In diesem Kapitel erfahren Sie …
mit welchen heimlichen Signalen Sie andere zu Übergriffen ermutigen,
wie Sie einen unverschämten Chef in seine Grenzen weisen,
was Sie tun können, wenn Sie jemand übersieht oder Ihnen nicht zuhört und
wie Sie Ihr Leben retten, indem Sie es als Flussgrundstück sehen.
Stellen Sie sich vor, Sie erwerben ein großes Grundstück direkt an einem Fluss, Natur pur. Es ist Sommer, und Sie freuen sich darauf, eine Hängematte zwischen zwei Bäume zu spannen und in den Tag zu träumen. Für sich allein, in Ruhe und Stille.
Doch als Sie zu Ihrem Grundstück fahren, ist es belagert von Menschen. Direkt am Fluss dösen Badegäste in der Sonne. Kinder spielen Fußball zwischen zwei Bäumen. Eine Rentner-Gruppe macht Kniebeugen. Und ein paar Jugendliche hängen mit einem iPod ab, aus dessen Lautsprecher Rap-Musik dröhnt.
Nun gut, denken Sie sich, ich habe das Grundstück ja gerade erst erworben. Und die Leute verbringen ihre Freizeit seit vielen Jahren hier. Sicher brauchen sie etwas Zeit, bis sie sich eine andere Ecke am Fluss gesucht haben.
Eine Woche warten Sie ab, ehe Sie erneut an den Fluss fahren. Dort ist alles beim Alten: Ihr Grundstück quillt über vor Menschen. Keine Spur von der Ruhe, die Sie sich erhofft haben. So geht das einen ganzen Monat lang, ehe Sie resigniert zu sich selber sagen: »Die Leute haben einfach keinen Respekt vor meinem Eigentum!«
Daraus ergeben sich zwei Fragen:
Warum, glauben Sie, betreten die Menschen das Grundstück, obwohl es doch Ihnen gehört?
Und was genau müssten Sie tun, um die anderen davon abzuhalten?
Der Grund für die Grenzüberschreitung liegt auf der Hand: Weil niemand weiß, dass das Grundstück Ihnen gehört, hat niemand Skrupel, es zu betreten. Ein Grundstück mit unbekanntem Eigentümer gehört im Zweifel allen.
Wenn Sie diesen Zustand ändern wollen, sind drei Schritte fällig:
Sie müssen die Welt wissen lassen, dass Sie der Besitzer des Grundstücks sind – etwa durch ein Schild.
Sie müssen deutlich machen, wo genau Ihr Eigentum beginnt – etwa durch einen Zaun.
Und Sie müssen Ihr Grundstück zur Not gegen Eindringlinge verteidigen.
Stellen Sie sich vor, Sie pirschen sich im Morgengrauen auf Ihr Grundstück und nageln ein paar Schilder an die Bäume (»Privatgrundstück: Betreten verboten!«). Damit haben Sie Ihren Besitz markiert. Doch am Nachmittag stellen Sie fest: Die Hälfte der sonstigen Besucher breitet sich immer noch auf Ihrem Grundstück aus. Offenbar reichen die Schilder allein nicht aus, um alle Menschen von Ihrem Grundstück fernzuhalten.
Deshalb beschließen Sie, einen Zaun um das Areal zu ziehen. Der Erfolg nimmt zu: Bei Ihrem nächsten Besuch ist das Grundstück fast leer. Nur eine Handvoll Leute sind über den Zaun geklettert und belagern das Flussufer.
Was passiert, wenn Sie diese Eindringlinge nicht verjagen? Werden sie mit der Zeit ein schlechtes Gewissen bekommen und sich zurückziehen? Nein, was Sie dulden, ohne sich zu wehren, zieht Nachahmer an: Bald klettern mehr Leute auf Ihr Grundstück. Oder jemand schneidet ein Loch in den Zaun. Und der Andrang wird so groß sein wie zuvor.
Halten wir fest: Nur wer sein Grundstück markiert, einzäunt und verteidigt, ist sicher vor unerwünschten Eindringlingen. Dieses Beispiel lässt sich auf Grenzen in Ihrem Leben übertragen:
Haben Sie gut sichtbare Schilder aufgehängt, die Ihre Grenzen im Umgang mit anderen definieren? Zum Beispiel: Wissen Menschen, mit denen Sie sich verabreden, dass Sie (dauerhafte) Unpünktlichkeit nicht dulden? Oder kann es sein, dass Sie dieser Grenzübertritt zwar ärgert, aber kein entsprechendes Schild Ihr »Ufergrundstück« markiert: »Lege Wert auf Pünktlichkeit!«?
Haben Sie einen Zaun um Ihre eigenen Interessen gezogen, der so hoch ist, dass ihn keiner übersehen kann? Kündigen Sie einem Menschen, der Sie durch seine Unpünktlichkeit versetzt hat, zum Beispiel an: »Beim nächsten Mal erwarte ich Pünktlichkeit. Sonst gehe ich nach Hause.«?
Und sind Sie bereit, jeden, der über diesen Zaun klettern will, zurück auf die andere Seite zu stoßen? Also: Wenn Sie jemand versetzt, tatsächlich nach Hause zu gehen – und eine erneute Verabredung, zumindest vorerst, abzusagen? Erst dieser letzte Schritt beweist, wie konsequent Sie sind.
Vielleicht fürchten Sie, so viel Konsequenz könnte schon aggressiv wirken. Dieses Signal wäre gut! Manchmal müssen Sie die Zähne zeigen, damit andere Ihre Ansprüche respektieren. Machen Sie sich bewusst, dass Ihre Aggression positiv ist – Ihr Verhalten soll den anderen nicht schädigen, sondern dient Ihrem berechtigten Ziel. 64 Und es ist legitim und natürlich, dass Sie sich für Ihre Interessen einsetzen.
Angenommen Sie wollen Ihre erste Stunde im Büro immer für Konzeptarbeit nutzen. Doch kaum sind Sie am Arbeitsplatz, schneit ein Kollege herein und hat eine »kurze Frage« – in der Vergangenheit haben Sie ihm oft geholfen. Kurz darauf läutet Ihr Telefon und zeigt die Nummer Ihres Chefs an – er ist es von Ihnen gewohnt, dass Sie schnell verfügbar sind. Und aus dem Augenwinkel sehen Sie, wie die Auszubildende Ihr Büro betritt, in der Hand ihr Schulheft – klar, Sie sollen ihr mal wieder bei den Hausaufgaben weiterhelfen.
Sie wollten ein leeres Ufergrundstück – doch nun wird es belagert. Wie kommt es zu dieser Situation? Und warum ist die Versuchung so groß, dass Sie die Belagerung dulden, statt sich um Ihre eigenen Belange zu kümmern?
Empathische Menschen unterliegen einem Trugschluss. Weil sie selbst sofort spüren, wann sie einen anderen Menschen stören und überfordern, meinen sie, die anderen müssten ihnen gegenüber ähnlich sensibel sein. Aber die meisten Menschen sind nur als Verteidigungsminister der eigenen Interessen unterwegs: Der Kollege will sein Problem gelöst haben, der Chef seinen Auftrag platzieren, die Azubi Tipps für ihre Hausaufgaben. Ob Sie dadurch gestört werden, interessiert die anderen wenig.
Es sei denn, Sie setzen deutliche Signale. Wie an Ihrem Flussgrundstück brauchen Sie ein Schild, um alle zu informieren. Nur so gelingt es Ihnen, Ihren Besitzanspruch an dieser ersten Arbeitsstunde des Tages erfolgreich zu verteidigen. Zum Beispiel könnten Sie bei einer Team-Sitzung sagen: »Ich habe gemerkt, dass mir morgens zwischen 8.30 und 9.30 Uhr die besten Ideen kommen. Deshalb möchte ich diese erste Arbeitsstunde für konzeptionelle Arbeit nutzen. Ich bitte euch, mit Fragen und Anliegen erst ab 9.30 Uhr auf mich zuzukommen.«
Dieses Schild macht Ihre Grenze sichtbar. Das wird einige abschrecken, aber nicht alle. Hilfreich ist ein zusätzlicher Zaun. Zum Beispiel schalten Sie eine Abwesenheitsmail: »Ab 9.30 Uhr reagiere ich gern auf Ihr Anliegen.« Oder Sie sprechen einen solchen Text auf Ihre Mailbox. Oder Sie ziehen sich für diese erste Stunde mit Ihrem Laptop in einen Ruheraum Ihrer Firma zurück. Oder Sie weisen, falls Sie ein Vorzimmer haben, Ihren Assistenten an, niemanden zu Ihnen vorzulassen.
Damit haben Sie einen Zaun gezogen, der die meisten Grenzüberschreiter abschreckt. Aber nicht alle! Irgendwer wird versuchen, Ihren Zaun zu überwinden. Zum Beispiel stöbert die Auszubildende Sie im Ruheraum auf. Oder der Kollege wählt Ihre private Handynummer. Oder eine Kollegin setzt eine Sitzung am frühen Morgen an.
Nun haben Sie die Chance, Ihr zeitliches Flurstück gegen Grenzüberschreiter zu verteidigen. Sie müssen das sogar, denn es ist wie am Fluss: Wenn Sie einmal tolerieren, dass jemand Ihren Zaun überwindet, wird der Zaun bald fallen. Halten Sie an Ihren Prinzipien fest, pochen Sie auf Ihre Grenze.
Sagen Sie dem Kollegen, der Ihre private Nummer gewählt hat, dass Sie ihm in Ihrer morgendlichen Konzeptionszeit keine Frage, nicht mal eine kurze, beantworten werden. Schicken Sie die Auszubildende mit ihren Hausaufgaben weg. Und lehnen Sie, falls möglich, die Teilnahme an der Sitzung ab. Kombinieren Sie Ihr Nein mit einer Alternative – etwa wann Sie für die Kollegen oder die Sitzung zur Verfügung stehen (siehe hier ).
Ich gebe es zu: Ein solches Verhalten wird Sie anstrengen. Vielleicht fürchten Sie, die anderen damit unnötig gegen sich aufzubringen. Was wäre schon dabei, dem Kollegen eine schnelle Antwort zu geben? Oder der Azubi einen Tipp für ihre Hausaufgaben? Und morgendliche Sitzungen sind doch die Ausnahme, warum nicht ein einziges Mal teilnehmen?
Aber: Jede Ausnahme würde ein Loch in Ihren Zaun reißen! Wenn einer durchschlüpft, folgen weitere. Dann wird das Loch größer, und Ihr Zaun wankt. Umgekehrt funktioniert es: Wenn Sie Ihre Grenze konsequent und hörbar verteidigen, hat das Signalwirkung und schreckt andere ab. Niccolò Machiavelli beschreibt diese Wirkung in seinem Macht-Klassiker »Der Fürst«. Nur wer den Mut habe, ein einziges Mal eine »wohl angebrachte Grausamkeit« zu begehen, müsse nicht »das Schwert beständig in der Hand halten«. 65 Durch Abschreckung entstehen klare Regeln.
Eine Grenze lässt keine Halbherzigkeit zu, das können Sie in der Erziehung beobachten: Wenn Sie ein Kind jeden Tag um 20 Uhr ins Bett schicken, ohne Ausnahme, geht es bald von allein um diese Zeit schlafen. Wenn Sie jedoch gelegentlich eine Verlängerung auf 20.05, 20.15 oder 20.30 Uhr akzeptieren, haben Sie Abend für Abend neue Diskussionen. Dabei bringen Kinder alle Tricks der menschlichen Manipulation zum Einsatz, sie bitten oder betteln, schmeicheln oder schmusen, weinen oder schreien vor Wut – je nachdem, welche Strategie bei Ihnen am besten funktioniert.
Ein Kind merkt sofort an kleinen Signalen, wie ernst Sie Ihre Grenze meinen. Zum Beispiel macht es einen großen Unterschied, ob Sie sagen: »Um 8 Uhr gehst du ins Bett« oder »Du solltest um 8 Uhr ins Bett«. Die zweite Formulierung wirkt unsicher, ein Soll ist kein Muss. Und »solltest« klingt, als hätten Sie es sich mittlerweile anders überlegt.
Sprachliche Weichmacher verwischen Ihr Grenzschild. Sagen Sie zu Ihrem Chef: »Ich sollte heute pünktlich zu Hause sein« – und ihm ist sofort klar, dass er Sie doch zu der Überstunde überreden kann. Sagen Sie bei einer Reklamation in einem Geschäft, dass Sie ja »eigentlich einen Anspruch auf Umtausch« haben – und die Verkäuferin wittert, dass Sie sich vielleicht ohne abspeisen lassen.
Doch nicht nur die Sprache, auch der Körper verrät unklare Grenzen. Gefährlich wird es, wenn Sie widersprüchliche Signale senden:
Sie lächeln verlegen, während Sie Nein sagen. Der andere empfängt die Meta-Botschaft: »Ich habe dir jetzt zwar eine Grenze genannt – werde sie aber nur schwach verteidigen, wenn du gegen sie anrennst.«
Ihre Hand berührt den Mund, während Sie eine Grenze formulieren. Beim anderen kommt an: »Ich traue mich kaum, das auszusprechen, am liebsten riefe ich die Worte zurück.« Klar, dass er versuchen wird, Ihre Aussage noch umzubiegen.
Sie lassen eine Aussage im hohen Ton der Frage enden, sodass kein »Ich sehe das anders!« erklingt, sondern »Ich sehe das anders?«. Hohe Endungen machen Aussagen zu Fragen. Und wenn Sie selbst nicht sicher wissen, wo Ihre Grenze verläuft, wird der andere sie zu seinen Gunsten verschieben.
Sie wenden den Blick ab, während Sie sich verbal abgrenzen. Beim anderen kommt an: Sie wollen entschlossen klingen, ohne entschlossen zu sein. Sie halten es nicht aus, ihm ins Gesicht zu sagen, wo Ihre Grenze liegt. Diese Unsicherheit wird er ausnutzen, indem er nachhakt, bittet und fordert, bis Sie doch noch nachgeben.
In all diesen Fällen sind Sie innerlich nicht sicher, wo Ihre Grenze liegt und ob Sie ein Anrecht darauf haben. Oder Sie fragen sich: »Was werden die anderen denken, wenn ich so streng bin?« Diese negativen Gedanken entreißen Sie dem Augenblick, kosten Sie Präsenz und Strahlkraft. 66
Diese Unsicherheit schlägt eine Kluft zwischen Aussage und körperliche Signale. Das ist so, als würden Sie am Flussufer sagen: »Keiner betritt mein Grundstück« – aber gleichzeitig öffnen Sie die Tür des Zauns, treten einen Schritt beiseite und machen eine einladende Handbewegung. Nonverbale Botschaften dominieren die Kommunikation und können das Gesagte wegwischen.
Abgrenzung funktioniert nur, wenn sie glasklar ist: eindeutiges Schild, hoher Zaun und konsequente Verteidigung Ihres Willens.
»Mein Vorgesetzter verhält sich unverschämt!«, erzählte Anita Rieger (49) in der Beratung. »Jedes Mal, wenn er mir eine Aufgabe gibt, endet er mit den Worten: ›Aber dalli!‹ – als wäre ich eine Schnecke, die man anschieben muss.«
»Gibt es weitere Beispiele?«, fragte ich.
»Wenn er anderer Meinung ist, sagt er oft zu mir: ›Jeder, der was von der Sache versteht, weiß doch genau ...‹ – und dann folgt sein Standpunkt. Er behandelt mich, als wäre ich blöd.«
»Wann geht er so mit Ihnen um?«
»In allen möglichen Situationen – unter vier Augen, in der kleinen Gruppe oder bei Sitzungen. Neulich hat er auf einen Wortbeitrag von mir gesagt: ›Das war jetzt ein ziemlich blondes Argument!‹ Einige am Tisch haben sogar noch darüber gelacht.«
»Und Sie?«
»Ich habe probiert, nicht zu lachen. Aber möglicherweise habe ich unsicher gegrinst, so überfahren war ich.«
»Haben Sie Ihren Chef darauf angesprochen?«
»Nein – dann hätte er mich doch erneut angegriffen: ›Erst reden Sie Unfug – und dann reagieren Sie wie eine Mimose!‹ Diesen Gefallen wollte ich ihm nicht auch noch tun.«
»Das heißt, Ihrem Chef ist vielleicht gar nicht klar, wie sehr er Sie mit seinem Verhalten verletzt.«
»Ich glaube schon, dass er das weiß.«
»Heißt ›glauben‹, Sie können nicht ganz ausschließen, dass Ihr Chef zu den genannten Vorfällen sagen würde: ›Ich bin davon ausgegangen, das macht Frau Rieger nichts aus. Sie hat noch nie einen Ton gesagt und sogar über meinen Witz geschmunzelt.‹?«
Sie grübelte einen Moment. »Ich halte das für unwahrscheinlich. Aber es ganz ausschließen? Nein, das kann ich nicht.«
Ich erzählte ihr die Geschichte vom Ufergrundstück und fragte sie dann: »Wissen Sie eigentlich, wo Ihre Grenze liegt? Was darf Ihr Chef gerade noch sagen? Und wann ist er einen Schritt zu weit gegangen?«
»Er darf die Grenze der Höflichkeit nicht überschreiten.«
Näher definieren konnte sie diese Grenze nicht. Deshalb ließ ich sie aufschreiben, welche Aussagen oder Verhaltensweisen des Chefs ein schlechtes Gefühl bei ihr ausgelöst hatten. Nach 15 Minuten hatte sie ein komplettes A4-Blatt beschriftet. Fast die ganze Kommunikation mit ihrem Chef war durch Herabsetzungen geprägt. Er fiel ihr ins Wort. Er schüttelte oft den Kopf, wenn sie sprach. Er ging nicht auf ihre Argumente ein. Und öfter mal winkte er verächtlich ab und sagte: »Darüber diskutiere ich nicht mit Ihnen!«
Anita Rieger war über diese Flut von Grenzüberschreitungen selbst erstaunt. Die meisten davon waren ihr im Alltag nicht aufgefallen. Da campierte ein Mensch in der Mitte ihres Flussgrundstücks, aber sie übersah ihn die meiste Zeit. Wie kann das sein, dass jemand Ihre Grenzen verletzt, ohne dass Sie es bemerken?
Stellen Sie sich vor, Sie besitzen viele Flussgrundstücke, die aus Ihren persönlichen Werten bestehen. Wann immer ein Mensch gegen Ihre Werte verstößt, empfinden Sie das als Grenzverletzung:
Wenn Pünktlichkeit ein wichtiger Wert für Sie ist, treibt es Sie auf die Palme, wenn sich jemand regelmäßig verspätet.
Wenn Ordnung für Sie ein wichtiger Wert ist, regt es Sie auf, wenn jemand in Ihrer Umgebung Chaos verbreitet.
Wenn Gradlinigkeit ein wichtiger Wert für Sie ist, trifft es Sie hart, wenn jemand hinter Ihrem Rücken lästert.
Wenn Großzügigkeit ein wichtiger Wert für Sie ist, verletzt es Sie, wenn jemand Ihnen gegenüber geizig ist.
Wenn Empathie ein wichtiger Wert für Sie ist, ertragen Sie es nur schwer, wenn jemand sich kaum für Ihre Belange interessiert.
Das Grundstück, auf dem die Grenzverletzung stattfindet, liegt in Ihrer Seele – nennen wir es »Wiese der persönlichen Werte«. Wann immer jemand den Fuß auf dieses Grundstück setzt, wird Sie diese Grenzverletzung treffen – aber vielleicht so subtil, dass Sie es nicht richtig einordnen können.
Zwar nahm Anita Rieger die offensichtlichen Grenzüberschreitungen wahr, etwa wenn der Chef ihren Vorschlag als »blond« diffamierte. Aber die zahlreichen kleineren Verletzungen, wie schroffer Tonfall oder Abwinken, hatte sie verdrängt oder rationalisiert: War es nicht das Recht eines Chefs, bestimmend aufzutreten? Wäre es nicht unprofessionell gewesen, jedes seiner Worte auf die Goldwaage zu legen?
Erst im Beratungsgespräch wurde ihr bewusst, gegen welchen ihrer Werte der Chef pausenlos verstieß: respektvollen Umgang. Nun war sie in der Lage, die Grenzen ihres Flussgrundstücks zu definieren: »Ich lege auf respektvollen Umgang großen Wert. Ich lebe ihn vor, und ich fordere ihn ein – unabhängig davon, ob jemand im Rang unter oder über mir steht. Wer respektlos mit mir umgeht, bekommt von mir eine solche Rückmeldung.«
Fortan gelang es ihr, Grenzüberschreitungen sofort zu bemerken und zurückzuweisen. Statt Andeutungen ihres Chefs hinzunehmen – »Nicht jeder im Team zieht voll mit!« –, fragte sie: »Wie meinen Sie das?« – eine rhetorische Technik, die verkappte Gemeinheiten aufdeckt oder den Angreifer zurückrudern lässt. 67
Mehrfach verbat sie sich den schroffen Ton und die Herabwürdigungen ihres Chefs. Aber mit welchem Erfolg? In der letzten Beratungssitzung fasste sie ihre Erfahrung zusammen:
»Ich habe zu ihm immer wieder gesagt: ›Sie haben gerade abgewinkt, als ich etwas gesagt habe. Das verletzt mich. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie mich ernst nehmen und würdig behandeln.‹ Er forderte mich auf, nicht ›so ein Theater‹ zu machen. Ich sagte ihm, dass mich diese Formulierung erneut verletzt – denn ich würde kein Theater machen, sondern ihm lediglich mitteilen, was mir im Umgang wichtig ist.
So ging unser Dialog hin und her. Ich merkte, welche Kraft mir meine Entschlossenheit verlieh. Am Ende sagte er mir zu, künftig mehr auf respektvollen Umgang zu achten. Natürlich hat er sich erst mal nicht daran gehalten. Aber es ist mir jedes Mal sofort aufgefallen. Und ich habe ihm das klar gesagt und es mit einer Forderung verbunden.
Jetzt sind sechs Monate vergangen, und es kommt nur noch selten vor, dass er meine Grenzen verletzt. Eine Kollegin hat mich neulich sogar gefragt: ›Was hast du bloß mit dem Chef gemacht? Der fasst dich neuerdings ja mit Samthandschuhen an.‹ Meine schlichte Antwort: ›Ich habe ihm Grenzen gesetzt.‹«
Ein Kniff half Anita Rieger, ihre Gewohnheiten zu verändern: In dieser Zeit telefonierte sie fast täglich mit einer Freundin, die sich vorbildlich abgrenzte. Jedes dieser Telefonate füllte sie mit neuer Energie und machte ihr Mut, gegenüber dem Chef klare Kante zu zeigen. Zugleich schränkte sie den Kontakt zu ihrer Schwester ein, die stets Nettigkeit von ihr einforderte und ihr, wenn sie eigene Interessen vertrat, ein schlechtes Gewissen machte.
Dieser Tipp ist enorm kraftvoll: Suchen Sie den Kontakt mit Menschen, die Ihre neue Abgrenzung unterstützen. 68 Zum Beispiel mit einer Freundin, die prima Nein sagen kann und mit Ihnen darüber spricht, wie auch Sie das schaffen. Oder tun Sie sich zusammen mit einem anderen (allzu) Netten, der die gleiche Falle wie Sie verlassen will. Dann können Sie sich gegenseitig ermutigen und inspirieren. 69 Dagegen sollten Sie den Kontakt mit Menschen einschränken, die Sie zur Anpassung drängen. Je mehr Rückenwind Ihr Umfeld liefert, desto schneller kommen Sie in Ihrer Entwicklung vorwärts.
Wollen Sie herausfinden, wo die Grundstücke Ihrer persönlichen Werte liegen – damit Sie diese künftig verteidigen können? Dann hilft Ihnen diese einfache Übung: Denken Sie an drei Situationen im Umgang mit anderen Menschen, in denen Sie sich unwohl gefühlt haben. Es dürfen auch alltägliche Situationen sein, jede Kleinigkeit ist erwähnenswert. Bitte machen Sie sich kurze Notizen, was genau geschah.
Situation 1:
Situation 2:
Situation 3:
Was haben Sie aufgeschrieben? Meine Klientin Alina notierte:
Situation 1:
Ich erzähle meinem Mann, wie mein Tag gelaufen ist. Aber ich habe das Gefühl, er hört gar nicht richtig zu. Und nebenbei schaut er auch noch auf sein Handy.
Situation 2:
Meine Kollegin sagt zu mir: »Der Kaffee ist schon wieder leer.« Ich spüre ihre Erwartung, dass ich welchen nachkochen soll, was ich auch tu. Aber warum lasse ich mich eigentlich von ihr kommandieren?
Situation 3:
Ich sitze in einem Lokal und werde von der Bedienung eine halbe Ewigkeit ignoriert. Gäste, die nach mir gekommen sind, werden vorher bedient. Das ärgert mich.
Immer, wenn Sie sich unwohl fühlen, ist einer Ihrer Werte verletzt worden. Jemand hat den Fuß auf Ihr Flussgrundstück gesetzt. Nur dass es Ihnen in dieser Situation nicht unbedingt bewusst ist. Deshalb bat ich Alina, sich bei jeder der Situationen zu fragen: Was genau hat mir in diesem Moment gefehlt? Und ich bat sie, im Anschluss eine Erwartung zu formulieren. Dadurch kamen jeweils Werte ans Licht. Hier Alinas Ergebnisse:
Situation 1: Ignoriert von meinem Mann
Mir fehlt: seine volle Aufmerksamkeit.
Meine Erwartung: Er soll sich voll auf mich konzentrieren, wenn ich ihm etwas erzähle. Denn ich höre ihm auch zu, ohne mich dabei ablenken zu lassen.
Betroffene Werte: Empathie, Aufmerksamkeit, Zugewandtheit.
Situation 2: Kaffeekochen für die Kollegin
Mir fehlt: Gleichberechtigung und Augenhöhe. Sie behandelt mich, als wäre ich ihre Dienerin.
Meine Erwartung: Wenn sie sieht, dass der Kaffee ausgeht, soll sie ihn auch selber mal kochen. Ich bin gern bereit, das genauso oft wie sie zu tun – aber nicht öfter.
Betroffene Werte: Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Kollegialität.
Situation 3: Übersehen im Lokal
Mir fehlt: Aufmerksamkeit, denn die Serviererin übersieht mich.
Meine Erwartung: Ich möchte wie ein Gast behandelt und schnell gesehen werden. Wenn andere, die später kommen, vor mir dran sind, ist das nicht in Ordnung – und ich kann das ruhig so sagen.
Betroffene Werte: Aufmerksamkeit, Gerechtigkeit.
Fällt es Ihnen auf? Zwei der Werte, »Aufmerksamkeit« und »Gerechtigkeit«, kommen mehrfach vor: Ob von ihrem Mann, bei der Arbeit oder im Lokal: Alina wird oft ignoriert oder benachteiligt. Wenn ein Wert bei dieser Übung mehrfach auftaucht, ist dieses Grundstück besonders schlecht gesichert. Offenbar gelang es Alina nicht, die richtigen Schilder aufzuhängen und jedem klarzumachen, dass sie Aufmerksamkeit und Gerechtigkeit für sich beansprucht.
Diese Übung hat einen doppelten Effekt: Zum einen kommen Sie mit Ihren Werten in Kontakt. Erst recht, wenn Sie sich jeden Abend eine Situation notieren, in der Sie sich unwohl gefühlt haben – und den verletzten Wert ermitteln. Dann werden Sie nach einigen Wochen all Ihre wichtigen Werte und Bedürfnisse kennen.
Und indem Sie Ihre Erwartung formulieren, lernen Sie für künftige Situationen. Zum Beispiel war Alina nach der Übung in der Lage, ihrem Mann beim nächsten Mal zu sagen, wie sehr sie seine mangelnde Aufmerksamkeit störte – und dass sie von ihm erwartete, ganz Ohr zu sein und nicht nur halb. Sie verteidigte den verletzten Wert und forderte ein anderes Verhalten ein. Spontan wäre ihr das nur schwer gelungen.
Bitte beantworten Sie nun die gleichen Fragen wie Alina, bezogen auf Ihre drei oben notierten Situationen:
Situation 1:
Mir fehlt:
Meine Erwartung:
Betroffene Werte:
Situation 2:
Mir fehlt:
Meine Erwartung:
Betroffene Werte:
Situation 3:
Mir fehlt:
Meine Erwartung:
Betroffene Werte:
Stellen Sie sich vor, Sie geraten erneut in eine ähnliche Situation. Was genau werden Sie tun, um Ihren Wert einzufordern? Spielen Sie einmal durch, was Sie sagen und tun werden. Wenn Sie mögen: Bitten Sie dafür einen vertrauten Menschen, in die Rolle des anderen zu schlüpfen. Ich wette, Sie werden von Runde zu Runde besser – und finden immer mehr Spaß an dem Spiel. So entstehen in Ihrem Gehirn Nervenbahnen, die es Ihnen leicht machen werden, Ihre Grenze in der realen Situation souverän zu verteidigen.
Grenzen setzen ist wie eine Sportart: Ehe der Wettkampf beginnt, sollten Sie fleißig trainieren. Damit meine ich nicht nur Rollenspiele, sondern auch mentales Training. Was genau muss ein anderer tun, damit er Ihre Grenze überschreitet? Und wann bewegt er sich noch außerhalb Ihres Werte-Grundstücks? Je besser Sie das wissen, desto konsequenter können Sie Ihre Grenzen verteidigen.
Die folgende Tabelle hilft Ihnen, Ihre Grenzen zu definieren. In der ersten Spalte lesen Sie eine Situation, die Ihnen begegnen könnte. In der zweiten Spalte geben Sie an, ob eine Grenze überschritten wurde. Und in der dritten Spalte halten Sie Ihre ideale Reaktion fest: Wie wollen Sie mit dieser Grenzverletzung umgehen? Welches Verhalten sichert Ihre Zufriedenheit und bringt Ihnen Respekt ein? Damit haben Sie einen Leitfaden für die Zukunft in der Hand.
Situation |
Grenze verletzt? Falls ja: Welcher Wert leidet? |
Meine ideale Reaktion |
Ihre Arbeitskollegin will unbedingt ein Selfie mit Ihnen schießen, obwohl Sie abwehrende Gesten machen. Ihre Nacht war kurz, Sie haben Augenringe. |
Beispiel: Ja, eine Grenze ist verletzt. Es leidet mein Wert der Autonomie. Ich möchte selbst entscheiden, wann und wie ich mich fotografieren lasse. |
Beispiel: Ich sage zu ihr: »Ich fühle mich heute nicht so fotogen. Deshalb will ich kein Selfie von uns. Vielleicht ein andermal wieder.« |
Sie feiern Ihren Geburtstag zusammen mit Nachbarn und Arbeitskollegen. Da holt Ihre Mutter zu einer intimen Geschichte von ganz früher aus, die nicht unbedingt zum Rahmen passt. |
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Sie hatten bei Ihrem Friseur einen Termin um 16.30 Uhr. Jetzt ist es 17.00 Uhr, und Sie warten immer noch. |
||
Ein Nachbar bittet Sie zum wiederholten Mal, seine Hecke mitzuschneiden. Dabei ist er genauso fit wie Sie und hat ähnlich viel Zeit. |
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Eine Arbeitskollegin verniedlicht Ihren Namen, obwohl Sie sich nicht besonders nahestehen. Zum Beispiel sagt sie »Kläuschen« statt »Klaus«. Oder »Betti« statt »Bettina«. |
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Eine Bekannte fasst Sie beim Reden immer wieder am Oberarm an. Dieser Körperkontakt ist Ihnen unangenehm. |
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Ein neuer Arbeitskollege bietet Ihnen das Du an, obwohl er jünger ist und sich in Ihrer Firma längst nicht alle duzen. |
||
Eine Vereinskollegin fällt Ihnen wiederholt ins Wort, um eigene Erlebnisse einzubringen: »Ich hab da was Ähnliches erlebt ...« |
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Eine Kollegin am Arbeitsplatz teilt Ihnen mit: »Du, ich habe im Schichtplan unsere Namen ausgetauscht. Dienstag hat mir nicht gepasst.« |
||
Sie rufen einen Geschäftspartner an. Mehrfach drückt er Ihren Anruf weg. Als Sie ihn endlich an der Strippe haben, sagt er dazu keinen Ton. |
||
Jemand macht einen Witz auf Ihre Kosten, der zwar humorvoll wirkt, hinter dem Sie aber einen bösen Kern vermuten. |
||
Ihr Lebenspartner sagt eine Einladung für Sie beide zu, ohne sich vorher mit Ihnen abzustimmen. |
In welchen Fällen wurde Ihre Grenze verletzt? Und wann konnten Sie bewusst mit dem Verhalten der anderen leben? Bitte gehen Sie die Tabelle noch einmal durch und überlegen Sie sich jedes Mal: Welche vergleichbaren Erlebnisse kenne ich aus meinem Alltag? Und wie werde ich mein Grundstück künftig verteidigen?
Anna Krämer (39) blies ihre Wangen auf und ließ Luft entweichen. »Es war alles umsonst«, schimpfte sie. »Ich setze meinem Vater Grenzen – aber er überschreitet sie! Ich verteidige diese Grenzen – aber es ist ihm egal!«
Über Jahrzehnte hatte ihr Vater Erwin (63), ein selbständiger Reiseunternehmer, an ihrem Leben keinen Anteil genommen. Die Eltern hatten sich getrennt, als sie drei Jahre alt war. Gelegentlich dachte der Vater in den folgenden Jahren an ihren Geburtstag und kam mit einem Geschenk vorbei. Oft vergaß er das aber auch. Umso häufiger, je älter Anna wurde. Zwischen ihrem 20. und ihrem 39. Lebensjahr hatte sie kein Wort mehr von ihm gehört.
Doch eines Abends läutete es Sturm an der Tür des Einfamilienhauses, das sie mit ihrem Mann Markus und ihren beiden Töchtern (zehn und zwölf Jahre) bewohnte. Vor der Tür stand ein unrasierter Mann mit Alkoholfahne. Sie musste zweimal hinschauen, bis sie ihren Vater erkannte. Er sei von seinem Vermieter vor die Tür gesetzt worden – ob er ein paar Tage bei ihr übernachten könne?
»Ich war natürlich gespalten«, erzählte sie in der Beratung. »Er hatte sich meine ganze Kindheit lang kaum um mich gekümmert – und jetzt sollte ausgerechnet ich ihm aus der Patsche helfen? Aber ich war doch seine Tochter – ich konnte ihn in der Not nicht hängen lassen.«
Da es im Haus kein Gästezimmer gab, räumte die jüngere Tochter ihr Zimmer und schlief bei ihrer Schwester. »Es war, als würde ein Fremder bei uns übernachten«, erinnerte sich Anna Krämer. »Mein Mann hatte ihn davor nur auf Bildern gesehen. Und auch ich kannte ihn nicht wirklich.«
Am nächsten Tag erzählte der Vater, dass sein Reiseunternehmen pleitegegangen war und er keinen Beruf mehr ausübte. Er versprach, sich beim Amt um eine neue Wohnung zu kümmern. Anna Krämer behandelte ihren Vater wie einen Gast. Sie stellte ihm ein Frühstück auf den Tisch, versorgte ihn mit frischen Handtüchern und kaufte für ihn ein. Der Vater war voll des Lobes: »Du bist eine tolle Tochter, das habe ich gar nicht verdient.«
Zwei Wochen später hatte sich Erwin bestens eingelebt. Oft gab er Wünsche fürs Abendessen ab und bestimmte um 20.15 Uhr, welches TV-Programm geschaut wurde. Wenn es um die Erziehung der Töchter ging, hielt er mit seiner Expertise – woher kam die eigentlich? – nicht hinterm Berg. Zum Beispiel schien ihm die jüngere Tochter »viel zu frech für ihr Alter« (sie hatte sich beklagt, dass sie nicht mehr in ihrem Zimmer wohnen durfte).
Wie selbstverständlich legte er Anna seine schmutzige Kleidung zum Waschen hin. Und wenn sie zum Einkaufen fuhr, diktierte er ihr seine Wünsche in den Block. Geld zum Haushalt steuerte er keines bei, denn angeblich war er ja pleite. Nur Zigaretten konnte er sich merkwürdigerweise immer noch leisten.
»Ich bin ein Mensch, der gerne hilft«, erzählte Anna Krämer. »Dass ich ihn unterstützen konnte, fühlte sich gar nicht so schlecht an. Vielleicht hatte ich mich immer nach der Anwesenheit eines Vaters gesehnt. Jetzt war er da, auch wenn er sich komplett bedienen ließ. Nicht mal sein Geschirr räumte er selber ab.«
Das Familienleben litt. »Ich konnte keine vertraulichen Gespräche mehr mit meinem Mann oder meinen Töchtern führen. Wir wurden im eigenen Haus immer gehemmter – als wären wir die Gäste und nicht er.« Außerdem blieben die Besuche der Mutter aus: Sie lag mit ihrem Ex-Mann immer noch über Kreuz und konnte nicht verstehen, dass er bei ihrer Tochter hatte einziehen dürfen.
Immer wieder verstieß Erwin gegen die Spielregeln der Familie. Zum Beispiel zog er die Schuhe nicht aus, wenn er von draußen reinkam (»Ich war nur ein paar Schritte auf der Straße, die Schuhe sind sauber!«). Und einmal, als Anna etwas früher nach Hause kam, erwischte sie ihn mit einer Zigarette im Wohnzimmer. Er behauptete, auf dem Weg zum Balkon gewesen zu sein. Schon vorher war kalter Rauch im Haus aufgefallen. »Ich habe ihm signalisiert, dass das so nicht geht. Aber ich konnte ihn ja nicht zur Schnecke machen, er war doch mein Vater.«
Vorsichtig fragte Anna: »Weißt du schon, wann das Amt dir eine eigene Wohnung vermittelt?«
»Willst du mich loswerden?«
»Das nicht. Aber du hattest ja zugesagt, dass du hier nur vorübergehend …«
»Du willst mich hier nicht haben.«
»Das habe ich doch gar nicht gesagt.«
Er schaffte es nicht nur, sich um die Antwort zu drücken, sondern machte ihr auch noch ein schlechtes Gewissen. So ging ein knappes Jahr ins Land, der Vater hatte sich im Haus eingenistet. Immer öfter geriet er mit Annas Ehemann aneinander. Die Töchter nutzten jede Gelegenheit, bei Freundinnen zu übernachten. Der Haussegen hing schief.
Zuletzt setzte Anna Krämer ihrem Vater eindeutige Grenzen. Sie sagte ihm, dass sie das Haus wieder für ihre Familie allein haben wollte. Sie forderte ihn auf, seine Sachen zu packen und auszuziehen. Er versprach wiederholt, das die nächsten Tage zu tun – doch hielt seine Tochter dann mit Ausreden hin.
Solche Fälle gibt es: dass Sie Grenzen setzen – aber ein anderer respektiert sie nicht. Je später Sie Ihren Grenzzaun ziehen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass der andere ihn nicht mehr ernst nimmt. Dann hilft nur noch die Radikalkur: Werfen Sie einen solchen Menschen aus Ihrem Leben. Oder schränken Sie den Kontakt aufs Nötigste ein. Viele Nette zucken bei diesem Gedanken zusammen, denn sie sind Versöhner, keine Spalter. Genau das nutzen Egoisten und Schmarotzer aus. Weil sie spüren, alles mit jemandem machen zu können, tun sie es auch.
Nehmen Sie Annas Vater: Er führt sich wie ein Feldherr auf, bricht seine Versprechen reihenweise und lässt sich bedienen, ohne mitzuhelfen. Anna sind Werte wie Verbindlichkeit und Hilfsbereitschaft wichtig. Er dagegen ist unverbindlich und hilft nur sich selbst. Es reicht nicht, ihn verbal in seine Grenzen zu weisen. Er braucht im wahrsten Sinne einen Tritt in den Hintern, denn rabiate Menschen verstehen nur rabiate Botschaften; das ist ihre Landessprache.
Mein Rat an Anna Krämer war: »Setzen Sie Ihrem Vater eine letzte Frist – und sagen Sie ihm, dass Sie danach das Schloss austauschen und seine Sachen vor die Haustür stellen.« Mein Vorschlag gefiel ihr gar nicht. Doch sie fand keine vernünftige Alternative. Tatsächlich ließ der Vater auch die letzte Frist verstreichen, stand dann vor der verschlossenen Tür, hämmerte, klingelte, machte ein paar Stunden Theater – aber dann verschwand er genauso plötzlich von der Bildfläche, wie er gekommen war. Und das Familienleben wurde sofort wieder harmonischer.
Ein paar Monate später sagte Anne Krämer. »Erst als er weg war, habe ich gemerkt, was für eine Zumutung seine Anwesenheit war. Lange hätten wir das als Familie nicht mehr ausgehalten.«
Wenn ein anderer Ihre Grenzen immer wieder überschreitet, wenn er Sie ausnutzt und auf Ihrer Nase herumtanzt und Ihnen nur schadet, dann sollten Sie konsequent sein: Trennen Sie sich von diesem Menschen. Zum Beispiel:
Beenden Sie eine Freundschaft, wenn der andere Sie immer nur als seelischen Mülleimer missbraucht, während er an Ihren Sorgen keinerlei Anteil nimmt.
Beenden Sie ein Arbeitsverhältnis, wenn ein Chef Sie bis zum Umfallen ausnutzt, obwohl Sie ihm Ihre Grenzen aufgezeigt haben.
Und beenden Sie eine Liebesbeziehung, wenn der andere Sie wie Dreck behandelt, wenn er Sie fortgesetzt betrügt, ausnutzt, misshandelt – oder nur seine Wünsche immer durchsetzt, aber Ihre Wünsche niemals hört.
Solange Sie ausschließen, sich von jemandem zu trennen, ist keine konsequente Abgrenzung möglich. Dann fehlt Ihnen Autorität – wie einem Chef, von dem alle wissen, dass er niemanden entlassen darf, egal was vorfällt. Dann macht jeder, was er will, weil es keine Konsequenzen für ihn hat.
Autorität erfordert die Bereitschaft, zur Not einen Trennstrich zu ziehen. Darin liegt eine große Chance für Sie: Ersetzen Sie jeden Menschen, der Ihnen schadet, durch einen, der Ihnen guttut. Ich verspreche Ihnen, Sie werden aufblühen und mehr vom Leben haben.
Gehen Sie Ihre Kontakte gern einmal durch und fragen Sie sich:
Welche Menschen schenken mir Energie?
Nach welchen Treffen fühle ich mich besser?
Wer inspiriert und respektiert mich?
Wen vermisse ich, wenn ich ihn eine Weile nicht gesehen habe?
Wen würde ich gern öfter sehen?
Das sind Menschen, mit denen Sie mehr Zeit verbringen sollten. Schaffen Sie sich Raum dafür, indem Sie sich nun fragen:
Wer raubt mir Energie?
Nach welchen Treffen fühle ich mich schlechter?
Wer zieht mich runter und respektiert mich nicht?
Bei wem bin ich froh, wenn er sich eine Weile nicht meldet?
Wen würde ich gern seltener sehen?
Diese Menschen sollten Sie aus Ihrem Leben verbannen. Wenn Sie einen zu heißen Topf auf dem Herd anfassen, ziehen Sie Ihre Hand blitzschnell zurück – damit Sie sich nicht verletzen. Warum sollten Sie dann mit Menschen in Kontakt bleiben, die Sie ebenfalls verletzen? Zurückziehen ist erlaubt, und ein einziger Satz reicht als Erklärung: »Ich habe das Gefühl, unser Kontakt tut mir nicht gut. Deshalb möchte ich ihn nicht fortführen.«
Und wenn eine Trennung nicht möglich ist? Zum Beispiel können Sie Ihren Nachbarn nicht zum Mond schießen. Oder Ihren Chef nicht strafversetzen. Oder Ihren Vereinskollegen nicht im Alleingang aus dem Klub werfen. Dann sollten Sie diesem Menschen aus dem Weg gehen. Reduzieren Sie den Kontakt auf ein Minimum. Brechen Sie Gespräche rasch ab. Und lassen Sie sich auf keinen Fall für die Interessen des anderen einspannen.
Emotionale Vampire lassen sich überraschend leicht abschütteln: Wenn sie merken, dass sie aus Ihnen keine Vorteile mehr saugen können, suchen sie sich neue Opfer. Und Sie sind befreit!
Die Situation:
Lautes Kichern dringt aus der Kaffeeküche. Ich trete ein und hole mir ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Schnell ist mir klar, worüber die Kollegen sprechen: über Nina, unsere Chefin. Sie wird gewaltig durch den Kakao gezogen. Einer sagt: »Sie ist so herrisch, als wäre sie ein Mann. Fehlt nur noch der Bart im Gesicht.« Eine Kollegin macht die Chefin in tiefer Tonlage nach.
Ich will schon wieder gehen, da spricht mich ein Kollege an: »Die ist doch wirklich bescheuert – oder was meinst du dazu, Martin?« Ich mag die Chefin, jedoch ist mir klar, dass ich mich mit dieser Meinung hier sehr unbeliebt machen könnte. Was soll ich jetzt sagen?
Übung: Wie hätten Sie an meiner Stelle reagiert?
Meine Reaktion: Ich sage zu dem Kollegen, der mich angesprochen hat: »Sie hat mir neulich gesagt, dass sie deine Arbeit sehr schätzt. Sie fand es richtig gut, dass du beim USA-Projekt mit so viel Ausdauer am Ball geblieben bist.«
Der Kollege stutzt zunächst, ehe sich Freude auf seinem Gesicht ausbreitet: »Hat sie das wirklich gesagt?« Ich bejahe – und verlasse die Kaffeeküche.
Bewertung aus heutiger Sicht: Ich würde wieder so handeln.
Kommentar: Ich wähle eine diplomatische, jedoch sehr wirksame Variante: Statt die Angegriffene direkt zu verteidigen, leite ich eine positive Botschaft von ihr weiter. Den Lästermäulern wird klar: Es ist unfair, schlecht über jemanden zu reden, der gut über einen selbst redet. So stehe ich nicht als Streber oder Liebling der Chefin da, sondern bleibe neutral.
Die Nettigkeits-Falle: Wenn von einem netten Menschen erwartet wird, eine bestimmte Meinung zu vertreten, vertritt er sie oft auch – aus Angst, sonst an den Rand der Gruppe zu rutschen. Auch ich hätte dieses oder jenes an meiner Chefin kritisieren können – aber mich dabei sehr illoyal gefühlt.
Meine Lehre: Ganz egal, was die anderen sagen: Bleib nicht nur dir selber treu, sondern auch den Menschen, die dir etwas bedeuten.