Ein heilsames Ritual

Es war Ende November. Die kühlen und nebligen Herbsttage lockten uns nicht ins Freie. Außerdem gab es auch so genug zu tun. Arbeitstermine häuften sich, Elternabende und die Aussicht auf viele Aktionen in der Vorweihnachtszeit raubten uns die Kraft für entspannte abendliche Spaziergänge oder morgendliche Joggingrunden. Wir igelten uns auf dem Sofa ein, zumal Olaf sich mächtig erkältet und einen tiefen Husten ausgebrütet hatte. »Wird schon werden!«, das war die Devise.

Doch es wurde nicht. Im Januar hustete Olaf immer noch. Er hatte den Gedanken ans Joggen längst begraben, alle verfügbaren Hustenmittel bereits ausprobiert und wurde zusehends unzufriedener. Für ihn ist das Laufen ein wichtiger Ausgleich. Fehlt es, fehlt ein Stück Lebensfreude und Energie. So konnte es nicht weitergehen. Schließlich wurde der Arzt konsultiert, das Antibiotikum geschluckt und der Topf zum Inhalieren fleißig eingesetzt. Alles ohne sichtbare Wirkung.

Die Gesundheit verschlechterte sich und der Arzt wurde immer ratloser. Schließlich kam der Tag, an dem er offen sagte: »Ich komme bei Ihnen nicht weiter. Es ist keine Lungenentzündung, aber kurz davor, und keine meiner Therapien hat bisher Wirkung gezeigt. Ich bin am Ende meines Wissens und meiner Möglichkeiten.«

Es fühlt sich merkwürdig an, wenn ein Arzt so etwas sagt. Wir sind es gewohnt, Hilfe zu bekommen, eine Lösung zu sehen, getreu dem Motto »Da muss doch irgendwas helfen«. Doch jetzt war der Patient ausgemustert und stand vor der Qual der Wahl. Entweder einen weiteren Spezialisten aufsuchen, eine neue Therapie beginnen oder mutlos aufgeben. Olaf wählte einen ganz eigenen Weg.

Er überlegte sich, was ihm bisher Lebensenergie, Fitness und gute Laune gegeben hatte. Das waren die Läufe im Wald, das Draußensein, die Kraft der Natur. Joggen kam nicht infrage, doch zumindest Spaziergänge in gemächlichem Tempo auf der alten Joggingstrecke durch den Wald, die waren möglich. Und so begann er ein Ritual, was uns seither schon viele Jahre begleitet: morgendliche Waldspaziergänge.

Heute haben wir einen Hund, sodass sich die Frage nach dem Spaziergang bei Wind und Wetter nicht stellt. Da lässt sich maximal über die Länge reden. Doch damals gab es keinen Hund und keinen Druck von außen.

Es war eine sehr bewusste, selbst verantwortete Therapie. Jeden Morgen ging Olaf in gemächlichem Tempo eine Stunde durch den Wald, bei Regen, Sonne, Kälte. Wenn ich es einrichten konnte, begleitete ich ihn, und wir spürten beide, dass sich mit den Wochen etwas veränderte. Die morgendlichen Läufe aktivierten und entspannten uns gleichermaßen. Wir beobachteten, wie Knospen praller, das Zwitschern der Vögel intensiver und die Strahlen der Sonne wärmer wurden. Der Frühling kam ins Land. Olaf hustete noch immer, aber die Lebensenergie kam zurück. Mitunter zückte er, kaum ins Haus gekommen, seinen Notizblock, um kreative Ideen festzuhalten, die unterwegs entstanden waren. Er schien immer eine Spur kraftvoller aus dem Wald zurückzukommen als er losgelaufen war. Ich bewunderte seine Disziplin und gute Routine. Der morgendliche Waldlauf war ein fixer Bestandteil des Tages geworden und andere Termine mussten sich daran orientieren. So schleichend, wie die hartnäckige Krankheit gekommen war, ging sie irgendwann im Sommer auch weg. Man könnte sagen, sie ging von allein. Wir wissen es besser.

Die Natur des Menschen stärken

Schon vor 2.000 Jahren legten Anhänger des Taoismus in China erste Gewächshäuser und blühende Gärten an. Sie wollten damit die Gesundheit der Menschen stärken. Auch Hippokrates von Kos, der wohl bekannteste Arzt der Antike, wusste 400 vor Christus die Kraft der Natur für den Prozess der Heilung zu schätzen. Hippokrates ging entgegen dem Denken seiner Zeit nicht davon aus, dass böse Geister schuld an Krankheiten sind, sondern ein körperliches Ungleichgewicht. Er betrachtete seine Patienten ganzheitlich. Im Verständnis des Hippokrates war es die Natur, die den Menschen heilt. Die Aufgabe des Arztes bestand seiner Meinung nach darin, die Natur des Menschen in ihrer Heilkraft nach besten Kräften zu unterstützen. Hippokrates sah den Mensch als ein natürliches Wesen, dessen Selbstheilungskräfte durch den Aufenthalt in der freien Natur gestärkt werden. Diese Naturkraft zu nutzen war auch das Ansinnen der Mönche und Nonnen, die ungefähr 800 nach Christus in ihren Klöstergärten erstmals Heilkräuter anbauten und kultivierten. Die sorgsam gepflegten, parkähnlichen Anlagen sollten darüber hinaus die psychische Kraft der Menschen stärken.

Hildegard von Bingen, die Benediktinerin und Äbtissin, kluge Theolo­gin, ganzheitliche Heilkundige, Philosophin und Musikerin prägte im 12. Jahrhundert den Begriff der Viriditas, der Grünkraft. Sie beschreibt diese Grünkraft als Lebenskraft, Heilkraft, Gotteskraft. Auch für Hildegard hängt körperliche Gesundheit mit innerem Seelenfrieden zusammen. Wer mit sich, mit Gott, mit der Welt im Einklang ist, der ist weniger anfällig für Krankheiten. Hildegard war eine aufmerksame Beobachterin der Natur. Sie erforschte die heilende Wirkung der Pflanzen, beschrieb diese detailliert und nahm im Unterschied zu anderen Klöstern der damaligen Zeit auch heimische Kräuter in die Vielfalt des Klostergartens auf. Quendel, eine wilde Form des Thymians, wurde gegen Kopfschmerzen genutzt, Schafgarbe gegen Blähungen, gelbe Frauenminze, um Fieber zu senken und Menstruationsbeschwerden zu lindern. Hildegard sah Menschen, Tiere, Steine und Pflanzen in einer großen Symphonie, die einander brauchen, stützen und nutzen können. Vermutlich wäre sie heute eine streitbare Frau, die ihr komplexes Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge einsetzen würde, um uns zu sagen, dass wir den Ast, auf dem wir sitzen, vorsätzlich absägen, wenn wir weiterhin die Natur so ausplündern und missachten.

Hildegard beschrieb Grünkraft als eine grundsätzliche Kraft, die Tieren, Pflanzen, Menschen, ja dem gesamten Kosmos innewohnt. Grünkraft ist ein Sinnbild für die Kraft zum Blühen, Wachsen, Früchte tragen und kann durch zu viel Anspannung geschwächt werden. Gleichzeitig kann diese Viriditas durch Aufenthalt und Bewegung in der Natur bewahrt oder gefördert werden. Ihre ganzheitliche und spirituelle Lebensweise kombiniert mit dem Wissen um die Heilkraft der Natur führte dazu, dass Hildegard, was im Mittelalter sehr ungewöhnlich war, stolze 81 Jahre alt und schon bald als Heilige verehrt wurde. Sechs Säulen der Gesundheit benannte Hildegard:

1. Heilmittel sind überall in der Natur.

2. Ernähre dich ausgewogen.

3. Achte auf Bewegung und Ruhe in Ausgewogenheit.

4. Halte den Schlaf-Wach-Rhythmus ein.

5. Ausleiten und Entgiften sind für den Körper wichtig.

6. Seelische Reinigung ist die Grundlage für körperliche Gesundheit.

Für Hildegard war klar, dass Gesundheit immer eine seelisch-geistige und eine körperliche Dimension hat. Wer gesunden möchte, muss beides beachten. Aktuelle Erkenntnisse der Resilienzforschungen, also der Suche nach dem, was Menschen trotz Krisen seelisch stark und widerstandsfähig macht, ähneln dem, was Hildegard mit Grünkraft beschreibt. Es geht immer darum, eigene Ressourcen zu sehen und diese zu aktivieren, zum Beispiel durch den Aufenthalt in der Natur. Damit werden Erfahrungen der Selbstwirksamkeit verstärkt und grundsätzlich die Hoffnung auf Veränderung wachgehalten.

Wir haben nicht schlecht gestaunt, als wir in der Königlichen Kristall­therme in Hohenschwanstein einen speziellen »Hildegard-Aufguss« in der Sauna erlebten. Die Gäste erhielten einen informativen Kurz­vortrag über die Heilansätze der Benediktinerin. Dann bekam jeder Gast einige Tropfen ätherischen Öls zum Einreiben des Brust­raums, um die Bronchien zu stärken. Der Duft war intensiv und wohltuend. Im nachfolgenden dampfenden, schwitzenden Schweigen haben wir darüber nachgedacht, wieso dieses jahrhundertealte Wissen nicht grundsätzlich in heutigen Gesundheitssystemen genutzt wird, sondern oft in der esoterisch angehauchten Ecke landet. So viele Menschen sehnen sich nach seelischer Balance und körperlicher Gesundheit. Dafür brauchen wir nicht immer kostspielige Therapien und Kuraufenthalte. Wir konnten herrlich entspannen in dieser Sauna, mit guten Düften, dem Blick auf die Allgäuer Berge, grüne Wiesen und die untergehende Sonne. Man muss kein Wissenschaftler sein, der die Natur in Moleküle zerlegt, um zu spüren, dass Wasser, Wärme und die Elemente der Natur dem körperlichen Wohlbefinden dienen. Lavendelöl wirkt, wird es eingerieben, gegen Ängste. Es fördert aufs Kopfkissen geträufelt den Schlaf. Menschen, die regelmäßig in der freien Natur laufen, spazieren oder joggen, fühlen sich deutlich besser als Sportler, die auf dem Laufband oder in der Turnhalle trainieren.

Wer viel im Freien ist und Zugang zur Natur hat, ist psychisch stabiler und körperlich gesünder. Das haben Menschen schon seit vielen Jahrhunderten beobachtet. Dort draußen gewinnen wir neue Kraft. Vielleicht genau diese Grünkraft. Doch draußen in Anbetracht vieler­ Halbwahrheiten, Philosophien und Lehrmeinungen stellt sich die Frage, ob dieses ganze Wissen von der Heilkraft der Natur eine Ahnung oder eine wirkliche Tatsache ist.

Natur heilt! Von der Theorie zur Tatsache

Seit den 1980er-Jahren forschen Psychologen intensiv zu dem Zusammenhang von Natur, Umwelt und Gesundheit. Interes­santerweise gibt es auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.V. zwar einen Eintrag zur Umweltpsychologie, nicht aber zur Naturpsychologie. Das Lexikon der Psychologie aus dem Spektrum Verlag beschreibt Naturpsychologie als Bezeichnung für eine Richtung der Psychologie, die sich Naturwahrnehmung bzw. -erlebnissen und deren subjektiven Nachwirkungen (z.B. emotionaler Gewinn durch das Erleben eines Sonnenuntergangs) widmet.

Während sich dieser interdisziplinäre Forschungszweig in Deutschland erst noch etabliert, gibt es längst aufschlussreiche Erkenntnisse japanischer, amerikanischer oder schwedischer Wissenschaftler. Sie analysieren und belegen die Heilwirkung der Natur auf unseren menschlichen Organismus. So wird eine Entwicklung sichtbar von der Erfahrung zur Theorie hin zur Tatsache.

Bereits 1990 führte die Psychologin Frances Kuo von der Universität Illinois Studien durch, die sich auf den Zusammenhang von Wohnlage und Lebensbewältigung bezogen. Dazu befragte und testete sie zufällig ausgewählte Bewohnerinnen eines großen Wohnviertels im südlichen Stadtgebiet von Chicago. Einige der Frauen hatten von ihrer Wohnung aus den Blick auf grüne Gärten, auf begrünte Vorhöfe mit Blumen und Baumbewuchs. Andere schauten unmittelbar auf Parkplätze, asphaltierte Basketballplätze und Straßen. Kuo ließ die Studienteilnehmerinnen psychologische Basistests, Tests zur Wahrnehmung, aber auch Fragebögen über ihren individuellen Umgang mit Alltagsproblemen beantworten. Für alle abgefragten Kategorien fielen die Antworten der Bewohnerinnen mit dem Blick ins Grüne wesentlich positiver aus. Frances Kuo begründet das so, dass der Blick auf die Naturflächen, auf Bäume und Sträucher die Fähigkeit der Menschen erhöht, sich zu konzentrieren und auf wichtige Dinge zu fokussieren. In der Folge resultiert daraus die Fähigkeit, besser mit Herausforderungen des ganz alltäglichen Lebens umzugehen. Anstatt aufgeregt oder ärgerlich zu sein, konnten sich diese Frauen eher beruhigen und entspannen und damit besonnener handeln. Kuo stellte fest, dass die Natur grundsätzlich einen ausgleichenden Effekt auf unser menschliches Gehirn haben muss, der die Konzentration wiederherstellt. Sie zog die Schlussfolgerung, dass natürliche Umgebungen gut für die physische Gesundheit von uns Menschen sind.

Ich selbst habe erlebt, dass in den 365 Tagen, die wir größtenteils in der Natur Westkanadas verbracht haben, meine sonst häufigen Kopfschmerzen einfach verschwunden waren. Natürlich kann dies auch an dem Umstand liegen, keinem Arbeitsdruck ausgesetzt zu sein, doch organisatorisch hatten wir durchaus herausfordernde Zeiten und es war nicht alles nur eine heitere »Urlaubszeit«. Dennoch konnte sich offensichtlich das Gehirn in der Zeit außerhalb von Büro, Stadt und Verkehrslärm im Wald und am See besser regenerieren oder entspannter mit dem umgehen, was uns begegnete. Mit dieser Erfahrung bin ich nicht allein. Untersuchungen wie die von Marc Bergman von der Universität Michigan beispielsweise bestätigen, dass es einen Unterschied für unser körperliches und mentales Wohlbefinden macht, in welcher Umgebung wir uns aufhalten.

Der Psychologe stattete Studenten mit GPS-Sendern aus, sodass die abgefragten Testergebnisse lokalisiert werden konnten. Während eine Versuchsgruppe durch den Wald stromern konnte, sollte sich die Vergleichsgruppe durch belebte, viel befahrene Straßen der Innenstadt bewegen. Die psychologischen Tests bestätigten auch hier, dass die »Naturgruppe« in besserer mentaler Verfassung war. Sie konnte die Tests besser und aufmerksamer absolvieren.

Die Frage, ob man nicht besser aufs Land ziehen sollte, der Gesundheit und Lebensqualität zuliebe, legt sich da nahe. Doch so weit gehen die Aussagen dann doch nicht. Es scheint wichtiger zu sein, dass wir es lernen, die Natur in unser städtisches Leben zu integrieren und sie so oft wie möglich für Aufenthalte zu nutzen.

Mehr Grün in die Stadt

Übrigens war genau dies der Grund für die Anlage großer Parks, wie etwa des New Yorker Centralparks, mit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine natürliche Oase zum Spazieren, Reiten und Spielen mitten in der Millionenstadt geschaffen wurde. 250 Hektar Wiesenfläche, Seen, Bäche, fünf Wasserfälle, alle künstlich errichtet, und mehr als zwanzigtausend Bäume machen diesen Park bis heute zur grünen Insel. Anwohner und Touristen, alle schätzen die Natur inmitten des weitläufigen Häusermeeres. Auch wenn ein Park nicht die umfassende Wirkung der weitläufigen Felder und Wälder außerhalb der Stadt auf einen Menschen hat, so ist es doch ein wichtiger Ort, an dem Grünkraft getankt werden kann. Und damit ist die Anlage solcher Naturzonen inmitten der Städte eine äußerst sinnvolle Investition in die Gesundheit der Menschen, denn weltweit ist zu beobachten, dass die Menschheit zunehmend verstädtert.

Das führt dazu, dass immer weniger Menschen aktive Natur­erfahrungen in ihrem Alltag haben. Während 1950 nur 30 Prozent der Weltbevölkerung in Städten lebten, waren es 1970 schon mehr als die Hälfte. Die Prognose liegt derzeit bei 70 Prozent auf das Jahr 2050 bezogen. Die Stadtbevölkerung würde dann auf 6,8 Milliarden Menschen weltweit anwachsen, die in großen Megacities mit mehr als zehn Millionen Einwohnern leben.

Man kann sich leicht vorstellen, dass der Ausblick ins Grüne aus einem Wolkenkratzer recht eingeschränkt ist. Es ist zu befürchten, dass ein soziales Gefälle dazu führen wird, dass sich Menschen aus unteren sozialen Milieus den Zu­­gang zu grünen Terrassen, Bal­konen, Wohnparks innerhalb der Stadt nicht leisten können und damit weniger von den Vorteilen einer Begrünung profitieren. Wer aufmerksam beobachtet, dem wird auffallen, dass Wohnviertel mit wohlhabendem Klientel oft deutlich mehr oder größere Grünflächen haben. Nimmt man die Studien der Öko- und Naturpsychologie oder Natursoziologie ernst, dann wird der Architektur grüner Lebensräume für alle Menschen in den kommenden Jahren eine große Bedeutung zukommen.

Pflanzen in der Wohnumgebung, am Arbeitsplatz, in öffentlichen Gebäuden scheinen ein »grüner« Tropfen auf den heißen Stein zu sein, können aber durchaus eine erhebliche Wirkung haben. In Büro- und Klassenräumen, die reichlich mit Pflanzen ausgestattet wurden, reduzierten sich Gesundheitsbeschwerden wie Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Schleimhautreizungen, während die Zahl der Abwesenheitstage wegen Krankheit deutlich sank. Wenn die Natur für Gesunde zur Steigerung der Abwehrkräfte und des Wohlbefindens so nützlich ist, wie hilfreich kann sie dann erst für Kranke sein?

Natürlich schneller gesund

Ich lag kürzlich nach einer Operation im »Garten-Trakt« eines Krankenhauses. Aus dem Bett konnte ich direkt auf zwei wunderbare große Bäume mit zartgrünen Frühlingsblättern schauen. Und wirklich, der Gedanke, dass es in der Natur ständig Wachsen und Vergehen, Aufbruch nach dem Winter und neue Knospen gibt, gab mir Kraft. Auch wenn ich recht schwach im Bett lag, ich hatte ein Zeichen der Hoffnung vor Augen. Allein der Blick auf diese Bäume gab mir Zuversicht und stärkte den Wunsch, bald wieder selbst unbeschwert durch den Park zu gehen. Leider gab es die Bäume nur auf einer Seite des Krankenhauses – auf der Seite der Privatstation, die ich dank einer Zusatzversicherung in Anspruch nehmen konnte. Ich frage mich, wieso das so sein muss. Wenn doch alles in unserer Gesellschaft immer auf den Nutzwert hin befragt wird, wieso nutzen wir dann die Heilkraft der Natur nicht viel stärker aus und machen sie allen zugänglich? Am fehlenden Wissen kann es nicht liegen. Rainer Brämer, Natursoziologe und Betreiber der informativen Webseiten www.natursoziologie.de sowie www.wanderforschung.de hat zum Beispiel zahlreiche Studien zur gesundheitlichen Wirkung der Natur gesammelt. Er stellt neben vielen eigenen Artikeln ausführliches Recherchematerial zu weltweiten Studien zur Verfügung. Das ist sehr hilfreich, denn man würde seiner eigenen Erfahrung ohne diese Zahlen, Daten und Fakten misstrauen.

Die wohl bekannteste Studie zur heilenden Kraft der Natur speziell für Kranke basiert auf Untersuchungen von Professor Roger S. Ulrich, Professor an der Texas A&M University, der neun Jahre lang forschte, bevor 1984 seine Erkenntnisse über den Zusammenhang von gesundheitlichen Effekten und der Wirkung der Natur publiziert wurden.

Ulrich untersuchte Menschen im Krankenhaus nach einer Operation. Einige schauten von ihrem Krankenzimmer aus auf Bäume vor dem Fenster, andere lediglich auf die Fassaden von Gebäuden. Die Patienten der »Baumgruppe« wurden schneller gesund, sie brauchten auch deutlich weniger Schmerzmittel oder eine geringere Dosierung davon. Auch postoperative Komplikationen gab es in der »Baumgruppe« erheblich weniger. Das psychische und damit auch das körperliche Wohlbefinden stieg offensichtlich allein durch den Anblick der Natur vor dem Fenster.

Forschungen zeigen auch, dass die Bewegung in der freien Natur und in natürlichen Lichtverhältnissen eine deutlich schmerzlindernde Wirkung hat. Dieser schmerzlindernde Mechanismus besteht aus zwei Faktoren. Einerseits wird durch Sonnenlicht die Ausschüttung des Wohlfühlhormons Serotonin verstärkt. Es hemmt die Übertragung von Schmerzimpulsen im menschlichen Zentralnervensystem. Außerdem führt ein höherer Serotoninspiegel zu entspannteren Gefühlen von Ruhe und Gelassenheit. Damit werden ängstliche oder sorgenvolle Gedankengänge unterdrückt. Zusätzlich lenkt der Aufenthalt in der Natur davon ab, immer nur um die eigene Krankheit oder den Schmerz zu kreisen. Die Aufmerksamkeit wird in der Natur anders gefordert und dem Schmerz wird damit weniger Beachtung geschenkt. Einen enormen Wert haben also neben den Grünpflanzen, Naturbildern an der Wand oder plätschernden Brunnen im Haus gut angelegte Gärten mit Bäumen, Sträuchern, kleinen Bächen oder Seen für die Gesundheit.

Dieses Wissen konsequent im Gesundheitswesen genutzt, könnte enorme Kosten für Medikamente sparen. Die Verweildauer in Kran­ken­häusern würde sich verkürzen und gewinnen würde nicht nur der einzelne kranke Mensch, sondern wir alle als Gesellschaft.

Gesundheit aus dem Wald

Biophilie lässt sich mit Liebe zum Leben übersetzen. Es ist ein Begriff, der gerade oft zitiert und neu verwendet wird. Im Frühjahr 2015 erschien »Der Biophilia-Effekt«, ein Buch des Biologen Clemens Arvay, in dem er sich auf die Biophilie-These des Harvardprofessors E. O. Wilson bezieht. Wilson stellt die Theorie auf, dass der men­schliche Organismus grundsätzlich auf Natur bezogen und dass diese Sehnsucht nach Natur in uns angelegt ist und erfüllt werden muss, wollen wir organisch gesund leben.

Arvay hat nun neben persönlichen Erfahrungen viele unglaublich wissenswerte Details zusammengetragen. Wir alle kennen die Heilwirkung von Pflanzen in Form von Salben, Tees oder äther­ischen Ölen. Doch weitgehend unbekannt dürfte es sein, dass Pflan­zen zielgerichtete Kommunikationsmoleküle abgeben. Diese, Terpene genannten, sekundären Pflanzenstoffe treten in eine Art Kom­munikation mit unserem Immunsystem. Dies ist der Schlüssel zu unserer Gesundheit und fungiert als eine Art »unsichtbare Antenne des Körpers«21, mit der wir den Wald betreten. Über genau diesen Weg kommunizieren die Terpene mit unserem Körper, was zur Steigerung der Abwehrkräfte führt. Es macht demnach viel Sinn, sich im Wald aufzuhalten, wollen Sie Ihrer Gesundheit etwas Gutes tun.

In Japan ist das Waldbaden (Shirin-Yoku) mittlerweile eine anerkannte Methode der Gesundheitsprävention. Professor Quing Li von der Nippon Medical School in Tokio ist anerkannter Forscher in der jungen Fachdisziplin Forest Medicine. Ihm und seinem Team ist es zu verdanken, dass das Waldbaden auch international immer mehr Interesse weckt. Als Laie fragt man sich, was genau passiert auf einem gemächlichen Waldspaziergang, dass dieser so heilsam ist?

In etlichen Untersuchungen konnte Li belegen, dass zum Beispiel die Stresshormone Cortisol und Adrenalin durch die Waldaufenthalte nachhaltig gesenkt wurden. Ein Tag im Wald reduzierte bei Männern den Adrenalinspiegel um 30 Prozent, bei Frauen sogar um 50 Prozent. Ein zweiter Tag im Anschluss verbesserte das Ergebnis noch einmal. Außerdem wurde der sogenannte Vagus, der Ruhe-Nerv, der für unsere körperliche Regeneration verantwortlich ist, deutlich aktiviert. Nach einem Tag im Wald erhöhte sich eine spezielle Form der weißen Blutkörperchen, die Killerzellen genannt werden. Sie sind Teil unseres angeborenen Immunsystems. Die Killerzellen entstehen im Knochenmark und haben die Aufgabe, mit Viren infizierte Körperzellen durch Zellgifte zu töten. Damit sorgen sie für die körpereigene Abwehrkraft. Um 40 Prozent stieg die Anzahl dieser natürlichen Killerzellen im Blut von Versuchspersonen, die einen Tag »Waldbaden« waren. Darüber hinaus blieb die Anzahl der Killerzellen nach einem mehrtägigen Waldbaden noch einen Monat lang konstant erhöht. Das heißt, der Aufenthalt im Wald führt nachweisbar dazu, dass Abwehrkräfte erhöht und das Immunsystem gestärkt werden. Es scheint einen direkten Zusammenhang zwischen Erholungseffekt, Stressreduktion, Wohlfühlen und Stärkung körpereigener Systeme zu geben, der im Wald ausgelöst wird.

Professor Quing Li gibt ganz praktische Anwendungsempfehlungen22 für das japanische Waldbaden, die man auch im europäischen Wald unmittelbar umsetzen kann.

F Bleiben Sie mindestens zwei Stunden im Waldgebiet und schlendern Sie in dieser Zeit eine Strecke von ca. 2,5 Kilometern.

F Verausgaben Sie sich nicht. Verweilen Sie und bauen Sie Pausen ein.

F Trinken Sie währenddessen Tee oder Wasser.

F Planen Sie für eine langfristige Wirkung pro Monat zwei bis drei Tage im Wald mit durchschnittlich vier Stunden Aufenthaltsdauer ein.

F Nutzen Sie die Konzentration der gesundheitsfördernden Terpene. Diese ist am höchsten im Sommer, nach Regen oder bei Nebel und im Inneren eines Waldgebietes.

Wohlgemerkt, das Waldbaden ist weder Allheilmittel noch eine Wundermedizin. Es ist eine Form der Gesundheitsvorsorge. Wer akut krank ist, der kann sich zusätzlich zu seinen Therapien und Medikamenten im Wald oder im Park stärken. Vor allem auch der Aufenthalt an Gewässern ist durch das plätschernde, immerwährende Strömen und Glitzern des Wassers heilsam und entspannend.

Auf die selbstverantwortete Möglichkeit, ins Freie zu gehen und die Kraft der Natur für die eigene Gesundheit zu nutzen, setzen vor allem auch die Skandinavier. »Friluftsliv« heißt die nordische Kultur, Naturerfahrungen für ein ausgeglichenes und gesundes Leben zu nutzen. Vermutlich wissen die Nordländer seit Generationen, dass sie sich für die lange dunkle Jahreszeit im Vorfeld präparieren und die inneren Akkus mit Licht und Naturerfahrungen aufladen müssen. Egal ob man es Waldbaden, Friluftsliv oder anders nennt, wer einmal erkannt hat und wissenschaftlich bestätigt weiß, dass Natur einen enormen Einfluss auf unsere Gesundheit hat, der wird diesen Impuls in sein Leben einbauen. Darüber hinaus zeigen entsprechende Forschungen, dass nicht nur die körperliche, sondern vor allem auch die seelische Kraft durch den Aufenthalt in der freien Natur gefördert wird. Wir können die Natur sozusagen als Co-Psychotherapeuten nutzen und vielleicht manche Stressspirale dadurch selbstständig wieder verlassen.

Die grüne Couch – Heilkraft für die Seele

Am 12. September 2001 nahmen Ranger und Förster in den ameri­kanischen Nationalparks einen unerwarteten Besucherstrom wahr. Wieso kamen gerade an diesem Tag so viele Menschen in die grünen Oasen? Die Erklärung war einfach. Sie suchten für ihre verstörten Seelen, für die unspezifischen Ängste und den persönlichen Stress, den die Anschläge vom 11. September ausgelöst hatten, intuitiv Trost, Entspannung und Hilfe in der Natur.

Natur entstresst. Allein die vielfältigen Grüntöne beruhigen unser Gehirn. Der Blutdruck sinkt, ebenso wie der Puls. Wer auf rauschende Wildbäche schaut, das Auge über eine Seenfläche schweifen lässt und dem Spiel der kleinen Wellen folgt, wessen Ohren das sanfte Rascheln von Blättern wahrnehmen, der entspannt sich von ganz allein. Die gerichtete Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit erholt sich beim Blick auf Bäume, Flüsse oder Berge. Der Stress- oder Aggressionslevel wird gesenkt, das Wohlbefinden und die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben steigen wieder. In der Folge können Menschen ihre belastenden Gedanken aus einer anderen Perspektive sehen. Wer schon einmal nach einem Streit eine Runde durch den Park gelaufen oder nach einer verpatzten Prüfung zum Angeln an den See gegangen ist, der kennt den Effekt dem Ansatz nach. Rachel und Stephen Kaplan haben mit der ART (Attention Restauration Theory) die derzeit überzeugendste Begründung auf diese Reaktion unseres inneren Seelenlebens geliefert.

Die mühelose Konzentration, die in der Natur hervorgerufen wird, führt zu einer positiven Faszination. Das Gehirn bekommt angenehme, leicht zu verarbeitende Reize und kann aus dem Stressmodus von allein herausfinden. Demzufolge hat der Kontakt mit Wald und Naturlandschaften drei positive Kern-Effekte.

1. Menschen geraten in eine bessere physische Grundstimmung. Seelische Schwankungen werden ausgeglichen und die Ausschüttung des Hormons Serotonin führt zu einer zuversichtlicheren Sichtweise.

2. Sie können sich besser konzentrieren, auf Erinnerungen zugreifen, Situationen klarer analysieren und damit wieder handlungsfähig werden.

3. Die körperliche Gesundheit in Form von Blutdruck, Herzschlag und Muskelspannung verbessert sich ohne direktes Zutun.

Dabei wirken natürliche Phänomene umso besser, je achtsamer sich eine Person der Natur aussetzt. Ein achtsam wahrgenommener Sonnenauf- oder -untergang kann zur goldenen Stunde eines Tages werden, und wenn jemand an einen Baum gelehnt den Geräuschen des Waldes lauscht, wird er vielleicht den Trost spüren, mit seinem Schmerz oder seinen Sorgen nicht allein, sondern ein Teil dieser ganzen natürlichen Welt zu sein.

Mit Vitamin N gesünder leben

Einer der größten Faktoren für die Entstehung von Krankheit ist chronischer Stress. Dieser bringt unser Hormonsystem und den Stoffwechsel durcheinander. Er schwächt das Immunsystem, führt zu chronischen Entzündungen, bewirkt Schlafstörungen oder Magen-Darm-Beschwerden. Chronischer Stress begünstigt Fettleibigkeit und seelische Erschöpfung. Dabei ist unser Körper eigentlich gut darauf ausgelegt, mit spontanen Stressreaktionen klarzukommen. Wurde evolutionär die Stressreaktion zum Beispiel durch den Angriff von Tieren, Menschen oder durch bedrohliche Naturereignisse ausgelöst, so reagiert heute unser Körper in der gleichen Weise auf Lärm, Autoverkehr, überhöhte Anforderungen, Streit, Termin- und Leistungsdruck oder auf die Reizüberflutung in Großstädten. Viele dieser Reizauslöser sind leider beständig und verhindern, dass das Gehirn und der Körper in den entspannten Ausgangsmodus zurückfinden. Wir bleiben unter einer Daueranspannung und genau diese führt zu den oben genannten Stresssymptomen.

Von Richard Louv übernehmen wir den Begriff des »Vitamin N« und meinen damit, dass wir eine Ressource haben, die wir eigenständig dosieren, nutzen und jederzeit anwenden können. Natur bewertet und be­ur­­teilt nicht, sie ist einfach da. Dieses ent­spannte »Ich bin da«-Gefühl kann bei einem Aufenthalt in der Natur auch im Menschen entstehen. Kombiniert mit beruh­i­-genden Reizen der Natur führt dies zu einer spür­baren Stressreduktion. Das Forscherteam der Kaplans weist darauf hin, dass wir dafür aber nicht irgendwelche Natur brauchen, sondern dass einige Aspekte beachtet werden müssen, will man den Gesundheitseffekt gezielt fördern.

Menschen haben das Bedürfnis, den Überblick zu haben, sich sicher zu fühlen, zu sehen, aber nicht gesehen zu werden, wenn sie sich wirklich entspannen wollen. Daher eignen sich Waldlichtungen, in denen man einen Rundblick hat, Parks mit vielfältigem Baumbestand, Graslandschaften mit Büschen und einzelnen Bäumen oder nach Möglichkeit kleine Anhöhen ganz besonders für die Aufnahme einer Dosis »Vitamin N«. Licht und Töne, Düfte und Ausblick, all dies gibt ein Gesamtpaket an Reizen und Sinneseindrücken, die uns stimulieren und guttun.

Warum setzt sich dieses brisante Wissen nicht viel mehr durch? Vielleicht, weil es zu einfach ist?

Natur ist immer in Bewegung. Wind raschelt durch das Gras, der Fluss strömt, Blätter fallen. Auch wir sind Natur. Wer gesund bleiben oder wieder mehr zu sich selbst und seiner Kraft finden möchte, der weiß spätestens nach diesem Kapitel: Ich muss einfach raus!