Aus.Zeit!

Die Koffer sind verstaut. Das Auto voll beladen. Endlich raus, raus in den Urlaub. Seit Wochen haben wir auf diesen Moment zugelebt, uns in die Weite des schwedischen Nordens geträumt, uns nach der Freiheit vom Terminkalender gesehnt.

Wir sind in der Morgendämmerung gestartet, haben uns beim Fahren abgewechselt. Jetzt sitze ich am Steuer und ich fahre, wie ich die letzten Wochen gearbeitet habe: mit viel Tempo, links außen auf der Überholspur. Ich habe ja ein Ziel vor Augen. In Kiel wartet die Fähre auf uns.

Plötzlich ein greller Signalton. Die Warnlampen vor mir scheinen alle gleichzeitig zu leuchten. Entsetzt sehe ich, dass die Tankanzeige komplett auf Null steht. Es ist keine Zeit zu überlegen, wie das geschehen konnte. Ich weiß nur, ich muss sofort handeln, muss den Standstreifen erreichen, bevor das Auto manövrierunfähig ist.

Ein rascher Blick in den Seitenspiegel und dann schießen wir quer über drei Fahrspuren zwischen den Autos hindurch auf den äußeren Fahrbahnrand zu. Keine Sekunde zu spät. Die Servolenkung und der Bremskraftverstärker fallen aus. Ich habe gefühlt einen tonnenschweren, schwer lenkbaren Panzer zu fahren, der immer noch viel zu schnell ist. Zu schnell für die Ausfahrt, die gerade jetzt vor uns auftaucht. »Es wird uns aus der Kurve schleudern. Das Tempo ist viel zu hoch«, schießt es mir durch den Kopf.

Doch diese Ausfahrt führt parallel zur Autobahn eine Anhöhe hinauf und endet an einer Kreuzung mit Ampel. Wie durch ein Wunder kommt der Wagen genau dort endlich zum Stehen. Es ist totenstill im Auto. Zitternd nehme ich die Hände vom Lenkrad. Wie konnte das passieren, den Tank komplett leer zu fahren? Wieso habe ich die offensichtlichen Warnzeichen übersehen? Wo waren meine Gedanken, dass ich nichts davon wahrgenommen habe?

Dieses Erlebnis hat uns aufgerüttelt. Wie ist es um meine inneren Tanks, meine eigenen Kraftreserven bestellt, dass so etwas passieren konnte? Habe ich auch hier Warnzeichen übersehen? Müsste ich selbst endlich Tankstellen anlaufen, Rastplätze nutzen, mir Pausen gönnen, das Tempo mal wechseln? Diese Fragen nach dem Umgang mit der Zeit, die wir zum Leben haben, begleiteten uns über den Urlaub hinaus. Sie haben zu der Einsicht geführt, dass wir uns beide eine Auszeit gönnen wollen. Wir können nicht immer nur geben. Wir müssen darauf achten, unsere Akkus zu füllen, wollen wir nicht in körperliche oder seelische Grenzbereiche der Erschöpfung geraten.

Dieser mahnende Gedanke und viele Recherchen zum Thema Auszeiten führten schließlich zu der Entscheidung, für ein Jahr den Zeittakt zu wechseln. Rhythmuswechsel ist zeitgemäß. Die Natur zeigt uns, wie das geht zwischen Jahreszeiten, monatlichen Rhythmen bis hin zum Wechsel von Tag und Nacht. Pausenlos aktiv zu sein schadet! Kleine oder große Pausen sorgen für Struktur, aber sie ermöglichen auch Flexibilität. »Zeit für mich« in den Kalender einzutragen, wenn man gezielt eine Stunde mit der Familie ganz privat sein möchte, das war uns zu wenig. Wir wollten für eine begrenzte Zeit raus aus festen Bezügen, raus aus vollen Terminkalendern, raus aus dem Tun und rein in die Zeitfülle, in die selbst verantwortete und gestaltete Zeit.

Es war eine lange Planung und schwere Entscheidung, denn sie war mit Loslassen, mit dem Kündigen der Arbeitsstellen und dem Auflösen unseres Haushaltes verbunden. Wir wurden zu Sabbatical-Pionieren, die den Aufbruch mit einem radikalen Ausstieg verbanden zu einer Zeit, in der derartige Arbeitszeitmodelle noch nicht in ihrem Nutzwert erkannt und von Firmen unterstützt oder angeboten wurden. Doch wir hatten Vorbilder, Menschen, die ein Sabbatical gewagt hatten und die davon berichteten. Deren Kreativität, deren begeisterte Berichte über ein gesteigertes Wohlbefinden, deren vor­wärts­gerichtetes Denken machten uns Mut, auch als Familie den Aus­stieg auf Zeit zu wagen. Wir können eine Menge Dinge nach Uhr und Terminkalender planen, doch die individuell gelebte Zeit können wir nicht beliebig hin- und herschieben. Sie braucht einen zeitlichen Freiraum. Viele Zeitexperten halten sie für eine ganz außerordentlich wirkungsvolle körperliche und seelische Krafttankstelle. Hier wollten wir auf­tanken und im Bilde gesprochen Verantwortung übernehmen für die Langstrecke in unserem Leben.

Alt wie ein Baum – ein natürlicher Zugang zur Zeit

Im kargen Fulufjäll, einer gebirgigen Gegend der schwedischen Provinz Dalarna, steht der wohl älteste Baum der Welt. Forscher der schwedischen Universität Umeå schätzen das Alter der Fichte auf 9.550 Jahre. Wer jetzt glaubt, dort steht ein knorriger, mächtiger und dicker Baum, der irrt. Die fast unscheinbar anmutende Fichte wächst aus der alten Wurzel und aus dieser bildete sich wiederum eine Art Fichtengebüsch, das den Stamm umgibt. Fichten können sich durch Ableger fortpflanzen und so lebt der Baum seit Tausenden von Jahren fort. Das bedeutet, die neuen Triebe der letzten Jahrhunderte gehören als Teil des Ganzen zu dieser noch aktiven, lebendigen und uralten Baumwurzel. Es macht deutlich, wie wichtig die Wurzel für den Baum und sein Überleben ist. Hier werden Informationen gespeichert und chemische Aktivitäten gesteuert. Hier entscheidet sich Wachstum und Vergehen. Wer sich in der Natur umschaut, der begegnet einer faszinierenden Vielfalt von zeitlichen Rhythmen, aus der wir Analogien zu unserem menschlichen Umgang mit der Zeit ableiten.

In der Natur sehen wir, wie vergänglich und schnelllebig Leben ist. Auf der anderen Seite nehmen wir gerade in der Natur den unbändigen Willen von Pflanzen und Tieren wahr, die Zeit auszunutzen. Kaum sind die Störche im Frühjahr zurückgekehrt, bessern sie schon ihr Nest aus, legen Eier und hüten die Brut, bis die jungen Vögel ihren Schnabel über den Nestrand strecken. Ein Kreislauf von Geburt und Vergehen, der nur einer von vielen zeitlichen Rhythmen des Lebens ist.

Alle Jahre wieder beobachten wir beeindruckt, wie die Gänse und Zugvögel im Herbst Richtung Süden aufbrechen, wie Laubbäume ihre Wasserzufuhr im Stamm drosseln, sich daraufhin sichtbar verfärben, schließlich die Blätter abwerfen und uns damit vor Augen führen, dass die Winterzeit vor der Tür steht. Sie bereiten sich auf eine herausfordernde Zeit mit Stürmen, Eis- und Schneelast vor. Ohne ihre Millionen Blätter sind die Bäume weniger windanfällig und die Last des Schnees verteilt sich auf die kahlen Äste, ohne die Bäume über die Maßen zu beschweren. Woher wissen die Bäume im Frühjahr, wann sie dem wärmeren Wetter trauen können und ihre jungen Triebe austreiben? Haben sie ein Zeitgefühl? Mit dieser Frage beschäftigt sich beispielsweise Förster Peter Wohlleben und kommt zur Aussage, dass das Neuaustreiben der Blätter nicht nur von den Temperaturen, sondern auch von der Tageslänge abhängt.8 Vermutlich sind es die Knospen, die mit der Fähigkeit ausgestattet sind, das Licht sensibel wahrzunehmen. Der Förster, Naturliebhaber und Autor beschreibt sehr anschaulich, dass die lange Wachstumszeit beispielsweise bei den Buchen zu einem starken inneren Halt des Baumes und zu großer Festigkeit führt. Da fragen wir uns unwillkürlich, ob wir Menschen auch stabiler und widerstandsfähiger wären, wenn wir uns für manche Prozesse im Leben mehr Zeit lassen würden. Gerade im Blick auf Bildung oder auch Beziehungen scheint Schnelligkeit der Qualität nicht immer dienlich zu sein. Viele Dinge brauchen eine ganz eigene Zeit und die Natur zeigt uns, dass es sich lohnt, Prozessen ihren Lauf zu lassen, statt sie künstlich zu beschleunigen. Wer würde am Gras ziehen, damit es schneller wächst?

Sogar den Wert des Schlaf- bzw. Ruhe-Rhythmus kann man in der Natur ganz unmittelbar sehen. »Schlafentzug bei Bäumen hat eine ähnliche Wirkung wie bei uns Menschen: Er ist lebensgefährlich.«9 Das erklärt dann auch, weshalb man kleine Laubbäume nicht in Blumentöpfen in die Wohnung stellen kann. Sie sind dort selbst bei bester Behandlung förmlich im Dauerstress und gehen relativ schnell ein. Blumenzwiebeln ruhen am besten im dunklen und kühlen Keller. Der Winterschlaf vieler Tierarten und die Winterruhe der Pflanzen ist eine Zeitphase, in der das jeweilige Lebewesen neue Kräfte sammeln kann, um zur richtigen Zeit wieder zu sprossen, zu wachsen oder sich fortzupflanzen. Auch wir Menschen sind natürliche Wesen, die eine ganz eigene Körperzeit haben. Schlaf und Ruhepausen sind existenziell, um gesund zu bleiben. Wird der natürliche Rhythmus immer wieder unterbrochen oder ignoriert, stellen sich Krankheiten ein. Berufsgruppen mit Schichtdienst oder Menschen, die oft dem Wechsel der Zeitzonen verbunden mit einem Jetlag ausgesetzt sind, brauchen daher besondere Schutzzeiten oder Erholungsangebote.

Wir können unseren biologischen Rhythmus nicht verleugnen und so tun, als würde die Uhr alle Zeiten regeln. »Wir sollten die Naturzeiten und damit unsere eigene menschliche Natur der Körperzeiten im Zusammenspiel mit den kulturell entwickelten Zeiten achten.«10 Dafür plädieren der Wirtschaftspsychologe Elmar Hatzelmann und der Ökonom Martin Held. Man könnte es auch mit den Worten des Dichters Fjodor Dostojewski auf den Punkt bringen: »Die gute Zeit fällt nicht vom Himmel, sondern wir schaffen sie selbst, sie liegt in unseren Herzen eingeschlossen.« Wie wir mit der Zeit umgehen, sagt demnach wenig über die Zeit, deutlich mehr aber über uns selbst und unsere eigene Zeitkompetenz aus.

Zeit – ein kostbares Gut

Viele Fragen mussten wir beantworten, als wir uns für das Sabbatjahr entschieden hatten: »Warum macht ihr das? Könnt ihr eure Sehnsucht nach der kanadischen Weite nicht im Urlaub leben? Weshalb setzt ihr alles auf eine Karte und gebt die gesicherte Existenz dafür auf?« Manche der Fragen waren lästig, viele hilfreich. Am schönsten waren allerdings Fragen, die auf die Zukunft zielten, wie: »Worauf freut ihr euch am meisten?« Und wir erinnern uns beide noch heute daran, wie wir fast euphorisch sagten: »Wir freuen uns auf ein Meer an Zeit. Unverplante, freie Zeit. Zeit zum Leben.«

Heute im Abstand von fünf Jahren nach dem Sabbatjahr leben wir sehr bewusst so, dass wir uns auch zu Hause, im beruflichen Alltag, dort, wo wir gerade sind, diese unverplante, freie Zeit einräumen. Es ist alles unser Leben. Denn ganz offensichtlich liegt doch die gleiche Zeitspanne von 365 Tagen auch vor uns, wenn wir nicht in ein Sabbatjahr gehen. Wir bekommen jeden neuen Tag 24 Stunden, 1.440 Minuten, 86.400 Sekunden geschenkt, die uns alle zu Zeitkönigen machen. Jeden Morgen können wir von diesem Tageszeitkonto leben. Es ist ein Meer an Zeit! Doch nichts davon lässt sich aufsparen.

Niemand kann daraus selbst mit den effizientesten Methoden mehr Zeit machen. Das einzige, was wir beeinflussen können, ist, wie wir diese Zeit gestalten und ob dieses Meer an Sekunden ein Mehr an Lebensfreude, Lebensqualität und Sinnerfahrung beinhaltet.

Für uns fühlt es sich so an, als wäre die Zeit des Auszeitjahres in Kanada eine Zeit unseres Lebens, die doppelt zählt. Wir zehren immer noch von den Erlebnissen, die uns geprägt haben, von den Gesprächen, für die wir uns Zeit nehmen konnten, und dem Zusammenhalt der Familie, der sich dadurch verstärkt hat. Es war eine extrem reichhaltige Zeit und das hat weniger mit der Länge als mit der Intensität zu tun. Zeit ist wertvoller als Gold, diese Erkenntnis wurde für uns zu einem Maßstab im Umgang mit unserer Lebenszeit. Der folgende Text ist dort entstanden:

Zeit ist wertvoller als Gold.

Du kannst sie weder kaufen noch verlängern noch ausdehnen.

Zeit ist gerecht verteiltes Gut.

Ein Tag hat 24 Stunden –

für jeden Menschen,

an jedem Ort.

Zeit ist ein Geschenk,

niemand kann sie sich verdienen.

Ob deine Zeit wertvoll ist, entscheidest du.

Du kannst sie füllen, gestalten, leben.

Du kannst sie aber auch verrinnen lassen,

totschlagen oder opfern.

Frei verfügbare, selbst gestaltete Zeit

ist einer der größten

Reichtümer unserer Tage.

Mach etwas Außergewöhnliches daraus:

Zeit zum Leben.

Bis zu unserer Sabbatzeit war vor allem Olaf mitunter ein Zeitfanatiker, der seine präzise Funkuhr nicht nur gerne trug, sondern auch seine Aktivitäten danach strukturierte. Als ob sie nur darauf gewartet hätte, gab diese teure Uhr ihren Dienst direkt auf dem Flug nach Vancouver auf. Seit damals liegt sie als symbolischer Erfahrungsgegenstand in einer Box mit Materialien, die wir gerne in Seminaren verwenden. Olaf lebt seither ohne Uhr und aus meiner Sicht ist aus dem Zeitfanatiker ein Zeitliebhaber geworden. Jemand, der Strukturen mag, die Zeit aber inzwischen eher im Blut hat oder notfalls am Stand der Sonne recht genau benennen kann. Ich dagegen habe ein zwiespältiges Verhältnis zur Zeit. Ich kann sie total aus dem Blick verlieren, wenn mich eine Aufgabe richtig fesselt. Beim Schreiben von Büchern geht mir das so und ich vergesse das Essen und Pausieren, würde mich nicht mein Co-Autor liebevoll mahnend daran erinnern. Auf der anderen Seite plane ich gerne und bin meistens auf die Minute bei einem Termin, allerdings auch nicht früher.

Welche Beziehung haben Sie zu Ihrer Zeit? Wie oft schauen Sie auf die Uhr? Wie bedeutsam ist Ihnen Pünktlichkeit? Warten Sie gelassen oder eher ungeduldig? Wie schnell reden, essen oder laufen Sie?

Dies alles ist einerseits kulturell geprägt, hängt aber auch von Ihrer persönlichen Lebenseinstellung ab. Wir können nicht beweisen, sondern nur vermuten, dass Menschen, die eher am Rand eines Dorfes oder in der Natur leben, einen gelasseneren Umgang mit der Zeit haben. Menschen in größeren Städten haben dagegen meistens ein flotteres Lauf- und Lebenstempo. Einer Studie der TU Chemnitz zufolge ist das Bewegungstempo nicht nur eine Frage des Alters und der persönlichen Fitness. Der Leiter der Studie fasst es so zusammen: »Wer depressiv gestimmt ist oder der Zukunft wenig Bedeutung beimisst, geht langsamer. Wer stets zu den Besten gehören will und sein persönliches Glück für das wichtigste hält, geht schneller. (…) Man könnte auch sagen, das Gehen spiegelt das allgemeine Lebenstempo wieder, in dem ein Mensch lebt und in dem er kulturell verankert ist.«11

Daraus können wir folgern, dass es bei der Zeit nicht nur um eine physikalische Größe geht, sondern dass die Art, wie wir mit Zeit umgehen und wie wir von ihr reden, darüber hinaus sehr viel mit uns persönlich zu tun hat. Es geht um dahinterliegende Werte und Einstellungen zum Leben.

Auf der Suche nach der Zeit

Zeit ist eine physikalische Größe, eine Einheit, welche die Abfolge von Ereignissen beschreibt und sie wird in Sekunden gemessen. Doch wir können auch philosophisch oder psychologisch fragen und dann bekommen wir ganz andere Antworten. Seit über 2.500 Jahren fragen Philosophen nach dem Wesen von Zeit. Platon spricht über Zeit als ein Abbild des Ewigen. Heraklit nennt die Zeit ein spielendes Kind. Zeit ist Macht, denn wer über die Zeit eines anderen verfügt, der verfügt über ihn. Zeit ist eine begrenzte Ressource, etwas Unwiederbringliches, extrem kostbar, ein subjektives Empfinden, ein Maßstab für die Dauer. Zeit ist immer in Bewegung. Sie steht nie still. Zeit ist jedenfalls relativ. Das ist unbestritten, denn während der eine die fünf Minuten am Bahnhof bis zur Ankunft seiner Liebsten als unendlich lang empfindet, wird der andere, der gerade jemanden verabschiedet, die gleichen fünf Minuten als viel zu kurz erleben.

Kein technisches Gerät wird heute so häufig genutzt wie die Uhr, das Instrument zur Messung der Zeit. Da schließen wir Smartphones und Computer mit ein, denn in ihnen ist immer eine Uhr mit mehreren Funktionen enthalten. Uhren sind nicht nur an den Handgelenken, sondern in Küchenmaschinen, Waschmaschinen, Autos und vielen weiteren technischen Geräten zu finden. Man fragt sich, wie der Mensch all die vielen Jahrtausende ohne Uhr ausgekommen ist.

Von den Ägyptern weiß man, dass sie vor 3.400 Jahren Wasseruhren hatten. Diese besaßen ein kleines Loch im Boden und eine Markierung am Gefäß, sodass man anhand des Wasserstandes sah, wie viel Zeit vergangen ist. Auch Sonnenuhren sind aus alter Zeit bekannt, die den Lichttag in zwölf Stunden teilten. Jahrtausendelang orientierten sich Menschen an den Naturzeiten und -rhythmen. Der Stand von Sonne, Mond und Sternen, der Rhythmus von Tag und Nacht, sie bestimmten das Zeitempfinden der Menschen. Meist verabredeten sich die Menschen nicht nach der Zeit im Sinne einer bestimmten Stunde, sondern nach einem Ereignis, also zum Beispiel nach dem Melken der Ziegen oder vor dem Wasserholen am Brunnen. Sie orientierten sich am Stand der Sonne, des Mondes und an der Jahreszeit, die man in der Natur wahrnahm. Fragen Sie heute mal jemanden, ob er weiß, wann und wo die Sonne an seinem Wohnort auf- oder untergeht. Nur wenige können das spontan sagen. So gesehen haben sich die Menschen von der Anbindung an den Himmel verabschiedet.

Über Jahrtausende hinweg war es dagegen existenziell zu wissen, wo und wann die Sonne aufgeht. Für Rhythmen und Ordnungen, die die Menschen in der Natur wahrnahmen, prägten sie die Begriffe von Tageszeit und Jahreszeit. Heute ist es vielen Menschen nicht mehr bewusst, dass ein Tag nicht nur aus 24 Stunden besteht, sondern der Zeitraum ist, in dem sich die Erde um die eigene Achse dreht, oder dass die Gezeiten aus der Wechselwirkung von Sonne und Mond ent­stehen. Werden und Vergehen geschieht täglich in der Natur. Die kosmischen Veränderungen laufen mit einer mathematischen Genauigkeit ab, die faszinierend ist. Und sie machen uns klar, dass es nicht die Zeit ist, die vergeht, sondern allenfalls der Mensch. Die Lebenszeit des Menschen ist endlich und das macht sie extrem wertvoll.

Im Takt der Zeit

Im 14. Jahrhundert wurden erste mechanische Uhren erfunden, die fortan die Kultur prägten. Einen Nutzen hatten sie vor allem für die Bewohner der Klöster: Sie halfen, die vorgeschriebenen sechs täglichen Gebetszeiten besser einhalten zu können. Mit der Einführung von Uhren begannen die Menschen, sich nicht mehr nach dem Stand der Sonne, sondern nach dem Schlag der Uhr zu richten. Es scheint, als wären die Zeiten ab dieser Entwicklung immer messbarer, einteilbarer geworden. Wenn man sich am gleichmäßigen Tick-Tack einer Uhr orientiert, dann scheint alles planbar im Takt zu sein. Doch wir werden uns von den Naturzeiten niemals endgültig lösen. Sie bleiben nach wie vor gültig. Kulturelle Erfindungen wie zum Beispiel die Einführung des Kalenders müssen sich bis heute immer wieder den Gesetzmäßigkeiten der Natur anpassen.

Vielleicht kennen Sie Mond- oder Sonnenkalender. Ein Mondmonat dauert 29 bis 30 Tage und damit ist klar, dass zwölf Mondmonate keine 365 Tage ergeben, sondern dass diese Zahl schwankt. Auch ein Sonnenjahr dauert nicht exakt 365 Tage, sondern 365 bis 366 Tage. Immer bleibt eine gewisse Differenz, die sich über die Jahre verstärkt und die dann durch einen zusätzlichen Tag in den Schaltjahren ausgeglichen werden muss. Noch heute richten wir uns nach dem Sonnenkalender, mit dem Kaiser Julius Cäsar 45 vor Christus den bis dahin gültigen Mondkalender in seinem Reich ablöste. Man kann sich kaum vorstellen, was das für das Jahr 44 vor Christus bedeutete. Ganze 80 Tage betrug nämlich die Differenz zwischen beiden Kalendern und so hält das Jahr 44 vor Christus den einsamen Rekord von 445 Tagen.12 Stellen Sie sich diesen gigan­tischen Zeitreichtum vor. Was würden Sie heute mit diesem Zeit-Geschenk anfangen?

Zeit ist schwer zu beschreiben. Sie bleibt ein Phänomen und ist nicht letztgültig zu fassen. Die alten Griechen sprachen von Zeit in der Form von chronos oder kairos. Während chronos die Abfolge und quantitative Zeit beschreibt, ist mit kairos der richtige Augenblick im Sinne vom besten Zeitpunkt gemeint. Das sind schon sehr unterschiedliche Zeitqualitäten. Wir sprechen von Lebenszeit, doch mittlerweile leben Menschen in Stunden, handeln in Minuten und denken in Sekunden. Was darüber hinausgeht, das nehmen uns die Computer ab. An der Börse zum Beispiel gibt es ultrakurze Reaktionszeiten. Diese Zeitbruchteile, in denen wichtige Entscheidungen getroffen werden, führen hochsensible Computer aus und diese sind umso besser, je näher sie an den Zentralrechnern stehen. Jeder Meter Kabel bedeutet einen Zeitverlust, auch wenn dieser für Menschen nicht mehr nachvollziehbar ist. Die zunehmende Digitalisierung führt zu einer immer größeren Beschleunigung und Dichte dessen, was wir in die Zeit packen. Das ist schon fast beängstigend. Woher kommt die zunehmende Beschleunigung? Von der Antwort auf diese Frage wird es abhängen, ob wir daran etwas ändern können oder wollen.

Vom Zeittakt in die Beschleunigungsfalle

»Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« heißt ein sehens­werter Dokumentarfilm von Florian Opitz, in dem er der Frage nachgeht, wieso immer mehr Menschen durchs Leben hetzen. Durch große technische Fortschritte sparen wir eine Menge Zeit. Stellen Sie sich nur vor, sie müssten heute am Fluss ihre Wäsche waschen, statt sie in die Maschine zu stopfen. Oder sie würden die Kaffeebohnen erst von Hand mahlen, ehe sie das Pulver aufgießen. Gut, unsere Lektorin zum Beispiel macht das tatsächlich – und es macht ihr einen riesigen Spaß. Doch in der Regel sind wir unglaublich effizient und sparen ständig Zeit, aber wo ist dieser Zeitreichtum? Besser gesagt, wieso bleibt nichts von der gesparten Zeit übrig und ermöglicht uns mehr Mußezeiten? Wo bleibt der Zeitwohlstand?

Zeitforscher Karlheinz Geißler weist in seinen Büchern darauf hin, dass die Erfindung der Uhr wohl auch eine Initialzündung für das ökonomische Prinzip des Kapitalismus war. Mit der mechanischen Uhr wird nur noch die abstrakte, qualitativ leere, lineare Zeit getaktet. Diese kann mit Geld berechnet oder in Geld umgerechnet werden. Während Aristoteles ermutigte, wirtschaftlich zu handeln, um Zeit, also freie Zeit, für uns selbst und den Umgang mit unseren Mitmenschen zu gewinnen, hat in der kapitalistischen Denkweise das Wirtschaften den Zweck, Güter und Wachstum zu mehren. Zeit wird in Arbeit und nachfolgend in Geld und materiellen Erfolg übertragen. Benjamin Franklin formulierte 1748 in einem Buch die später oft zitierte Aussage »Zeit ist Geld« als Ratschlag für junge Kaufleute. Er wollte damit auf einen klugen Umgang mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen aufmerksam machen.

Bis ins Mittelalter hinein waren Beginn und Ende der Arbeitszeit vom Stand der Sonne und von den jahreszeitlichen Schwankungen des Tages abhängig. Mit der Uhr ließen sich jetzt, anders als zuvor, Arbeitszeiten festlegen, die nicht mehr nur vom Stand der Sonne abhängig waren. Erstmals richteten sich auch die Pausenzeiten an der Uhr aus. Einerseits gut, andererseits konnte man dadurch auf die Idee kommen, auf die Pause zu verzichten oder länger als vorgeschrieben zu arbeiten, um damit mehr zu leisten und folglich mehr Geld zu verdienen. Schon Aufzeichnungen aus dem 15. Jahrhundert berichten davon, dass diese Mehrarbeit als »stuntgelt« vergütet wurde.13 Damit war der Stundenlohn durch die Einführung der Uhr technisch möglich geworden.

Im 17. Jahrhundert wurden die Uhren mit der Einführung des Pendels deutlich präziser. Die Uhr bestimmte das Arbeitsleben immer stärker, vor allem in Kombination mit Erfindungen des 19. Jahrhunderts wie elektrische Beleuchtung und Dampfmaschine. Damit bekam die Industrialisierung einen immensen Auftrieb. Arbeit war nicht mehr länger an das Tageslicht gekoppelt. Die Uhr allein gab den Arbeitstakt vor. Wer viel und effektiv arbeitete, konnte sich Wohlstand erwerben. Wurde früher die Schnelligkeit mit Geld verrechnet, so scheint es heute die Verdichtung zu sein. Alles passiert zunehmend gleichzeitig und das ist für den Körper und das Gehirn auf Dauer sehr belastend.

Wir schreiben per Whatsapp, E-Mail, Facebook oder Twitter und die Antwort wird, wenn nicht umgehend, dann aber spätestens nach einigen Stunden erwartet. Die meisten Menschen sind über mehrere Kanäle zu erreichen. Das Smartphone ist zur mobilen Schaltzentrale geworden. Dies ist durchaus ambivalent. Ermöglicht es uns einerseits eine ortsunabhängige Kommunikation und schnelle Erreichbarkeit, nimmt es uns gleichzeitig einen wirklich privaten, kostbaren Frei-raum. Natürlich ist jeder selbst für die Bedienung seiner digitalen Geräte verantwortlich, könnte man einwenden. Wer das Smartphone daheim liegen lässt, der ist auf dem Waldspaziergang auch wirklich offline. Doch es gibt genügend Erwartungen von Firmen, Kollegen, Familie, denen wir entsprechen wollen. Der kollektive gesellschaftliche Druck der Erreichbarkeit ist wesentlich größer als noch vor Jahren. Die Digitalisierung steigert das Tempo, denn Maschinen schlafen nie und sind immer verfügbar. Wenn Firmen global aufgestellt sind, dann arbeitet vielleicht ein Kollege an dem begonnenen Projekt weiter, der in einer anderen Zeitzone lebt. Das Projekt entsteht dadurch in früher unvorstellbaren Zeiträumen und das setzt die Konkurrenz unter Druck, ebenso effizient zu arbeiten. Es geht um immer mehr in immer kürzerer Zeit. Wie soll da ein Tempowechsel geschehen? Wie kommen wir vom Müssen zur Muße?

Der Ausstieg aus der Beschleunigungsfalle

Sind Sie schon einmal im Wildwasser gepaddelt oder haben Sie Menschen dabei zugeschaut? Dann wissen Sie, dass die Strömung eine so große Kraft hat, dass es unmöglich ist, plötzlich anzuhalten oder die Richtung zu wechseln. Wer sich auf den Fluss begibt, der muss lernen, mit der Strömung klarzukommen, im Fluss zu bleiben und dann frühzeitig nach ruhigeren Kehrwassern oder seitlichen Buchten Ausschau zu halten, die man gezielt ansteuert, um wieder Kraft für die Strecke zu bekommen oder auch nur um die Schönheit der Landschaft und Ufer zu genießen, an denen man sonst vorbeifährt.

Ganz ähnlich verhält es sich, wenn wir unser Leben bewusst oder vorausschauend entschleunigen wollen. Krankheiten und Krisen führen zu ungewollten, plötzlichen Entschleunigungen, die eher als Versagen oder Schwäche interpretiert werden. Im Bild gesprochen kippt das Boot im Wildwasser und der Kanute kann von Glück reden, wenn er prustend das Ufer wieder erreicht und nicht untergeht.

Es geht also darum, proaktiv, vorausschauend zu handeln, wollen wir mit dem raschen Lebens- und Arbeitstempo unserer Zeit gut klarkommen. Dabei spielt der Rhythmus der Natur eine wesentliche Rolle. Als natürliche Wesen besitzen Menschen ein individuelles Zeitempfinden. Wir alle nehmen Zeit verschieden wahr, brauchen ein unterschiedliches Maß an Schlaf, sind zu unterschiedlichen Zeiten leistungsfähig und konzentriert. Wir haben ein ganz eigenes Tempo, mit dem wir Aufgaben bewältigen, durchs Leben gehen, essen oder sprechen. Chronobiologen weisen darauf hin, dass es wichtig ist, den eigenen Rhythmus zu kennen und möglichst oft nach ihm zu leben, will man gesund bleiben.

Siesta-Typen brauchen eine kurze mittägliche Schlafpause, um danach konzentriert weiterarbeiten zu können. Sogenannten Kurzpausern genügt es, rasch etwas zu essen, sich mit anderen auf einen Schwatz zu treffen oder eine kleine Runde zu spazieren. Und es gibt tatsächlich Menschen, die ohne Mittagspause auskommen. Ihnen reicht ein Getränk, ein Sandwich auf die Hand und sie können konzentriert bis in den Nachmittag hinein arbeiten. Auch bei den nächtlichen Schlaftypen gibt es erhebliche Unterschiede. Während die einen mit fünf Stunden Schlaf auskommen, brauchen andere sieben bis neun Stunden. Der menschliche Organismus ist höchst individuell.

Die Natur ist dabei einer der wichtigsten Zeitberater und Zeitgeber. Denn der Rhythmus des Tages mit dem Wechsel von Licht und Dunkelheit ist zum Beispiel ein wichtiger Faktor. Hätten Sie gedacht, dass an einem trüben Wintertag draußen immerhin noch 2.500 Lux unsere Lichtrezeptoren stimulieren, während ein elektrisch beleuchtetes, als hell wahrgenommenes Zimmer nur 300 Lux bieten kann?

Hier gibt es keinen passenderen Tipp als: einfach raus! Auch die Jahreszeiten mit ihrem Rhythmus von Blühen und Vergehen, von Hell und Dunkel beeinflussen unseren Zeit- und Biorhythmus enorm.

Vielleicht wenden Sie ein, viel wichtiger sei ein gutes Zeitmanagement. Denn viel Zeit wird auch ungenutzt oder falsch eingeteilt. Das haben auch wir bis vor einigen Jahren gedacht und unsere persönlichen Erfahrungen damit gemacht. Olaf mit seiner Prägung vom Leistungssport mag die Leistung. Er arbeitet gerne nach dem Motto »Geht nicht, gibt’s nicht!«, geht an eigene Grenzen und reißt andere mit seiner Begeisterung mit. Denn gute Ergebnisse sind so etwas wie Doping. Erfolg ist ein mächtiger Antreiber. Menschen, die ein anderes Tempo brauchen, fühlen sich jedoch schnell überfordert und Konflikte im Team sind dadurch möglich. Als Sportler weiß er allerdings auch, dass es nicht funktioniert, ständig an der Leistungsgrenze zu trainieren. Die Steigerung geschieht durch den Wechsel von An- und Entspannung. Auf die gezielten Pausen und den Rhythmus kommt es an, will man »am Ball« bleiben.

Ich selbst stand vor einer anderen Herausforderung. Als einzige Familienfrau in einem Team mit ehrgeizigen Männern wollte ich zeigen, dass man Karriere, Kinder und ein vielfältiges Leben unter einen Hut bekommen kann. Olaf hatte dafür nicht nur Verständnis und gute Worte, sondern war bereit, seine Arbeit zu reduzieren und mich im Familienalltag zu entlasten. Doch je besser ich meine Tätigkeit gestaltete, desto anspruchsvoller wurden die Aufgaben. Mein Ehrgeiz zog sie förmlich an.

Um die Fülle und das Tempo zu bewältigen, besuchte ich Seminare. Sie hatten verheißungsvolle Titel wie zum Beispiel »Die 25-Stunden-Frau«. Zeitmanagement wurde für uns zu einem großen Hobby. Und man lernt dort sehr viel Nützliches, um sich zu fokussieren und zu strukturieren. Das Pareto-Prinzip des italienischen Ökonomen Vilfredo Pareto beispielsweise. Er fand heraus, dass 80 Prozent der Ergebnisse auf 20 Prozent der Ursachen zurückgeführt werden können. Also 20 Prozent dessen, was Sie tun, bewirkt in der Regel 80 Prozent dessen, was Sie damit anstreben. Es kommt folglich nicht darauf an, so viel wie möglich zu tun, sondern das Entscheidende, das Wichtige zu tun. Das ist extrem ernüchternd und hilfreich für alle, die perfektionistisch immer 100 Prozent leisten wollen und sich dabei völlig verausgaben. Oder das Eisenhower-Modell des amerikanischen Präsidenten, dem man nachsagte, dass er mit seiner vier Quadranten-Regel kein Papier zweimal in die Hand nehmen musste. Eisenhower ordnete alle anstehenden Aufgaben einem Quadranten zu und unterschied zwischen dringend/wichtigen, nicht dringend/aber wichtigen, dringend/unwichtigen und nicht dringend/nicht wichtigen Aufgaben. Einleuchtend, dass er die letzte Kategorie gleich in den Papierkorb entsorgte. Für die anderen Aufgaben hatte Eisenhower dann die Möglichkeit zu delegieren, sie zu vertagen oder sie umgehend selbst zu erledigen. Auch den Satz: »First things first!« haben wir in diesen Seminaren gelernt und häufig angewandt, wenn es darum ging, unterschiedliche Themen und Aufgaben zu priorisieren.

Solche Methoden sind Hilfsmittel, Handwerkszeuge im Umgang mit der Zeit. Doch wenn man genau hinschaut, dann beziehen sie sich immer auf die Zeitquantität und lösen nicht die dahinterstehenden Ansprüche. Der Druck bleibt bestehen.

Unser Interesse an einer guten Zeit führte uns weg vom bloßen Managen der Zeit hin zu einem tieferen Zeitverständnis. Es geht um einen bewussten, gelassenen und reifen Umgang mit der Zeit. Wir haben alle die gleichen 24 Stunden Zeit pro Tag zur Verfügung. Also kann es nicht allein darum gehen, unsere Zeit pfiffig einzuteilen oder schlau zu managen. Wir haben nicht zu wenig Zeit, sondern zu viel zu tun. Es geht darum, die Aufgaben, Erwartungen und Anforderungen von außen, aber auch in uns zu prüfen. Sie führen zu dem Druck, unter dem wir leiden. Wir begannen, unsere Einstellung und Denkmuster zu hinterfragen. Wir gingen ganz bewusst auf Werte-Suche. Ein ganzes Kapitel unseres Buches »Einfach gut! Mit Leichtigkeit erfüllter leben« handelt von dieser Suche nach den Werten des Lebens und davon, wie man sie für sich selbst finden kann.

Wir haben erkannt, dass es nicht darum geht, was wichtig oder dringlich ist, sondern darum, was wesentlich ist. Wer die Reihenfolge seiner »To-Dos« klärt, hat deshalb nicht weniger auf seiner gesamten »To-do-Liste« stehen. Wer raus will aus dem Zeitdruck und dem Zuviel in seinem Leben, muss raus aus den bisherigen Denkmustern und neue Fragen stellen, um weiterzukommen. Vielleicht solche:

F Was würde ich bedauern, nicht gelebt zu haben?

F Was will ich wirklich?

F Wofür gibt es gerade mich auf dieser Welt?

F Was möchte ich nicht mehr tun?

F Welche Kontakte geben mir Kraft, welche rauben mir Kraft und welche davon möchte ich weiterführen?

Wer der Beschleunigungsfalle entkommen möchte, darf nicht erwarten, dass dies andere für einen tun, oder abwarten, ob bessere Zeiten kommen. Kompetent mit der Zeit umzugehen bedeutet, bisher­ige Glaubenssätze zu hinterfragen und die Messlatte niedriger zu legen. Es ist oft eigenes Anspruchsdenken in Kombination mit inneren Antreibern, was zu einem beängstigend hohen Lebenstempo führt. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen« oder »Mach schnell!«, »Mach es besser!«, »Mach es richtig!« sind solche inneren Tempomacher. Folglich fragt der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann als Psychologe danach, ob hinter der Beschleunigung Gier oder Angst lauert. Ist es die Angst, nicht mithalten zu können? Ist es die Sorge, dass andere besser, schneller, erfolgreicher sind? Ist es die Befürchtung, nicht mehr anerkannt und geliebt zu werden? Kahnemann vertritt die These, dass Angst vor Verlust ein größerer Antreiber ist als die Aussicht auf einen Gewinn. Es ist eine uralte Angst, dass das Leben zu kurz und der Tod zu schnell kommt.

Menschen versuchen häufig, diese Gedanken mit Aktionismus zu verdrängen, und verdrängen damit mitunter das Leben selbst. So gesehen ist Gelassenheit die beste Strategie und diese hat das Lassen bereits im Wortstamm. Doch gerade dies fällt schwer. Wir mögen die kleine Seminargeschichte von einem vielbeschäftigten Menschen, der einen Zenmeister um Rat fragt, weil er am Rande seiner Kraft ist. Dieser empfiehlt: Sie sollten einfach nichts tun. Darauf folgt sofort die Frage: Und was muss ich da tun?

Lassen hat viel mit Vertrauen, mit innerer Zufriedenheit und Muße zu tun. So, wie der Kajakfahrer im Wildwasser nicht plötzlich an­halten kann, so kann auch niemand vom intensiven, geplanten Ar­beits­alltag direkt in den Modus von Ruhe und Muße übergehen. Rituale helfen, die Übergänge zu gestalten. Vielleicht den Arbeitsweg mit dem Fahrrad strampeln, den Fußweg von der U-Bahn nach Hause in einem gemächlichen Schritt zurücklegen, den Anzug gegen Jeans und Pulli tauschen oder, wie Comissario Brunetti in Donna Leons Krimis, einen Espresso im Café auf dem Heimweg trinken.

Solange wir es als Statussymbol erfolgreichen Lebens betrachten, wenn jemand zu viel zu tun hat, nachts um eins oder morgens um fünf seine E-Mails schreibt oder Termine Monate im Voraus vergibt, werden wir die Zeitkrankheiten nicht loswerden.

Bei allen technischen Errungenschaften dürfen wir uns ruhig daran erinnern, dass unser evolutionäres Stammhirn bei geschätzten zwölf Millionen Sinneseindrücken pro Sekunde noch immer im Modus der Steinzeitmenschen reagiert, um der Gefahr zu begegnen. Es stellt sich nur drei Fragen: fliehen, kämpfen oder tot stellen? Eine Zehntel Sekunde später hat das Großhirn die Möglichkeit, auf diesen Eindruck etwas analytischer zu reagieren. Dort werden nämlich die Informationen interpretiert, bewertet und vor allem reduziert. Anders als beim Computer kann unser menschliches Gehirn nur circa sieben Informationen im Kurzzeitspeicher aufnehmen. Also ist es kein Wunder, wenn der Kopf bei der Fülle der Eindrücke wehtut, das Herz schneller schlägt, die Ohren summen und der Rücken sich verkrampft.

Wie können wir unsere Zeit so leben, dass wir dabei gesund bleiben?

Patentrezepte gibt es dafür keine, aber gute Anregungen. Grund­sätzlich läuft es auf zwei Ebenen hinaus, die Sie beeinflussen können.

1. Reduzieren Sie das, was auf Sie einströmt.

2. Hinterfragen Sie Anforderungen, die Sie an sich selbst stellen.

Wie kann das ganz praktisch aussehen? Wir haben einige Mög­lichkeiten zusammengestellt. Wählen Sie selbst, welche Ihnen mach­bar und verlockend erscheinen.

F Setzen Sie sich nicht mehr der Werbung in Radio, Fernsehen, Zeitschriften aus.

F Gehen Sie am Wochenende einen Tag lang offline und sind damit nicht für jeden erreichbar.

F Achten Sie bewusst darauf, welche Menschen ihnen im Gespräch guttun und welche sie stressen. Wählen Sie dann bewusst Ihre Kontaktzeiten mit diesen Menschen.

F Nutzen Sie klassische Musik zum Beispiel von Bach oder Entspannungsmusik zum Entschleunigen als Übergangsritual zwischen Arbeit und der individuellen Freizeit.

F Achten Sie darauf, ob es Tätigkeiten gibt, bei denen Sie sich wie von allein entspannen. Versuchen Sie, diese häufiger in Ihren Alltag einzubauen.

F Setzen Sie sich bei zu hohen oder zu häufigen Anforderungen von außen damit auseinander, wie man ein positives Nein formuliert. Lernen Sie es, klare Botschaften zu senden und vor allem ein Ja zu ihren eigenen Überzeugungen und Werten zu finden. Dieses Ja ist die beste Basis für ein überzeugendes Nein und verschafft Ihnen Freiräume.

F Suchen Sie sich eine sportliche Betätigung ohne Wettkampfcharakter oder Zeitdruck.

F Lernen Sie, Achtsamkeitsübungen oder meditative Übungen in Ihren Alltag einzubauen.

F Legen Sie sich statt einer »To-do-Liste« eine »Let-it-go-Liste« an.

Zeitwohlstand – Reichtum der anderen Art

Reichtum an Zeit ist nicht käuflich. Sie wissen ja, wir haben alle gleich viel Minuten an einem Tag zur Verfügung. Allerdings wissen wir nicht, wie viel Zeit wir in unserem Leben zur Verfügung haben, und dies ist die entscheidende Aussage. Während wir uns über Zeit und Beschleunigung Gedanken machten, kam eine E-Mail von einer guten Freundin ins Haus. »Feiert das Leben. Es ist so wertvoll!«, schrieb sie und weiter, dass der Tumor im Kopf wieder gewachsen sei. »Es fühlt sich so an, als ob wer mit einem großen Radiergummi alles ausgelöscht hat. Ich kann meinen eigenen Namen nicht mehr schreiben, überlege, wie ich ein Messer in die Hand nehmen soll. Allein diese Mail strengt mich zu viel an. Meine Highlights sind die Waldspaziergänge und meine Lieben.«

Können Sie sich vorstellen, wie bewegt wir vor diesen Zeilen saßen? Hilflos und zugleich dankbar für diese ehrlichen Worte. Sie mahnen uns mit einer Eindringlichkeit, die Zeit wertzuschätzen, die kein Zeitratgeber je erreichen kann.

Deine Zeit ist dein Leben. Sei klug! – Dies haben wir im Sabbatjahr auf einem alten Holzschild am Highway gelesen und zu unserem Leitspruch gemacht. Zeitwohlstand zu haben bedeutet, sich bewusst zu sein, dass ich einen Einfluss darauf habe, wie ich meine Zeit gestalte. Wer sich Zeit für das nimmt, was ihm zutiefst wichtig ist, der wird eine ganz große Zufriedenheit darüber spüren. Er ist dann in der Zeit und rennt ihr nicht mehr hinterher.

Es sind Sternstunden, an die Sie sich lange erinnern werden und die Ihnen Kraft geben, wenn das Tempo wieder schell oder unruhig ist. Ich habe oft mehrere Projekte gleichzeitig im Kopf und kann selten ohne ein Buch in der Hand ruhig sitzen. Als unser Enkelkind geboren war, habe ich alle Termine abgesagt. So konnte ich die ersten Tage dabei sein, helfen und den Alltag der jungen Familie begleiten. Ich saß mitunter mehr als eine Stunde einfach nur am Fenster, habe das winzige Mädchen in meinem Arm gewiegt und über das Wunder des Lebens gestaunt. Die Zeit verging wie im Flug und kam mir gleichzeitig wie eine Ewigkeit vor. Es war einmalig. Dass ich diese Zeit so nutzen konnte, macht mich heute zutiefst glücklich.

Zeitwohlstand bedeutet, dass Sie in Ihrem­ Alltag zwischen unterschiedlichen Zeit­mustern wechseln können. Es gibt getak­tete, geplante, strukturierte Zeiten, in denen Sie etwas bewegen und schaffen. Daneben gibt es Zeiten, in denen Sie sich treiben lassen, trödeln können oder lustvoll verweilen. Dies mehrt das Gefühl, Zeit im Überfluss zu haben. Achten Sie auf Ihren natürlichen Rhythmus, egal, ob Sie zu den Morgen- oder Nachtmenschen zählen, ob Sie im Sommer aufleben oder den Winter mögen, ob Sie gerne planen oder lieber spontan handeln. Alle Zeittypen brauchen ihren eigenen Rhythmus – und wenn nicht durchgehend, dann zumindest von Zeit zu Zeit. Vor allem aber brauchen wir den Freiraum, nicht immer nur zu müssen. Wir brauchen Mußezeiten!

Muße? Olaf meinte sofort, Muße ist kein Wort für Männer. Es klingt zu weiblich, zu weich, zu poetisch. Doch wie soll man das entspannte Nichtstun sonst nennen? Obwohl wir uns in der Gesellschaft mit der Muße schwertun, widmete das Wirtschaftsmagazin »brandeins« zwei Ausgaben innerhalb von drei Jahren genau diesem Thema. Die Auseinandersetzung mit dem gefühlten Zeitnotstand und die Sehnsucht nach dem Zeitwohlstand führt zu Titeln wie: »Nichtstun – Und was sich daraus machen lässt« (Heft 8.2012) oder »MACHT BLAU – Schwerpunkt Faulheit« (Heft 8.2015). Bezeichnenderweise ist es natürlich das Sommerheft. Mitten in der Urlaubszeit scheint es legitim und verlockend, das Nichtstun in den öffentlichen Fokus zu rücken. Dabei sagt Karlheinz Geißler: »Auf Mußezeiten kann man nicht verzichten, wenn man der Verwirklichung der Sehnsucht näher kommen will, zeitsatt und zeitzufrieden älter zu werden.« Da braucht es schon mehr als den Jahresurlaub, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Muße ist kein Zeitmaß, sondern eher eine Haltung. Sie entsteht in Zeiten, in denen man tun kann, was man möchte, vielleicht nachdenken, angeln, gärtnern, spielen, sinnieren oder Musik hören. Mußezeit ist selbst gewählt und daher niemals langweilig.

Muße ist wie Medizin, schlussfolgert Zeitexperte Lothar Seiwert und beschreibt deren körperliche Auswirkung auf den menschlichen Körper so: »Vom Nichtstun profitiert das ganze System Mensch – jede einzelne Körperzelle: Das sympathische Nervensystem schaltet um auf das parasympathische, von turboaktiv auf baldrianzufrieden. Der Puls sinkt. Die Atmung wird tiefer. Der Blutdruck normalisiert sich. Weniger Lebensenergie wird verprasst. Das Immunsystem tankt Kraft. Stresshormone werden abgebaut.«14 Muße lässt sich in der Natur viel leichter lernen, denn wir können von Pflanzen und Tieren abschauen, was es bedeutet, langsam zu wachsen, aus der Kraft von Wurzeln zu leben, sich dem Rhythmus der Jahreszeiten anzupassen oder auch zu akzeptieren, dass alles seine ureigenste Zeit hat. Lesen Sie mal mit Muße die alten Weisheitstexte aus dem biblischen Buch Prediger Salomo, Kapitel 3, Verse 1–15. Ein tiefsinniger, kluger Text, in dem Ihnen sicher vieles bekannt vorkommen wird.

Die Natur ermöglicht uns Kenntnis und Muße gleichermaßen, die wir nutzen können, wollen wir klüger mit unserer Zeit umgehen.

Im Biosphärenreservat der Insel Rügen liegt das Naturschutzgebiet Goor. Hier finden sich vielfältige Waldtypen mit imposanten Bäumen, alten Hügelgräbern und einstigen Siedlungsflächen, die aufgeforstet wurden. Auf dem »Pfad der Muße & Erkenntnis« begegnen dem Besucher Bäume als »Mittler« für ein neues Verständnis im Umgang mit der Naturzeit. Wer sich die Zeit nimmt, auf dem vier Kilometer langen Pfad an 19 Stationen zu verweilen, taucht vertieft in Natur- und Kulturphänomene ein. Er wird sich als Teil der Natur einordnen können und begreifen, dass auch wir Menschen ein natürliches Maß an Lebenszeit haben, das wir jenseits aller mechanischen Zeitgeber gestalten können.

Zeit der Muße entsteht im Urlaub leichter als in einer angespannten Arbeitsphase. Deshalb können wir den Urlaub als eine Hinführung nutzen, der Muße Raum und Zeit zu geben. Niemand zwingt uns, im Urlaub von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten zu hasten. Selbst bei einer Städtetour können wir uns die Erlaubnis geben, am Ufer des Flusses oder im Park mitten in der Stadt zu verweilen. Wer einmal für eine gewisse Zeit achtsam, bewusst, genügsam und gelassener seine Tage gestaltet, der wird die Muße auch jenseits der Urlaubstage immer wieder erleben wollen. Sie ist für ein gutes, für ein gelingendes Leben unverzichtbar.

Gönnen wir uns deshalb Zeitoasen, kleine und größere, in denen wir ganz präsent sind und spüren, dass es neben dem Güterwohlstand noch eine andere Qualität gibt, die unser Leben reich macht, den Zeitwohlstand.