusiven Restaurant in Sennichimae, dem Unterhaltungsviertel Osakas, mehrere Reihen Limousinen. In den 1980er war die Zeit der Spekulationsblase und ihre Kunden kamen, um Tipps zu erhalten, welche japanischen Unternehmen demnächst am besten abschneiden würden und auf wen man seine Wetten setzen sollte. Die ehemalige Hostess, inzwischen Anfang 60, hatte das edle Ryotei-Restaurant nicht ohne Grund in der geschäftshungrigen, westlich gelegenen Stadt Osaka eröffnet. Mit der Zeit kamen ihre Kunden nicht mehr nur, um zu essen, sondern um zu investieren.
In Osaka wird die Kröte mit Reichtum in Verbindung gebracht. Japans zweitgrößte Metropole war über Jahrhunderte kommerzielle Drehscheibe, ein Zentrum für den Reishandel und Heimat des weltweit ersten Terminkontraktmarkts, der 1730 gegründet wurde. In dieser Stadt grüßten sich die Leute manchmal nicht mit dem üblichen Konnichiwa, sondern mit Mokkari-makka, was so viel bedeutet wie: »Verdienen Sie gut?« Aufgrund der angeblich geldvermehrenden Eigenschaften der Amphibie nennt man sein Portemonnaie in Osaka »Krötenmaul«, oder im Japanischen »gama-guchi«.
Onoues Kröte war etwas ganz Besonderes. Sie bekam Investmenttipps von den Göttern und verfügte schließlich, unter Onoues schützender Hand versteht sich, über ein Portfolio von 20 Milliarden, was selbst in den besten Zeiten der japanischen Börsenblase eine astronomische Summe war. Gerüchte über die beeindruckende Erfolgsbilanz der Kröte – denn sie irrte selten – verbreiteten sich nah und fern. Die Manager, die sie um Rat fragten, kamen aus den Führungsetagen der angesehensten Finanzhäuser des Landes. Unter ihnen waren auch Mitarbeiter der Industrial Bank of Japan, die Crème de la Crème der Bankenwelt und zu der Zeit eine der größten Geldinstitutionen der Welt. Auch Führungskräfte von Yamaichi Securities nahmen regelmäßig teil. Als prominentes Wertpapierhandelshaus sollte Yamaichi später zu den größten Opfern des Börsenkrachs werden. Im November 1997 stellte es sämtliche Tätigkeiten ein. Ein Finanztochterunternehmen von Matsushita (der Firma, die Panasonic hervorbrachte) setzte ebenfalls sein Vertrauen in Onoue, und zwar mit 50 Milliarden Yen. Als die Wette nicht aufging, tat Matsushitas Vorsitzender das einzig Ehrenhafte: Er trat zurück.
Japans Nikkei-Index, der Aktienindex, der in Wirtschaftszeitungen am meisten zitiert wird, stand am letzten Handelstag im Jahr 1989 bei knapp 39000. Das sollte sein letzter Höhenflug sein. Als im folgenden Jahr die Aktienkurse zu sinken begannen, stand Onoue vor einem Problem, das nicht einmal ihre Kröte lösen konnte. Da kam sie auf die Idee, die ganze Sache weiterlaufen zu lassen, indem sie Manager der einen Bank dazu brachte, gefälschte Einlagezertifikate auszustellen, die sie dann nutzte, um bei anderen Banken untergebrachte Gelder und Wertpapiere frei zu machen. Es war ein vertrackter Plan, der sie in noch größere Schwierigkeiten brachte, als die Kurse weiter sanken. Im August 1991 nahm man Onoue wegen Betrugs fest. Durch die nachfolgenden Ermittlungen stellte sich heraus, dass ein Manager von Yamaichi Securities – und nicht etwa die Götter – die wahre Quelle der Krötenweisheit gewesen war. Das Finanzimperium der »Bubble Lady« zerbrach, und Onoue wurde zu zwölf Jahren Haft verurteilt.42
Onoues Geschichte steht sinnbildlich für den Irrsinn der Börsenblase, die Mitte der 1980er-Jahre ihren Anfang nahm und bis zum Ende des Jahrzehnts andauerte. Die Berichte aus der Zeit sind legendär und wahrscheinlich mit Vorsicht zu genießen. Sie erzählen, wie Geschäftsmänner nichts Besonderes daran fanden, einer Hostess Tausende Dollar zu zahlen, nur damit sie nett lächelte und neckisch über ihre Witze lachte. Sie erzählen von Leuten, die Blattgold über ihr Essen streuten, so wie andere Salz und Pfeffer – dies soll übrigens noch heute in Japans edlen Restaurants üblich sein. Sie erzählen vom Handel mit Golfmitgliedschaften auf dem Zweitmarkt, die von Spekulanten gekauft und verkauft wurden, die keinerlei Absicht hatten, je einen Golfschläger in die Hand zu nehmen.
Die Spekulationsblase wurde von der in der Nachkriegszeit gewonnenen Überzeugung genährt, dass die Gesetze eines Sir Isaac Newton nicht mehr galten, wenn es um japanische Grundstückspreise ging. Sie wurde noch angereichert durch einen berauschenden Mix aus leichtem Geld, finanzieller Deregulierung, einem starken Yen und niedrigen Zinsen. Die wichtigsten menschlichen Zutaten waren wie so oft Eitelkeit und Habgier. Die Spekulationsblase wird manchmal als Beweis angeführt, dass Japans noch einige Jahre zuvor hochgelobtes System im Grunde stark fehlerhaft war. Es stimmt, dass Japans Wirtschaft eher am Marktanteil als am Gewinn gelegen war. Und es stimmt auch, dass das System am besten während der Aufholjahre funktionierte und weniger erfolgreich war, als Japan dann einen westlichen Lebensstandard erreicht hatte. Doch der Börsenkrach war teilweise nur die unvermeidliche Konsequenz der Jahrzehnte des schnellen Wachstums: Es wurde gnadenlos über das Ziel hinausgeschossen. Wie Amerikanern und Europäern in den vergangenen Jahren nur allzu klar geworden ist, kann auch westliche Köpfe Unvernunft und Übermut packen.
In Japan wurden die Eigentumspreise weiter in die Höhe getrieben, als Unternehmen, deren Geschäfte oftmals gar nichts mit Immobilien zu tun hatten, Geld liehen, um es in den explodierenden Markt zu stecken. Firmen, die nicht auf den Zug aufsprangen, fielen hinter Wettbewerbern zurück, die sich an der Immobilienblase berauschten. Irgendwann kosteten ausgewählte Objekte in Ginza, dem exklusivsten Geschäftsviertel in Tokio, bis zu 215000 Dollar pro Quadratmeter. Zum Vergleich: 2011 kostete Eigentum im exklusiven Londoner Stadtteil Knightsbridge etwa 32500 Dollar.43
Die zweite beliebte Investitionsform waren Firmenanteile. Auch sie schienen ein sicherer Tipp zu sein, da die Preise stetig anstiegen und ihr Wert von freundlich gesinnten Anteilseignern gestützt wurde, die sie als Überkreuzbeteiligung im Keiretsu-System hielten. Die Aktienkurse stiegen auf ein nicht mehr als normal erachtetes Niveau, aber wie üblich lieferten Marktgurus Erklärungen, warum die Tokioter Börse anderen Regeln folgte. Anteile an der Nippon Telegraph and Telephone zum Beispiel wurden zu einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 300 gehandelt: Man hätte demnach 300 Jahre benötigt, um den Wert der Aktie als Gewinn zu erwirtschaften.44
Viele datieren den Beginn von Japans Exzessen – und damit seines drastischen Niedergangs – auf ein Treffen der Finanzminister und Zentralbankchefs der USA, Deutschlands, Großbritanniens, Frankreichs und Japans, das im September 1985 im Plaza Hotel in New York stattfand. Das Ganze war eine Art vornehmer Raubüberfall und endete damit, dass Japan zusammen mit den anderen Anwesenden beschloss, auf die Devisenmärkte Einfluss zu nehmen, um den Yen zu stärken und den Dollar zu schwächen. Man wolle den USA aus der Rezession helfen und das inzwischen entstandene klaffende Handelsdefizit zwischen Japan und den USA – eine Ursache zunehmender Spannungen – schließen. Die Bemühungen waren nur allzu erfolgreich. In den folgenden zwei Jahren verdoppelte sich der Wert des Yen von 240 auf 120 Yen für den Dollar, und Japans Produkte wurden auf dem Weltmarkt doppelt so teuer. Die japanische Zentralbank war überzeugt, dass der höhere Yen Japan in die Rezession treiben würde, und senkte deshalb die Zinsen, um die Wirtschaft liquide zu halten. Sie tat dies auch auf Bitten des Westens (ähnliche Forderungen werden heute an China gerichtet), um den heimischen Konsum anzukurbeln und als Motor für das weltweite Wachstum zu dienen.
Genauso gab es inländische Ursachen für die Krise. Die Regierung hatte die Kapitalmärkte dereguliert und es den Unternehmen leichter gemacht, Anleihen auszugeben, anstatt einen Kredit bei der Bank zu nehmen. Die Banken suchten deshalb nach anderen Möglichkeiten, ihre Einlagen zu investieren. Allzu oft liehen sie Spekulanten Geld, die auf Immobilien setzten. Japan verpasste es, vom Exportmeister zur »Import-Supermacht« zu werden, wie es Yasuhiro Nakasone, Japans Premierminister während der 1980er-Jahre, ausdrückte.45 Die politische Wirtschaft der Nachkriegszeit war auf Produktion und Exporte ausgerichtet. Es war einfacher gesagt als getan, nun zu einem am Konsumenten orientierten Modell zu wechseln. Dazu musste man eigennützige Interessen überwinden und die gesamte politische Struktur ändern, die sich eher ums große Geschäft als um den kleinen Bürger drehte. Das Bemühen der Zentralbank, die Wirtschaft anzukurbeln, hatte zur Folge, dass Geld einfacher und günstiger zu haben war und die Spekulationswut befeuert wurde. Die Preise für Anteile und Eigentum nahmen einen Kurs, der viele das absolut sichere Geschäft wittern ließ. Selbst Onoues Kröte lag anscheinend immer richtig. Doch im Finanzwesen wie im Leben können Wetten auf zweierlei Art ausgehen. Als die Zentralbank merkte, wie weit die Dinge aus dem Ruder geraten waren, und daraufhin versuchte, die Euphorie zu zähmen, indem sie die Zinsen anhob, war die Blase schon angestochen. Japan hatte lange auf Wolken geschwebt, jetzt kam die unsanfte Landung. Es sollte kein Zurück zu der vergangenen Wirtschaftskraft geben. Der Traum von Japan als der Nummer eins war vorbei.
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Es dauerte mehrere Jahre, bis die Japaner begriffen, dass die einbrechenden Aktienpreise mehr als ein vorübergehendes Tief waren. Der Glaube an die Stärke der japanischen Wirtschaft – basierend auf den besonderen Fähigkeiten des japanischen Volks – ließ viele annehmen, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Preise für Aktien und Eigentum wieder auf das »normale« Niveau steigen würden. Anfang der 1990er-Jahre wuchs die Wirtschaft noch relativ konstant. Erst zum Ende des Jahrzehnts verlangsamte sich das Wachstum, und einige Geldinstitute gerieten unter Druck. Nach und nach wurde deutlich, dass es kein Zurück zu den guten alten Zeiten gab. Fortan sollte dies die Normalsituation sein.
Um die erlahmende Wirtschaft zu beleben, brachten die jeweiligen Regierungen im Laufe der 1990er-Jahre mehrere große Wachstumspakete voran – der Art, wie sie auch Europa und Amerika nach der Lehman-Krise 2008 anwenden sollten. Sie investierten in öffentliche Arbeiten – die Bauten verspottete man später als »Brücken ins Nichts« –, in Steuersenkungen und in die Sozialversicherung. Irgendwann verschickte man sogar Einkaufsgutscheine im Wert von je 200 Dollar an über 30 Millionen Haushalte. Wenn diese Maßnahmen dazu gedacht waren, wieder auf die Wachstumsraten vor dem Kurseinbruch zu kommen, so mussten sie scheitern, doch man weiß nicht, was ohne sie geschehen wäre.46 Was auch immer der Effekt gewesen sein mag, das Wachstum pendelte sich in den 1990er-Jahren bei 1,2 Prozent ein – etwa ein Viertel der Rate, die man aus den 1980ern kannte –, und Japan erlebte drei Rezessionen. Der Lebensstandard blieb auf einem akzeptablen Niveau und doch meilenweit entfernt von dem, was man während der Aufholjahre gewohnt war. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Ab 1997 gingen mehrere große Banken in die Knie, da sie mit Forderungsausfällen zu kämpfen hatten. Unter ihnen war auch Yamaichi Securities – von ihr hatte Onoues unglückselige Kröte die Investmenttipps erhalten. Japan stand vor einer waschechten, ernsten Finanzkrise.
Auf der politischen Ebene hatte es Andeutungen einer Krise gegeben, als 1993 zum ersten Mal seit vier Jahrzehnten die Liberaldemokratische Partei die Macht in Japan verlor. Die Koalition, die sie ersetzte, war zerbrechlich und uneins, und nach einem Jahr waren die Liberaldemokraten wieder am Ruder. Dennoch sollte nichts mehr sein wie vorher. Ab diesem Zeitpunkt – zumindest bis die Präsidentschaft von Junichiro Koizumi in den Jahren 2001–2006 frischen Wind in die Partei brachte – konnten die Liberaldemokraten sich nur mit der Unterstützung von Koalitionspartnern an der Macht halten. Mehrere aufeinanderfolgende Regierungen konnten nur sporadische Antworten auf die zunehmend düstere wirtschaftliche Lage geben, das ehemals so stabile politische System wankte nur noch von Krise zu Krise. Innerhalb eines Jahrzehnts lösten sich nicht weniger als sieben Premierminister im Amt ab. Es begann eine Phase der politischen Dysfunktion, die bis heute anhält.
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Es war der Schriftsteller Haruki Murakami, der mich auf das Jahr 1995 brachte. Auf den ersten Blick bietet es sich nämlich nicht als entscheidender Wendepunkt in Japans Nachkriegsgeschichte dar. 1973, das Jahr der ersten Ölkrise, als das Toilettenpapier über Nacht aus den Supermarktregalen verschwand, ließe sich genauso gut als das Jahr festlegen, in dem die Sorglosigkeit der Nachkriegsjahre endete. Das Wachstum schmolz auf weniger als die Hälfte, von durchschnittlich 9,5 Prozent ab den 1950er-Jahren auf 4,2 Prozent in den 1970er- und 1980er-Jahren. Es war das Ende von Japans »goldener Ära«, wie es mein Freund Shijuro Ogata von der Zentralbank nannte. Und dann war da 1989, das Jahr, in dem am 7. Januar die Showa-Zeit mit dem Tod des 87-jährigen Kaisers Hirohito zu Ende ging. Hirohitos Herrschaft hatte am Weihnachtstag 1926 begonnen. Kaum eine Regierungszeit hat so viele Höhen und Tiefen miterlebt. Im Gegensatz dazu hat sich die daran anschließende Heisei-Zeit wenig ereignisreich gezeigt: Sie war geprägt von bequemem Wohlstand, auf den jedoch eine wirtschaftliche Talfahrt und eine politische und wirtschaftliche Schieflage folgten.
In vielerlei Hinsicht drängt sich 1990 als überzeugendster Kandidat für Japans Nachkriegswende auf. Es war nicht nur das Jahr, in dem die Spekulationsblase platzte, sondern auch ein Zeitpunkt großer geopolitischer Umwälzungen. Die Berliner Mauer fiel, und kurz darauf lag das sowjetische Imperium in den letzten Zügen. Diese politischen Erdbeben beendeten mit einem Mal die gesicherten Positionen des Kalten Krieges, als Japans Platz in der Welt als amerikanischer Verbündeter im Pazifik klar umrissen gewesen war.
Murakami aber nun meinte, ich sollte mir das Jahr 1995 anschauen. Weder der Tod des Kaisers noch der Börsenkrach noch der Fall der Mauer hatten der japanischen Öffentlichkeit deutlich gemacht, dass Japan in eine neue Ära eintrete. Das taten laut Murakami erst die Schockerlebnisse im Jahr 1995: ein Erdbeben in Kobe und ein terroristischer Anschlag in der Tokioter U-Bahn. Sie verdeutlichten mit absoluter Schärfe die veränderten Gegebenheiten im Land. Er erzählte mir, dass dies das Jahr war, in dem der Nachkriegsmythos der Wunderjahre endete. Als die moderne Stadt Kobe zusammenfiel, sagte Murakami, zerbrach damit auch der Glaube an Japans Ingenieurkunst, ja an seine Modernität. Noch erschreckender war der Anschlag durch Anhänger einer mörderischen apokalyptischen Ideologie. Er erschütterte laut Murakami den Mythos einer harmonischen Nation, deren Bewohner gemeinsam an einem Strang zogen. Japans gesellschaftlicher Konsens wurde von innen ausgehöhlt.
Ich verbrachte einmal einen Nachmittag mit Murakami in einem ruhigen Restaurant namens Tamasaka, im Aoyama-Viertel von Tokio. Wie so viele Straßen in dieser Stadt der versteckten Ecken hatte auch diese Straße keinen Gehweg, sondern nur eine weiße Linie, teilweise flankiert von hohen, unebenen Steinmauern, die der Umgebung ein beinahe mittelalterliches Flair verliehen. Jemand, der nicht genau hingeschaut hätte, wäre wahrscheinlich an dem Restaurant vorbeigelaufen, so unscheinbar war das Schild und so schmal der Kiesweg zu seiner schlichten Tür. Wir zogen die Schuhe aus und wurden nach oben, in einen nüchternen, nahezu quadratischen privaten Speiseraum gebracht, der mit Tatami-Matten ausgelegt war und holzverkleidete Wände hatte. Wir saßen uns auf Kissen auf dem Boden an einem niedrigen Tisch gegenüber. Als uns der Mann, der uns bediente, allein ließ und die papierbespannte Schiebetür leise zuschob, blieben wir in einem stillen und kontemplativen Raum zurück, der an die tiefen Brunnen erinnerte, in denen sich Murakamis Figuren manchmal wiederfinden.
Murakami trug einen dunkelblauen Anzug und ein kragenloses Hemd. Seine kurzen Haare betonten die Breite seines Gesichts. Um seinen Mund sah man ein paar feine Fältchen, aber für einen Mann Mitte 50 sah er immer noch gut aus. Er würde kein Bier zum Mittag trinken, sagte er, da er anschließend noch schwimmen gehen wollte. Murakami hatte einen festen, leicht nachdenklichen Blick. Er sprach Englisch. Dabei machte er lange Pausen, wog die Worte ab und presste dann alles auf einmal heraus, wie bei einer Tube Zahnpasta. Jeder Satz hatte eine gewisse Schwere, als sei er sein letztes Urteil zu dem jeweiligen Thema. Wir begannen unsere Unterhaltung nicht mit dem Jahr 1995, sondern in den 1960ern, den Jahren des schnellen Fortschritts, in denen Murakami aufwuchs. »Meine Eltern erwarteten von mir, dass ich mich dem System anschloss, in einer großen Firma arbeitete und ein braves Mädchen heiratete. Aber ich wollte so nicht leben«, sagte Murakami. »In der japanischen Gesellschaft herrscht ein Kräftesystem. Wenn man dazugehört, stimmt alles. Wenn man nicht dazugehört, stimmt nichts. Ich entschloss mich freiwillig, dabei nicht mitzumachen. Nachdem ich die Universität abgeschlossen hatte, stieg ich einfach aus.«
Murakami wurde 1949 geboren. Seine Eltern waren beide Lehrer für japanische Literatur. Der Großvater väterlicherseits war buddhistischer Priester. Der Großvater mütterlicherseits hatte in Osaka als Händler gearbeitet. Murakami erlebte das Wachstumsjahrzehnt der 1960er als Jugendlicher und hatte schon früh den Eindruck, dass an Japans Wirtschaftswunder etwas faul war. Ihn beunruhigte das unaufhaltsame Streben nach Wachstum und Status. Sein eigenes Leben war eine Rebellion gegen die einfachen Sicherheiten, in die er hineingeboren worden war. An der Waseda-Universität, an der er Theaterwissenschaft studierte, lernte er Yoko kennen, die er sehr zum Missfallen seiner Eltern auch heiratete. Als Yoko Murakamis Eltern zum ersten Mal traf, herrschte eine derart angespannte Stimmung, dass sie zeitweilige Lähmungserscheinungen hatte.47
Neben seinem Studium jobbte Murakami in einem Plattenladen und eröffnete noch vor seinem Abschluss eine Jazzbar in Tokio namens »Peter Cat«. Er hatte Freude daran, aber wie er berichtete, war es oft auch hart. »Ich musste bis zwei oder drei Uhr morgens arbeiten. Alles war voller Zigarettenqualm und Betrunkener. Die musste ich dann rauswerfen. Ich musste mich um alles kümmern.« Während er in der Bar arbeitete, begann er jeden Abend etwa eine Stunde zu schreiben und produzierte auf diese Weise seinen ersten Roman Kaze no uta o kike, der 1979 in der Literaturzeitschrift Gunzo veröffentlicht wurde. Er verkaufte das »Peter Cat« und widmete sich fortan ganz dem Schreiben. Größere Aufmerksamkeit erlangte er 1985 mit Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt, einer Geschichte, die in einem surrealen Tokio spielt, das von fleischfressenden, unter der Erde lebenden Kreaturen namens Schwärzlingen bewohnt wird. Dem schloss sich 1987 Naokos Lächeln an, ein Roman über Liebe und Selbstmord, der sich vor dem Hintergrund der Studentenbewegung im Tokio der 1960er-Jahre abspielt. Das Buch wurde in Japan vier Millionen Mal verkauft. Murakami wurde sein größer werdender Ruhm so unheimlich, dass er aus dem Land floh, erst nach Europa, und dann in die USA, wo er in Princeton lehrte. Zum Teil wollte er dem Rummel entkommen, den seine Romane entfacht hatten. Zum Teil wollte er sich aber auch den Auswüchsen der Wachstumswirtschaft Ende der 1980er-Jahre entziehen und der seiner Ansicht nach gedankenlosen Gier, welche die Gesellschaft erfasst hatte. »Ich wollte raus aus Japan. Ich hatte es satt, hier zu leben. Wir waren zu selbstbewusst, zu arrogant, zu reich.«
Murakami kam 1995 aus dem selbst auferlegten Exil zurück und wählte damit ein tragisches Jahr für seine Wiederkehr. Der erste Schock ereignete sich in der Hafenstadt Kobe – der Stadt, in der Murakami aufgewachsen war. Am 17. Januar um 5:46 Uhr brach ein Erdbeben mit einer Stärke von 6,8 Punkten auf der Richterskala durch eine der florierendsten Städte Japans, tötete 6500 Menschen und verletzte Tausende weitere. In dem Erzählband Nach dem Beben, den er einige Jahre später veröffentlichte, schreibt Murakami über die Zerstörungen und das Chaos nach einem fiktiven Beben:
»... weil Züge entgleisen, umstürzen und aufeinanderprallen. Hochbahnen und U-Bahnhöfe stürzen ein, und Tanklastwagen explodieren. Gebäude verwandeln sich in Schutthaufen und begraben die Menschen unter sich. Überall brennt es, die Straßen sind zerstört, Kranken- und Feuerwehrwagen sind nutzlos. 150000 Menschen! Die reinste Hölle.«48
Obwohl das Unglück eine Naturerscheinung war, wurde es durch menschengemachte Gegebenheiten verschlimmert. Gebäude und Autobahnen, die japanische Ingenieure selbstbewusst als erdbebensicher gepriesen hatten, fielen wie Kartenhäuser zusammen. Dem Meer abgerungenes Land rund um die 1,5-Millionen-Stadt wurde in eine Schlammwüste verwandelt. Die Hanshin-Stadtautobahn, einst Glanzstück der modernen Ingenieurkunst, wurde zerknickt und verbogen. Nur einige Monate zuvor waren japanische Fachleute nach Los Angeles gereist, um das dortige Erdbeben zu untersuchen. Ihre überhebliche Erkenntnis hatte gelautet, dass es in Japan niemals zu einer solchen Zerstörung kommen könne, da die Bautechnik überlegen sei. Wie sich herausstellte, waren die Schäden in Kobe dann um vieles schlimmer.
Japans Institutionen erwiesen sich als genauso zerbrechlich wie seine angeblich unerschütterlichen Gebäude. Die Politiker in Tokio brauchten mehrere Stunden, um zu begreifen, was sich da abspielte. Den Mitgliedern des Kabinetts hatte man bei ihrer morgendlichen Sitzung irrtümlicherweise mitgeteilt, dass es ein Erdbeben in Kioto gegeben habe – also 80 Kilometer entfernt vom eigentlichen Unglücksort. Das Kommunikationssystem war zusammengebrochen, es kam nur wenig Information heraus oder herein. Die Verantwortlichen konnten sich nicht entscheiden, ob sie die sogenannten Selbstverteidigungsstreitkräfte, Japans Militäräquivalent, in das Gebiet schicken sollten. Den Truppen misstraute die Öffentlichkeit auch noch ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg. Die Rettungsaktionen starteten so planlos, dass Mitglieder der Yakuza-Gang, berühmt für ihre Tätowierungen und ihren angeblichen Ehrenkodex, laut Berichten die Ersten waren, die mit Essen und Decken zum Unglücksort eilten. In das behördliche Vakuum strömten Hunderttausende Freiwillige, deren Engagement der Idee Nahrung gab, dass Menschen und nicht Regierungen oder Bürokraten die Dinge in die Hand nehmen und etwas erreichen konnten. Das war eine beunruhigende neue Erkenntnis für eine Bevölkerung, die über vier Jahrzehnte der Regierung vertraut und angenommen hatte, dass die Verantwortlichen schon das Richtige tun würden.
»Die Struktur der Gesellschaft ist sehr instabil«, sagte mir Murakami und fügte hinzu, dies hätten das Erdbeben in Kobe und die unbedachten Reaktionen der Behörden auf das Unglück klar herausgestellt. In einer der Erzählungen aus Nach dem Beben, einer Sammlung von Kurzgeschichten, die in den Wochen zwischen Kobe und dem Giftgasanschlag in Tokio spielen, hat ein Kind Albträume wegen des »Erdbebenmanns«. In einer anderen Geschichte tun sich ein riesiger Frosch und ein bescheidener Bankangestellter, Herr Katagiri, zusammen, um Tokio vor einem bösartigen Wurm zu retten, der es darauf abgesehen hat, ein zweites, noch verheerenderes Beben auszulösen. Im englischen Klappentext zu dem Buch ist die Rede von einem »klagenden Aufschrei einer auf immer verängstigten Nation«.
Als wenn Kobe nicht gereicht hätte, säten zwei Monate später, am 20. März, Mitglieder der sogenannten Aum-Sekte Terror, indem sie das tödliche Gift Sarin in der U-Bahn von Tokio verteilten und Tausende Menschen zu Schaden brachten. Omu Shinrikyo war eine quasi-religiöse Organisation unter der Führung von Shoko Asahara, dem Sohn eines Tatami-Flechters, der 1955 als Chizuo Matsumoto geboren wurde. Asahara hatte seine zerstörerische Karriere als Händler für Wunderheilmittel begonnen und 200000 Dollar verdient, indem er Mandarinenschalen in Alkohol für 7000 Dollar an kranke alte Leute verkauft hatte. 1984 gründete er den Yogaverein »Versammlung der Om-Einsiedler«, der ein noch unheimlicheres Image bekam, als er in »Om-Lehre der Wahrheit« umgetauft wurde. Asahara bastelte sich »Glaubenssätze« von Schiwa dem Zerstörer, Nostradamus und biblischen Vorstellungen eines Armageddon zusammen. Er begann, einen Atomkrieg vorauszusagen, der bald sämtliche Zivilisationen zerstören würde. Nur zahlende Mitglieder der Aum-Sekte sollten überleben. Bald schon versuchte er, dieses Ende zu beschleunigen.
Asahara konnte Anhänger unter den Bessergestellten der Gesellschaft gewinnen. Viele kamen von der Universität Tokio und anderen angesehenen Hochschulen, an der die Bürokraten – die Geburtshelfer des Wirtschaftswunders – ausgebildet worden waren. Die Mitglieder überschrieben ihren gesamten Besitz der Aum-Sekte und brachen den Kontakt zu ihren Familien ab. Sie nahmen an seltsamen Ritualen teil – eines bestand beispielsweise darin, Asaharas gebrauchtes Badewasser, den »Wunderteich« zu trinken. Seltsamerweise zog die Aum Tausende Mitglieder an. Asahara schickte seine »Mönche« aus, um nach chemischen oder gar nuklearen Waffen zu suchen. Auf Letztere stießen seine Gefolgsleute zum Glück nie. Aber sie entdeckten Sarin, ein Nervengas, das Wissenschaftler in Nazideutschland entwickelt hatten.
Am Morgen des 20. März bestiegen Aum-Mitglieder verschiedene U-Bahn-Züge, die jeweils in Japans Behördenzentrum Kasumigaseki fuhren. Sie deponierten Plastikbeutel mit Sarin, die sie vor dem Aussteigen mit der geschärften Spitze eines Regenschirms einstachen. Als sich das Gas in den überfüllten Tunneln ausbreitete, wurden Tausende vergiftet. Am Ende dieses furchtbaren Tages gab es 5500 Verletzte. Manche Überlebenden blieben schwer behindert. Einer Frau schmolzen die Kontaktlinsen an den Pupillen an, und ihr mussten beide Augen operativ entfernt werden. 13 Menschen, darunter Bahnhofspersonal, starben.
Der Aufstieg der Apokalypse-Sekte war eine absurde Erscheinung, die es überall hätte geben können. Doch japanische Intellektuelle, darunter auch Murakami, versuchten ihr Aufkommen mit einer umfassenderen Krise der japanischen Gesellschaft in Verbindung zu bringen. Im Nachwort zu Untergrundkrieg, einer Sammlung von Interviews mit Opfern und Tätern der U-Bahn-Anschläge, schreibt er: »Selbst jetzt, wo dieses Buch fertig ist, kann ich den Anschlag nicht als aufgearbeitet betrachten und als Ausnahmetat einer einzelnen wahnsinnigen Sekte zu den Akten legen.« Anstatt das Ereignis den Kategorien von »sie, die Bösen« und »wir, die Guten« zuzuordnen, suchte er in der Gesellschaft nach Hinweisen dazu, wie es zum Aufstieg der Aum-Sekte kommen konnte. »Könnte der Schlüssel zur Lösung des grausamen Rätsels, das ›sie‹ uns aufgaben, eventuell sogar auf unserem Territorium vergraben sein?«, fragte er. Im Gespräch mit mir sagte er: »Die Sektenmitglieder sind aus dem System ausgestiegen und haben sich dem richtigen System angeschlossen, oder zumindest dachten sie, es sei das richtige ... Sie entschieden sich, sich für etwas Gutes einzusetzen. Doch sie haben ein Verbrechen begangen.«
Andere Schriftsteller, darunter Kenzaburo Oe, Japans einziger lebender Literaturnobelpreisträger, sprachen sogar mit Sympathie über die Aum-Sekte. Über Asaharas fanatische Brigade sagte Oe mir gegenüber: »Sie wollten dem japanischen Volk zeigen, dass wir mental und seelisch in eine Sackgasse gelangt waren.«49 Mich befremdete, dass zwei führende japanische Schriftsteller sich derart äußerten. Doch die Menschen suchten tatsächlich nach einer Inspiration, die über die Anbetung des Bruttonationaleinkommens hinausging – das Gewinnstreben war zu einer nationalen Obsession geworden, bis dann die Spekulationsblase platzte. Es gab genug Alternativen: L. Ron Hubbards Scientologen, die Vereinigungskirche des Koreaners Sun Myung Moon und Bhagwan Shree Rajneesh warben allesamt um Jünger. Im Japan der 1980er hatten sich Dutzende neue Religionen etabliert – was einen Wissenschaftler schon dazu veranlasste, die haltlose Epoche als »Stoßzeit der Götter«50 zu umschreiben.
»1995 war das wichtigste Jahr nach dem Krieg«, sagte mir Murakami.51 »Es war ein kritisches Jahr, eine Art Meilenstein für mein Land.« Er schwieg, während der Mann im Restaurant uns Schüsseln, Teller und kleine Töpfe auf den Tisch stellte. Die Bewegungen erschienen genau einstudiert, wie in der Kampfkunst. Ich musste an die Bühnenhelfer im Kabuki-Theater denken, die Kuroko oder »schwarze Leute« genannt werden. Sie sind von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet und schleichen in Sicht der Zuschauer über die Bühne, um Requisiten zu bewegen oder die Schauspieler umzukleiden. Dennoch werden sie dem Brauch nach wie unsichtbar behandelt.
Japaner beherrschen das Rollenspiel und lassen sich gerne auf Illusionen ein. Doch das Jahr 1995, meint Murakami, weckte sie aus ihrer Träumerei. »Wir glaubten an unser System. Wir waren reicher und reicher geworden und dachten, das System wäre unerschütterlich. Wir dachten, wenn wir zur Mitsubishi Corporation gehörten, könne uns nichts mehr passieren. Doch seit 1995 sind wir da nicht mehr so sicher. Wir sind zu der Ansicht gelangt, dass etwas mit unserem System nicht stimmt. Es hat ein Wandel in unserer Denkweise eingesetzt.«
Für Murakami stehen die Ereignisse dieses Jahres in Verbindung mit dem Zusammenbruch des alten Wirtschaftsmodells. Sie markierten den heftigen Todeskampf eines Systems, dem er schon immer misstraut hatte. »Ich glaube, das Platzen der Spekulationsblase war gut für Japan. Als wir reich waren, hasste ich dieses Land. Es war dumm, wahnwitzig und arrogant. Wir glaubten fest an unser System. Das System war das einzige richtige. Japan war die Nummer eins. Lauter so dummes Zeug«, sagte er. »Dann ist die Blase geplatzt, und heute haben wir ziemliche Probleme. Aber ich glaube, das ist gut. Ich glaube, unsere Gesellschaft ist gesünder als vor zehn Jahren. Damals dachten wir, wir würden alles richtig machen. Aber jetzt sind wir ernüchtert und denken: ›Wer bin ich? Wer sind wir?‹ Ich glaube, das ist gut. Das ist der Lauf der Geschichte. Ich nehme an, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir wirtschaftlich und mental genesen.«