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M. H. KrausEins, zwei, vielehttps://doi.org/10.1007/978-3-662-63154-6_2

2. Fühlen, Erfassen, Verstehen – Frühgeschichte des Zählens

Mario H. Kraus1  
(1)
Berlin, Deutschland
 
 
Mario H. Kraus
Keywords
Erfassen, Zuordnen, Bündeln/GruppierenHilfsmittel von damals bis heute: Zählstein, Kerbholz, Knotenschnur, KörperteileZeitreihe des Zählens

„Erfahren, Schauen, Beobachten, Betrachten, Verknüpfen, Entdecken, Erfinden sind Geistestätigkeiten, welche tausendfältig, einzeln und zusammengenommen, von mehr oder weniger begabten Menschen ausgeübt werden. Bemerken, Sondern, Zählen, Messen sind gleichfalls große Hilfsmittel, durch welche der Mensch die Natur umfasst und über sie Herr zu werden sucht, damit er zuletzt alles zu seinem Nutzen verwende“ – so der deutsche Dichter Johann Wolfgang Goethe (*1749, †1832) in zukunftsfroher Stimmung.

In den ersten und längsten Zeiträumen der Menschheitsgeschichte begann dieses planvolle menschliche Handeln eher mühsam. Die Lebensverhältnisse änderten sich über Jahrtausende wenig, die Lebensspannen waren kurz. Viele Menschen starben durch Kämpfe, Dürren oder Seuchen, zu zählen gab es wenig; wohlhabend war im Pleistozän sicher niemand, im Holozän waren es lange nur Minderheiten. So entstanden einfache Frühformen des Zählens kleiner, alltäglicher Mengen:
  1. 1.

    Erfassen

    Es erfüllt die oben beschriebenen Voraussetzungen – Unterscheiden, Erkennen, Einordnen – und gelingt auch manchen Tierarten; dabei ist es abhängig von verschiedenen Rahmenbedingungen (Abb. 2.1 und 2.2). Heute gilt als gesichert, das Menschen Mengen von etwa drei Dingen „augenblicklich“ erfassen.
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    Abb. 2.1

    Erfassen von Mengen. Menschen können in kurzen Zeiträumen nur kleine Mengen erfassen. Die oberen Darstellungen machen es leicht – sie sind klar erkennbar und verweisen auf Bekanntes. Die beiden unteren sind nicht so übersichtlich. Unterschiedliche Farben, Formen, Entfernungen von Dingen können die Wahrnehmung ebenso stören wie enge Sichtfelder, schlechte Lichtverhältnisse oder wechselnde Bildhintergründe

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    Abb. 2.2

    Zählübung mit Suchbildern. Die Ziffern von 1 bis 20 sind nacheinander mit einem Stift anzutippen: Was gelingt besser, und warum?

     
  2. 2.

    Zuordnen

    Fünf einfache Verfahren gelingen ohne Schreib- und Rechenkenntnisse und erfüllen seit Jahrtausenden ihre Zwecke:
    • a)Verteilen. Aus einer Menge von Gegenständen erhalten alle Anwesenden reihum jeweils einen Gegenstand – so lange, bis es nichts mehr zu verteilen gibt; zum Schluss haben vielleicht nicht alle genau die gleiche Menge, aber eben fast die gleiche und damit eine als gerecht empfundene.

    • b)Vollständigkeit feststellen. Vor einer gemeinsamen Unternehmung legt jedes Gruppenmitglied genau ein Steinchen in einen Beutel (in ein Gefäß, auf einen Haufen) und nimmt nach der Rückkehr davon genau eines zurück: Auch bei großen Gruppen wird schnell klar, ob jemand fehlt.

    • c)Vergleichen. Neben jeden Gegenstand aus einer Menge wird genau ein Gegenstand einer anderen Menge gelegt. Zum Schluss liegen zwei (oder mehr) Reihen nebeneinander – alle können erkennen, ob die Reihen gleich oder unterschiedlich lang, Mengen also kleiner oder größer sind.

    • d)Tauschen. Gabe und Gegengabe werden nebeneinander gelegt und die Mengen bei Bedarf verhandelnd („feilschend“) angepasst: Alle sehen, was im Angebot ist und können prüfen und abwägen, ob es gerecht zugeht oder eben nicht. So wird seit jeher in der Subsahara-Region zwischen Karawanen und Dorfbevölkerungen gehandelt; mitunter zieht man sich nach Ablegen der Ware zurück, lässt die Gegenseite in Ruhe prüfen und ihrerseits Ware hinlegen, bis alle zufrieden sind und mit ihrer jeweiligen Ware fortziehen.

    • e)Ordnen. Aus einer Menge von Gegenständen werden jeweils zwei miteinander verglichen (nach Farbe, Größe, Wert oder sonstigen Merkmalen), die größeren, schöneren, besseren jeweils zur gleichen Seite abgelegt oder mit einem Farbtupfer versehen. Wurde alles mit allem verglichen, ist eine Reihenfolge entstanden.

     
  3. 3.

    Bündeln/Gruppieren

    Mengen sind in geeigneter Anordnung überschaubar: Die üblichen Fünfergruppen auf Strichlisten gehören dazu ebenso wie Münzstapel oder gebündelte Gewürze und Gemüse.

     

Wenn also in der Grundschule die Kinder mit Fingern oder mit Rechenstäbchen zählen, eine Stellentafel benutzen, wenn beim Kartenspiel die Karten reihum verteilt und der Punktestand mit einer Strichliste gezählt wird, wenn die Zahl der Tage eines Monats an den Fingerknöcheln abgezählt wird, tun Menschen nichts anderes als ihre Vorfahren schon vor Jahrtausenden. So ergab ein britisch-australisches Forschungsvorhaben vor etwa zehn Jahren, dass Kinder australischer Ureinwohner (45 von 4 bis 7 Jahren) auch ohne Zahlbegriffe zählen können: Verglichen wurden die Leistungen von Kindern eines Aborigine-Stammes, der in seiner Sprache Eins, Zwei und mehr als Zwei, und eines weiteren, der Eins, Zwei, Drei und mehr als Drei unterscheidet, beide aus den Norden Australiens, mit Aborigine-Kindern, die in Melbourne im Süden Australiens eine englischsprachige Schulbildung erhielten. Die Sprachen Ersterer haben keine Ordnungszahlen, aber unterschiedliche Begriffe für „Einige“ und „Viele“. Ausgehend vom Ansatz, dass sich Zahlworte und Zahlbegriffe bedingen, anderenfalls im Alltag nur einfache Mengenvergleiche („viel“ − „wenig“) möglich sind, wurden das Zahlengedächtnis, das Zuordnen von Geräuschen und Zählmarken, das Summieren ohne Worte und das Aufteilen von Knete erprobt: Es gab jedoch keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Gruppen.

Ein einfaches Verfahren, um größere Menschengruppen oder Tierherden zu zählen, ist heute als „Hammelsprung“ bekannt: Die Betreffenden oder ihre Tiere müssen einzeln durch zwei Felsen oder Pfähle, eine Tür oder eine sonstige Schleuse gehen und werden von Helfern gezählt. Das Verfahren war schon in frühen Kulturen zum Zählen von Vieh üblich, wurde später in der römischen Volksversammlung (Concilium plebis) für Abstimmungen genutzt und 1874 in die Geschäftsordnungen von Reichstag und Preußischem Abgeordnetenhaus aufgenommen; in heutigen Parlamenten sind im Regelfall drei Türen nötig („Ja“, „Nein“, „Enthaltung“).

Leistungsfähig werden solche Verfahren erst durch Zahlbegriffe. Nach heutigem Wissen haben Menschen einen veranlagten Zahlensinn, der sich aber abhängig von der Lebenswelt unterschiedlich entwickelt. Zahlbegriffe umfassen Zahlworte und Zahlzeichen, aber hauptsächlich ein Gefühl für Zusammenhänge: Gibt es beispielsweise drei Gegenstände einer Art, wird diese „Dreiheit“ irgendwann vermerkt – wenn die Gegenstände wichtig genug sind und immer wieder gezählt werden. Eine Bedeutung, ein Sinn, macht Gegenstände zu Dingen; sonst würde niemand sie zählen wollen. Über Jahrtausende wurde die „Dreiheit“ bei verschiedenen Dingen verschieden bestimmt; es gab für unterschiedliche Waren (Öl, Wein, Getreide, Fisch, Stoff) lange unterschiedliche Zeichen und Maße (Kap. 6). Ein Zahlbegriff hingegen entsteht, wenn
  • das Gemeinsame der „Dreiheit“ in verschiedenen Mengen von Dingen oder Ereignissen (immerdrei der jeweiligen Art) erkannt,

  • der Zusammenhang zwischen dem Zählen bis Drei (Kardinalprinzip) und dem Nummerieren von Eins bis Drei (Ordinalprinzip) erkannt,

  • dies auf eine „Fünfheit“, „Siebenheit“ oder andere Zähligkeit übertragen und mit einem Zahlwort, Zahlzeichen (Ziffer), vielleicht einem Bild, dargestellt wird.

Ein Zahlbegriff löst das Zählen vom jeweiligen Einzelfall oder Lebensumstand und verbindet dafür verschiedene Fälle und Lebensumstände über die Anzahlen, Mengen, Größen. Zählen heißt, Gleiches oder Ähnliches zu sondern, also in einer Menge zusammenzufassen. Das kann mit beliebigen Mitteln geschehen. Es dienen somit nicht einfach Worte zum Benennen von Zahlen, sondern Zahlworte und Zahlzeichen gehören gleichermaßen zu einem Zahlbegriff, der ein Verständnis für Bedeutungen und Größenverhältnisse umfasst (Abb. 2.3).
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Abb. 2.3

Anzahl als Gemeinsamkeit, Vielfalt der Darstellung. Es ist völlig gleichgültig, mit welchen Zeichen die Zahlen dargestellt werden, sofern es nur genügend Leute verstehen

Über 50.000 Jahre hinweg entstanden nach und nach in allen Kulturen Zahlworte – zunächst wohl Laute, einsilbige Worte, als Zahlworte für „eins“, „zwei“, „einige“ und „viele“. Mehr war nicht nötig. Mütter wissen auch ohne Zahlbegriffe, wie viele Kinder sie haben, welches jünger oder älter ist und ob eines beim Essen fehlt. Im Alltag bedurfte es nur einiger Begriffe, Hilfsmittel waren wichtiger; gezählt wurde wohl weniger mit Worten, sondern mit Fingern und Händen, mit Einschnitten (Kerben) in Holz oder Knochen, auch mit Zählsteinen. Zu den gefundenen alten Hilfsmittel des frühen Zählens gehören ein
  • > 40.000 Jahre alter Affenknochen in den Lebombo-Bergen in Südafrika; seine Ritzungen zeigen vermutlich die Tage eines Monats,

  • ein 33.000 Jahre alter Wolfsknochen mit Ritzungen als Fünfergruppen in Osttschechien,

  • etwa 20.000–35.000 Jahre und 12.000 Jahre alte Knochen mit gruppenweisen Ritzungen an den Fundstätten Aurignac und Grotte du Tai in Frankreich,

  • ein 20.000 Jahre alter Affenknochen mit Ritzungen im Kongo (Ishango-Knochen) oder

  • ein 10.000 Jahre alter Teil eines Rentiergeweihs in Florida, ebenfalls mit Ritzungen, die wohl die Tage eines Monats zeigen.

Ackerbau und Viehzucht verbreiteten sich in Mesopotamien, dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris (heute teils Irak, teils Iran), schon vor über 10.000 Jahren, in Ägypten und China etwas später. Volksgruppen in Gebieten mit wechselhaftem Klima mussten ihre Vorratshaltung sorgfältiger planen als solche in gemäßigten Verhältnissen; daher zählten sie in größeren Zahlenräumen. Schrift entstand in Sumer sowie Ägypten vor 5.000–5.500 Jahren – beide Kulturen pflegten vielfältigen Austausch, der wiederum die griechische Kultur beeinflusste – und in China vor etwa 2.500–3.500 Jahren sowie in Mesoamerika vor mindestens 2.500 Jahren. Zunächst nutzte man einfache Bildzeichen (Zählstriche, Getreideähren, Tiergestalten): Ägyptische Hieroglyphen, chinesische Schriftzeichen oder Zahlzeichen der Azteken, Inca und Maya waren zunächst bildliche Darstellungen. Die ersten Schriftstücke enthielten keine Sagen oder Gedichte, sondern Listen: Frühe Staatsformen entstanden jeweils vor der Schrift und mit ihnen erste, einfache Formen der Buchführung, die noch nicht als Schrift gelten können, aber ihren Zweck erfüllten. Die Höchstgebildeten der frühen Staaten und Reiche waren Priester und ihre Verwalter und Schreiber, die
  • Abgaben erhoben und Vorräte verwalteten,

  • Gestirne beobachteten und Kalender anhand der Ernten, Überschwemmungen, Feiertage entwarfen,

  • Felder nach Überschwemmungen neu vermaßen,

  • Berechnungen zur Errichtung von Tempeln und Dämmen anstellten oder

  • Zählungen wehr- und arbeitsfähiger Männer unternahmen.

Selbst viele Schreiber- und Rechnersklaven, die in der Antike die Buchhaltung großer Landgüter besorgten, waren gewiss gebildeter als ihre Herren: Sie konnten in mehr als nur einer Sprache lesen, schreiben und rechnen, hatten mehr von der Welt gesehen und stammten nicht selten aus den ehemals „besseren Kreisen“ ihrer nun eroberten Heimatländer.

Vorratshaltung und Menschenführung bedürfen der Verwaltung: In sumerischen Stadtstaaten gab es zunächst Tongefäße (Bullen), die mit kleinen Zählkugeln gefüllt, markiert und versiegelt wurden; sie galten als Urkunde. Später nutzte man Tontäfelchen, in die man Zeichen ritzte; Keilschrift entstand. Zählsteine dienten nicht nur zum Zählen und Rechnen; die ersten Brettspiele (und Glücksspiele) verbreiteten sich. In mehreren Kulturen wurden Zählsteine durchbohrt und aufgefädelt, um damit Lagerbestände oder die Größe von Herden festzuhalten; in einigen Gegenden Afrikas ist das noch üblich. Aus aufgefädelten Zählsteinen entstand der Abacus, bis heute in Russland gebräuchlich; das japanische oder chinesische Gegenstück, Soroban und Suan-pan, ist auch noch verbreitet. Die damals übliche und im Römischen Reich beibehaltene Unterscheidung zwischen dem Computer (lat. computare, ausrechnen), dem Bediensteten für verantwortungs- und anspruchsvolle Berechnungen, sowie dem Calculator (lat. calculus, Zählstein auf dem Rechenbrett) für die wiederkehrenden und einfachen Arbeiten wirkte noch bis in die Kontore und Kanzleien der westlichen Moderne. Gute Verwaltung muss durchdacht und gründlich erfolgen; schon als Listen auf Tontafeln oder Papyrusrollen angelegt wurden, entschied das Verfahren über den Nutzen: Etwas aufzuzeichnen ist gut und schön, aber sinnlos, wenn im nächsten Jahr niemand mehr weiß, wo die Urkunde abgeblieben ist. Palast- und Tempelschreiber mussten bereits vor 5.000 Jahren unterscheiden zwischen guter Ablage (du kannst finden, wirst aber selten suchen) und schlechter Ablage (du kannst suchen, wirst aber selten finden).

Viele europäische Zahlworte können auf eine wohl vor etwa 6.000 Jahren zwischen Anatolien und der Ukraine gesprochene indoeuropäische Sprache zurückgeführt werden; sie gelangte vor 4.000 Jahren westwärts. Es gibt keine schriftlichen Überlieferungen; sprachwissenschaftlich wurde ermittelt, dass die ersten zehn Zahlworte etwa oi(nos), duo, trei(es), kwetor, penkwe, sueks, septm, ekteh/oktou, neun/noin, dek(e)m lauteten. Es ist aber nicht klar, warum diese sprachlichen Formen trotz vielfältiger Einflüsse aus griechisch-römischer Antike, Christianisierung und Völkerwanderung bis heute erhalten blieben.

Vor gut 3.000 Jahren gelangte die babylonische Sieben-Tage-Woche in die hebräisch-jüdische Kultur; so entstand die längste durchgehende Tradition, wenn es um das Zählen im Alltag geht (Kap. 8).

Vor 2.500 Jahren befassten sich Pythagoras (*570?, †510?) und seine Anhänger vor allem mit den natürlichen Zahlen (in Griechenland schrieb man Zahlen damals mit Buchstaben). Mathematik, Physik, Astronomie, Philosophie und Theologie bildeten im Denken eine Einheit. Die Gelehrten sammelten altes babylonisches, ägyptisches und persisches Wissen; sie versuchten in Zahlen die Welt zu erkennen und in der Welt die Zahlen. An den Versuchen, die damalige Gesellschaft mit der neuen Lehre zu verändern, zerbrach die Gemeinschaft (heute würde man sie eine Sekte nennen). Auch Euklid (*365?, †300?) – wohl ebenfalls mit anderen – sammelte und ordnete; er schuf eine wissenschaftliche und bis heute wesentliche Grundlage der Mathematik. Archimedes von Syrakus (*287?, †212) gehörte schon zu den neueren, selbst forschenden Gelehrten; er unternahm Versuche, um an Wissen zu gelangen. Und er nutzte es – Wasserhebewerke, Wasseruhren und Festungsbauwerke gehörten zu seinem Nachlass.

In der Antike waren Zählbrett und Abacus wichtige Arbeits- und Hilfsmittel; wer versucht hat, mit römischen Ziffern schriftlich zu rechnen, kann es nachvollziehen. Den Zeichen I, V, X ist übrigens noch anzusehen, dass sie von Kerben und Strichen stammen: Hat man nur ein einfaches Steinmesser und ein Stück Holz oder Knochen, beginnt man nicht als erstes, Kreise zu schnitzen. Damals wurden Landschaften von Bematisten ver- oder eher durchmessen: Solche berufsmäßigen Schrittzähler begleiteten auch Alexander den Großen (*356, †323) auf seinen Feldzügen. Die überlieferten Entfernungsangaben sind sehr genau; die Läufer beobachteten für ihre Bestimmungen gewiss auch den Sternenhimmel und nutzten Hilfsmittel – vielleicht Schrittzirkel oder Messräder, wie sie von Landvermessern späterer Jahrhunderte verwendet wurden, oder besondere Geräte zur Schrittzählung (Hodometer).

Vor etwa 1.800 Jahren entstand Bedarf für die Null als Platzhalter und Bezugspunkt in Vorderasien, China oder Griechenland. Vor etwa 1.400 Jahren notierte der indische Mathematiker Brahmagupta (*598, †665?) die ersten bekannten Rechenregeln für die neue Zahl. Man verstand es nun, Zahlen „auf der anderen Seite der Null“ zu nutzen, um Schulden auszudrücken, und wusste, dass man von der Null aus in beide Richtungen zählen kann.

In den letzten 1.000 Jahren verwendeten die Menschen in den Inselwelten des heutigen Ozeanien sowie die Azteken, Maya und Inca Mittel- und Südamerikas kunstvolle Knotenschnüre und -netze. Mit ihnen wurde nicht nur gezählt; es ließen sich damit Nachrichten übermitteln oder Landkarten darstellen. Sie wurden schon in der Antike beschrieben, waren also einst auch in Europa gebräuchlich.

Kerbhölzer (oder -knochen) dienten in vielen Ländern bis in die Moderne als Merkhilfen und Urkunden für gegenseitige Verpflichtungen (Abb. 2.4). Einige wurden über die gesamte Breite markiert und der Länge nach gespalten; trafen sich die Beteiligten oder ihre Erben nach Jahren, um das Geschäft abzuwickeln oder die Schuld abzulösen, waren die ursprünglichen Verhandlungsgegenstände klar sichtbar. Auf anderen, oft beschrifteten Kerbhölzern wurden Wasser- und Weiderechte, Abgaben, Schulden oder Arbeitsleistungen festgehalten; in deutschen Landen kannte man den Bierstock, den Fuhrstock, den Fronstock und weitere. Im englischen Königreich galten zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert feste Regeln für das Feststellen und Ablösen einer Schuld sowie das jeweilige Kerben der Hölzer. Als die Bank of England zu ihrer Gründung 1697 eine Anleihe von einer Million Pfund ausgab, konnten Kerbhölzer der Krone in den Vermögensstock eingelegt werden. Steuerzahlungen bestätigte man den Bürgern bis 1826 mit Kerbhölzern (was schon 1782 geändert werden sollte). 1834 wurde das damalige Parlamentsgebäude (Westminster Palace) bei der Verbrennung der verbliebenen Kerbhölzer schwer beschädigt. Der französische Code civil (Code Napolèon), Vorbild für die Rechtsentwicklung vieler Staaten, galt von 1807 bis 1814 auch in einigen deutschen Landen; die Düsseldorfer Ausführung von 1810 regelte:

„1333. Kerbstöcke, die auf ihre Muster passen, haben Beweiskraft unter den Personen, welche die Lieferungen, die sie im Kleinen machen und empfangen, auf solche Weise in Gewissheit zu setzen pflegen.“

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Abb. 2.4

Kerbholz (Nachbildung nach Menninger 1957, Wedell 2011)

Gespaltene Kerbhölzer waren Vorbild für ein Verfahren, das man heute nur noch in alten Spionagefilmen sieht: Ein Schriftstück wird zerschnitten; jeder Beteiligte erhält ein Teil, das einzeln völlig nutzlos ist. Ein Sinn entsteht erst wieder, wenn alle Teile beieinander liegen. Die Chirographie wurde in Deutschland seit Ende des 10. Jahrhunderts genutzt und war im 12. Jahrhundert weit verbreitet. Und mit gleichmäßigen Einteilungen versehene Kerbhölzer wurden zu Maßstäben – Urahnen heutiger Lineale. Geblieben sind Redensarten: „Etwas auf dem Kerbholz zu haben“ bezog sich ursprünglich nur auf Schulden; noch heute sagt man in einigen Gegenden Deutschlands „glatt machen“, wenn man in der Kneipe bezahlen will. Wer einen „Deckel macht“, lässt den Wirt die ausgeschenkten Biere mit einem Strich auf dem Bierdeckel vermerken.

Ein Zählen mit den Fingern oder an Körperteilen ist noch in Neu-Guinea üblich, etwa beginnend mit der linken Körperseite – kleiner Finger (1), Ringfinger (2), Mittelfinger (3), Zeigefinger (4), Daumen (5), Handgelenk (6), Unterarm (7), Ellenbogengelenk (8), Oberarm (9), Schulter (10), Schlüsselbein (11), Vertiefung über dem Brustbein (12); bei einem anderen Verfahren werden zudem Augen, Nase und Mund genutzt, bei einem weiteren die Zehen. Das Zählen wird abwärts auf der rechten Seite und dann rückwärts von rechts nach links fortgeführt. Es genügt also nicht, auf eine bestimmte Körperstelle zu zeigen, um auf eine Zahl hinzuweisen; da Körperteile mehrfach belegt sind, muss jeweils neu durchgezählt werden. Lehrkräfte, die aus der Stadt in solche ländlichen Gegenden versetzt wurde, berichteten mitunter über ihre anfängliche Verwirrung: Bei jeder Rechenaufgabe wurden die Kinder unruhig und tippten immer wieder auf verschiedene Stellen – sie zählten.

Dieses Verfahren ist nicht zu verwechseln mit dem vorantiken und weit leistungsfähigeren Fingerrechnen, das im Römischen Reich vervollkommnet und von Kaufleuten aus europäischen, arabischen und asiatischen Kulturräumen bis in die Moderne genutzt wurde. Damit konnte man sogar über Sprachbarrieren hinweg feilschen. Der englische Benediktinermönch Beda (*672/673?, †735), genannt der Ehrwürdige (Beda Venerabilis, The Venerable Bede), beschrieb neben vielen Gebräuchen seiner Zeit auch das Fingerrechnen zum Bestimmen der christlichen Feiertage in den Klöstern; damalige Kalender waren mangelhaft (Kap. 8). Beim Fingerrechnen zeigte die linke Hand die Zahlen bis Hundert, die rechte die großen Zahlen (Abb. 2.5); der Begriff Digitalisierung erinnert noch an die alten Zeiten (lat. digitus, Finger, eng. digit, Ziffer). Antike Gelehrte notierten, dass das Zählen und Feilschen mit den Fingern im heutigen Persien üblich war. Frühislamische Werke beschrieben solche Verfahren ebenfalls, und später wurde Ähnliches aus China, Indien oder Japan bekannt. Es ist also anzunehmen, dass in nahezu allen Kulturen mit den Fingern, in einigen mit mehreren Körperteilen gezählt und gerechnet wurde. Fingerzeichen sind selten geworden (Abb. 2.6); in städtischen Lebenswelten gibt es nur noch zwei Einsatzbereiche: Buchmacher (eng. Bookies) bieten Wetten, zumeist bei Sportwettkämpfen. Die Wettenden übergeben einen Einsatz und erhalten gegebenenfalls einen Gewinn – entsprechend der Quote, die fest oder veränderlich sein kann, und abzüglich der Marge. Buchmacher verfolgen den betreffenden Wettkampf und verständigen sich mit Hand- und Fingerzeichen über die Quoten. Und Börsenmakler „auf dem Parkett“ übermitteln ihre Kauf- und Verkaufsabsichten mit rechtlich verbindlichen Hand- und Fingerzeichen.
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Abb. 2.5

Zählen mit der Hand (1). Oben die Gesten nach Beda (8. Jahrhundert), darunter heutige Gesten. Die Gesten für 1, 2 und 3 nach dem alten Verfahren zeigen heute 4, 3 und 2

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Abb. 2.6

Zählen mit der Hand (2). Die betreffenden Stellen werden mit dem Daumen berührt – links ein altes arabisch-asiatisches Verfahren, mittig ein einst in Teilen Deutschlands verbreitetes, rechts ein Quinärsystem (Basis 5): Auf den Fingerkuppen wird immer von 1 bis 4 gezählt, der volle Fünfer dann auf den unteren Fingergliedern „vermerkt“

Heute erscheinen viele Entwicklungen naheliegend, selbstverständlich, gar gesetzmäßig; doch Jetztmenschen formen ihre Urteile aus einer Lebenswelt, die ganz anders ist als die ihrer Vorfahren. Fortschritte bei Zahlbegriffen entstanden nach und nach; gewiss wurde nicht alles an Nachkommen übermittelt, vieles mehrfach auf der Welt erfunden oder wieder vergessen. Doch zu den wichtigen Erkenntnissen und Entwicklungen gehörte, dass man
  • eine Anzahl von Menschen, Tieren oder Gegenständen auf Hilfsmittel wie Kerbknochen, Zählstäbchen oder Zählsteine übertragen,

  • ebenso wiederkehrende Ereignisse (Tag und Nacht, Übergänge zwischen Voll- und Neumond) festhalten,

  • bewegliche Körperteile, vor allem Finger, zum Zählen und Zeigen nutzen,

  • alle Mengen mit Zahlworten bezeichnen und schließlich

  • das Zählen nach einem klaren, nachvollziehbaren Verfahren (aufreihen und immer Eins zufügen, bis alles erfasst ist) auf verschiedene Mengen und bei verschiedenen Gelegenheiten anwenden kann.

Die klassische Antike führte zu einem Bruch, den der deutsche Schriftsteller Oswald Spengler in seinem umstrittenen, aber teils sehr klarsichtigen Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“ (1923) beschrieb: Ein Mensch, der Erscheinungen seiner Lebenswelt mit Zahlen belegt, verschafft sich eine Deutungshoheit, erzeugt eine sinnvolle Ordnung. Gezählte Dinge werden aus ihrer Umwelt herausgelöst, aus einer Beliebigkeit oder einem Zusammenhang, und von ihr abgegrenzt: „Mit Namen und Zahlen gewinnt das menschliche Verstehen Macht über die Welt.“ Wer zählt, bestimmt darüber, was gleich oder ähnlich ist, erfasst und vereinnahmt einen Teil der Welt. Das ist eine Art von Willkür, die natürliche Gegebenheiten überwindet. Daraus folgt jedoch, dass Zahlenverständnis und Zahlenbegriffe sich von Kultur zu Kultur unterscheiden; einst gab es nicht nur die eine Zahl oder die eine Mathematik. Das änderte sich zwangsläufig mit dem Anthropozän: Zählen, Messen, Rechnen sind heute weltweit vereinheitlicht; nun gibt es tatsächlich nur noch die eine Mathematik – aber wie andere Wissenschaften verteilt auf so viele Fachgebiete, dass auch Fachleute nur mühsam ihr eigenes überblicken.

Doch ist altes Wissen nicht völlig verloren: Die Antike brachte Erkenntnisse und Verfahren hervor, die bis heute Grundlage von Technologien sind. Die Werke von Pythagoras, Euklid oder Archimedes finden sich immer noch erkennbar im Lehrstoff der Schulen. Und das ist sinnvoll: Zählen, Messen und Rechnen nach dieser Lehre sind nicht immer einfach, aber anschaulich, widerspruchsfrei und alltagstauglich zu vermitteln. Antike Mathematik war gegenständlich, wahrnehmbar, lebensnah; sie verblieb in der „Wirklichkeit“. Man versuchte die Welt in ganzzahlige Verhältnisse von Strecken, Flächen und Räume aufzulösen. Brüche wurden nur geduldet. So konnten bestenfalls Ansätze von Formelsprache entstehen, die damaligen Beiträge zur Philosophie der Mathematik wirken aber bis heute. „Alles ist Zahl“ als Leitspruch verbindet Antike und Moderne, ist auch Ausdruck einer Sehnsucht, selbst Verwickeltes mit Zahlen auszudrücken, dadurch die Welt verstehen und gestalten zu können. Gerade die Moderne förderte – mit wachsender Macht von Staat und Wirtschaft – das Bestreben, alles in den Lebenswelten zu zählen, zu messen und zu berechnen (Abb. 2.7). Ein Artefakt (lat. ars, Kunst, factum, Tun) ist ein gegenständliches Ergebnis menschlichen Handelns, ein Mentefakt (lat. mens, Verstand, Geist) ein geistiges; beide gehören immer zu bestimmten Zeiträumen der Menschheitsgeschichte. Beispiele für Erstere sind ein Abakus, ein Rechenbrett oder eine Lochkarte, für Letztere der Glauben an ein höheres Wesen, eine Fachsprache oder eben das Zählen und Rechnen. Gezählt wurde nach heutigem Wissen in der gesamten Menschheitsgeschichte, aber in verschiedenen Ausprägungen. Auch Zahlbegriffe sind Mentefakte; es gab und gibt sie immer, aber sie wandeln sich. Humanalien bezeichnen übrigens, ähnlich wie Artefakte, Dinge, die nur von Menschen geschaffen werden und nur auf der Erde vorkommen (mittlerweile ist hier aber auch der ‘Weltraumschrott“ zu berücksichtigen).
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Abb. 2.7

Zählen als Zeitreihe

Langwierige Entwicklungen in der Mathematik, Physik und Technik waren nicht immer zwingend auf eine Angst vor dem Nichts (horror vacui) oder dem Unbekannten zurückzuführen. Über lange Zeiträume fehlten schlicht die Anlässe, Neues zu schaffen, oder für eine gute Idee fehlte ein Verwendungszweck: Die heute als „Fortschritt“ verstandene schnelle Folge von Entwicklungsschüben begann erst mit der Moderne. Doch wirkten auch die Furcht vor Neugier, Misstrauen und Neid der Nachbarn und der Obrigkeiten – vor allem, wenn die Wissensgierigen Frauen, Zugewanderte oder Angehörige „niederer“ Stände waren. Noch heute gibt es bekanntlich Milieus, in denen Nachwuchs mit besonderen Begabungen kleingehalten und daran gehindert wird, einen eigenständigen Lebensentwurf zu finden. Wie viele gute Ideen, wie viele hoffnungsvolle und schöpferische Menschen sind im Lauf der Jahrtausende wohl daran zugrunde gegangen?

Von der Nachantike bis zur Vormoderne, also über etwa 1.500 Jahre, wurde die heutige Mathematik von nur einigen Dutzend europäischen Gelehrten aus babylonisch-ägyptisch-griechischen Überlieferungen und indisch-persisch-arabischen Neuerungen entwickelt. Nicht zu unterschätzen ist dabei die durchaus zwiespältige Rolle des Katholizismus. Der Vatikan und zahlreiche Klöster waren Orte der Gelehrsamkeit, in denen antikes oder arabisches Wissen bewahrt und erweitert wurden; es gab selbst in Kriegs- und Pestzeiten europaweiten Austausch zwischen geistlichen und weltlichen Gelehrten. Päpste waren mehr oder weniger reformfreudig; angefeindete und umstrittene Forscher wie Galileo Galilei (*1564, †1641/42) oder Johannes Kepler (*1571, †1630) hatten auch Freunde in der Kirche. Hochrangige kirchliche Amtsinhaber nutzten ihre Freiheiten, um Forschung selbst zu betreiben oder zu fördern; weltliche Herrscher hielten sich Hofgelehrte – während weniger Glücklichen das Streben nach Wissen schlecht bekam. Die Mathematik profitierte von einer bis vor etwa 200 Jahren bestehenden Verbindung zur Philosophie und auch zur Theologie; sie konnte, was heute kaum noch bewusst ist, zur Weltanschauung zumindest der Gebildeten beitragen. Viele der wichtigen Namen und Werke sind nur noch Fachleuten geläufig, zu den Bekannteren gehören
  • Ramon Llull (lat. Raimundus Lullus, *1232, †1316), mallorquinischer Gelehrter und Missionar, gilt als Begründer der Lehre von den Anordnungen und Verbindungen der Dinge (Kombinatorik) sowie der Lehre von den Entscheidungen mit unvollständigem Wissen (Heuristik),

  • Nikolaus von Kues (lat. Cusanus, *1401, †1464), deutscher Geistlicher, hochrangiger kirchlicher Amtsträger und vom Papst mit Missionen betraut, befasste sich mit Mathematik, auch der Kombinatorik Llulls, Philosophie oder Musik und entwarf einen ersten Infinitesimal-Kalkül,

  • Athanasius Kircher (*1602, †1680), deutscher Gelehrter und Jesuit, zwei Jahrhunderte nach Cusanus für die päpstliche Verwaltung tätig, hinterließ Beiträge zur Mathematik (auch zur Kombinatorik), Physik, Musik und anderen Gebieten, erachtete die Pest weniger als Strafe Gottes denn als übertragbare Krankheit, pflegte Schriftwechsel mit Leibniz,

  • Gottfried Wilhelm Leibniz (*1646, †1716), deutscher Wissenschaftler, mit Mathematik und Philosophie befasst, zunächst in Diensten des Erzbischofs von Mainz, dann des Welfenhofs in Hannover, blieb in Erinnerung durch Beiträge zur Kombinatorik und eine Rechenmaschine, einen Infinitesimal-Kalkül (um den es jahrelangen Urheberstreit mit Newton gab) und vieles mehr,

  • Isaac Newton (*1642/43, †1726/27), englischer Gelehrter, befasste sich mit Mathematik und Physik ebenso wie mit Religion und Alchemie, prägte die frühen Jahre der Royal Society, schuf eine Gravitationstheorie sowie einen Infinitesimal-Kalkül, etwa gleichzeitig mit Leibniz, ohne dies zu veröffentlichen,

  • James Stirling (*1692, †1770), schottischer Mathematiker und durch Newton gefördert, war einer der Begründer der neuen wissenschaftlichen Kombinatorik,

  • Leonhard Euler (*1707, †1783), in der Mathematik, Physik und Philosophie erfolgreich tätiger schweizerischer Wissenschaftler, tätig am russischen Zarenhof in Sankt Petersburg und zwischendurch 25 Jahre lang an der von Friedrich dem Großen neu gegründeten Akademie der Wissenschaften in Berlin, entwickelte Ansätze von Leibniz oder Newton weiter, hinterließ trotz Erblindung ein großes Werk und gilt heute als einer der größten Mathematiker der letzten 500 Jahre,

  • Carl Friedrich Gauß (*1777, †1855), deutscher Mathematiker und Astronom, führte Arbeiten Eulers fort, hinterließ ebenfalls ein umfangreiches Werk; auch er ist einer der größten seines Fachs,

  • Francis Galton (*1822, †1911), auf vielen Gebieten tätiger britischer Forscher, einer der Begründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung, befasste sich aber auch mit Wetterbeobachtungen oder dem Beweisnutzen von Fingerabdrücken, oder

  • Georg Cantor (*1845, †1918), deutscher Mathematiker und Begründer der Mengenlehre.

Es waren hochgebildete, oft getriebene Menschen, die nicht lange nach Forschungsgegenständen suchen mussten – es gab genügend. Etliche waren Amtsträger, die sich in wechselnden Machtverhältnissen behaupten, mit Herrschenden um Freiräume und Unterstützung für ihre Arbeit verhandeln mussten (auch Goethes Leben war davon bestimmt). Ihre mühevolle Arbeit ermöglichte neue Menschen- und Weltbilder. Die Suche nach wissenschaftlicher Vollkommenheit hat seit der Aufklärung die Suche nach Gott abgelöst. Und ab dem 18. Jahrhundert mischten sich Obrigkeiten nur noch selten in die Entwicklung der Mathematik, sondern nutzten sie zunehmend für ihre Zwecke. Mathematik wurde zu einer anderen, moderneren Art von Geheimwissenschaft: Altes, volkstümliches, nicht-wissenschaftliches Zahlenwissen ging zwar verloren, aber trotz Schulpflicht und zunehmender Verbreitung von Hochschulabschlüssen sind den allermeisten Menschen nach wie vor nur Grundlagen zugänglich. Als Kehrseite entstand eine Wissenschaftsgläubigkeit, die sich über das 19. und 20. Jahrhundert steigerte und die „westlichen“ Gesellschaften zwar leistungsfähig machte, aber heute an Grenzen führt.