Ein Weg zeigt sich

Auf diese Woche hatte ich mich lange gefreut. Eine Woche Auszeit im Kloster Münsterschwarzach. Das Programm: nichts essen, viel trinken, viel Zeit haben für Besinnung, Meditation, Stille und mit neuen Kräften zu meiner Familie und meiner Arbeit zurückkehren. Für manche Menschen klingt das horrormäßig, aber für mich war das lockend. Es ist ein Wechsel zwischen zwei Welten. Die Abgeschiedenheit und Ruhe im Kloster und das pralle Leben mit seinem Tempo im Alltag. Wer sich darauf einlassen kann, der staunt, wie viel Zeit plötzlich zur Verfügung steht, welche Themen aufkommen und welche Energie sich auf einmal wieder sammelt. Wir hatten uns einige Monate davor beruflich selbstständig gemacht. Es ist unglaublich, was da plötzlich Neues auf einen einprasselt. Formalitäten mit Behörden klären, Gespräche mit potenziellen Kunden führen, Werbung in eigener Sache machen, den Internetauftritt planen und natürlich die Konzeption und die Inhalte gestalten. Kurzum, eigentlich hatte ich keine Zeit, mich eine Woche zurückzuziehen. Doch wer mit dem Thema Selbstführung und Lebensbalance für andere arbeitet, der sollte sich selbst gut behandeln. Deshalb genoss ich die Tage abseits von Telefon, Computer, Firma und Familie auch sehr bewusst.

In der Fastengruppe waren etliche Menschen, die erzählten, dass diese Woche der Entschlackung und Entschleunigung eine persönliche Notbremse in ihrem Leben sei. Die Kursleiterin bat uns am ersten Tag in einer stillen Phase aufzuschreiben, was wir gerne loslassen, klären, ändern möchten. Vor allem aber sollten wir eine Frage formulieren, auf die wir am Ende der Fastenwoche eine Antwort für uns finden möchten. Ich überlegte lange. Es gab einige Fragen. Die drängendste für mich war die Frage, ob wir weiterhin zu einhundert Prozent auf die Freiberuflichkeit setzen oder ob wir uns Entlastung vom Erfolgsdruck verschaffen und noch einmal einen halben Schritt zurück in eine Teilzeitanstellung gehen sollten. Eigentlich wollte ich aus vollem Herzen selbstständig sein. Andererseits sah ich den Druck, der daraus entstand, in kürzester Zeit profitabel zu werden. Das Angebot, uns eine Stelle zu teilen und zu fünfzig Prozent als Dozentin an einer Hochschule zu arbeiten, war reizvoll für mich. Aber war es nicht auch ein Schritt zurück und brauchten wir nur etwas mehr Mut, um auf ganz eigenen beruflichen Füßen zu stehen?

Olaf und ich hatten schon viel darüber diskutiert. Eine Lösung gab es nicht. Aber es gab noch einen Aspekt, der mich besonders be­schäftigte. Wie wirkt sich das Gefühl des finanziellen »Seiltanzes«, den Selbstständige zumindest in der Anfangsphase bewältigen müssen, auf unsere jüngste Tochter aus? Sie brauchte nach unserer Rückkehr aus dem Sabbatjahr in Kanada hier in Deutschland neue Sicherheit, Geborgenheit und vor allem entspannte Eltern. Was war für uns dran, Sicherheit für das Kind oder die Bereitschaft zum Risiko und zur Selbstständigkeit?

Ich beschloss, diese Frage und die Suche nach einer Entscheidung mit in die Fastenwoche zu nehmen. Wir waren viel im Freien unterwegs, erhielten gute Unterstützung in allen Fragen des Fastens, bekamen neue Impulse für den wachen Geist und ich genoss den Rhythmus des Klosters. Eine Antwort auf meine Frage stellte sich jedoch nicht ein, so sehr ich auch darüber nachdachte. Schließlich, am vorletzten Tag, hatten wir den Nachmittag zur freien Verfügung. Mich zog es zu einem angelegten Labyrinth im weitläufigen Gelände des Klosters. In der Mitte des verschlungenen Weges stand ein wunderschöner, knorriger Olivenbaum. Niemand war zu sehen. Ich hatte den blauen Frühlingshimmel und den schmalen Pfad des Labyrinthes ganz für mich allein.

Es war, als wäre alles für mich vorbereitet und würde darauf warten, dass ich den ersten Schritt tat. Ich empfand eine tiefe innere Ruhe, legte meine Jacke ins Gras und beschloss, vor dem Begehen des Labyrinthes die Stille zu genießen. Eine große Gelassenheit breitete sich in mir aus, nachdem ich eine Weile so gesessen hatte. Innerlich stellte ich meine Frage und verdrängte den Gedanken: »Was mache ich hier eigentlich? Wie soll ich hier eine Antwort bekommen?« Dann gab es nur noch den Weg und mich. Ganz entspannt, andererseits hell­wach begann ich Schritt für Schritt zu gehen. Ein Labyrinth ist kein Irrgarten. Man kann sich nicht verlaufen. Ein Labyrinth lehrt uns, dem Weg zu trauen, Wendungen und Wandlungen des Lebens zu akzeptieren und es führt uns in die Mitte.

Mich führte es an diesem Nachmittag zu der für mich wesentlichen Entscheidung. Als ich nach einiger Zeit des achtsamen Gehens an dem knorrigen Olivenbaum angekommen war, hatte ich das Bedürfnis, die Sonnenstrahlen im Gesicht zu spüren. Ich stand unter dem Baum, hob das Gesicht, fühlte die Wärme und sah plötzlich unmittelbar über mir in den Zweigen ein altes, verwittertes Holzschild. Darauf stand mit groben farbigen Pinselstrichen gemalt: NORA.

»Ja, und?«, fragen Sie sich jetzt sicherlich. Für mich war das keine Frage. Nora ist der Name meiner Tochter, die, um deren Zukunft ich mir Gedanken machte. Ich wusste sofort, was das für uns bedeutete. Es gibt Zeichen, die kann nur der lesen, der danach sucht. Für mich war klar, dass das Kind mit seinen Bedürfnissen nach einem guten Zuhause und Geborgenheit in der Familie jetzt sichtbar in der Mitte aller Überlegungen steht. Es geht nicht mehr um Selbstverwirklichung, um die berufliche Selbstständigkeit. Jetzt jedenfalls nicht. Die Erkenntnis war in meinem Herzen angekommen und half mir, eine gute Entscheidung zu treffen, auch wenn ich niemals verstanden habe, wie dieses Schild mit dem seltenen Namen gerade an diesem Tag dort im Baum hängen konnte. Es bleibt ein wunderbares Zeichen für mich, unabhängig davon, dass man leicht erklärbare Hintergründe dafür finden kann.

Die Natur, das Fasten, die innere Bereitschaft, mir Zeichen auf dem Weg zeigen zu lassen, sie haben mich damals herausgeführt aus der inneren Entscheidungsnot. Auch Olaf kennt solche Erfahrungen und Sie möglicherweise ebenfalls. Deshalb ist es uns ein Anliegen, die spirituelle Kraftquelle Natur in diesem Buch zu beschreiben. Wer festgefahren, erschöpft oder sorgend ist, der will einfach nur raus. Die Natur bietet uns dazu einen Raum, in dem wir neue Kraft schöpfen können.

Das erschöpfte Ich

Als sich Henry David Thoreau am 4. Juli 1845 in ein selbst gebautes, schlichtes Blockhaus am Walden-See südlich des Städtchens Concorde in Massachusetts zurückzog, war es für ihn der Inbegriff von Freiheit. Es war darüber hinaus aber auch ein Experiment.

Thoreau, der um den Tod seines jüngeren Bruders trauert, hat mit dessen Krankheit auch die gemeinsam geführte private Schule aufgegeben. Erschöpft sucht er nach Halt und neuem Sinn in seinem Leben. Thoreau will seine Lebensfreude zurückgewinnen und er will herausfinden, ob das selbstgewählte, einfache, ursprüngliche Leben in unmittelbarer Nähe zur Natur ihm dabei hilft.

Sieben Jahre zuvor gründeten die Brüder gemeinsam eine private Schule, nachdem Thoreau seine erste Stelle verloren hatte, weil er sich weigerte, die damals übliche Prügelstrafe einzusetzen. Thoreau ist Idealist und Philosoph, ist naturverbunden und möchte Kinder auf dem Weg begleiten, selbstverantwortlich zu leben. Also stricken die beiden Brüder ihren eigenen Bildungsplan. Sie halten den Bezug zur Natur für existenziell. Folglich gibt es an ihrer Schule der Überlieferung nach das Fach »Spaziergänge durch die Natur«.

Als John 1841 an Tuberkulose stirbt, verliert Thoreau nicht nur einen geliebten Menschen, sondern auch seine Lebensfreude. Er ist seelisch erschöpft, sucht nach einem Platz, an dem er einfach bleiben und sich selbst wiederfinden kann. Sein Freund, der Schriftsteller und Philosoph Ralph Waldo Emerson, bietet ihm ein Grundstück am nahegelegenen Walden-See als Zufluchtsort an. Dort kann Thoreau die Blockhütte errichten, einen Acker anlegen und dem Wunsch nachkommen, sich auf einfachste Weise zu ernähren und zu leben. Thoreau selbst beschreibt seine tiefe Sehnsucht so: »Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben, intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten, was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde gewahr würde, dass ich gar nicht gelebt hatte.« Wird er sich dort in einfachster Lebensweise, ausgestattet mit dem Nötigsten von der Natur und seiner Hände Arbeit ernähren können?

Zwei Jahre bleibt Thoreau am Walden-See. Er lebt zwar zurückgezogen und für sich, aber nicht isoliert von anderen Menschen. In den Wäldern entwickelt er viele schöpferische Ideen, philosophiert über das Leben, taucht ein in die Natur und schreibt das Buch »Walden«. Es ist sein bekanntestes Werk und inspiriert bis heute viele Menschen, sich die Frage zu stellen, ob sie das Leben leben, das sie sich zu leben wünschen.

Thoreaus Zitate treffen vor allem dort auf offene Ohren, wo Menschen den Kreislauf ihres Tuns als fremdbestimmt oder erschöpfend empfinden. »Warum müssen wir uns wahnsinnig beeilen, Erfolge zu erringen, und wozu stürzen wir uns in solch verzweifelte Unternehmungen? Wenn jemand mit seinen Gefährten nicht Schritt hält, so tut er es vielleicht deshalb nicht, weil er einen andern Trommler hört.« Mit diesen Überlegungen von Thoreau ermutigt Mr. Keating, der charismatische Lehrer im »Club der toten Dichter«, seine Schüler, dem eigenen »Trommler« zu folgen. Auf den eigenen Rhythmus, das Wissen um den eigenen Lebensweg kommt es an. Doch das kostet Kraft und viel Selbstbewusstheit. Der Sog der Masse, das Vergleichen mit anderen und die Erwartungen von außen sind starke Kräfte, die dem entgegenstehen.

Viele Menschen würden sehr gern ihrer ureigensten Stimme wieder mehr folgen. Es wäre, um mit Worten des Benediktiners und geistlichen Beraters Pater Anselm Grün zu sprechen, eine klare Quelle, die der Seele Kraft gibt. Genau diese haben wir dringend nötig.

Kennen Sie auch dieses Gefühl, dass die Kräfte schleichend weniger werden? Wie Wasser in einem Teich, das verdunstet oder im Erdreich versickert, gehen Lebenslust, Kreativität, Zuversicht und Engagement bei Menschen verloren, die unter dem Druck der Fremdbestimmung, zu hohen eigenen Ansprüchen, stetiger Konkurrenz, immer neuen Vorgaben oder ungeklärten Strukturen leiden.

Woran liegt es, dass die Burnout-Debatte seit Jahren anhält, dass der Anteil der Menschen, die aufgrund psychischer Krankheiten in den frühzeitigen Ruhestand gehen müssen, stetig gestiegen ist? Ist es die Verdichtung der Arbeit? Ist es die Beschleunigung und Digitalisierung, die wohl jeder von uns bemerken kann? Ist es der wirtschaftliche Druck von Wettbewerb, Tempo und Weiterentwicklung, der die Menschen chronisch schwächt? Ja und nein! Der Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz aus dem Jahr 2013 belegt, dass jeder zweite Beschäftigte unter Vergleichzeitigung (Multitasking), Termin- oder Leistungsdruck oder permanenten Störungen während seiner Arbeit leidet.

Alle diese Faktoren sind dazu geeignet, Stress zu erzeugen. Allerdings werden nicht alle Menschen davon krank. Nicht alle fühlen sich getrieben, überfordert und belastet. Die Frage ist, wann ein Zustand zur Belastung wird. Es spielt eine Rolle, wie oft und wie lange ein Mensch diesem Stress ausgesetzt ist. Hat er Möglichkeiten, die Situation zu verstehen, zu gestalten und künftig zu verbessern? Tatsächlich gibt es Faktoren, die wir selbst beeinflussen können, um stabil und handlungsfähig zu bleiben. Wie können wir diese in unserem Leben fördern? Gibt es Menschen, von denen wir lernen können, schwierige Lebensumstände zu bewältigen? Lässt sich aus Thoreaus Experiment schließen, dass das genügsame Leben und der regelmäßige Kontakt zur Natur eine Ressource ist, die jedem Menschen zu neuer Energie und Schaffensfreude verhilft?

Quellen der Kraft

Pater Anselm Grün beschreibt zwei Beobachtungen aus seiner seelsorgerisch begleitenden Arbeit mit Führungskräften. »Erschöp­fung hat immer zwei Ursachen: Man hat entweder das eigene Maß überschritten oder aus einer trüben Quelle geschöpft.«23 Wer das Maß überschreitet, der wird maßlos. Maßlosigkeit bedeutet, dass jemand mit seinen eigenen Grenzen nicht angemessen umgehen kann. Entweder übergeht er Signale, die ihm der Körper sendet, oder er überschätzt sich und sein Können. Das führt zu hohem Druck, denn er wird den Ansprüchen, die er selbst an sich hat, nicht gerecht. Auch wer sein Engagement häufig mit dem Wunsch nach Anerkennung verbindet, der wird immer wieder das eigene Maß überschreiten.

Coaches und Therapeuten beobachten den Zusammenhang: Wer viel gibt, der braucht viel. In sozialen Berufen spricht man vom »Helfersyndrom«. Wer anderen in einem ungesunden, sich selbst verströmenden Maß gibt, der hat meist selbst ein großes Bedürfnis, das er damit zu stillen versucht. Dies kann die Sehnsucht nach Sichtbarkeit, nach Bedeutsamkeit, der Wunsch gebraucht und geliebt zu werden sein. Wenn dieser, oft unbe­wusst angestrebte Austausch von Leistung und Gegen­leistung nicht funktioniert, weil beispielsweise die Arbeit unbeachtet bleibt oder zu wenig wertge­schätzt wird, dann ist die darauf folgende Enttäuschung und der Verlust der Motivation umso größer. Die Person hat das gute Maß für sich selbst längst verloren, hat maßlos gearbeitet, sich engagiert und fühlt sich nun ausgenutzt, ja ausgebrannt.

Maßlos ist jemand, der pausenlos arbeitet, immer mehrere Projekte und Aufgaben gleichzeitig annimmt, für jeden zu jeder Zeit ansprechbar ist und sich keine privaten Rückzugsräume gönnt. Thomas Bergner, Arzt, Coach und Autor zu Themen des Burnout, schreibt folgerichtig: »Selbst wenn die Berufstätigkeit entscheidend zum Burnout beigetragen hat, haben Heilung und Prävention für den Einzelnen mit dem Beruf wenig zu tun.«24 Wer maßvoll umgehen möchte mit seinen Kräften, Zeitressourcen oder finanziellen Möglichkeiten, muss lernen, trübe Quellen zu meiden, den Botschaften seines Körpers zu trauen und einem inneren Kompass zu folgen. Was genau versteht der Theologe und Betriebswirt Pater Anselm Grün als trübe Quelle? Immerhin zeichnet sich ja eine Quelle normalerweise durch klares, genießbares und frisches Wasser aus.

Eine trübe Quelle weist auf etwas hin, was dem Leben nicht dienlich ist. Wenn jemand perfektionistisch ist, sich beweisen muss oder alles kontrolliert und nach Anerkennung giert, dann schöpft er aus diesen »trüben Quellen«. Auch mangelnde Selbstsicherheit ist tückisch, denn wer sich seiner selbst nicht sicher ist, der sucht beständig nach Bestätigung bei anderen. Wer sich zu häufig mit anderen vergleicht, wird sich über- oder unterschätzen. Auf jeden Fall fehlt dadurch die Kraft, die für ein fröhliches Leben und selbstbewusstes Arbeiten erforderlich ist.

Doch das ist einfach gesagt, wie oft ertappt man sich selbst dabei, etwas oder jemanden zu bewerten. Psychologen können gut erklären, wieso das passiert. Es verschafft uns Selbstbestätigung und führt dazu, sich selbst besser zu fühlen. Wir meinen, etwas ist gut, weil ich es so sehe, oder es ist schlecht, weil es meinem Maßstab oder meinen Erfahrungen nicht entspricht. Dies bietet eine scheinbare Sicherheit, denn es befriedigt das Denkmuster »Ich habe Recht«. Dabei haben Bewertungen einen großen Nachteil. Sie verhindern es, im Augenblick, im Jetzt zu sein. Das liegt daran, dass wir uns für den Vergleich, den wir zur Bewertung heranziehen, immer vergangener Erfahrungen bedienen. Somit lassen wir vorerst jedenfalls nichts Neues zu. Dabei können die gleichen Beobachtungen zu ganz verschiedenen Aussagen führen. Machen Sie doch einen kleinen Selbsttest. Welches Wort kombinieren Sie auf Anhieb aus diesen fünf Buchstaben: B E L N E?

Nebel oder Leben? Beides ist richtig oder beides ist falsch, je nachdem, wie man es sieht. Wer offen in seiner Wahrnehmung bleibt, dem öffnen sich mehr Denk- oder Handlungsmöglichkeiten. Wir müssen das Bewerten unbedingt aufgeben oder zumindest einschränken, wollen wir diese trübe Quelle meiden. Thomas Bergner empfiehlt dazu die »Ein-Schritt-Methode«: Hör auf damit!

Die trübe Quelle des Perfektionismus ist ebenfalls vielen Menschen wohlvertraut. Wer alles zu einhundert Prozent erledigen möchte oder erst zufrieden ist, wenn eine Sache perfekt funktioniert, braucht vermutlich Sicherheit. Er möchte, dass es auf den Punkt klappt, dass man nichts daran kritisieren kann oder er selbst unangreifbar ist. Tückisch, dieser Wunsch! Denn die meisten Dinge lassen sich nicht zu einhundert Prozent so umsetzen, wie man es gerne hätte. Welche Beziehung ist immer konfliktfrei? Welches Auto fährt absolut zuverlässig? Welche Präsentation mit dem Computer klappt auf die Sekunde und in der Form, wie wir uns das ausgemalt haben? Gibt es die perfekte Hochzeit, die perfekten Kinder, die perfekten Vorgesetzten oder den perfekten Urlaub?

Schon im zweiten Kapitel haben Sie von der 80/20-Regel des Italieners Pareto gelesen. Hier müssen wir diese unbedingt noch einmal ins Bewusstsein rufen. Die Regel besagt, dass, wenn wir circa 80 Prozent des Erreichbaren geschafft haben und weiter nach den perfekten 100 Prozent streben, dann kippt das Verhältnis Aufwand zu Ergebnis ganz dramatisch. Für die noch ausstehenden 20 Prozent werden 80 Prozent der Energie benötigt. Thomas Bergner schreibt von einer Versechzehnfachung der notwendigen Energie pro Ergebniseinheit.25 Das muss man sich mal vorstellen: sechzehn Mal so viel Energie. Wollen wir das tatsächlich in jedem Fall anstreben? Wäre es nicht wichtig, zu unterscheiden zwischen Aufgaben, die nahezu 100 Prozent erforderlich machen, und Dingen, für die gilt: Gut ist gut genug? Ein Problem von Perfektionisten ist, dass sie erreichbare Ziele von unerreichbaren nicht klar unterscheiden können. Dadurch kommt ein perfektionistisch handelnder Mensch nie zum Ende. Er hat pausenlos zu tun und bringt dabei nicht annähernd so viel Ergebnisse, wie jemand, der die Aufgabe entspannter angeht. Wer immer den Anspruch hat, dass er etwas zu 100 Prozent richtig machen möchte, sucht in der Regel lange nach Argumenten und Informationen für eine Entscheidung.

Die Folge sind lähmende Prozesse, weil eben keine Entscheidung getroffen wird. Ja, es ist riskant, eine unpopuläre Entscheidung zu­ treffen­, denn man macht sich angreifbar. Wer sich für etwas entscheidet, der entscheidet sich gleichzeitig immer gegen etwas. Doch wir verlieren enorm viel Energie, wenn das Grübeln über die Entscheidung zu viel Raum bekommt. Aus diesem perfektionistischen Teufelskreis kommt man nur heraus, wenn man sich bewusst macht, dass sich nicht alles kontrollieren oder machen lässt.

Sie ahnen es, genau hier kommt die Natur ins Spiel. Wie wir aus den zahlreichen Studien der Natursoziologie und Umweltpsychologie wissen, ist das Nicht-Werten eine starke Wahrnehmung, die Menschen in der Natur sofort spüren.

Natur lässt die Vielfalt zu, ja sie produziert und braucht die Diversität, um schön zu sein. Folglich hat das Bewerten hier wenig Sinn. Natur bietet einen Raum zum Sein. Deshalb fühlen sich Menschen in der Natur angenommen, so wie sie sind. Sie dürfen einfach sie selbst sein.

Darüber hinaus ist die Schönheit der Natur nicht perfekt, sondern maximal harmonisch. Von dieser Harmonie, von der Ausgewogenheit und Bezogenheit aufeinander, von der Struktur profitieren wir sogar unbewusst, sobald wir uns einfach rausbegeben. Auf den Punkt gebracht: »In der Natur finden wir unsere menschliche Natur wieder.«26

So sein, wie ich bin, und mich erst einmal selbst annehmen, ist eine Erfahrung, die sich wesentlich leichter in der Natur als in der Einkaufszone einer Stadt oder in der Gegenwart vieler Menschen machen lässt. Die vielen medialen Reize verführen uns ja geradezu zum Vergleichen, zur Optimierung und führen weg von der inneren Seelenruhe. Dagegen sind die Meeresbrandung, das wogende Kornfeld, die Wiese voller Sonnenblumen oder der blühende Baum im Frühjahr von Harmonie geprägt, die der inneren Ordnung und damit der menschlichen Psyche guttun.

Wir brauchen Kraftquellen, die klar sind und frisches Wasser zum Leben bieten, um im Bild der Quelle zu bleiben. Drei wirksame Quellen möchten wir Ihnen vorstellen, damit sie leichter rausfinden aus Phasen der Erschöpfung oder Kraftlosigkeit.

Kraftquelle Stärke

Über innere Stärke kann man viel lernen, wenn man mit Menschen spricht, die Krisen erlebt haben und daran nicht verzweifelt sind. Sie können uns ermutigen und zeigen, dass es sich lohnt, zu vertrauen, zu suchen und nicht aufzugeben. Wir haben in Kanada einen wunderbaren Mann kennengelernt. Danny, ehemals ein bekannter Rodeoreiter, saß nach einem schweren Sturz vom Pferd im Rollstuhl. Tatsächlich aber, so jedenfalls empfanden wir es, stand er mitten im Leben, denn Danny besann sich auf das, was er außer reiten noch konnte. Er versank nicht im Selbstmitleid, obwohl er objektiv betrachtet allen Grund dazu hatte. Danny lernte das Pokern, gewann Turniere und konnte damit Helfer bezahlen, die ihm seine Ranch führten. Das ist Stärke. Sie hängt mit Hoffnung, Zuversicht und einer realistischen Selbstwahrnehmung zusammen.

Viele Menschen sind sehr zögerlich, wenn wir sie in Seminaren darum bitten, einige ihrer Stärken zu benennen. »Eigenlob stinkt« ist ein tief verinnerlichter Glaubenssatz. Doch wie wollen Sie Ihre Ressourcen nutzen, wenn Sie diese nicht beim Namen nennen? Es geht ja nicht darum, mit den eigenen Stärken zu protzen, sondern diese zu kennen, um sie gezielt mehr ins Spiel zu bringen.

Neulich fragte ich eine Zahnarzthelferin, ob sie ihre Arbeit gern mache. Also, helle Begeisterung sieht anders aus. Doch als ich weiter fragte, ob es etwas in ihrem Arbeitsfeld gibt, was ihr besonders liege und Freude mache, da leuchteten ihre Augen plötzlich auf. Sie erzählte von den kleinen Patienten und dass es ihr gelinge, diesen die Angst vor dem Zahnarztbesuch zu nehmen. Es ist für sie ein richtiges Erfolgserlebnis, wenn so ein Kind beim zweiten Besuch selbstständig auf den Patientenstuhl steigt, weil es Vertrauen gewonnen hat. Diese Frau hat ein unglaubliches Händchen für Kinder. Sie sieht deren Ängste und kann in einer Art mit ihnen umgehen, die pädagogisch und mütterlich zugleich ist. Das ist eine wunderbare Stärke dieser Frau. Wenn sie nun ihre Stärke kennt und diese auch sichtbar macht, dann wird sie vielleicht zur »Kinderspezialistin« in der Praxis und kann damit dem ganzen Team und den Patienten nützlich sein. Welch ein Gewinn für alle Beteiligten! Es lohnt sich also, seine Stärken zu erforschen. Fragen Sie sich immer wieder, worin Sie richtig gut sind, was Ihnen Freude bereitet oder was Ihnen besonders gelingt. So werden Sie Ihre ganz eigene Kraftquelle der Stärke finden.

Kraftquelle Werte

Eine zentrale Grundlage für ein Leben ohne Burnout ist die Integrität oder Glaubwürdigkeit einer Person. Damit ist die Übereinstimmung von Werten und Taten gemeint. Wem es gelingt, das zu leben, woran er glaubt, und das zu tun, wovon er spricht, der wird glaubwürdig. Werte sind eine Form von Leitbildern für unser Handeln. Wenn Sie sich etwas zutiefst wünschen, dann ist dies in der Regel eng verbunden mit einem Wert, den Sie stark verinnerlicht haben.

Fragen Sie sich einmal, was Sie schmerzlich vermissen würden, wenn es das in Ihrem Leben nicht mehr geben würde. Ist es Ihre Gesundheit, sind es die Freunde, die Familie, ist es der Status, das Vermögen, die Freiheit, reisen zu können, oder das gute Essen? So unterschiedlich, wie wir Menschen sind, so verschieden sind auch unsere Werte. Also lassen Sie sich nicht von außen vorschreiben, was Ihnen wertvoll sein sollte. Sonst leben Sie garantiert an Ihren inneren, wirklichen Werten vorbei. In der Antike gab es klassische Werte wie Maß halten, Klugheit, Tapferkeit oder Gerechtigkeit – auch im Sinne von sich selbst gerecht werden. Werte verändern sich mit der Zeit. Auch individuelle Werte sind ständig im Wandel. Das merken Sie, wenn Sie sich bewusst machen, was Ihnen vor zehn oder 20 Jahren wesentlich erschien. Die Veränderbarkeit ist eines der Merkmale von Werten. Sie sind flexibel. Sie sind aber auch realistisch, weil wir sie umsetzen und leben wollen. Werte sind wichtiger als der Gewinn für unser Handeln. So kann es passieren, dass jemand, dem Ehrlichkeit oder Nachhaltigkeit ein Wert ist, kurzfristige Nachteile in Kauf nimmt, solange er seinem Werteanspruch gerecht werden kann. Auf lange Sicht wird er damit immer profitieren, denn er gewinnt die oben beschriebene Glaubwürdigkeit für sich selbst und in den Augen anderer. Bergners Zitat vom Anfang umgedreht bedeutet, wer seine Werte kennt und danach lebt, der kann sich selbst vertrauen und ermöglicht anderen Menschen, dass sie ihm trauen können.

Kraftquelle Sinn

Sinn entsteht, wenn ein Mensch etwas Wertvolles in die Welt hineingibt und sie damit zum Besseren verändert oder wendet. Sinn ist die Gewissheit, etwas Eigenes zum großen Ganzen beizutragen. Sinnvoll handeln ist eine Quelle von Selbstwirksamkeit und Medizin gegen jede Art von Depression oder Erschöpfung. Das Zerstörerische in einer bedrohlichen Situation ist der Glaube, diesem Schicksal hoffnungslos ausgeliefert zu sein. Viktor Frankl, der uns als Neurologe, aber vor allem aufgrund seiner Lebensgeschichte beeindruckt, hat als Einziger seiner Familie das Konzentrationslager überlebt. Frankl sagt im Rückblick: Man kann einem Menschen alles nehmen, nicht aber die Freiheit, sich so oder so dazu zu verhalten. Ob ein Mensch an einem Umstand verzweifelt, entscheidet also nicht der Umstand, sondern die persönliche Haltung zu diesem.

Sich selbst in schwierigen beruflichen Situationen oder in persönlichen Krisen zu fragen, inwiefern mir das, was ich gerade erlebe, eine Hilfe, eine Lehre, eine Entwicklung sein kann, hilft, eine hoffende Haltung zu bewahren. Wer für sich die Sinn-Frage beantworten kann, der ist in der Lage, Krisen zu bestehen und auch wieder neue Lebensfreude zu finden. Der findet tatsächlich einfacher raus aus der Hoffnungs- und Sinnlosigkeit.

Eine Begebenheit, die Frankl selbst erzählte,27 verdeutlicht das sehr gut. Ein alter Arztkollege suchte Viktor Frankl auf, weil er verzweifelt über den Tod seiner Frau war. Er wusste, dass Frankl sein Leid nicht verändern konnte, doch er erhoffte sich einen Lichtblick in seiner unendlichen Trauer. Frankl fragte den Kollegen: »Was wäre passiert, wenn nicht Ihre Frau, sondern Sie zuerst gestorben wären?« Der alte Herr dachte darüber nach und erkannte, dass es für seine Frau viel schlimmer gewesen wäre, allein weiterleben zu müssen. Dieser Perspektivwechsel brachte Bewegung in seine Gedanken und schenkte ihm einen Funken von Sinn in seiner seelischen Not, sodass er gestärkt aufbrechen konnte.

Ob ein Mensch seine individuellen Stärken nutzt, seine Werte kennt oder immer wieder nach dem Sinn seines Tuns fragt, bei all diesen Quellen geht es letztlich darum, sich innere Kraftreserven anzulegen, um seelisch widerstandsfähig zu bleiben in Zeiten von Krise oder Krankheit.

Resilienz – Kraft von innen

Wie wird die Seele widerstandsfähig? Kann es trotz schwieriger Lebensumstände gelingen, eine stabile Persönlichkeit zu entwickeln und ein gutes Leben zu führen? Resilienz stammt von lateinisch resilere (abprallen) oder englisch resilience (Spannkraft, Elastizität). Die Erforschung der menschlichen Resilienz ist eine recht junge Dis­ziplin. Begonnen hat sie vor 60 Jahren mit der »Kauai-Studie« der Ent­wicklungspsychologin Emmy E. Werner. Kauai, einer der Inseln von Hawaii, eignete sich perfekt für eine Längsschnittstudie, da die dortigen Insulaner kaum umziehen. Knapp 700 Kinder wurden über 40 Jahre hinweg von dem Forscherteam um Emmy E. Werner wissenschaftlich untersucht, interviewt und getestet. 200 dieser Kinder stammten aus sozial schwachen Familien, die geprägt waren von Armut, Kriminalität, Gewalt und Suchtverhalten der Eltern. Wie erwartet, entwickelten sich viele dieser Kinder problematisch und setzten die Probleme ihrer Herkunftsfamilien fort. Doch zum Erstaunen der Forscher entwickelte sich ein Drittel der Kinder prächtig. Sie wuchsen zu lebenstüchtigen Erwachsenen heran, hatten stabile Beziehungen und beruflichen Erfolg, obwohl sie denkbar schlechte soziale oder wirtschaftliche Ausgangsbedingungen hatten. Daraus schlussfolgerten die Wissenschaftler, dass es seelische Schutzfaktoren geben müsse. Man nannte sie Resilienzfaktoren.

Diese Faktoren tragen offensichtlich dazu bei, dass sich Menschen unter schwierigen Umständen so entwickeln, als ob sie eine Art Schutzschirm der Seele hätten. Könnte man diesen Schutzschirm auch anderen Menschen zugänglich machen, wäre viel gewonnen. Das ist das Anliegen der Erforschung der Resilienz.

Wie gelingt es Menschen, in der Krise die Herausforderung zu sehen, eigene Ressourcen zu nutzen und sich nicht aufzugeben? Unterschieden werden äußere Resilienzfaktoren wie eine stabile, vertrauensvolle Beziehung zu mindestens einer Person, positive Vorbilder, eine unterstützende Familie oder Freundschaften, aber auch eine gute Arbeitskultur der Wertschätzung und Unterstützung in Firmen. Darüber hinaus sind natürlich innere persönliche Haltungen wichtig. Resiliente Menschen glauben, dass sie an ihrer Situation etwas ändern können. Wir nennen das die Erwartung von Selbstwirksamkeit. Sie können eigene Stärken oder Schwächen realistisch einschätzen und akzeptieren, dass es im Leben Hindernisse gibt. Sie versuchen, eine Lösung zu finden, und stecken nicht gleich den Kopf in den Sand.

Sieben Resilienzschlüssel werden in der gängigen Literatur benannt, nämlich Akzeptanz, Optimismus, Selbstwirksamkeit, Verantwortung, soziale Kontaktfähigkeit, Lösungsorientierung und Zukunftsorientierung.

Wir haben einige dieser Faktoren ganz bewusst auf ihren Bezug zur Natur hin befragt. Können wir ähnlich wie Thoreau in seinem Walden-Experiment seelische Kräfte ganz gezielt durch die Begegnung mit der Natur aufbauen? Was kann uns die Natur in kleinen Häppchen direkt vor der Haustür bieten, um der Erschöpfung wirksam zu begegnen?

Grüne Resilienz – wie Natur die Seele stärkt

Eine Weisheitsgeschichte aus der Natur macht deutlich, was Resilienz bedeutet:

In einer Oase mitten in der Wüste wuchs eine kleine Palme. Eines Tages kam ein Beduine missmutig gelaunt und vom Leben enttäuscht durch die Oase gelaufen. Er konnte es nicht aushalten, dass der junge Baum sich kerzengerade dem Himmel entgegenreckte. Gehässig nahm er einen schweren Steinbrocken und legte ihn der kleinen Palme mitten in die Blattkrone. »Soll sie mal sehen, wie es ist, mit schweren Dingen klarzukommen«, murmelte er und zog davon. Der junge Baum stöhnte unter der Last. Er glaubte, zerbrechen zu müssen. Er bog sich im Wind und suchte den Stein abzuwerfen. Doch alles Mühen war vergebens. Da krallte der Palmbaum die Wurzeln tief in den Boden, um seinen Halt zu bewahren. Zu seiner großen Überraschung stießen die Wurzeln in der Tiefe auf eine Wasserader. Das Wasser speiste den Baum. Sonne und Wind liebkosten seine Palmwedel. Da stemmte sich die Palme mit ihren Wurzeln gegen die Last und wuchs besonders aufrecht, mit einem starken Stamm empor. Der Stein lag weiter in ihrer Krone, doch er hatte sie nicht brechen können.

Aus den Zeichen der Natur, aus der Symbolkraft von Steinen, Planzen, Tieren lässt sich lernen – egal ob in der Wüste oder im Wald. Wer durch den europäischen Wald streift, der kann Bäume sehen, die einen eigenartigen Wuchs haben. Manche haben einen verletzten Stamm und behalten diese Wunde ihr Leben lang. Andere schließen Gegenstände in ihre Borke ein, die nicht dorthin gehören. Wieder andere sind ganz schief, doch sie fallen nicht um, sondern haben sich dem Wind angepasst, der regelmäßig an ihnen rüttelt. Solche Bäume kann man in den Kammlagen der Gebirge oder auch direkt am Meer sehen. Sie sind wunderbare Zeichen für die Kraft des Lebens und man kann sich vorstellen, dass auch wir Menschen eine Kraft besitzen, die uns hilft, uns zu verankern und mit »Gegenwind« umzugehen. Aus solchen Beobachtungen in der Natur speisen sich viele Weisheits- oder Meditationstexte. Der Theologe Pierre Stutz beschreibt einen spirituellen Menschen als einen, der täglich einübt, wahrzunehmen, und sagt: »Die Wahrnehmung ist eine Grundhaltung, die mich auf die göttliche Spur in meinem Leben führt.«28 Aus genau dieser achtsamen Wahrnehmung heraus schreibt Detlev Wendler Texte, die resilienzfördernd sind und helfen, heilsame Kräfte zu entdecken.

Weil ich dir vertraue, du Urquell des Lebens,

vertraue ich mir selbst.

Ich vertraue darauf, dass ich heute am richtigen Ort bin.

Ich vertraue darauf, dass ich immer mehrere Möglichkeiten habe.

Ich vertraue darauf, dass zur rechten Zeit die richtige Lösung sich findet.

Ich vertraue darauf, dass ich von Liebe umgeben bin und getragen werde.

Auch wenn es manchmal anders aussieht.

Ich vertraue darauf, dass ich Rückschläge aushalten kann.

Ich vertraue darauf, dass mir nicht mehr auferlegt wird, als ich tragen kann.

Ich bin ein Kind des Lebens, meine Seele ist fest gegründet in dir, Urquell des Lebens.29

Wer die Erschöpfungs- oder Frustfallen in seinem Alltag verlassen möchte, dem empfehlen wir, sich bewusst immer wieder einmal für eine halbe Stunde auf einen Spaziergang zu begeben. Setzen Sie sich an einen Bach oder See und lassen Sie einen Text wie diesen auf sich wirken.

Warum sollten Sie so etwas tun? Viele Psychologen, Philosophen und Seelsorger würden der Journalistin und Wissenschaftlerin Christina Berndt zustimmen, die in ihrem viel beachteten Fachbuch »Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft« ganz nüchtern schreibt: »Werden Sie spirituell!« Es gibt eine Fülle von Studien, die bestätigt, dass der Glaube an die höhere Kraft Gottes und die Überzeugung, zu einem großen Ganzen auf dieser Erde dazuzugehören, Menschen vor allem in Krisen stark macht.

Ein Baum ist mehr als Holz, Zweige oder Blätter für den, der es lernt, aufmerksam oder staunend zu beobachten. Es liegt eine heilende Kraft in der Harmonie, Schönheit, Wildheit, aber auch in der Unbeugsamkeit und Ver­änderung der Natur. Wir können uns dies bewusst machen und Parallelen zwischen dem Leben eines Baumes und dem eines Menschen ziehen.

Dr. Wolfgang Schlund, unser Interviewpartner in Kapitel drei, beschreibt Entwicklungsphasen eines Baumes im Urwald, also im nicht kultivierten, sich selbst überlassenen Wald.30 In der Jugendphase keimen und wachsen die jungen Bäume bis zu einer Höhe von bis zu zehn Metern. Sie stehen dicht beieinander und können 20 bis 30 Jahre warten, bis die Kronenschicht der alten Bäume lichter wird und sie genug Licht für ihr eigenes Wachstum bekommen.

In der anschließenden Optimal- oder Reifephase sind die Bäume vital und voller Abwehrkraft. Sie können Pilzen oder Insektenbefall gut widerstehen. Wir fanden es faszinierend zu lesen, dass diese Reifephase bei Tannen bis zu 500 Jahre dauern kann, in der sie bis zu 50 Meter hoch werden. Stämme können bis zu zwei Meter dick werden. Welch eine Wachstumskraft!

In der Altersphase verlieren die Bäume an Spannkraft. Das Holz wird morscher und erste Vögel und Käfer besiedeln den Stamm. So wird er zum Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Die Altersphase dauert viele Jahre und der Baum wird immer kahler. Äußerlich würden wir ihn als tot bezeichnen, doch selbst wenn er splittert und schließlich fällt, hat er eine wichtige Aufgabe. Sein Holz, die Rinde – alles bietet unzähligen Arten neuen Lebens- und Wachstumsraum. Denn der alte Baum speichert in seinem Holz Wasser und bietet damit einen nährstoffreichen Platz für Moose und kleine Schößlinge.

Es ist faszinierend, sich solche Zeiträume, Entwicklungen und Lebens­zusammenhänge bewusst zu machen. Wer sich in die Natur begibt und dafür sensibel ist, wird erkennen, dass die Natur ein Lebenslernfeld für unsere Seele ist. Diesem setzen sich Menschen in allen Kulturen und in allen Zeiträumen immer wieder bewusst aus. Sie erhoffen sich davon Stärke, Zuversicht, Hoffnung und Sinn. Vielleicht ist genau deshalb das Pilgern in Verbindung mit Spiritualität und Natur wieder so beliebt geworden. Es ergänzt den Wunsch nach Bewegung, Gesundheit und Fitness um die Dimension Selbstbegegnung und Gottesbegegnung. Dies wird deutlich in den sieben Pilgerregeln, die wir bei Peter Müller gefunden haben. Wir sehen darin Empfehlungen, auch jenseits des Pilgerns, die man für ein resilientes Leben nutzen kann.

1. Nimm deine Sehnsucht, aber auch Signale des Körpers und der Seele wahr.

2. Beschränke dich auf das Nötigste.

3. Nimm dir täglich Zeit für dich.

4. Gehe achtsam mit dem um, was dir am Wege begegnet.

5. Habe täglich Zeiten des Alleinseins.

6. Das Mühsame, die Grenzerfahrung hat auch einen Sinn und gehört dazu.

7. Gib Gott eine Chance, dir zu begegnen.

Allein in die Natur zu gehen, gilt als eine der intensivsten Möglichkeiten, die inneren Akkus aufzuladen. Das ist der Grund, weshalb wir von »Grüner Resilienz« sprechen. Zehn Wege zur Resilienz hat die APA, die American Psychological Association als sogenannte »Road to Resilience« veröffentlicht. Alles sind erforschte Möglichkeiten, die eigene seelische Kraft zu mobilisieren, um besser mit persönlichen und beruflichen Herausforderungen und Widrigkeiten umgehen zu können. Wir haben fünf Aspekte ausgewählt und sie mit dem Erfahrungsraum Natur kombiniert. Sie haben mit dieser »Grünen Resilienz« eine Handvoll Ideen, die Sie sofort in Ihrem Alltag umsetzen können, um kraftvoller zu leben.

Ich bin Teil einer Gemeinschaft und traue mich, um Hilfe zu bitten. Beobachten Sie im Herbst oder Frühjahr die Gänse, wenn sie in Gruppen fliegen. Die Formation der Vögel, die an ein gro­­ßes V erinnert, ermöglicht den Tieren einen leichteren Flug. Die Gänse nutzen den Windschatten des Vogels, der vor ihnen fliegt und haben dadurch gemeinsam eine wesentlich höhere Reichweite, als wenn jeder für sich allein fliegen würde. Die Leitgans gibt die Führung ab, sobald sie erschöpft ist, und ordnet sich weiter hinten ein. Es ist berührend zu sehen, dass eine kranke oder verletzte Gans nicht alleine gelassen wird, sobald sie landen muss. Zwei Gänse bleiben bei ihr, bis sie stirbt oder wieder flugfähig ist.

Veränderungen gehören zum Leben dazu. Das will ich akzeptieren. Beobachten Sie eine bestimmte Landschaft, eine bestimmte Pflanze über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder. Nehmen Sie Veränderungen bewusst wahr. Natur ist beständig im Wandel. Von ihr können wir lernen, Veränderungen anzunehmen und die Vorteile in der Veränderung zu sehen. Waldbrände zum Beispiel ziehen wie eine große Feuerwalze über eine Gegend und hinterlassen vorerst eine verwüstete Landschaft. Tiere und Pflanzen verlieren ihren Lebensraum. Und dennoch berichten Biologen und Wildhüter, dass die Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren in den Jahren danach stark zunimmt. Es wächst und siedelt Neues, was man sich vorher nicht vorstellen konnte.

Ich setze mir umsetzbare Ziele und gehe in kleinen Schritten beharrlich darauf zu. Verfolgen Sie den Weg einer Schnecke einmal mit den Augen mit. Sie kommt nur langsam voran, aber sie kriecht Zentimeter für Zentimeter auf ihr Ziel zu. Tastend, langsam, beharrlich. Genauso beharrlich bauen viele Vögel im Frühjahr ein Nest für ihre Jungen. Halm um Halm wird herangetragen, bis irgendwann das kuschelige Nest fertig und bewohnbar ist. Welche Tiere fallen Ihnen in der Umgebung auf, die stetig an einer Sache bleiben, sei es die Futtersuche, der Nestbau, die Fortbewegung? Von ihnen lässt sich lernen, dass es darauf ankommt, aktiv zu werden und für sich zu sorgen.

Ich glaube, dass ich etwas bewirken kann. Jeder Hobby­gärtner macht die Erfahrung, dass seine Arbeit etwas bewirkt, denn er kann das Wachstum in kürzester Zeit sehen, wenn er die Pflanzen richtig pflegt. Die Natur bietet uns vielseitige Möglichkeiten, um wirksam zu werden. Sie können einen Weg vom Unkraut befreien, die Stauden und Bäume ausschneiden, sodass sie neue Triebe bekommen, oder einfach vom Feldspaziergang einige Blumen oder Gräser mitbringen und in einer Vase dekorieren.

Ich stelle mir eine Zukunft vor und kann die Perspektive weiten. Sie kennen sicher den Spruch, der Luther zugeschrieben wird: »Und sollte morgen die Welt untergehen, ich würde heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.« Wer so handelt, der behält auch in schwierigen Situationen die Hoffnung und den Überblick. Angemessen mit Problemen umzugehen, das lässt sich lernen, wenn wir die Perspektive weiten. Wer einen Adlerblick auf sein Leben, auf sein drängendstes Problem wirft, der fragt sich, wie wichtig diese Sache in zwei Monaten oder in fünf Jahren sein wird. Dies relativiert die Angst oder Befürchtung in der momentanen Situation. Also pflanzen Sie bewusst ein Bäumchen. Stellen Sie sich vor, wie sich Ihr Leben verändert, bis der Baum erste Früchte trägt oder erste Blätter hat.

Wer Erschöpfungszustände verhindern oder ihnen zuvorkommen will, der braucht Achtsamkeit für seine Empfindungen und Gedanken. Ganz bei dem zu sein, was im Augenblick passiert, können wir besonders gut in der Natur lernen. Deshalb einfach raus, damit die Seele Freiraum hat, zu gesunden.