Kindliche Entdecker
In unserem Fotoalbum gibt es ein Bild, auf dem sitzen zwei kleine Kinder in knallorangen Schwimmwesten juchzend in einem mit wasserdichten Packsäcken beladenen roten Kanu. Im Hintergrund die blaue Weite eines Sees und kleine Inselgruppen. Das Bild genügt, um in uns die Erinnerung an zahlreiche Sommer in Schweden lebendig werden zu lassen.
Wir waren oft als Kanuwanderer auf den großen und kleinen Seen unterwegs, übernachteten auf grünen Inseln oder in einsamen Sandbuchten am Ufer. Wenn zwei Erwachsene und zwei Kinder mit Zelt, Kocher, Schlafsäcken, Isomatten, etwas Kleidung und einer großen Kiste voller Lebensmittel für zehn Tage auf Tour gehen, dann ist das Kanu schnell voll bis zum Rand. Um Gewicht und Volumen zu begrenzen, durfte jeder nur wenig Kleidung und vor allem wenige Spielsachen oder Bücher mitnehmen. Die Kinder hatten nur einen kleinen Beutel mit einigen Schleich-Tieren und Figuren dabei. Das war nicht gerade viel Spielzeug für lange nordische Sommertage. Doch wir erlebten es jedes Mal fasziniert aufs Neue mit, dass es ausreichte, um in der freien Natur kreative eigene Spielräume zu schaffen. Kaum an einem der Rastplätze angekommen, zogen sich die Kinder mit ihren Figuren zurück und begannen, eine kleine Farm für ihre Tiere aufzubauen. Wurzeln, Stöcke oder große Blätter waren perfektes Baumaterial für Stall und Haus. Oft wurden aus Gräsern Zäune geflochten oder mit Steinen eine Mauer gestaltet. Diese natürlichen Spiellandschaften boten ihnen so viel Gestaltungsraum, dass sie darüber die Zeit völlig vergaßen. Erst wenn das Zelt stand, die Nudeln gekocht waren und der Wind auffrischte, kamen sie wieder in die Nähe des elterlichen Camps. Sie durften sich frei und unbeaufsichtigt in der Umgebung bewegen. Natur ohne Freiheit funktioniert nicht31 – nicht für Eltern und nicht für Kinder. Wir waren uns sicher, sie würden nicht zu weit weg stromern. Lediglich eine Regel gab es: Die Schwimmweste bleibt auch an Land an. Zu rutschig waren die runden Steine am Ufer, als dass man nicht doch mal reinfallen könnte. Wir Eltern brauchten diese Sicherheit, um ihnen den nötigen Freiraum zu geben.
Vom Naturkind zum Stubenkind
Den größten Teil ihrer Entwicklungsgeschichte haben Menschen in der Weite der natürlichen Umgebung verbracht. In Europa gehen wir davon aus, dass umherziehende Gruppen erst vor 4.000 bis 5.000 Jahren sesshaft wurden. Was sich nach einer langen Zeit von Jahren anhört, ist entwicklungsgeschichtlich betrachtet ein Bruchteil. Für Menschen gehörten in der längsten Phase der Geschichte das Leben in der Natur, die Herausforderungen und Erfolge beim Überleben in der Wildnis, die Jagd, die Geborgenheit des Lagers und die Bedeutung des Feuers unmittelbar zu den Grunderfahrungen. Dies ist tief in unseren Genen gespeichert. Darauf beziehen sich Forscher, wenn sie betonen, dass Natur für die menschliche Entwicklung unverzichtbar ist. Natur ist für Kinder »so essentiell wie gute Ernährung«32, sagen der Neurobiologe Hüther und der Kinderarzt und Gesundheitsforscher Renz-Polster. In der Natur, diesem »angestammten Entwicklungsraum«33, stoßen sie auf das, was sie brauchen, um ihr Leben selbstwirksam zu gestalten. Renz-Polster und Hüther nennen Freiheit, Unmittelbarkeit, Widerständigkeit und Bezogenheit/Verbundenheit als existenzielle Erfahrungsquellen für die Entwicklung der Kinder. Oder wie es Wissenschaftsautor Andreas Weber schreibt: »Ohne die Nähe zu Pflanzen und Tieren verkümmert ihre emotionale Bindungsfähigkeit, schwinden Empathie, Fantasie, Kreativität und Lebensfreude.«34
Wer Kinderbücher von Astrid Lindgren oder Mark Twain liest, begegnet einer fast nostalgisch anmutenden Spezies. Er begegnet Kindern, die auf sich gestellt die Umgebung erkunden, die Abenteuer erleben, sich beweisen müssen, die in einer altersgemischten oder sozial gemischten Gruppe von Freunden unterwegs sind, die sich ausprobieren und letztlich daran reifen und innerlich stark werden.
In unserem langjährigen Wohngebiet in einem Stuttgarter Vorort spielten die Kinder vor 20 Jahren noch regelmäßig mit ihren Freunden auf den freien Grünflächen oder im nahen Stadtwald. Wenn ich heute dort zu Besuch bin, fällt mir auf, dass kaum noch Kinder frei spielend außerhalb der Gärten oder der Spielplätze zu sehen sind. Entweder verbieten die besorgten Eltern, dass sich ihre Kinder ohne erwachsene Begleitung in den Park begeben. Oder die Kinder sind nahezu komplett verplant mit ihren Freizeitaktivitäten. Zwischen Klavierstunde und Sportgruppe bleiben nur kleine Zeitfenster, die nicht ausreichen, um irgendwohin zu radeln oder ein längeres Spiel zu entwickeln. Spielen in der Natur braucht seine Zeit. Es muss sich anbahnen und wachsen können.
Die Spielmöglichkeiten mit elektronischen Medien sind damit verglichen niedrigschwelliger, reizvoller und im sicheren häuslichen Umfeld zu haben. »Ich spiele lieber drinnen, weil da die ganzen Steckdosen sind«, ist die oft zitierte Aussage eines Zehnjährigen aus San Diego, die Richard Louv bei der Recherche zu seinem Buch »Das letzte Kind im Wald« zu hören bekam. Wir glauben nicht, dass dies nur eine typisch amerikanische Aussage ist.
Es ist offensichtlich, dass sich der Radius und der Ort des Spielens für Kinder verändert hat. Wenn Olaf erzählt, dass er in seiner Kindheit im Alter von acht, neun Jahren das Dorf verließ, im Steinbruch im Wald das Klettern übte, Kuhweiden überquerte oder in alte Ställe stieg, dann klingt das für heutige Eltern schon nahezu unverantwortlich. Heute spielen Kinder weitaus seltener und wenn, dann deutlich kürzer draußen. Sie haben dabei weniger Spielgefährten und es ist unüblicher geworden, dass sich altersverschiedene Gruppen zusammentun. Ich selbst bin in einem großen städtischen Wohngebiet aufgewachsen. Die Kinderbande, die sich nachmittags zum Spielen auf der Wiese vor dem Häuserblock traf, bestand selten aus Gleichaltrigen und genau das machte es so interessant. Allerdings fehlte mir in der Stadt dieser natürliche Freiraum, von dem Olaf erzählt. Bei uns gab es den Wald erst in einiger Entfernung und ich kann mich kaum an unbeaufsichtigte Spielausflüge dorthin erinnern. Ein Sommer allerdings ist mir noch ganz präsent. Mit einer Freundin fuhr ich, vielleicht elf- oder zwölfjährig, mit dem Rad und einem Picknickkorb mehrfach hinaus in den Wald. Den ganzen Nachmittag bauten wir uns eine Hütte aus Zweigen im Unterholz. Dort hatten wir genüsslich unsere Brotzeit und konnten uns kaum von diesem zauberhaften Paradies verabschieden. Doch 18 Uhr sollten wir daheim sein – beim Glockenläuten. Das war ein Gesetz, wollten wir uns die elterliche Freiheit nicht verspielen. Noch heute, 40 Jahre später, finde ich diese Stelle im Wald, auch wenn von unserer Baumhütte natürlich keine Spur mehr zu sehen ist. Daran zeigt sich, wie eindrücklich das freie, unstrukturierte, entdeckende Spielen in der Natur für Kinder ist.
Umso trauriger ist die Entwicklung vom Natur- zum Stubenkind, wie man es plakativ nennen und vielerorts seit Jahren beobachten kann. Sandra Hofferth von der Universität von Maryland hat zwischen 1997 und 2003 eine Studie betrieben, die sich auf kindliche Aktivitäten im Freien wie Angeln, Wandern, Gartenarbeit, Strandspiele bezog. Sie stellte fest, dass die Zahl der Kinder im Alter zwischen neun und zwölf Jahren, die ihre Zeit mit derartigen Aktivitäten im Freien verbrachten, um 50 Prozent abnahm. Im Laufe von 25 Jahren, so die Wissenschaftlerin, habe das freie Spiel und die frei verfügbare Zeit in einer durchschnittlichen Woche für die Kinder um ungefähr neun Stunden abgenommen.35 Auch in Deutschland sind solche Tendenzen in Studien festgestellt worden. Während 1990 noch 75 Prozent der befragten Kinder zwischen sechs und 13 Jahren täglich draußen herumstromerten, waren es 13 Jahre später deutlich weniger als 50 Prozent. Andreas Weber bringt diese Entwicklung in seiner Geo-Reportage von 2010 am Beispiel einer englischen Familie anschaulich auf den Punkt. Der Urgroßvater lief in den 1920er-Jahren achtjährig zehn Kilometer, um an seiner Lieblingsstelle zu angeln. Sein Schwiegersohn durfte 30 Jahre später, ebenfalls acht Jahre alt, durch den anderthalb Kilometer entfernten Wald streifen und legte auch den Schulweg allein zurück. Dessen Tochter fuhr in den Siebzigerjahren mit dem Rad durch die Nachbarschaft zum Schwimmen, während ihr Sohn, ebenfalls acht, mit dem Auto zur Schule gebracht wird und sich nur innerhalb ihrer Wohnstraße allein bewegen darf.
Hier spielt natürlich nicht nur die Veränderung der Umwelt, sondern auch der Faktor der elterlichen Angst eine große Rolle. Verglichen mit den Gefahren häuslicher Gewalt oder des Straßenverkehrs ist Natur für Kinder eindeutig weniger gefährlich. Die Angst vor der Natur ist oftmals eine fiktive, auch wenn es natürlich Gefährdungen gibt. Doch die beziehen sich eher darauf, eine Zecke aufzusammeln, als unter den umstürzenden Baum zu geraten oder vom Wildschwein überrannt zu werden. Selbst die Gefährdung durch Missbrauch ist leider eher im Bekannten- oder Familienumfeld (80 Prozent) als im Wald durch fremde Personen gegeben. Jedem von uns ist klar, dass Kinder ihrem Entdeckertrieb nur folgen können, wenn sie und auch ihre Bezugspersonen sich damit sicher fühlen. Doch bei allem berechtigten Bedürfnis nach Sicherheit, Kinder sind »keine Hunde, die man einfach Gassi führt«36.
Wie kommt es, dass draußen zu spielen nicht mehr so wichtig zu sein scheint, weder für die Eltern noch für die Kinder? Liegt es tatsächlich an den oft gescholtenen elektronischen Medien? Ist es der fehlende Freiraum der stärker verplanten und terminierten Kindheit? Sind es die fehlenden natürlichen Räume in den Städten? Vermutlich hat es mit allen Aspekten etwas zu tun. Doch wir behaupten, wie bei vielen Themen des Lebens spielen individuelle Werte und die öffentliche Meinung einer Gesellschaft die größere Rolle. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wichtig uns das Spiel in der Natur für unseren Nachwuchs ist. Betrachten wir es nur als eine Form von Zeitvertreib oder sehen wir es tatsächlich als einen evolutionär bedingten und persönlichkeitsstärkenden Entwicklungsraum an, der eine erhebliche Wirkung auf das emotionale und kreative Potenzial künftiger Generationen hat? Welchen Wert messen wir der Natur als Entwicklungsraum zu? Die Antwort auf diese Frage wird zeigen, ob die Entwicklung zum »Stubenkind« eine ist, mit der wir uns abfinden wollen.
Starke Lebenswurzeln bilden
Kinder, die in sich stabil sind, ähneln einem Baum mit tiefen Wurzeln. Sie widerstehen Krisen, schwanken zwar bei Gegenwind, werden aber nicht gleich umfallen, wenn es anders als erwartet läuft. Sie sind an ihrer Umwelt interessiert, ohne das Gespür für eigene Bedürfnisse zu verlieren. Ihre Selbststeuerung bleibt auch bei äußerer Ablenkung erhalten. Sie ruhen in sich. Solche Kinder können sich über längere Zeit hinweg konzentrieren, sie sind eher ausgeglichen in ihrem Temperament und schätzen ihre Kräfte realistisch ein. Vor allem aber sind sie emphatisch. Das bedeutet, sie können die Äußerungen anderer, die Befindlichkeit von Tieren, Pflanzen, Menschen einordnen und daher sozial handeln. Sie fühlen sich mit ihrer Um-Welt verbunden. Ihre Kreativität scheint unerschöpflich zu sein. Sie erfinden neue Spiele, kombinieren Dinge, die sie finden, und gehen schöpferisch damit um. Unter ihren Händen entstehen Kunstwerke, zumindest für den, der sie schätzen kann. Ihr großes Selbstwertgefühl hilft ihnen, mit anderen klarzukommen, ohne diese abzuwerten oder zu überhöhen. Von solchen Kindern möchte man lernen. Eine Utopie vom Traum-Kind?
Zugegeben, es ist bei weitem die Minderheit der Kinder, die wir so erleben. Aber wir kennen einige solcher Kinder. Sie auch? Wohl nehmen wir auch andere wahr. Lehrer, Erzieher, Pädagogen jeder Art klagen eher über die Zunahme hyperaktiver, selbstbezogener oder unkonzentrierter Kinder. Es ist enorm schwer, mit solchen Kindern eine Gruppe zu formen, sie emotional zu erreichen, für Lehrinhalte zu begeistern oder ihnen Sinneserfahrungen anzubieten. Da braucht es große Geduld und pädagogisches Fingerspitzengefühl. Immer wieder kommen Erwachsene an ihre Grenzen, wenn sie Kindern fundamentale Kompetenzen wie Selbstkontrolle, Selbstvertrauen, soziales Einfühlungsvermögen oder kreatives Denken vermitteln wollen. Ebenso wenig können wir Kindern das Lernen lehren. Sie müssen es von sich aus wollen. Diese Kompetenzen kann man nur durch eigene Erfahrung erwerben. Die begleitenden Erwachsenen haben die Aufgabe, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.
Wenn also die Natur einen einzigartigen Rahmen bietet, um lebenswichtige Erfahrungen zu machen und damit den Aufbau dieser Grundkompetenzen ermöglicht, dann müssen wir den Kindern wieder zu mehr Zugängen zur Natur verhelfen. Vier Quellen bietet die Natur für uns Menschen und im Speziellen für die Jüngsten, um ihre Entwicklung zu fördern. Neurowissenschaftler Hüther und Kinderarzt Renz-Polster beschreiben diese Quellen als Unmittelbarkeit, Freiheit, Widerständigkeit und Verbundenheit. Wir möchten Ihnen diese vier in extra Abschnitten etwas näher vorstellen.
1. Unmittelbarkeit
In der Natur werden unsere Sinne vielfältig angesprochen. Denken Sie nur einmal an einen Waldspaziergang an einem Sommertag kurz nach einem Gewitterschauer. Es ist unglaublich, wie die Luft nach Erde riecht. Man kann die verdunstenden Regentropfen als Nebel sehen. Wir hören, wie es von den Bäumen tropft, und das Geräusch klingt, als hätte der Regen noch nicht aufgehört. Erste Sonnenstrahlen schimmern wie goldene Fächer durch die Zweige und die Vögel beginnen erneut zu zwitschern. Das ist eine ganz unmittelbare sinnliche Erfahrung, die keine Fernsehsendung, kein Bild, kein Buch, kein Videospiel in dieser Intensität vermitteln kann. Das macht Naturerfahrungen einzigartig. Wir können sinnliche Erfahrungen in der Natur auch bewusst erzeugen, zum Beispiel indem wir uns am Feuer versammeln. Der Duft von gutem Birkenholz oder der beißende Rauch, wenn wir das Feuer anzünden, steigt sofort in die Nase. Die Flammen fressen sich knisternd durch das Holz. Ein Feuer schenkt Wärme und fördert die Gemeinschaft. Unwillkürlich rücken Menschen am Feuer näher zusammen, Gespräche werden mit zunehmender Glut tiefer und persönlicher. Man kann sich gut vorstellen, wie in früheren Zeiten um das Feuer getanzt, das Essen zubereitet oder gemeinsam gesungen wurde.
Es entsteht eine enorme sinnliche Erfahrung, die Kinder wie Erwachsene immer wieder neu in ihren Bann zieht. Als wir Oliver Harder, Diakon der Evangelischen Gemeinde Henstedt-Ulzburg nördlich von Hamburg, danach fragten, wie er zu dem begeisterten Pfadfinderleiter wurde, der aktuell bis zu 160 Kindern in den örtlichen Gruppen in der Natur begleitet, erzählte er von seiner ersten eigenen Pfadfinderstunde. Ein neuer Pfarrer hatte die Kindergruppe übernommen und statt wie bisher im Gemeindehaus zu spielen oder Geschichten zu erzählen, nahm er die Kinder mit an den Waldrand und lehrte sie ein gutes Feuer zu entfachen und danach die Spuren zu beseitigen. Diese Lektion wirkte auf den elfjährigen Oliver wie ein Magnet und noch heute leuchtet die Begeisterung für Erlebnisse in der Natur aus den Augen des dreifachen Familienvaters.
Wo unsere Sinne gefragt sind, dort sind wir unmittelbar dabei, und diese Erlebnisse werden im Langzeitgedächtnis verankert. Lernprozesse bekommen eine andere Qualität, sobald sie über emotionale Bezüge hergestellt werden und sich die Fragen beim Tun ergeben. Es geht dann eher darum, die Kinder fragend zu machen, als Fragen zu beantworten. Und genau das ist der Boden, auf dem das Lernen gedeiht, da es von innen kommt. Kinder werden viel lustvoller beobachten, experimentieren oder forschen, wenn sie den unmittelbaren Bezug und Nutzen des Lernens erkennen können
2. Freiheit
Einerseits brauchen Kinder eine Bezugsperson, der sie vertrauen können und die ihnen die Natur wertvoll macht. Jemanden, durch dessen Liebe zur Natur sie selbst dafür achtsam werden. Aber vor allem brauchen sie die Möglichkeit, sich ihre Umwelt selbst zu erobern. Viele Studien zeigen inzwischen auf, das Kinder vor allem dann von der Natur profitieren, wenn sie dort öfter ohne Aufsicht und frei in Gruppen mit anderen Kindern spielen können. Wiesen mit Büschen, der Saum eines Waldes, aber auch Brachflächen in der Stadt bieten den Anreiz für Abenteuer. Naturelemente sind nach der Meinung von Spielpädagogen zudem anregender als konstruierte Spielgeräte auf angelegten Spielplätzen. In der Vielfalt von herumliegenden Ästen, beim Hüpfen über Wasserläufe oder auf unebenen Pfaden lernen Kinder körperliche Balance und Beweglichkeit. Sie können nicht davon ausgehen, dass der Baustamm am nächsten Tag noch genauso daliegt oder dass der Wasserstand im Bach immer beständig bleibt. Sie müssen sich auf die jeweiligen Gegebenheiten einstellen, reagieren flexibel und werden aktiv, sofern sie das selbst organisieren dürfen. Dabei ist es interessant zu beobachten, dass Kinder sich meistens Herausforderungen suchen, die sie gerade noch schaffen: der Sprung über den Bachlauf, die Höhe des Baumes, auf den man klettert. Einmal geschafft, macht sie das berechtigt stolz. Der Erfolg des Gelingens stärkt das Selbstvertrauen.
Diese unbeobachtete Freiheit haben Kinder in einem gewöhnlichen Kindergarten beispielsweise kaum. Dort sind die Spielmöglichkeiten vorgegeben, die Geräte TÜV-gerecht gestaltet und die Erzieherinnen können jederzeit in den Verlauf des Spieles eingreifen.
Überzeugt von den Erkenntnissen der Forschung über den Wert der Freiheit beim natürlichen Spiel der Kinder und den Gewinn natürlicher Spielräume hatte die Leiterin des Kindergartens einen professionellen Naturspielraum-Gestalter für die Umgestaltung des Gartenbereiches eingeladen. Wir waren mit zahlreichen Eltern zum Elternabend gekommen. Ich stand dem Projekt damals eher skeptisch gegenüber.
Der schöne asphaltierte Weg durch den überschaubaren Garten sollte wegfallen? Deutlich weniger Platz für Bobbycar-Rennen oder Dreiradausflüge! Das mochten die Kinder doch sehr, oder? Die großen runden Sandkästen sollten, so der Plan des Architekten, aufgelöst und statt dessen ein kleiner Bachlauf mit sandigen Matschstellen eingerichtet werden. Auf einer Skizze sahen wir, dass der Garten künftig nicht mehr eben, sondern leicht hügelig aufgeschüttet werden sollte. Büsche boten Möglichkeiten für Verstecke oder Lager. Nicht mal an ein ordentliches Klettergerüst war gedacht. Dafür kostete der Umbau viel elterliche Mitarbeit und ordentlich Geld.
Die Diskussion war hitzig. Schließlich gab es ein knappes Ja für den Umbau. Wir ahnten, dass die Kinder fortan nicht mehr sauber aus dem Kindergarten heimkommen würden. Genauso war es. Aber es geschah noch etwas. Sie kamen mit verschlammten Hosen, selbstzufrieden und einem breiten Lächeln aus dem Kindi. Vor allem aber schienen sie sich mehr als früher im Gartenbereich aufzuhalten.
Die Zeiten, in denen die Kinder im Garten spielen konnten, waren flexibler als vordem geregelt. Statt eine gemeinsame Gartenzeit verordnet zu bekommen, konnten die Kleinen selbst entscheiden, ob sie morgens sofort hinausgehen wollten. Es musste nicht unbedingt eine Erzieherin dabei sein.
Jahre danach erst habe ich den kühnen Vorausblick und das Engagement der Kindergartenleiterin richtig einschätzen können. Sie war damals der Zeit und den allgemeinen Vorstellungen von natürlichen Freiräumen für Kinder voraus. Heute boomen Waldkindergärten und haben lange Wartelisten, weil ersichtlich ist, dass die Freiheit und Unmittelbarkeit des Naturzugangs die Kinder motorisch fitter, sozial stärker, ideenreicher und ausgeglichener macht. Dass das viele Draußensein darüber hinaus auch noch gesundheitliche Vorteile hat, ist selbstredend. Übrigens, ein kleines Klettergerüst gab es in unserem Kindergarten schließlich dennoch – auf Drängen der Eltern. Der Spielplatzgestalter meinte, die Kinder hätten das nicht gebraucht. Für sie sind Bretter, Stöcke oder Büsche reizvoller, denn dort können sie selbst etwas konstruieren – in aller Freiheit!
3. Widerständigkeit
Vielleicht haben Sie bei den vorhergehenden Sätzen gedacht, dass wir die Natur ganz gewaltig idealisieren und die Erfahrungen in der Natur einseitig schönreden. Dann kommt Ihnen dieser dritte Aspekt sicher entgegen. Hier geht es darum, auch die gefährliche, angstmachende oder risikoreiche Seite der Natur in den Blick zu nehmen.
Es ist eine Urerfahrung, an eigene Grenzen zu stoßen. Plötzlich zu erleben, dass mir meine Kraft, meine Ideen, meine Schnelligkeit oder Größe nicht mehr weiterhelfen, ist ein einschneidendes Erlebnis. Kinder, aber auch Erwachsene müssen lernen, mit dem Scheitern umzugehen. Wir können nicht immer mit dem Kopf durch die Wand. Gerade in der Natur wird das ganz offensichtlich und erlebbar. Die vorher beschriebene Freiheit ist nicht grenzenlos. Es gibt Widerständigkeiten, an denen wir an unsere Grenzen kommen – körperlich oder seelisch.
Wenn ich mich an die eingangs beschriebenen Kanutouren zurückerinnere, dann fallen mir bei allen wunderbaren Erlebnissen auch etliche Grenzerfahrungen ein. Plötzlich aufkommende Winde, die den See in ein bedrohlich graues Wellenmeer verwandelten, und dann die Angst, Kinder und Kanu nicht mehr sicher an Land zu bringen. Oder die verwirrende Vielfalt von Inseln, in der man trotz guter Landkarten die Übersicht und Orientierung verlieren kann. Einmal paddelten wir Stunde um Stunde bis in die Nacht hinein, und egal, wo wir anlegten, es gab nur extrem scharfkantige Felsen. Völlig unmöglich, dort ein Zelt aufzubauen oder Schlafplätze zu finden. Es war schwer, dabei gelassen zu bleiben.
Bis heute erinnern wir uns alle an einen bedrohlichen Gewittersturm, der uns zwang, einen niedrigen Holzunterstand am Ufer zum Schutz aufzusuchen. Wir saßen sicher zwei Stunden bei Blitz, Donner und Hagel fest. Keiner konnte daran etwas ändern. Wie behält man frustriert und frierend in solch einer Situation die Laune? Wir haben damals alle Lieder gesungen, die wir kannten, Geschichten erzählt und Blitze gezählt. Die Natur ist bedrohlich, stark, unberechenbar, und sie richtet sich nicht nach unseren Wünschen. Das macht Menschen bescheidener. In solchen Situationen geht es darum, sich und seine Gefühle zu steuern. Exekutive Kontrolle sagen die Wissenschaftler dazu. Uns gefällt der saloppe Begriff von Hüther und Renz-Polster, die davon sprechen, Kinder können an den Widerständigkeiten der Natur lernen, ihren »seelischen Haushalt selbst zu führen«.
Schwimmen kann man nicht an Land lernen. Und Lebensmut entwickelt sich aus dem Überwinden von Krisen- oder Grenzerfahrungen. Das Singen lenkt ab, Gemeinschaft mit anderen tut gut, bei Gewitter geht man besser an Land und nutzt die Schutzhütte – dies alles sind Lernerfahrungen, die unsere Kinder aus dem Unwetter für ihr Leben ziehen konnten. Sie wussten, was uns in diesem Moment Sicherheit und Trost gegeben hat. Somit ist die Widerständigkeit oder das Erleben von Grenzen eine enorme Chance, innerlich zu wachsen.
4. Verbundenheit
»Das Kind muss für seine Abenteuer sozusagen eine Rüstung tragen – eine aus den vielen Erfahrungen der Verlässlichkeit gestrickte Rüstung.«37 Um sich gesund und psychisch stabil zu entwickeln, brauchen Kinder die Verbundenheit, die sichere Nähe und Geborgenheit bei Menschen, aber darüber hinaus auch in der Natur.
Sicher könnten Sie sofort einen Ort in Ihren Gedanken beschreiben, an dem Sie sich als Kind besonders wohlgefühlt haben. Diese Lieblingsplätze vermitteln uns das Gefühl, ganz wir selbst zu sein. Das kann der Schaukelstuhl auf der Veranda, die Hängematte im Garten, das kuschelige Hochbett, aber auch ein besonderer Platz in einer Astgabelung, der Baumstumpf, von dem aus man einen guten Ausblick hat, oder das Spielhaus im Garten sein. Entwicklungspsychologen weisen darauf hin, dass Menschen, die Verbundenheit entwickeln, sozialer handeln und stärker mit sich selbst verbunden sind. Das bedeutet, sie können die Bedürfnisse ihres Körpers gut wahrnehmen und sich dadurch beispielsweise vor unangemessener Überforderung schützen oder angemessen abgrenzen.
Viele Kinder sind intuitiv fasziniert von der natürlichen Umwelt. Babys folgen den Bewegungen von Blättern mit den Augen, Kleinkinder deuten auf jede Katze, jeden Hund und Vogel, Schulkinder kümmern sich um verletzte Vögel auf dem Gehsteig. Viele Kinder wünschen sich sehnlichst ein Haustier. Ob Hase, Schildkröte, ein eigenes Aquarium oder ein Hund, Hauptsache, es ist ein Wesen, um das man sich kümmern und mit dem man eine innige Verbindung aufbauen kann. Gerade auch für das Immunsystem kann die Nähe zu Tieren hilfreich sein. Im Umgang mit ihnen werden körperliche Abwehrkräfte trainiert. Dreck macht stark, sagt man mitunter etwas lapidar. Fest steht, dass Tiere in ihrem Fell Endotoxin, das Abbauprodukt von Bakterien, haben. Wird dieses in der Form von feinem Staub eingeatmet, reagiert unser Immunsystem. Es funktioniert nach dem Motto, Übung macht stark. Denn es zeigt sich, dass Kinder, die schon früh engen Kontakt mit Tieren hatten, seltener an Allergien erkranken. Wohl bemerkt, Tiere sind keine Therapie gegen Allergien. Fest steht nur, dass wir unser Immunsystem nicht in Watte packen müssen, sondern dass es vielfältige Einflüsse braucht, um vielfältig reagieren zu können.
Zwischen Kindern und Tieren gibt es häufig ein natürliches Band des Verstehens. Vorausgesetzt, es wird nicht von den Eltern und deren Befindlichkeiten überlagert. Als Hundebesitzer sind wir recht oft damit konfrontiert. Da werden kleine Kinder, die neugierig nach dem großen Hund schauen, ganz plötzlich an die Hand genommen und auf die Seite gezerrt mit dem Hinweis: »Aufpassen, das ist ein grooooßer Hund!« Unterschwellige Botschaft: Aufpassen! Gefährlich! Umgekehrt gibt es auch Eltern, die ihre Dreijährigen allein auf den Hund losschicken und sagen: »Der macht nichts. Geh mal Eia machen.« Und das ist natürlich leichtsinnig, wenn man das Tier überhaupt nicht kennt. Beide Verhaltensmuster sind nicht sinnvoll, um den angemessenen Umgang und die Achtung der Kinder vor Tieren zu fördern.
Kinder brauchen die Möglichkeit, sich zu beheimaten, vertraut zu werden mit natürlichen Dingen, egal ob es Tiere sind, die Pflege eines eigenen Beetes oder eine Gegend, in der sie sich neugierig forschend und ohne Gefährdung herumtreiben können.
Bei einer Untersuchung der Wohnumgebung von drei- bis fünfjährigen Stadtkindern stellte man fest, dass Kinder, die mehr Natur in ihrer unmittelbaren Wohnumgebung hatten, ihren Selbstwert höher einschätzten. Sie wiesen auch niedrigere Werte für Angst und Aufmerksamkeitsstörungen auf.38 Verbundenheit mit der Natur kann Kindern ermöglicht, sie kann aber auch aus Unwissenheit gestört oder direkt verhindert werden. Das liegt in der Hand von Eltern, Großfamilie, Pädagogen und Gesellschaft.
Wenn wir die von Hüther und Renz-Polster beschriebenen vier Kraftquellen kindlicher Entwicklung in der Natur (Unmittelbarkeit, Freiheit, Widerständigkeit, Verbundenheit) kennen, dann können wir sie Kindern zugänglich machen.
Das bedeutet weniger Tun und mehr Lassen. Lassen wir Kindern einen Raum von Freiheit, Abenteuer und Entdeckerfreude, in dem sie auf ihre Weise Achtsamkeit, Respekt und tiefe Verbundenheit erfahren können. Damit bereiten wir ihnen den Boden für starke Lebenswurzeln. Wachsen müssen sie selbst.
Einfach raus mit den Kindern! Warum wir alle davon profitieren
»Naturerfahrungen tun Kindern in vielen Hinsichten gut«, so fasst Erziehungswissenschaftler Ulrich Gebhard schlicht die Ergebnisse aus 30 Jahren Forschung in einem Satz zusammen. Das wird vielfach von Praktikern aus der pädagogischen Arbeit bestätigt. Der Leiter der Württemberger Waldheim AG, Ulrich Seeger, hat den Überblick bei 52 Feriencamps für Kinder im naturnahen Raum unter der Trägerschaft der Evangelischen Kirchen. Er sagt: »Die Waldheime sind für Stadtkinder so etwas wie Frischluftschneisen des Lebens.« Nach dem Krieg entstanden, war es die Idee der Waldheimbewegung, Kinder aus der Armut, dem Dreck und Lärm großstädtischer Umgebung herauszuholen und ihnen eine Zeit der Erholung mit unbelastetem Spiel, guter Verpflegung und direktem Zugang zur Grünkraft der Natur zu ermöglichen. Noch heute haben die Waldheime großen Zulauf. Hier mischen sich Kinder verschiedener Milieus, erfahren einen Freiraum zum Spiel, werden von meist jugendlichen Betreuern begleitet und können oft unmittelbar in Wald, Wiesen, Parks oder weitläufigen Geländen unterwegs sein.
Die Pfadfinderbewegung, initiiert vom britischen Lord Baden Powell, aber auch reform- oder erlebnispädagogische Ansätze wie der von Kurt Hahn, dem Gründer von Outward Bound, setzten auf Natur, Verbundenheit und körperliches Training, um Kinder und Jugendliche stark für ihr Leben zu machen. »Learning by doing«, das Motto von Baden Powell, wurde genutzt, um den Kindern Selbsterfahrung zu ermöglichen. Kurt Hahn, von 1920 bis 1933 Leiter der Internatsschule Schloss Salem, setzte auf unmittelbare Erfahrungen, Echtheit im Tun und auf Natur oder Kulturlandschaften als Handlungsräume. Bei allen diesen Konzepten wollte man Kinder ermutigen, eigene Lösungen zu suchen, sich auf andere einzulassen, die Bedürfnisse der Nächsten zu achten und die Natur als kostbaren Lebensraum zu respektieren. Heute zeigen etliche Forschungen, dass Menschen besonders achtsam mit der Natur umgehen, wenn sie diese in ihrer Kindheit als etwas Gutes und Selbstverständliches im direkten Umgang erlebt haben. Umgekehrt formuliert bedeutet dies: Menschen schätzen selten das, was sie nicht benennen können.
Da unsere künftige Lebensweise als Gesellschaft in hohem Maß von einer guten Entwicklung der Natur abhängt, brauchen wir Kinder und künftige Generationen, die den Wert der Natur kennen. Erst dann werden sie für deren nachhaltigen Schutz eintreten. Dabei hilft es nicht, Kinder nur im Unterricht über Natur und Umweltschutz zu informieren. Es hilft auch wenig, wenn diese vielfältige naturwissenschaftlichen Kenntnisse haben. Entscheidend ist der eigene Zugang zur Natur, die persönliche Erfahrung. Diese müssen wir immer wieder fördern und ermöglichen. Wenn darüber hinaus ein guter Mentor den Kindern glaubwürdiges Vorbild und Resonanzboden für ihre Fragen ist, dann profitiert nicht nur das einzelne Kind und dessen Familie, sondern unsere Gesellschaft von der stabilen, verantwortlichen Persönlichkeit, die damit gefördert wird.
Im Wald daheim – den eigenen Pfaden folgen
Wir wollten von Oliver Harder, dem Diakon und Pfadfinderleiter aus Henstedt-Ulzburg, wissen, inwiefern er das ganz praktisch beobachten kann.
Seit elf Jahren fahren die Kinder und Jugendlichen der Pfadfindergruppen des Ortes in den Wald. Zehn Hektar Wald haben sie dafür gepachtet, sodass es sich anfühlt, wie in den eigenen Wald zu kommen. Hier bauten sie einen Lagerplatz, eine gemeinschaftliche Hütte mit einem Rindendach, stellten ein Trockenklo für dringende Bedürfnisse zur Verfügung und entschlammten den Zufluss zu einem alten Tümpel. Es ist ein schöner Waldteich daraus geworden. Daneben gibt es ganz viel Freiraum für die sechs- bis 18-jährigen Pfadfinder. Am Teich können die Jungen und Mädchen Frösche beobachten, Dämme bauen, im Schlamm spielen und lernen, nicht unbeabsichtigt hineinzufallen. Der Wald ist ein riesiger Erlebnisraum. Besonders gerne sitzen die Kinder am Feuer, essen und teilen Geschichten des Lebens miteinander.
Vor 16 Jahren begann Harder diese Jugendarbeit. Inzwischen kommen erste Teilnehmer aus dem Studium zurück in den Ort. Offensichtlich gilt für viele von ihnen: einmal Pfadfinder, immer Pfadfinder. Sie bleiben dem Stamm und der Natur verbunden. Für sich gehen die jungen Erwachsenen wandern, paddeln oder boofen, also unter Felsüberhängen in der Sächsischen Schweiz campieren. Einen Grundsatz teilen alle Pfadfinder: Sie helfen dem anderen, denn sie wissen sich mit anderen Menschen und der Natur verbunden.
Harder kann in seinen Gruppen sehen, dass diese Angebote in der Natur ganz unterschiedliche Alters- und Gesellschaftsgruppen ansprechen, und genau darin liegt ein großer Wert. Sie lernen von- und miteinander. Diese Vielfalt verträgt auch Sonderlinge und Kinder, die in den Sportgruppen oder schulischen Gruppenangeboten für Schwierigkeiten sorgen und daher zu Außenseitern werden.
Beispielsweise Kinder mit Autismus oder Aufmerksamkeitsstörungen. Oliver Harder erinnert sich an ein Kind mit Asperger-Syndrom, einer Störung, bei der das Kind einerseits autistische Züge hat, aber auch extrem hyperaktiv ist und sich kaum in eine Gruppe einfinden kann. Als dieses Kind zum ersten Mal bei den Pfadis war, kamen alle Mitarbeiter an ihre Grenzen. Das Kind rannte durch den Wald, kletterte am Rindenhaus hinauf und war beängstigend aktiv.
Harder lächelt, wenn er daran zurückdenkt. Denn mittlerweile haben sich alle daran gewöhnt, dass dieses Kind enormen Bewegungsbedarf hat und ganz präzise, kurze Anweisungen braucht, um seine Grenzen wahrzunehmen. Heute kennt sich das Kind im Wald aus. Es ist ruhiger geworden, entdeckt ganz viel und wird von den anderen in seiner Andersartigkeit akzeptiert. Es scheint, der Wald gibt allen Beteiligten mehr Gelassenheit und Achtsamkeit, miteinander klarzukommen, auch wenn das nicht immer reibungslos geschieht.
Vitamin N statt Naturdefizit-Syndrom
Ärzte, Eltern und Gesundheitskassen sind zunehmend besorgt. Viele Kinder werden dicker, ernähren sich ungesund, ziehen sich in ihre Zimmer zurück, spielen lieber mit elektronischen Medien als mit Gleichaltrigen. Solche Kinder haben wenig Gespür für Risiken, bewegen sich in der Natur folglich kaum oder ungeschickt und können schwer mit Zeiten der Nicht-Aktivität umgehen. Solche persönlichen Defizite beschreibt Richard Louv mit dem provozierenden Begriff »Naturdefizit-Syndrom« und er macht darauf aufmerksam, dass dies nicht als individuelles Problem verharmlost werden darf. Der Nichtzugang zur Natur wirkt sich letztlich auf die ganze Gesellschaft aus, denn was wir nicht kennen oder für wesentlich erachten, das schützen wir nicht. Es ist folglich existenziell für unsere Gesellschaft, Kindern die Natur und den Wald als Lebensraum zugänglich zu machen. Das Konzept der Waldkindergärten hat sich glücklicherweise in den letzten Jahren so bewährt, dass die Plätze in solchen Kindertageseinrichtungen sehr gefragt sind.
Wer Berichte von Waldkindergärten oder Naturspielgruppen liest, stellt fest, dass die Kinder nicht nur einen positiven Umgang mit der Natur entwickeln, sondern auch mit Gleichaltrigen. Die Kinder zeigen dort weniger Konflikte. Sie fühlen sich in der Natur wohl, sind emotional ausgeglichener und können sich besser konzentrieren. Im grobmotorischen Bereich zeigen sich große Fortschritte.
Interessant ist eine schwedische Studie, die schon 1997 die Kindertagesstätte in der Kleinstadt Klippan mit der Kindertagesstätte in der Großstadt Malmö verglich. Während in Malmö ein moderner Außenbereich mit ebenem Boden, Rasen, Wegen, Sandkasten, kleinen Bäumen und einem Hügel zum Klettern und Rutschen zur Verfügung stand, gab es in Klippan eine naturnahe Umgebung. Dort stand den Kindern ein wilder Garten mit hohen Bäumen, Felsen, unebenem Boden, angrenzendem Wald, ein großer Sandplatz, Schaukeln und Seile zur Verfügung. Der Biologe Dr. Patrik Grahn und sein Team aus Umweltpsychologen, Kinderphysiotherapeuten und Landschaftsarchitekten arbeitete eng mit Psychologieprofessor Stephen Kaplan aus den USA zusammen. Sie wollten wissen, wie das Umfeld die Kinder beeinflusst.
Ein Jahr lang begleiteten und untersuchten die Wissenschaftler die Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren. Sie testeten motorische Fähigkeiten, Konzentration und Kreativität. Darüber hinaus beobachteten sie Sozialverhalten und die Gesund-heit der Kinder. Während im Kindergarten in Malmö der Krankenstand acht Prozent betrug, was einem durchschnittlichen Wert entspricht, betrug er bei den Kindern im natür-lichen Umfeld gerade mal 2,8 Prozent. Der Unterschied blieb das ganze Jahr über konstant. Spannend war auch das Spielverhalten der Kinder. Die »Draußen-Kinder« hatten vielfältigere Spielideen. Sie wechselten von gewag-ten, lauten Spielen hin zu achtsamen, nahezu lautlosen Spielen, in denen die Kinder sich komplexe Rollen ausdachten und miteinander aushandelten. Sie waren dabei vertieft in ihr jeweiliges Spiel und deutlich weniger ablenkbar. Insgesamt waren die Kinder der Naturtagesstätte konzentrierter, befolgten Anweisungen eher, nahmen anderen Kindern weniger Sachen weg, unterbrachen andere weniger und waren motorisch sicherer.
Die Kinder der städtischen Kindertagesstätte waren dagegen viel mit Dreiradfahren beschäftigt. Sie kamen seltener zu einem vertieften Rollenspiel und wurden häufiger in ihrem Spiel unterbrochen. Das Aufräumen war den Erzieherinnen dieses Kindergartens wichtig, denn die Kinder durften im Außenbereich nichts liegen lassen. Vor allem aber mussten in diesem Kindergarten die Erzieherinnen häufiger eingreifen, um Konflikte zu lösen, und kamen dabei auch selbst an ihre Grenzen. Dagegen fiel es den Kindern im »Draußen-Kindergarten« schwer, die Routineordnung einzuhalten oder für Ordnung in ihren Sachen zu sorgen.
Ohne die Waldkindergärten oder Naturspielplätze zu verklären, zeigt diese Studie und auch der Erfahrungswert vieler Eltern und Pädagogen, dass ein vermehrter Aufenthalt im Grünen der Gesundheit, der Kreativität und der Aufmerksamkeit sehr gut tut. Wir können sagen, das Vitamin N hilft, Kinder stark im Leben zu machen und ist die wirksamste Medizin gegen das Naturdefizit-Syndrom, das in vielen Industriegesellschaften wahrnehmbar ist. Wo Kindern ein Zugang zur Natur im frühen Kindesalter ermöglicht wird, entsteht die Grundlage für eine gute persönliche Entwicklung und für eine positive Einstellung zu unserer Mitwelt.
Geben wir den Kindern nicht mehr Wissen und Informationen, sondern mehr Gelegenheiten zum Staunen und Be-Greifen. Das Beste, was wir dafür tun können: begleiten wir unsere Kinder und machen wir uns selbst auf den Weg. Gehen wir einfach raus!