Das Abzählen und Zumessen von Waren war immer heikel. Stückweise Gehandeltes (Brote, Käselaibe, Würste, Fische, verschiedene Obst- und Gemüsesorten) verändert sich an einem Markttag nicht zum Besseren – gerade mangels Kühlkette in früheren Zeiten. Was nicht verdirbt, verliert zumindest durch Verdunstung von Wasser an Gewicht. Entsprechendes gilt für Getränke in Fässern oder auch Flaschen mit Korken; beide sind nie völlig dicht. Waren amtliche Mindestmengen und -inhalte vorgegeben, konnte ein Händler selbst dann ernsthafte Schwierigkeiten bekommen, wenn die Anzahl stimmte; es wurden über die Jahrhunderte empfindliche Strafen, auch Leibstrafen, verhängt. Betrug gibt es schon so lange, wie Menschen Handel und Wandel miteinander pflegen. Die Gesetzessammlung des babylonischen Königs Hammurabi, der vor etwa 4.000 Jahren sein Amt übernahm, umfasst zahlreiche Strafen für Betrug; sein Codex Hammurabi war nicht das erste Rechtswerk, ist aber das am besten erhaltene. Auch die Bibel ist voller abschreckender Beispiele für Betrug und seine Bestrafung. Das gemeine Volk wurde aber zu allen Zeiten nicht nur von seinesgleichen, sondern auch von den Herrschenden betrogen.
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Zählmaße
Die vereinzelt gefundenen geritzten Knochen aus alter Zeit gehörten vermutlich zu den ersten Zählmaßen, wahrscheinlich für Tage oder Beutetiere. Noch heute nutzen Jäger in Amazonien gekerbte Holzstäbe, um Stammesmitgliedern die voraussichtliche Dauer einer Jagd zu zeigen. Das erwähnte alte Zählmaß aus Schock (60), Stiege (20), Mandel (15) und Dutzend (12) stammt wohl ursprünglich aus der sumerischen Kultur. Später gab es in Europa das Groß-Gros = 12 Gros = 12 · 12 Dutzend = 12 · 12 · 12 = 1.728 Stück; daher stammt der Begriff Grossist. Andere alte Zählmaße sind der Ballen für 12 Stück Tuch (bei Webern und Stoffhändlern) oder für 10 Ries = 200 Buch = 5.000 Bogen Druckpapier (bei Papiermachern und Druckern).
Die Garbe (althochdeut. garba/garbe, Zusammengerafftes, Zusammengehaltenes) war ein Bündel Getreide, das mit dem Armen umfangen und gehoben werden konnte; meist galt 1 Schober = 60 Garben. Die Kiepe (niederdeut. kipe, Tragekorb) war in Deutschland zunächst ein Zählmaß für Fische (beispielsweise 1 Kiepe = 30 Stiegen = 300 große Schollen). Bis vor einigen Jahren wurde billige Bruch- oder Schüttkohle zum Heizen kiepenweise verkauft. Heute noch gibt es im Alltag besondere „Zählmaße“: So ist „ein Bier“ aus der Flasche in Deutschland zumeist ein halber Liter, „eine Maß“ ein ganzer Liter, aber eben nicht aus der Flasche. Ein Sixpack sind 6 × 0,33 l in der Dose, aber auch in der Flasche. Kaffee wird seit jeher als „Pfund“ verkauft, Butter als halbes Pfund, Mehl und Zucker als Zweipfund-Pakete. Eier werden noch in Sechserkartons gehandelt, der alte Zwölferkarton wich aber dem Zehnerkarton. Besteck und Geschirr gibt es oft noch in Sechser- oder Zwölfersätzen. Man kennt die „Zigarettenlänge“, wobei Rauchen an Haltestellen heute zwar verboten ist, sich aber noch die Vorstellung hält, durch das Anzünden einer Zigarette käme der Bus schneller. An alte Maße erinnern auch Ausdrücke wie „10 min Weg“. Tauschwährungen beruhen auf Zählgrößen: In Gefängnissen oder an der Front waren dies Zigaretten; auf Schwarzmärkten gab und gibt es Umtauschsätze: Brot gegen Schuhe, Fleisch gegen Armbanduhren.
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Körper-, Ding-, Arbeitsmaße
Sie waren schon in den ältesten Kulturen gebräuchlich und sind abgeleitet von Körperteilen, Größenverhältnissen des Alltags oder üblichen Verrichtungen in der Landwirtschaft. Diese Maße haben Einheiten, beziehen sich aber noch auf dinglich-sinnliche Wahrnehmungen. In Deutschland gab es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts etwa ein Dutzend wichtige, aber längst nicht einheitliche Maße – und einige Dutzend weitere.Die Spanne (Längenmaß – althochdeut. spanna, Handbreite) bezeichnete den Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger oder kleinem Finger.
Der Fuß (Längenmaß – althochdeut. fuos) ist selbsterklärend; er betrug meist knapp 30 cm. In englischsprachigen Kulturen wird heute noch altrömisch gerechnet: 1 yard = 3 feet, 1 foot = 12 inch (Zoll).
Die Elle (Längenmaß – althochdeut. elina/eline, Unterarm) „wuchs“ über Jahrtausende: Entsprach eine sumerische Elle etwa 50 cm, eine ägyptische große („königliche“) 52 1/2 cm, eine kleine knapp 45 cm, eine griechische gut 44 cm (im byzantinischen Reich und der islamischen Welt gab es mehrere zweckbestimmte Ellenmaße), war man im 19. Jahrhundert in Hamburg bei knapp 58 cm angelangt, im Preußen bei etwa 66 3/4 cm, in Wien gar bei knapp 78 cm. Verschiedene Waren wurden mit verschiedenen Maßstäben gemessen – grobe oder feine, einheimische oder ausländische Stoffe. Oft galt 1 Elle = 2 Fuß. Zur Reichsgründung 1871 gab es etwa deutsche 100 Ellenmaße.
Die Rute (Längenmaß – althochdeut. ruoda/ruode, Stab, auch Maßstab) wurde schon im Römischen Reich zur Landvermessung genutzt; in Deutschland entsprach sie meist Längen zwischen fünf und sieben Metern.
Der Klafter (Längenmaß – althochdeut. klaftra, Armspanne) reichte von Handspitze zu Handspitze bei seitlich ausgestreckten Armen; oft galt 1 Klafter = 3 Ellen = 6 Fuß. Seltener diente er als Flächenmaß oder Raummaß für Brennholz.
Die Meile (Längenmaß – lat. mille, tausend) war als Strecke von 2.000 Klaftern = 12.000 Fuß oder als zwei Wegstunden, teils auch noch anders angesetzt.
Der Morgen (Flächenmaß – althochdeut. morgan, Tagesbeginn) war ursprünglich so viel Acker, wie an einem Morgen mit einem Ochsen gepflügt werden kann; er betrug irgendetwas zwischen 120 und 400 Quadratruten.
Die Hufe (Flächenmaß – althochdeut. huoba/huobe, Stück Ackerland) bezeichnete das Stück Ackerland, von dem eine bäuerliche Wirtschaft üblicherweise leben konnte; meist galt 1 Hufe = 30 Morgen.
Der Malter und der Scheffel (Hohlmaße – althochdeut. maltar, Getreidemaß, abgeleitet von Mehl, skeffil, Getreidemaß) wurden nicht nur für Getreide, sondern auch für Kohle genutzt. Ersterer fasste üblicherweise über 100 l bis hin zu 165 l; Letzterer betrug oft um 50 l oder gut 100 l. 1 Drömt = 12 Scheffel war ein norddeutsches Hohlmaß für Getreide.
Die Tonne (Hohlmaß – althochdeut. tunna/tunne, Fass) maß etwa 100 l, mitunter über 150 l. Im Baltikum und in Russland war die Tonne auch ein Zählmaß für Fische oder Häute und Felle.
Das Fuder (Hohlmaß – althochdeut. fuodar, Fuhre, Wagenlast) war in den letzten Jahrhunderten ein Flüssigkeitsmaß von 800 l bis 1.800 l, aber auch ein Maß für Schüttgut wie Kohle, Salz oder Erz.
Menschliche Maßstäbe in der Baukunst galten den antiken Baumeistern als nicht verzichtbar. Die einschlägigen Abhandlungen von Marcus Vitruvius Pollio (Vitruv, *80?, †15?) sind auch nach über 2.000 Jahren noch lesenswert; im 20. Jahrhundert schuf Charles-Edouard Jeanneret-Gris (*1887, †1965), genannt Le Corbusier, sein durchgerechnetes Modulor-System. Heutige große Städte zeigen Machtverhältnisse deutlich mit über-menschlichen Abmessungen.
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Einheitsmaße
Sie sind weltweit gleich und können für verschiedenste Messungen verwendet werden. Gewiss gab schon seit Jahrtausenden obrigkeitlich festgesetzte Maße, erstmals überliefert aus dem sumerisch-babylonischen Kulturraum: Herrscher wollten damit nicht nur den Handel regeln, sondern vor allen sicherstellen, dass die geforderten Abgaben geleistet wurden. Die babylonische Kultur beeinflusste die ägyptische, diese die griechische, diese die römische; einiges wurde überliefert in das nach-antike, frühchristliche Europa. Entwicklungen in China, Indien oder Japan waren in Europa damals noch nicht bekannt; auch dort entstanden amtliche Regelungen für das Messwesen. Im europäischen Mittelalter oblag dieses einerseits den Grundherren, andererseits den freien Städten. In den alles andere als einheitlichen Staatswesen wie dem Heiligen Römischen Reich entstand zwangsläufig ein Wirrwarr von Maßen, Einheiten und Steuergesetzen, der den Handel erschwerte, aber auch Betrug und Willkür förderte.
„The Icelanders did not mint coins, though they were happy to use hack silver. If you wanted to buy goods on the island, you normally resorted to barter. But as trade with Norway took off in the 11th and 12th centuries it became obvious that some sort of standard of value was needed. Since the major Icelandic product that was in demand in Scandinavia was the heavy woollen cloth known as vaδmal that ist still the most prized export of the island, this was chosen. Vaδmal made up in warmth for what it lacked in softness. The ell, or oln, was adopted as the standard measurement of cloth …. Two ells made a yard. The Alþing decreed that all vaδmal woven in Iceland would be two ells broad; a piece of cloth measuring two ells by six counted as a 'legal ounce' of silver …. Sheep were Iceland's silver mines.“
Meter (altgriech. metron, Maß, Länge) als Längenmaß,
Ar (lat. area, Fläche) als Flächenmaß (10 m × 10 m = 100m2 = 1 Ar und 100 Ar = 1 Hektar),
Ster (altgriech. stereos, hart, starr, fest), heute Kubikmeter, als Raummaß für Feststoffe,
Liter (altgriech./lat. litra, frz. litre, altes Hohlmaß) als Raummaß für Flüssigkeiten, und
Gramm (altgriech./lat. gramma, altes Gewicht) als Masseneinheit.
Dies wiederum war verbunden mit der Durchsetzung des Dezimalsystems. Es gab Streit um die Reformen, sodass die Niederlande, Belgien und Luxemburg 1816 sowie Griechenland 1836 zuerst die neuen Regeln umsetzten, Frankreich erst 1840; Deutschland folgte mit der Reichsgründung 1871, Österreich 1876 und die Schweiz 1877. Zu dieser Zeit wirkte schon der Reformdruck der Moderne, eine weltweite Regelung schien möglich: Nach vorbereitenden Konferenzen 1870, 1872 und 1875 tagte 1889 erfolgreich die 1. Generalkonferenz für Maß und Gewicht (Conférence Générale des Poids et Mesures) in Paris.
„Jedes deutsche Ländchen hat sein eigen Quentchen. Eigene Maße hat fast jede deutsche Stadt.“ Deutschland war als Ergebnis des Wiener Kongresses ab 1815 ein Sammelbegriff: Zum Deutschen Bund gehörten immerhin 37 Staaten – Österreich als Kaiserreich, 33 Königreiche, Fürsten- und Herzogtümer sowie vier freie Reichsstädte; ab 1848/49 verlor der Bund seine Bedeutung und wurde kriegsbedingt 1866 aufgelöst. Fachleute wie der preußische Staatsbedienstete Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (*1757, †1831) bestrebten die Abschaffung der innerdeutschen Zollschranken und des Zunftwesens, das die wachsende Wirtschaft hemmte. Nach jahrzehntelangen Machtkämpfen entstand 1833 der Deutsche Zollverein, dessen Aufgaben nach der Reichsgründung 1870/71 verstaatlicht wurden.
Die 11. Generalkonferenz für Maß und Gewicht 1960 beschloss das noch heute geltende Système International d'Unitès mit den Einheiten Meter, Kilogramm, Sekunde, Ampere, Kelvin, Mol und Candela, aus denen alle sonstigen Einheiten abgeleitet werden können. Reine Zählgrößen sind heute selten; so gibt es neben der Frequenz von Schwingungen (meist 1/s) noch die Drehzahl (meist 1/min). Skalare Größen bestehen aus Betrag (Zahlenwert) und Einheit; aus solchen Größen – wie Masse oder Dichte eines Körpers – lassen sich Summen oder Durchschnitte bilden. Vektorielle Größen bestehen aus Betrag, Einheit und Richtung – wie die Bewegungsgrößen Geschwindigkeit oder Beschleunigung. Hier sind beim Summieren zusätzliche Regeln zu beachten, da solche Größen sich bei entgegengesetzter Wirkrichtung aufheben. Extensive Größen ändern sich, wenn der Untersuchungsgegenstand seine Ausdehnung ändert (Teilchenzahl, Masse, Energie). Intensive Größen sind davon nicht betroffen (Dichte von Stoffen, Spannung zwischen Polen).
Mit den Reformen des 19. Jahrhunderts wurden das Dezimalsystem (Basis 10) und das Binär-/Dualsystem (Basis 2) endgültig zu den wichtigsten Stellenwertordnungen. Ersteres war in der „westlichen“ Welt und dem größten Teil Asiens schon lange üblich, auch in den altägyptischen Reichen und der europäischen Antike. Seine verbindliche Festschreibung erforderte jedoch im 19. Jahrhundert die endgültige Ablösung der alten Körper-, Ding- und Arbeitsmaße durch Einheitsmaße. Das geschah teils in langen Kulturkämpfen; in den USA sind inch, foot, yard, ounce, gallon immer noch gebräuchlich. Das Binär-/Dualsystem wurde nach dem II. Weltkrieg zum Standard in der Informatik (einige andere sind noch gebräuchlich). Dies geschah auch über „Versuch und Irrtum“, aber mit weit weniger Aufregung und Verbitterung: Debatten waren stets auf Fachkreise beschränkt, Details gingen an der „Öffentlichkeit“ vorbei.

Stellenwertordnungen
Schon Archimedes wollte vor über 2.200 Jahren das Weltall vermessen und rechnete dazu mit Myriaden – dem damals größten griechischen Zahlbegriff, der wörtlich Zehntausend (10.000 = 104) und ansonsten Unendlichkeit bezeichnete. Er nutzte Sand als Beispiel, um große Zahlen darzustellen, bildete Myriaden von Myriaden (108), davon wiederum Myriaden (1012) und so fort; nach seiner Rechnung enthielt die „Himmelskugel“ – mit dem Abstand von Erde und Sonne als Radius – 1063 Sandkörner. Carl Friedrich Gauß kannte die Werke des Archimedes; er bedauerte, dass in der Antike weder die Null noch eine erweiterbare Zahlenschreibweise bekannt waren – wie viel mehr hätte man schon damals berechnen können! Einem Zeitgenossen des Pythagoras, Siddhartha Gautama (*563?, †483), erster Buddha, war das Rechnen ins Große und ins Kleine ebenfalls vertraut (wenngleich das „Lalitavistara Sutra“ wohl von späteren Anhängern, vielleicht eher Zeitgenossen des Archimedes, verfasst wurde): Ihm dienten Staub-, Sand- und Samenkörnchen als Beispiele. Das ist durchaus anschaulich: Wiederholtes Halbieren eines Sandkorns (Durchmesser 1 mm) führt beim 22. Mal zur Größenordnung eines Silicium-Atoms (Sand besteht überwiegend aus Siliciumdioxid SiO2). Verdoppeln gelingt nicht so bündig; das 33. Mal liefert deutlich weniger, das 34. Mal deutlich mehr als den Erddurchmesser. Es sind beeindruckende 56 (Binärsystem) oder 18 Größenordnungen (Meter im Dezimalsystem), ausgedrückt in Sandkörnern; die Altvorderen hatten bereits einen Begriff davon, wenngleich sie ihn kaum wissenschaftlich nutzen konnten.
The World Atlas of Language Structures (wals.info) enthält einen Abschnitt zu Zahlbegriffen und Stellenwertordnungen (Chapter 131: Numeral Bases) in derzeit 196 Kulturräumen; davon waren oder sind in
125 ein Dezimalsystem,
22 eine Mischung aus Vingesimalsystem (Basis 20) und ein Dezimalsystem,
20 ein Vingesimalsystem,
5 ein anderes,
20 nur ein beschränktes Zählen und in vier das Zählen an Körperteilen üblich.
Ritzungen, Kerben und Striche als ursprüngliche Zahlzeichen bilden ein Unärsystem (Basis 1). Eine Stellenwerttafel gibt es dafür nicht (10 = 11 = … = 1∞ = 1), also auch keine Null: Wird nur Wahrnehmbares gezählt, ist kein großer Zeichenumfang nötig. Ein Vingesimalsystem erscheint nur noch schwach in einigen Kulturräumen (Kap. 3), ein Hexagesimalsystem (Basis 60) wie einst in Mesopotamien (Sumer, Babylon) nur noch in Teilen von Indonesien/Neu-Guinea.
Ein Schachbrett hat bekanntlich 64 Felder. Der Herrscher wollte den Erfinder des Spiels belohnen (in einer anderen Fassung wollte ein zum Tode Verurteilter seine Familie versorgt wissen). Der Mann fragte nach Reis: Auf das erste Feld des Schachbretts solle ein Korn gelegt werden (20 = 1), auf das zweite zwei (21 = 2), auf das Dritte vier (22 = 4) und so fort, von Feld zu Feld immer das Doppelte. Der Herrscher belächelte gewiss diese einfache Forderung – und stutzte, als sein Diener mühselig versuchte, auf dem achten Feld 27 = 128 Körner zu häufen. Und als der Diener eine Stunde damit zubrachte, die 211 = 2048 Körner für das 12. Feld abzuzählen, sollte dem Herrscher eine Lösung eingefallen sein, mit der er das Gesicht wahren konnte. Niemand hätte die benötigten Mengen abzählen können; die gesamte Ernte des Landes hätte nicht ausgereicht. Doch wer glaubt an Märchen? Im ersten Fall hätte der Herrscher wohl eine einmalige Abfindung oder eine lebenslange Rente verfügt, im anderen den Mann freigelassen (um ihn bei nächster Gelegenheit aus dem Weg zu schaffen).

Schachbrett und Reis. Auf einem Schachbrett üblicher Größe ist nach sieben Verdopplungen, also mit 128 Reiskörnern, das Machbare erreicht (oben rechts); 256 Reiskörner benötigen deutlich mehr Platz (vorn)
Zwischen etwa 1200 und 1600 herrschte in europäischen Rathäusern, Handelshäusern und Klöstern ein Kampf zwischen „Abakisten“, den „Brett- oder Fingerrechnern“ und „Algoristen“, den „Ziffernrechnern“. Handel und Wandel hatten die indisch-arabischen Zahlen und erstaunliche Rechenverfahren nach Europa gebracht. Das Neue weckte Misstrauen, zudem waren Brettrechner im Alltag, bei üblichen kaufmännischen Verrichtungen, hinreichend schnell. Zwar ist das Arbeitsaufkommen der damaligen Kanzleien und Kontoren schwer abzuschätzen, aber die überlieferte sorgfältige Buchführung in (zumeist) schönen Handschriften lässt auf Tagesabläufe schließen, in denen die Bedeutung einzelner Arbeitsgänge immer gegenwärtig war. Man rechnete mit Fingern oder dem Brett, notierte nur die Ergebnisse, oft mit einer Mischung aus römischen Ziffern und Zahlworten. Überliefert sind Anweisungen aus Rathäusern, in der Aktenführung keinesfalls die neumodischen Zahlzeichen zu verwenden, wie 1299 in Florenz oder 1494 in Frankfurt/Main; Goethe spielte in seiner Jugend, über 250 Jahre später, noch mit dem Rechenbrett seines Vaters. Als Adam Riese altes und neues Rechnen zu versöhnen trachtete, waren zumindest Fachleute vom Nutzen der modernen Ziffern und Gleichungen längst überzeugt. Eine neue Mathematik konnte entstehen, Binärcodes wurden nun wissenschaftlich erforscht. Francis Bacon erkannte vor 400 Jahren, dass sie durch Zahlen, Licht und Töne übermittelt werden können; Gottfried Wilhelm Leibniz benutzte vor 300 Jahren Tabellen für die Umrechnung und erkannte, dass die letzte Stelle mit jeder Zahl wechselt, die nächste alle zwei Zahlen, die übernächste alle vier und so fort – so erkennt man schnell Rechenfehler (siehe Übersicht im Anhang). Er kannte auch das chinesische I Ging/Yiying (Kap. 8). Beide Gelehrte verstanden bereits, dass mit zwei einfachen Zeichen eine Fülle von Zahlen, Worten, Nachrichten verschlüsselt und übertragen werden kann.
„The Barock Cycle“ („Quicksilver“ 2003, „The Confusion“ 2004, „The System of the World“ 2004), die grandiose Science-Fiction-Trilogie des US-amerikanischen Schriftstellers Neal Stephenson (*1959) spielt auf mehreren Zeitebenen und über mehrere Jahrhunderte mit der Rivalität von Newton und Leibniz und ihrem Ringen um Freiheit für wissenschaftliche Forschungen, die sie neben ihren Verpflichtungen bei Hofe betrieben. Newton wird gezeigt in seinen Bemühungen um die Vereinheitlichung des britischen Münzwesens, Leibniz beim Versuch, eine Rechenmaschine zu bauen, die mit goldenen Lochkarten beschickt werden soll. Lochkarten – zunächst aus Holz, nicht aus Gold – dienten ab dem 18. Jahrhundert zur Steuerung von Webstühlen. 1805 wurde der Jacquard-Webstuhl eingeführt; seine Lochkarten bestanden aus Pappe, dabei blieb es bis vor 40–50 Jahren. Die Idee stammte wohl von der Nockensteuerung in Spieldosen und einst sehr gefragten Musikautomaten, die Musik auf drehbaren Rollen mit abtastbaren Stiften verschlüsseln: Von den beiden Zeichen 0 und 1 muss nur eines durch ein Loch oder einen Stift markiert sein, für das andere genügt eine leere Stelle. Der englische Mathematiker und Erfinder Charles Babbage (*1791, †1871) wollte seine ab 1833 entworfene, aber nie gebaute Analytical Engine mit Lochkarten steuern. Lochkarten zur Speicherung und Auswertung nach heutigem Verständnis wurden erstmals 1890 für die Volkszählung in den USA eingesetzt, geleitet von dem deutschstämmigen US-amerikanischen Ingenieur Herman Hollerith (*1860, †1929). Er hatte Schaffner in der Eisenbahn beobachtet, wie sie Geschlecht oder Hautfarbe von Fahrgästen an bestimmten Stellen der Fahrkarte mit der Lochzange vermerkten, damit die Fahrkarte nicht mehrfach genutzt wurde.

Zählen im Binär-/Dual- und Dezimalsystem. Der „Entscheidungsbaum“ zeigt, wie sich der Zählbereich des Letzteren mit der jeder neuen Stelle des Ersteren verdoppelt. Darauf beruht das Zählen mit Flipflops in der Elektrotechnik (Kippglieder, Schaltungen mit zwei Zuständen). Deren Zustände sind abhängig vom Eingang und dem letzten Zustand, so werden Zahlen bis zum nächsten Vorgang gespeichert. Flipflops aus Röhrenschaltungen wurden vor über 100 Jahren erstmals in Großbritannien erprobt

Zählübung mit dem Rechenbrett: Zählen von Eins (rechts unten) bis Zwanzig (links oben)
- 1.
Die Stellenwerte steigen von rechts nach links, also wird auch von rechts nach links gerechnet und gezählt.
- 2.
Im Dezimalsystem gibt es zehn Zahlwerte (0–9), von denen die Null nicht gezeigt wird (im Binär-/Dualsystem würde demzufolge nur die Eins durch einen Zählstein gezeigt – siehe die Anmerkungen zur Lochkarte).
- 3.
Beim Zählen oder Addieren dürfen sich im Dezimalsystem in jedem Feld nur neun Steine ansammeln; werden es zehn, sind alle aus dem Feld zu entfernen und dafür in das nächsthöhere Feld (links davon) ein Stein zu legen – so wird eine Größenordnung überschritten.
Wer dabei „vom Hundertsten ins Tausendste kommt“, hat sich auf dem Rechenbrett vertan, nämlich Zählsteine in falsche Felder gelegt.
Veranschaulichen mit Rechenstäbchen oder Zählsteinen, schon weil dadurch das Erfassen von Mengen im Sichtfeld geübt wird,
Üben der Zahlzerlegungen (die oben erwähnten Partitionen) und
Erlernen des kleinen Einmaleins und darauf aufbauend das Suchen der Teiler.
Zuordnung (one to one correspondence). Eine natürliche Zahl wird immer nur einem Gegenstand zugeordnet und umgekehrt; kein Gegenstand wird mehrfach gezählt oder ausgelassen.
Reihenfolge (stable order principle). Die Zahlen werden nur in einer bestimmten Reihenfolge verwendet.
Menge und Anzahl (cardinal principle). Die letzte vergebene Zahl bezeichnet die Anzahl der Gegenstände.
Übertragung (abstraction principle). So können beliebige Mengen von Gegenständen gezählt werden; sie werden damit über ihre Anzahl vergleichbar.
Austauschbarkeit (order irrelevance principle). Die Reihenfolge der Gegenstände kann beim Zählen beliebig gewählt werden.
Lehrkräfte an weiterführenden Schulen und Hochschulen dieser Länder vermitteln das Zählen traditionell über die in Deutschland weniger bekannte Kombinatorik (Kap. 7). Und in fast allen Ländern kann die Grundschulbildung nicht auf die antike Mathematik verzichten – warum sollte sie es auch? Ansätze von Pythagoras, Euklid, Archimedes und anderen nachzuvollziehen, schult das Denken, die Zahlen- und Raumvorstellungen und auch künstlerische Fähigkeiten und Fertigkeiten. Natürlich gab es weitere Entwicklungen: Ein jüngeres, aber nicht minder lehrreiches Wissensgebiet ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sie beginnt mit dem Zählen von Menschen, Dingen, Ereignissen. Dabei sind Strichlisten für die Anzahl (absolute Häufigkeit) des Gezählten nützlich. Wird die jeweilige Anzahl zur Gesamtmenge aller möglichen Ereignisse ins Verhältnis gesetzt, ergibt sich der Anteil (relative Häufigkeit). Um einen Zustand ganzheitlich zu erfassen, ist also die Grundgesamtheit festzustellen. Das ergibt im Einzelfall einige Fragen, denn schon das gern in der Schule behandelte Würfeln ist nicht ganz simpel: Müssen zwei völlig gleiche, also gleich große, gleich schwere, gleich gestaltete Würfel bei einem Versuch unterschieden werden? Wenn nicht, sind bei einem Wurf beider Würfel 21 Ergebnisse möglich:
1/1; 2/2; 3/3; 4/4; 5/5; 6/6 sowie
1/2; 1/3; 1/4; 1/5; 1/6; 2/3; 2/4; 2/5; 2/6; 3/4; 3/5; 3/6; 4/5; 4/6 und 5/6.
Müssen sie unterschieden werden, sind es 36; es sind nämlich hinzuzufügen
2/1; 3/1; 4/1; 5/1; 6/1; 3/2; 4/2; 5/2; 6/2; 4/3; 5/3; 6/3; 5/4; 6/4 und 6/5.
Die Wahrscheinlichkeit, zwei Einsen (zwei Zweien, zwei Dreien, …) zu würfeln beträgt demnach entweder 1/36 (2,7 %) oder 1/21 (4,8 %). Das lässt sich mit 10 Würfen nicht sicher ermitteln, auch nicht mit 100 (ausprobieren!).
Mittelwerten und Häufigkeitsverteilungen. Der Durchschnitt (arithmetisches Mittel) ist der bekannteste: Alle Werte werden summiert, die Summe durch ihre Anzahl geteilt. Messwerte (wie Körpergrößen, Lebensalter, Einkommen) können in Gruppen oder Klassen eingeteilt und die Verteilungsmuster (Anzahl je Gruppe) unterschiedlicher Länder oder unterschiedlicher Zeiträume verglichen werden (in diesem Zusammenhang vielerwähnt, aber meist wenig verstanden ist die Gauß'sche „Glockenkurve“).
Wahrscheinlichkeiten. Bei unendlichen – oder wenigstens sehr großen – Anzahlen von Versuchen entsprechen sie der relativen Häufigkeit. Sie können unterschiedlich angegeben werden: So entspricht 20 % 1/5 oder 0,2, aber auch „eins zu vier“ oder „einem von fünf“; das erfordert Aufmerksamkeit. Ein sicher eintretendes Ereignis hat eine Wahrscheinlichkeit von 100 % oder 1, ein sicher auszuschließendes von 0 % oder 0.
Abweichungen und Fehlern. Dies ist vor allem erforderlich, wenn erwartete oder berechnete Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten nicht erreicht werden.
Damit verbunden sind Näherungen und Schätzungen – nicht spontanes „Raten“, sondern das Eingrenzen des Wahrscheinlichen (mindestens ein educated guess): Kann eine Anzahl nicht durch einfaches Zählen ermittelt, sollen also Ereignisse vorhergesagt werden, können
Erfahrungswerte helfen; so ist in Dienstleistungsbranchen oder im Einzelhandel meist bekannt, wie sich das Beschwerdeaufkommen oder der Abverkauf zu bestimmten Zeiten entwickeln,
Stichproben auf die Grundgesamtheit hochgerechnet sowie
Überschläge oder Schätzverfahren genutzt werden: Die bekannte Frage, wie viele Bonbons in dem großen Glas sind, lässt sich näherungsweise beantworten, wenn man die oben liegenden Bonbons, dann die „Schichten“ von Bonbons zählt.
Schätzungen und Näherungen gehören zum Alltag: Menschen „berechnen“ das Verhalten ihrer Mitmenschen selten (Ausnahmen sind wie erwähnt Scorings, Rankings und ähnliche Erhebungen), sondern richten sich nach üblichen Wahrscheinlichkeiten, nach ihrer Lebenserfahrung; im Recht heißt das „billiges Ermessen“. Die Lücke zwischen Schätzen und Wissen schließen beispielsweise zwei von US-Amerikanern gefundene Kuriositäten der Statistik: Der Linguist George K. Zipf (*1902, †1950) ermittelte die Häufigkeit von Worten in verschiedenen Sprachen und erkannte, dass das häufigste Wort im Allgemeinen doppelt so häufig benutzt wird wie das zweithäufigste, dreimal so häufig wie das dritthäufigste und so fort. Später versuchten andere, diese Gesetzmäßigkeit mit unterschiedlichem Erfolg auf die Größe von Unternehmen oder Städten anzuwenden. Wenig später fand der Physiker und Ingenieur Frank Benford (*1883, †1948): In einem beliebigen Zahlenwerk beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Zahl mit der Ziffer n beginnt, P(n) = log10 (1 + 1/n) = log10(n + 1) - log10n oder 30,1 % für die 1, 17,6 % für die 2, 12,5 % für die 3, 9,7 % für die 4, 7,9 % für die 5, 6,7 % für die 6, 5,8 % für die 7, 5,1 % für die 8 und 4,6 % für die 9. Allerdings müssen die Werte gleiche Größen abbilden (also die gleiche Einheit haben) und dürfen nicht willkürlich ausgewählt oder beschränkt sein. In den USA wird Benfords Gesetz zum Nachweis von Steuerhinterziehungen genutzt und ist bei Gerichten als Beweisverfahren anerkannt.
Graphikprogramme erzeugen Kreise näherungsweise als regelmäßiges Vieleck (Polygon), wie oft am Bildschirm zu erkennen ist. Dieses Vieleck ist dem beabsichtigten Kreis einbeschrieben, seine Eckpunkte liegen auf dem angestrebten Kreisumfang; das Verhältnis des Vielecksumfangs zum Kreisumfang beträgt bei einem beliebigen n-Eck (n/p)·sin(180°/n). Ein Zwanzigeck erreicht 55,5 % des Kreisumfangs, ein Vierzigeck schon 99,9 %, ein Achtzigeck 99,98 %.
es lange Debatten um Pesthäuser zur Pflege der Kranken und Verwahrung der Verdachtsfälle gab (man beklagte die Kosten, weil einerseits ein Pestausbruch „nur“ etwa alle zehn Jahre zu erwarten war, andererseits stets so viele erkrankten, dass man sowieso nicht alle versorgen konnte),
die Weiterführung von Handwerksbetrieben, Wiederbesetzung von Pfarrstellen oder Vormundschaft hinterbliebener Kinder meist von Ratsherren, Gemeinden und Zünften gemeinsam geregelt wurde,
Landesherren mitunter Soldaten entsendeten, um betroffene Gebiete abzusperren und Plünderungen zu verhindern, was gelegentlich zu Schlägereien mit Händlern und Bauern führte, die ihren Lebensunterhalt gefährdet sahen (Ausgangssperren waren kaum durchzusetzen, nicht zuletzt, weil in Pesthäusern Untergebrachte tags in die Stadt gingen, um zu betteln, und ihre Pfleger abends in die Wirtshäuser, um zu trinken),
Menschen zur Pflege zwangsverpflichtet wurden, die städtische oder kirchliche Unterstützungen erhielten oder in Pesthäusern zumeist Arme und Fremde sowie Mägde und Knechte untergebracht waren (nicht selten freiwillig wegen der besseren Verpflegung), während Wohlhabendere sich zu Hause pflegen ließen,
Krankenpfleger und Totengräber in einigen Fällen vor Gericht kamen, weil sie Kranke missbraucht oder getötet hatten; Pestausbrüche beförderten zudem Aberglauben und Judenhass, vereinzelt gab es Pogrome.
Trotz der Schicksalsschläge wurden Städte, anders als Dörfer, nicht aufgegeben. Man lernte aus der Seuche: Es gab neue Vorschriften für die Straßen- und Brunnenreinigung, die Armenfürsorge wurde neu geordnet; in der Heilkunde wurde verstanden, dass Essen und Trinken, Licht und Luft den Kranken guttun, Ratten und Schmutz aber nicht, auch wenn die Krankheitsursachen nicht klar waren. Pestausbrüche forderten immer wieder Opfer, bewirkten aber höhere Löhne im Handwerk, niedrigere Preise für Grundstücke und Häuser, schnellere Erbfolge: Überlebende konnten auf etwas Wohlstand hoffen, Waren gab es zeitweilig genug. Städte wuchsen auch dadurch; bis in das 19. Jahrhundert galt die Regel, dass die hohe Sterblichkeit in Städten nur durch starke Zuwanderung auszugleichen war. Schon 100 Jahre nach dem ersten Pestausbruch hatten viele deutsche Städte wieder die vorherige Bevölkerungszahl – zulasten ländlicher Gegenden, in denen Dörfer zu Wüstungen wurden. Dies wiederholte sich 100–200 Jahre später, nach dem Dreißigjährigen Krieg. Betroffen waren nicht alle europäischen Städte gleichermaßen, und bereits große Städte lockten damals wie heute besonders viele Menschen: Die beiden bis ins 20. Jahrhundert weltgrößten Städte London und Paris wuchsen trotz Pest und Krieg von 200.000/220.000 (1600) über 400.000/430.000 (1650) auf 575.000/510.000 (1700); sie waren nicht nur die Sitze der Regierungen, sondern auch der großen Handels- und Bankhäuser. London wurde – wegen des allgemeinen Holzmangels (England war Seemacht!) und der leichten Verfügbarkeit – schon vor dem Dreißigjährigen Krieg von Kohle abhängig; allein 1650 gelangte eine halbe Million Tonnen die Stadt.
Die Pest beförderte auch die moderne Mathematik. In größeren Städten wurden Todeslisten geführt, um den Bedarf an Pesthäusern und Begräbnisplätzen zu ermitteln, so die Londoner Bills of Mortality – begonnen 1592, nahezu lückenlos weitergeführt 1604–1660 und von dem englischen Gelehrten John Graunt (*1620, †1674) ausgewertet. London war besonders betroffen: Auf Pestausbrüche 1625 (45.000 Tote), 1636/37 (13.000) und 1665 (70.000) folgte 1666 The Great Fire of London, das 13.000 Häuser zerstörte und 80.000 Menschen obdachlos machte. Der Wiederaufbau – das Bild der Innenstadt bis heute prägend – begann mit gründlichen zählenden Bestandsaufnahmen. Einer der Zeitzeugen war Isaac Newton. Die Todeslisten von Breslau (heute Wroclaw) wurden ausgewertet von einem Kollegen, dem Astronomen Edmond Halley (*1656, †1742), Entdecker das nach ihm benannten Kometen. Ein weiterer Zeitgenosse, der Geschäftsmann und Schriftsteller Daniel Defoe (*1660?, †1731), schrieb nicht nur „Robinson Crusoe“ (1719), sondern auch „Journal of the Plague Year“ (1732) über einen Pestausbruch in Frankreich; und 100 Jahre später schrieb Heinrich Heine „Ich rede von der Cholera“ (1832).
Denn um 1800 war die Pest nicht mehr wichtig, Vorsorge gegen Seuchen oder Bills of Mortality wurden vernachlässigt. Dann kam die Cholera 1831 von Russland über Polen nach Preußen, 1832 nach London (6.800 Tote) und Paris (18.000 Tote); Berlin erlebte bis 1873 13 Ausbrüche. Zu dieser Zeit hatte der wohlhabende schottische Rechtsanwalt und Abgeordnete Sir John Sinclair (*1754, †1835) die amtliche Statistik begründet – mit dem Statistical Account of Scotland (1791–1799) in 21 Bänden. Er schickte Fragebögen an die örtlichen Geistlichen der Church of Scotland (Andersgläubige wurden nicht erfasst) und bezahlte die Erhebung weitgehend selbst. 1838 wurde das Registrar-General’s Office in the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland errichtet, der britische Arzt William Farr (*1807, †1883) diente als Compiler of Abstracts bis 1879. Er untersuchte Sterbezahlen, insbesondere nach Cholera-Ausbrüchen, und war zunächst skeptisch, als der Londoner Hausarzt John Snow (*1813, †1858) den Broad Street Cholera Outbreak (1854) mit Beobachtungen und Befragungen zu einer Wasserzapfstelle als Krankheitsherd zurückverfolgte; später verstand er die Bedeutung. Diese Erfahrungen des 19. Jahrhunderts blieben wichtig, wuchs doch die Bedrohung durch ansteckende Krankheiten mit der Weltbevölkerung: Mit der „Spanischen Grippe“ (März 1918-März 1920) hatte sich wohl ein Drittel der damals weltweit 1,5 Mrd. Menschen angesteckt, anfangs vor allem durch kriegsbedingte Truppenbewegungen; es starben nach älteren Schätzungen 25–50, nach neueren 50–100 Mio. Menschen. Mit anderen Worten starben an dieser Influenza-Pandemie mehr Menschen als im I. Weltkrieg, vermutlich sogar mehr als in beiden Weltkriegen zusammen. Gelernt haben daraus aber offenkundig nur Fachleute, und das auch erst in den letzten Jahrzehnten; die damaligen Eindrücke von Zeitzeugen wurden durch andere Ereignisse des 20. Jahrhunderts überlagert und oftmals verdrängt.
Forschungen zum sündigen Glücksspiel begannen in den letzten Pestjahrzehnten; verdient machten sich zunächst französische Gelehrte wie Pierre de Fermat (*1607, †1665), Blaise Pascal (*1623, †1662), Abraham de Moivrè (*1667, †1754), Pierre Rèmont de Montmort (*1678, †1719) oder Pierre-Simon Laplace (*1749, †1827), aber auch Christian Huygens (*1629, †1695) in den Niederlanden oder Jakob Bernoulli (*1655, †1705) in der Schweiz. Bisher als schicksalhaft und nicht abwendbar geltende Ereignisse erschienen nun als zufällig und berechenbar. Die Anzahl aller möglichen Ereignisse in einem Geschehen war überschaubar. Nicht mehr ausgeliefert zu sein, hieß zu verstehen, dass zu wetten manchmal wirksamer war als zu beten. Glücksspiele lockten Spielsüchtige, Halunken und Forscher, gern in bunter Mischung: Der französische Schriftsteller Francois-Marie Arouet, genannt Voltaire (*1694, †1778), wurde mit dem Mathematiker Charles-Marie de la Condamine (*1701, †1774) 1729/1730 durch die Pariser Lotterie reich: Sie konnten mehrfach mit Gleichgesinnten alle Lose einer Ziehung aufzukaufen. Die Ausschüttung war staatlich bezuschusst, um Gläubiger wenigstens anteilig zu entschädigen, nachdem das Königshaus 1728 eine große Staatsanleihe nicht ablösen konnte. Gut 20 Jahre später verschätzte sich Voltaire, als er sächsische Staatsanleihen rechtswidrig verwerten wollte. Der verursachte Skandal führte dazu, dass er den Hof des preußischen Königs Friedrich II., dem er diente, verlassen musste.
Seit der Aufklärung ließ sich etwas entspannter arbeiten, ohne Furcht vor dem Scheiterhaufen: Laplace etwa verfolgte den ketzerischen Gedanken, alles auf der Welt sei berechenbar, sofern man „nur“ die Art und Zahl der beteiligten Teilchen, Körper, Vorgänge und Gesetzmäßigkeiten kenne. Solcher Determinismus, eine wissenschaftliche Art von Schicksal, wurde später durch das Wissen über Komplexität entkräftet: Selbst Messwerte für „alles“, die es sowieso nicht gibt, zeigen nicht immer Ursache-Wirkungs-Beziehungen – was man damals nicht wusste. Der französische Rechtsanwalt Andrè-Michel Guerry (*1802, †1866) und der belgische Astronom Lambert Adolphe Jacques Quetelet (*1796, †1874) gelten als Begründer der Moralstatistik; sie wollten Zusammenhänge zwischen den Lebensverhältnissen und der Häufigkeit von Straftaten und Selbsttötungen finden. Quetelet schuf den umstrittenen Body Mass Index BMI sowie den „Durchschnittsmenschen“ (homme moyen) und begründete die verbreitete Vorliebe für ausgewogene Gauß'sche Glockenkurven; er forschte mit Laplace über Wahrscheinlichkeitsrechnung und leitete 1846 die erste belgische Volkszählung. Laplace arbeitete zuvor mit dem französischen Forscher Antoine-Laurent Lavoisier (*1743, †1794), einem Begründer der Chemie, der nicht nur Zahlenverhältnisse ergründete, in denen sich Atome zu Molekülen fügen, sondern auch die Bevölkerungsentwicklung seines Landes. Der anfängliche Unterstützer der Revolution wurde hingerichtet wegen seines früheren Wirkens als königlicher Steuereintreiber.
Statistik (lat. status, Zustand, Verfassung), die Zähl-, Mess- und Schätzwerte aus den Lebenswelten sammelt, auswertet und aufbereitet, sich also mit Mengen jeglichen Umfangs befasst (Kap. 9), oder die
Kombinatorik (lat. combinatio, Zusammenfassung), die sich mit endlichen Mengen befasst, welche aufgrund von Gesetzmäßigkeiten zustande kommen (Kap. 7).
Es gibt in der Moderne immer mehr zu wissen, und so wird immer mehr Wissen angehäuft, was wiederum weit mehr Nicht-Wissen aufdeckt; die Spirale des Lernens dreht sich. Viel bleibt als Herrschaftswissen oder Betriebsgeheimnis verborgen, nicht anders als in vergangenen Jahrhunderten; viel verbirgt sich auch in der Fülle. Heute können immer mehr Menschen immer mehr Wissen ansammeln, es wird dadurch aber nicht offenkundiger und verständlicher, nicht einmal übersichtlicher. Moderne Stochastik ist Mittel zum Zweck, auch Machtmittel, und Expertokratie stärkt nicht zwingend das Vertrauen:
Fach- und Rechtsgebiete sind heute derart umfangreich, dass auch Fachleute um Überblick ringen; in der Bevölkerung ist es nur schwer möglich, aus den Fachbeiträgen, Gutachten oder Ratschlägen das Nützliche auszuwählen.
Gegensätzliche Lehrmeinungen sind nicht selten, sodass der Eindruck entstehen kann, dass jedes Gutachten mit einem Gegengutachten zu beantworten ist, Entscheidungen also nur vom Geld abhängen.
Amtliche und gerichtliche Verfahren können lang und teuer werden; damit ist wahrscheinlich, dass Betroffene aus verschiedensten Gründen nicht „durchhalten“ und ihre Bedürfnisse und Ansprüche nicht durchsetzen können, Fachleute, Rechtskundige und Behörden also „unter sich“ bleiben.
Dies ist das Spannungsfeld von verborgenem Wissen (Esoterik) und öffentlichem Wissen (Exoterik, griech. esoterikos/eksoterikos, zum Inneren/Äußeren gehörend). Zu viel Wissen überfordert, und so verbreiten sich in arbeitsteiligen Gesellschaften dank Bequemlichkeit oder Reizüberflutung Glaubenssätze wie dieser: „1. Kann man den Dingen Namen geben, hat man eine Lösung. 2. Kann man die Dinge mit einer Zahl belegen, hat man eine noch bessere Lösung. 3. Ist jemand dann noch zuständig, ist die Lösung fast schon umgesetzt.“ Wer sich auf Statistik beruft, sollte also wissen, worum es geht: Was wurde gezählt (Gegenstand)? Wie wurde gezählt (Verfahren)? Wann und wo wurde gezählt (Auswahl, Stichprobe)? Warum wurde gezählt (Forschungsfrage, Ziele und Erwartungen, Absichten)? Wie wurde ausgewertet (Schlussfolgerungen, Fehler)?
Solche Überlegungen überfordern naturgemäß die meisten Nicht-Fachleute, also den größten Teil der Bevölkerung. Statistik wird damit im Alltag, ganz ähnlich wie das Recht, zur Auslegungssache. Die Debatten um die Klimaproblematik oder die Corona-Pandemie zeigten zudem falsche Vorstellungen über Wissenschaft: Geht es um neue Forschungsgegenstände, sind – zumindest kurz- bis mittelfristig – keine ewigen Wahrheiten zu erwarten, vielmehr können sich monatlich, gar wöchentlich, neue, auch widersprüchliche Erkenntnisse ergeben. Wer also in wichtigen Fragen des Alltags nur anhand von „Wissenschaftlichkeit“ zu entscheiden versucht und dabei die sachlichen, wirtschaftlichen, zeitlichen, rechtlichen oder menschlichen Rahmenbedingungen vernachlässigt, wird zwangsläufig enttäuscht; das ist kein Mangel der betreffenden Wissenschaften.
Ein streitträchtiges Beispiel ist die Kriminalstatistik, die nur das Hellfeld, aber nicht das Dunkelfeld zeigt – also nur die angezeigten und entdeckten Straftaten. Sie bietet, abhängig vom jeweiligen Weltbild, Anlässe zu Vermutungen und Befürchtungen. Seit langem kursiert die Schätzung, dass hierzulande nur etwa die Hälfte aller gewaltsamen Todesfälle als solche erkannt werden, und eine Leichenschau demzufolge erst gar nicht angeordnet wird. Wenn es so ist, betrifft es überwiegend ältere, vorerkrankte Menschen; Todesfälle unter 20jährigen machen eher stutzig. Doch was nicht gesucht wird, wird höchstens zufällig gefunden; was nicht gefragt wird, wird nicht beantwortet. Ähnliches gilt für Erhebungen zur Erwerbslosigkeit (wer ist eigentlich „arbeitslos“?), zur Zuwanderung oder zur Ernährung. Abgesehen von den rechnerischen Feinheiten bietet der Umgang mit solchen Zahlenwerken Einblicke in das Seelenleben einer Gesellschaft. Das betrifft insbesondere die Einschätzung von Gefährdungen, von denen selbstverständlich jeder Mensch, an jedem Ort und zu jeder Zeit betroffen ist – aber in welchem Ausmaß? In Deutschland sterben jährlich Tausende im Straßenverkehr. Das wird hierzulande allgemein als betrüblich empfunden, allerdings erregt sich außer den Hinterbliebenen kaum jemand darüber. Doch was für ein Aufruhr entstünde (desgleichen in anderen Ländern), wenn Störfälle in Kernkraftwerken zur gleichen Zeit die gleiche Zahl an Opfern forderten?
Die Wahrscheinlichkeit für einen Sechser im Lotto ist wie erwähnt ernüchternd gering, deutlich geringer als die Wahrscheinlichkeit, an Lungenkrebs zu sterben. Dennoch ist der Anteil der erwachsenen Bevölkerung, die Lotto spielt, seit Jahrhunderten größer als der Anteil der rauchenden Bevölkerung, der sich ernsthaft bemüht, von der Sucht loszukommen. Auch die Eindämmung ansteckender Krankheiten ist lehrreich: Führt etwa ein Erreger bei 100 von 100.000 Menschen zur Erkrankung (0,1 %), und gibt es einen Antigen-Test, der mit einer Sicherheit von 99,99 % die Erkrankung nachweist, gelingt dies bei allen 100 Erkrankten. Wird jedoch die gesamte Bevölkerung getestet, werden unter 100.000 Menschen neben den 100 Kranken auch 100 Gesunde fälschlich für krank befunden („falsch positiv“) – gemäß der Unsicherheit von 0,0001 %. Es muss also im Befundfall ein zweites Mal getestet werden. Wer versteht das?
Der erwähnte Francis Galton zeigte seine Vielfachbegabungen schon als Kind. Zeit seines Lebens zählte, verglich und ordnete er, was ihm untersuchenswert erschien. Er entwickelte neue Ansätze der Wahrscheinlichkeitsrechnung; die führten noch lange nach seinem Tod zu Debatten um das Verhältnis von Kausalität (lat. causa, Grund, Ursache), einer nachvollziehbaren Ursache-Wirkungs-Beziehung, und Korrelation (lat. cor-relatio, Wechselbeziehung), einem vielleicht auch zufälligen Zusammenhang. Beide sind im Einzelfall auch nicht leicht auseinanderzuhalten: Schon um 1900 war bekannt, dass in Städten anteilig mehr Menschen mit seelischen Störungen und Erkrankungen leben als auf dem Lande; heutige Untersuchungen zeigen, dass dem immer noch so ist. Doch macht nun die Stadt mit ihrem Sozialstress aus Anonymität und Hektik die Menschen krank, oder zieht es Menschen mit solchen Belastungen in die Städte, weil sie im ländlichen Umfeld noch weniger geduldet werden und in einer Massengesellschaft eher Nischen finden? Das ist bis heute nicht ganz klar. Dass Geburten und Störche nicht zusammenhängen, dürfte findigen Kindern aber schon längst aufgefallen sein – werden doch Störche (Zugvögel!) im winterlichen Europa gar nicht tätig, während Kinder durchaus auch in der kälteren Jahreszeit geboren werden …
Im Alltag wirkt oft schlicht das Thomas-Theorem (1928), benannt nach den US-amerikanischen Soziologen Dorothy S. Thomas (*1899, †1977) und William I. Thomas (*1863, †1947): Wenn die Angst das Leben beeinflusst, ist es irgendwann gleichgültig, ob diese Angst berechtigt – also etwa wissenschaftlich begründbar – ist; sie wird zu einer Art von Wirklichkeit. Bedrohungsgefühle, Gruppendruck und Erwartungshaltungen bereiten den Weg für „gefühltes Wissen“, eine Spielart des Gerüchts, das in gesellschaftlich bereits angespannten Zeiten durchaus Aufruhr auslösen kann. Ähnliches gilt für Menschen in schwierigen Lebenslagen, die sich verzweifelt an eine bestimmte Hoffnung klammern und dabei Beweise, Erfahrung, Wirklichkeit ausblenden. Wissenschaft hilft hier selten.